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Maßvoll gegen Maaßen
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Frank Ullrich fährt selbst. Zielgenau wie früher am Schießstand steuert der Ex-Biathlet sein Wahlkampfmobil in die kleine Parklücke auf dem Marktplatz in Meiningen. Viel Platz ist ihm nicht gegönnt, gleich nebenan hat ausgerechnet die Konkurrenz ihren Stand aufgebaut: Hans-Georg Maaßen, ehemaliger Chef des Bundesverfassungsschutzes und CDU-Rechtsausleger. Seinetwegen kennt mittlerweile ganz Deutschland den Wahlkreis 196, diesen kleinen Landstrich in Südthüringen - und damit auch ihn: Frank Ullrich, 63 Jahre alt, Ex-Profisportler, Politikneuling. Und: im Gegensatz zu Wessi Maaßen einer von hier, geboren im benachbarten Trusetal. Als Kandidat der SPD hat er bei der Bundestagswahl die größten Chancen, einen Sieg des Rechtsaußen zu verhindern. Die letzte Wahlkampfwoche läuft, auf dem Marktplatz von Meiningen kämpfen die beiden Kontrahenten nur 30 Meter voneinander entfernt um den Sieg in dieser ländlich geprägten Region im Thüringer Wald. Zugleich sind Ullrich und Maaßen, der nach dem Rückzug des wegen Masken-Deals beschuldigten Mark Hauptmann als Ersatzkandidat der CDU in Südthüringen nominiert wurde, im Laufe des Wahlkampfes selbst zu Objekten der Taktiererei geworden: Rechte sinnieren über eine strategische Wahl des CDU-Manns wegen dessen AfD-Nähe, jüngst tauchte der bekannte Neonazi Tommy Frenck bei einer Veranstaltung Maaßens auf. Die Nichtregierungsorganisation Campact fordert von Linken und Grünen, für den SPD-Kandidaten zu werben. Im Kreuzfeuer der Debatte steht dieser Tage vor allem die Linke: Trotz der Gefahr, dass bei einem Sieg Maaßens die ohnehin in Teilen der CDU brüchige Brandmauer zur AfD weiter einreißen würde, will der Linke-Direktkandidat im Wahlkreis, Sandro Witt, weiter im Rennen bleiben. An Frank Ullrich scheint diese bundesweit geführte Debatte abzuprallen. Der ehemalige Weltmeister und Olympiasieger im Biathlon, dessen größter Erfolg die Goldmedaille im Sprint bei den Olympischen Spielen in Lake Placid im Jahre 1980 war, sitzt in einem Café auf dem Marktplatz und lehnt sich zurück: »Jeder Kandidat, der von seiner Partei aufgestellt wird, hat das Recht und die Pflicht, sich für seine Partei einzusetzen und bis zum Schluss dafür zu werben«, sagt er. Im Gespräch mit »nd« schlägt Ullrich ruhige, sanfte Töne an: »Es stört mich, dass viele nur noch schwarz oder weiß denken«, sagt er, fordert »Akzeptanz und Respekt« und will »mit jedem Bürger ins Gespräch kommen, jeden ernst nehmen«. Deutlich enthusiastischer wirkt Frank Ullrich am Wahlkampfstand: Kaum den Autoschlüssel abgezogen, wuselt er auch schon herum. Es ist viel los an diesem etwas kühlen Dienstagmittag in Meiningen, auf dem Marktplatz haben allerlei Händler ihre Stände aufgebaut. Ullrich ist sofort auf Betriebstemperatur: Wenn er mit Passanten ins Gespräch kommt, wirkt er rastlos - so, als habe er Großes vor. Was ja stimmt: »Ich möchte etwas für die Region und den Sport erreichen«, sagt er. Und: »Ich möchte den Menschen, die in dieser Pandemie viel geleistet haben, Wertschätzung schenken: den Erziehern, den Pflegern.« Man merkt: Im Vergleich zu Maaßen möchte Ullrich den Eindruck eines Versöhners hinterlassen. Eher unversöhnlich gestaltet sich derweil der Kampf um seine Person: Campact hatte dazu aufgerufen, E-Mails an Thüringens Ministerpräsidenten Bodo Ramelow zu schreiben, um die Linke zum Wahlaufruf für Frank Ullrich zu bewegen. Der Regierungschef zeigte sich erbost über die Kampagne und wehrte sich gegen die Forderung, sich in den Wahlkampf einzumischen, unter Verweis auf die parteipolitische Neutralitätspflicht, der er als Ministerpräsident unterliegt. Als »bizarr« bezeichnete Ramelow zudem den Vorwurf, er würde nicht ausreichend Position gegen rechts beziehen. Obendrein lieferte er sich auf Twitter ein Wortgefecht mit dem SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach, der behauptete, der Linke-Politiker würde sich vor Maaßen stellen und mit Nazis gemeinsame Sache machen: »Ich stelle mich vor das Amt des Ministerpräsidenten und achte sehr die Verfassung«, antwortete Ramelow. Andere Weichenstellungen sind derweil bereits getroffen worden: Die in Südthüringen ohnehin chancenlosen Grünen rufen zur Wahl von Frank Ullrich auf, eine jüngst veröffentlichte Erklärung der AfD in Suhl liest sich hingegen wie eine Unterstützung von Maaßen. Konkret ruft die Stadtratsfraktion in ihrer Mitteilung dazu auf, »die besondere Situation im Wahlkreis 196« zu bedenken, ohne den Namen Maaßens zu nennen. AfD-Landeschef Björn Höcke nannte Maaßen jüngst einen »Stachel im Fleisch der CDU«. Und Frank Ullrich? Der lässt sich von dem Gezerre offenbar überhaupt nicht irritieren, macht weiter unbeirrt Wahlkampf. Oft wird er gegrüßt, obwohl seine Partei durchaus umstritten ist: Eine Ladeninhaberin meint, sie könne einen höheren Mindestlohn aufgrund der Corona-Pandemie nicht zahlen. Ein Passant beschwert sich über Hartz IV und die Agenda 2010. Ullrich hört sich alles an, versucht zu vermitteln. Jüngst gab er bei einer Podiumsdiskussion sogar seinem Kontrahenten die Hand, was in der Lokalpresse für Schlagzeilen sorgte. Das Rennen scheint offen, eine aktuelle Wahlkreiskarte des Forschungsinstituts Insa sieht die SPD in Südthüringen knapp vorn. Frank Ullrich bleibt skeptisch, will auf der letzten Runde noch einmal alles geben: »Entscheidend ist der Zieldurchlauf«, sagt er - im Kopf noch ganz der Sportler.
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Max Zeising, Meiningen
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Ganz Deutschland blickt auf den Wahlkreis 196, wo Maaßen-Kontrahent Frank Ullrich mittlerweile selbst zum Objekt politischer Taktiererei geworden ist.
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AfD, Bodo Ramelow, CDU, Hans-Georg Maaßen, SPD
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Politik & Ökonomie
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Politik Wahlkampf in Südthüringen
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1156923.wahlkampf-in-suedthueringen-massvoll-gegen-maassen.html
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Das Andere in uns
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Wie fruchtbar tänzerische Partnerschaften gedeihen können, wenn die künstlerischen Protagonisten und Unterstützer aus Kulturpolitik und Öffentlichkeit beharrlich ihren Visionen folgen und dabei den Fördernöten Berlins trotzen, zeigt die künstlerische Entwicklung der cie. toula limnaios. Die griechische Choreografin und Tänzerin Toula Limnaios und der Komponist Ralf R. Ollertz gründeten die Compagnie 1996 in Brüssel, wechselten 1998 nach Berlin, performten kleine Stücke im HAU. Voller Energie und mit enormer Risikobereitschaft eröffnete die cie. toula limnaios 2003 ihre eigene Spielstätte, die denkmalgeschützte HALLE Tanzbühne Berlin. Mit einem festen Ensemble internationaler Tänzer-Persönlichkeiten konnten seither abendfüllende Tanzstücke kreiert werden, die sowohl national als auch international im Rahmen vieler Tourneen große Beachtung finden. In den Jahren 2005 bis 2013 erhielt die Truppe eine Basisförderung der Berliner Kulturverwaltung. Von 2008 bis 2010 zeichnete der Fonds Darstellende Künste sie mit einer Konzeptförderung für »Spitzenensembles des Freien Theaters und Tanzes« aus. Seit 2014 wird die Compagnie institutionell vom Land Berlin gefördert. Toula Limnaios unternimmt mit ihrer hochmotivierten Compagnie Reisen in die Abgründe des Seins. Menschen suchen das andere Leben im eigenen (»irrsinn« 2006, »the silencers« 2008). Ein traumatisches Agieren atomisierter Existenzen, die Kleider und Partner wechseln, die voller Energie um sich selbst kreisen, die sich selbst fremd geworden sind und zugleich das eigene Spiegelbild mit gereckten Armen ertasten wollen. Toula Limnaios choreografiert und inszeniert in der schreienden Stille die Einsamkeit, die Erstarrung in den Ritualen des Gewöhnlichen. Ohne konkrete Figurenkonstellation und narrative Handlung entwirft die Choreografin in »reading tosca« (2008, Koproduktion mit dem Tanzfestival Bregenzer Frühling) eine Bilderwelt, in der brennglasartig Umschwünge von Schönheit in Gewalt, Anbetung in Manipulation, Leidenschaft in Verrat verdichtet sind. Poetische Tanzräume eröffnen stets fragende Denkräume. In »anderland« (2011) gelingt eine bildstarke Szenenfolge über die Auflösung aller Sicherheiten, die sich intensiv körpersprachlich eingräbt. Auch »wut« (2012) ist ein Stück der bösen Spiele zwischen Menschen. Bis in kleinste Bewegungsdetails hinein formen die charismatischen Protagonisten autark ineinanderfließende Energiefelder aus Bruchstücken zerbrochener Ichs, die ein Wir nur als Fiktion beschwören. Dieses Grundthema führen 2013 »the thing I am« und »if I was real« weiter. Geheimnisvolle Bilder voller körperlicher Energie, absurder Details, rätselhafter Bewegungspoesie graben in Schichten menschlicher Existenz. Während in der sinnlichen Ballnacht »la salle« (2015) Glücksmomente aufleuchten, blickt Chronos in »minute papillon« (2015) auf zerrissene Menschen im Fluss der Zeit. Die internationale Compagnie, über die Jahre als Ensembletheater gewachsen und erneuert, hat das unverwechselbare Potenzial, das changierend Andere in und um uns in singulären Bewegungs- und Bildmetaphern einzufangen. Choreografische Stärke und inszenatorische Fantasie von Toula Limnaios ermöglichen eine Pluralität widersprüchlicher Vorgänge in und zwischen Menschen, die durch die musikalischen Klangräume von Ralf R. Ollertz spannungsvoll montiert, überraschend erweitert und gesteigert werden. Es ist diese subtile assoziative Bezogenheit aller darstellerischen Mittel, die den Zuschauer in der distanzlosen HALLE zum intensiven Hinsehen, Hinhören, Mitdenken einlädt. Nach Umbau und Sanierung, realisiert aus Mitteln der Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin, wird die HALLE Tanzbühne am 21. Mai in Anwesenheit des griechischen Botschafters Theodoros Daskarolis, des Berliner Kulturstaatssekretärs Tim Renner und Christoph Langscheids von der Stiftung Maryon im neuen Glanz wiedereröffnet. Bei freiem Eintritt führen Toula Limnaios und Ralf Ollertz die Gäste hinter die Kulissen, das Ensemble tanzt Ausschnitte aus vier Produktionen. Das sich anschließende zehnwöchige Festival »20 Jahre cie. toula limnaios« zeigt acht abendfüllende Stücke aus unterschiedlichen Entstehungsjahren. Im Solo »the rest of me« wird die Choreografin selbst zu erleben sein, während das TanzTheaterMünster mit einer Neufassung von Toula Limnaios’ »if I was real« in Berlin gastiert. Wiedereröffnung der HALLE Tanzbühne (Eberswalder Str. 10, Prenzlauer Berg): 21. Mai, 17 Uhr Festival »20 Jahre cie. toula limnaios« vom 26. Mai bis 14. August Informationen und Karten: www.halle-tanz-berlin.de, Tel.: (030) 440 44 292
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Karin Schmidt-Feister
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Mit einem zehnwöchigen Festival feiert die cie. toula limnaios ihr 20-jähriges Bestehen in der frisch sanierten HALLE Tanzbühne
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Berlin
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Feuilleton
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Kultur
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1012203.das-andere-in-uns.html
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Das Geld da abholen, wo es ist
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Die Einführung einer Finanztransaktionssteuer stellt man sich bei Attac sehr einfach vor: »Das Kapital wird dort abgeholt, wo es im Überfluss vorhanden ist.« Das klingt zwar ein bisschen wie der Slogan »Bei uns kommt der Strom aus der Steckdose«, doch was Keynesianer, linke Sozialdemokraten und Gewerkschafter schon lange fordern, dem sind mittlerweile auch die EU-Finanzminister nicht mehr abgeneigt: Mit einer solchen Steuer sollen der Börsenhandel und die Finanzmärkte kontrolliert und die Gewinne aus kurzfristigen Spekulationsgeschäften besteuert werden. Bei einem Steuers... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
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Thomas Blum
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Wozu die Einführung einer »Steuer gegen Armut« hilfreich wäre
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Armut, Eurobonds, Steuer
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Politik & Ökonomie
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Politik
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/204718.das-geld-da-abholen-wo-es-ist.html
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Delhi versus Peking
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Indien hat China vorgeworfen, die »Straße von Taiwan« zu »militarisieren«. Die Äußerung fiel während eines Streitgespräches per Twitter zwischen den Botschaftern Delhis und Pekings in Sri Lanka. Es spricht einiges dafür, dass der indische Diplomat diese Äußerungen nicht ohne Rückendeckung Delhis getätigt hat. Sri Lanka ist gerade dabei, sich mühsam aus der schlimmsten Wirtschaftskrise seiner Geschichte zu manövrieren, schon steht der Insel-Staat im Zentrum eines Schlagabtausches zwischen Indien und China. Hintergrund ist der schwelende Konflikt um das von Indien als Spionageschiff titulierte militärische Überwachungsschiff aus China, »Yuan Wang 5«, welches kürzlich in einem Hafen von Sri Lanka vor Anker gegangen ist. Delhi macht hiermit deutlich, dass es aus indischer Perspektive Grenzen gibt, was den chinesischen Einfluss in der eigenen Hemissphäre angeht. Die Tatsache, dass der Konflikt um Taiwan angesprochen wurde, ist als Warnung zu verstehen, dass man sich in Delhi nicht ausschließlich der Ein-China-Politik verpflichtet fühlen muss und sich auch auf die Seite Washingtons begeben kann.
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Ramon Schack
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Indien wirft China vor, die Straße von Taiwan zu militarisieren. In den Streit der beiden Großmächte ist nun auch Sri Lanka hineingeraten.
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China, Indien, Sri Lanka, Taiwan
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Politik & Ökonomie
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Politik Taiwan-Konflikt
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2022-08-30T09:58:16+0200
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2022-08-30T09:58:16+0200
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2022-08-30T10:01:24+0200
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1166493.delhi-versus-peking.html
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Der Teufel steckt im Detail
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Bundesarbeitsminister Hubertus Heil ist der Sozialdemokrat, der am meisten arbeiten muss, will die SPD ihre zentralen Wahlversprechen in der Ampel-Koalition umsetzen. Nun stellt Heil ein Recht auf Homeoffice in Aussicht. Das ist zwar ein Fortschritt, weil bisher nur ein Erörterungsrecht für die Angestellten besteht, doch steckt der Teufel bekanntlich im Detail. Die Einführung eines Homeoffice-Rechts dürfte auf keinen Widerstand in der Koalition stoßen. Schließlich ist es bereits im Koalitionsvertrag abgemacht und auch die FDP macht damit Werbung, weil auch ein Großteil ihrer Klientel vermutlich zu den Nutznießern gehören wird. Die Ampel will jedoch Homeoffice von der bereits bestehenden Möglichkeit der Telearbeit abgrenzen. Dies lässt aufhorchen, da Arbeitgeber im Rahmen der Telearbeit auch dafür verantwortlich sind, dass die Beschäftigten zu Hause einen Arbeitsplatz haben, der dem Gesundheitsschutz entspricht. Auch will die Ampel das Recht ganz grundsätzlich einschränken. Es soll nur gelten, wenn keine »betrieblichen Gründe« dagegen sprechen. Doch das ist ein weiter Begriff. So sehr ein Homeoffice-Recht also bereits abgemachte Sache ist, so sehr steht fest, dass dessen Umsetzung im Detail Betriebsräte und Arbeitsgerichte reichlich beschäftigen wird.
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Simon Poelchau
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Nach den Plänen der Ampel-Koalition sollen Angestellte ein Recht auf Homeoffice nur bekommen, insofern keine »betrieblichen Gründe« dagegen sprechen. Doch dieser Begriff ist weit und ungenau genug für viel Streit im Betrieb.
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Ampel-Koalition, Homeoffice, Hubertus Heil, SPD
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Meinung
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Kommentare Homeoffice
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2022-01-12T15:17:47+0100
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2022-01-12T15:17:47+0100
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2022-01-13T14:31:27+0100
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1160342.homeoffice-der-teufel-steckt-im-detail.html
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Ex-SS-Mann stirbt vor Prozess
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Hildesheim. Ein wegen Volksverhetzung am Landgericht Hildesheim angeklagter früherer SS-Mann, der 1944 an einem Massaker im nordfranzösischen Ascq beteiligt war, ist tot. Das bestätigte die niedersächsische Gemeinde Nordstemmen am Montag. Der 96-Jährige hatte den Holocaust Ende vergangenen Jahres in einer Fernsehsendung heruntergespielt und den getöteten französischen Zivilisten Schuld an ihrem Schicksal gegeben. Daraufhin nahm die Staatsanwaltschaft Ermittlungen auf. Bei dem Massaker in Ascq hatten SS-Mitglieder 86 Zivilisten als Racheakt für einen Sprengstoffanschlag auf einen Zug willkürlich getötet. Der frühere SS-Mann wurde nach dem Krieg von einem französischen Militärgericht in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Nach französischem Recht war die Strafe wegen eines Kriegsverbrechens nach 20 Jahren verjährt. 2017 in Deutschland begonnene Ermittlungen wegen des Verdachts der Beihilfe zum Mord wurden eingestellt, weil niemand wegen derselben Tat zweimal bestraft werden darf. Wie die »Hildesheimer Zeitung« berichtete, hatte der ehemalige SS-Mann noch in den letzten Monaten Kontakte in die rechtsextreme Szene. So sprach er auf Einladung der NPD vor mehr als 100 Rechten. Auf die Nachricht vom Tod des Mannes reagierte der Bürgermeister von Villeneuve d'Ascq, Gérard Caudron, mit der Feststellung: »Das ist ein Grund mehr für mich, nicht in der Hölle zu enden, um ihn dort nicht wiederzusehen«, berichtete die Zeitung »La Voix du Nord«. Angehörige der Opfer des Massakers reagierten enttäuscht, dass es nicht mehr zu einem Gerichtsverfahren kommt. »Während dieses Prozesses wären wir zu Wort gekommen und hätten an die bei dem Massaker getöteten Männer erinnern können«, sagte die Tochter eines Getöteten, Marguerite-Marie Beghin, der Zeitung. »Wir hätten berichten können, was unseren Vätern widerfahren ist, und das ganze Leid, was darauf gefolgt ist.« dpa/nd
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Redaktion nd-aktuell.de
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Er sollte vor Gericht, doch nun ist er tot: Gegen einen wegen Volksverhetzung angeklagten früheren SS-Mann, der 1944 an einem Massaker im nordfranzösischen Ascq beteiligt war, kommt es nun nicht mehr zum Prozess.
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Holocaust, Nazis, SS, SS-Mord
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Politik & Ökonomie
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Politik NS-Verbrecher
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2019-09-23T15:17:09+0200
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2019-09-23T15:17:09+0200
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2023-01-21T13:38:40+0100
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1126191.ex-ss-mann-stirbt-vor-prozess.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
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Auslieferung rückt näher
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Julian Assange hat im Kampf gegen seine Auslieferung an die US-amerikanische Strafjustiz einen Rückschlag erlitten. Ein Berufungsgericht in London hat am Freitag entschieden, dass der Gründer der Enthüllungsplattform Wikileaks an die USA ausgeliefert werden darf, wo ihm eine langjährige Haftstrafe droht. Damit hat der High Court den Entscheid des erstinstanzlichen Gerichts aufgehoben: Dieses hatte im Januar eine Auslieferung abgelehnt. Der Australier wird das Urteil wahrscheinlich anfechten. In den USA ist Assange unter anderem der Spionage und der Anstiftung zum Hacken von Netzwerken angeklagt, ihm droht lebenslange Haft. Das Urteil sei »gefährlich und verfehlt«, sagte Assanges Anwältin und Verlobte Stella Moris. Sie kündigte an, gegen den Entscheid »zum frühestmöglichen Zeitpunkt« Berufung einzulegen. Es handle sich um eine »schwere Rechtsbeugung«. Auch Menschenrechtsgruppen kritisierten das Urteil der Richter: Reporter ohne Grenzen spricht von einer »zutiefst beschämenden Entwicklung«. Im Januar hatte ein Gericht die Auslieferung untersagt, weil ein »erhebliches Risiko« bestünde, dass Assange Selbstmord begehen könnte. Die Richterin verwies auf die labile psychische Verfassung Assanges sowie auf seinen schlechten Gesundheitszustand. Sie sagte, eine menschliche Behandlung in US-amerikanischer Haft könne nicht garantiert werden. Während des Berufungsverfahrens beschwichtigten die Anwälte der USA: Der Beschuldigte würde nicht im berüchtigten Hochsicherheitsgefängnis ADX Florence in Colorado inhaftiert, und ihm drohe während der Haft in US-amerikanischen Gefängnissen keine unmenschliche Behandlung, versicherten sie. Das Berufungsgericht akzeptierte diese Zusicherungen: Richter Lord Burnett sagte am Freitag, dass diese das Risiko des Suizids ausschlössen. »Wenn die [erstinstanzliche] Richterin diese Zusicherungen bereits gehabt hätte, dann hätte sie die relevanten Fragen anders beantwortet«, sagte Burnett. Damit gab er den Fall zurück an die tiefere Instanz und wies das Gericht an, den Entscheid über die Auflieferung dem Innenministerium zu übergeben. Der Gerichtsfall gegen den 50-jährigen Assange geht zurück auf das Jahr 2010, als die Plattform Wikileaks eine riesige Sammlung von geheimen Militärdokumenten und Videos publizierte. Der Whistleblower Chelsea (damals Bradley) Manning hatte ihm das Material zugespielt. Am berüchtigtsten ist ein Video, in dem zu sehen ist, wie amerikanische Soldaten 18 Iraker von Helikoptern aus erschießen. Kurz nach der Veröffentlichung der Dokumente im Jahr 2010 begannen die Ermittlungen der amerikanischen Justiz gegen Assange. Sie wirft ihm vor, das Leben von US-Informanten gefährdet zu haben. 2019 gingen die USA weiter und erhoben darüber hinaus Anklage unter dem Spionagegesetz, das noch aus dem Ersten Weltkrieg stammt. Im Fall eines Schuldspruchs könnte der Wikileaks-Gründer zu einer Gefängnisstrafe von bis zu 175 Jahren verurteilt werden. 2012 floh Assange in die Botschaft von Ecuador in London, wo ihm Asyl gewährt wurde. Fast sieben Jahre lange hielt er sich dort auf. Im April 2019, nach einem Regierungswechsel in Ecuador, wurde Assange das Asylrecht entzogen, die britische Polizei betrat die Londoner Botschaft und nahm ihn in Haft. Seither befindet sich Assange im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh in London. Sein Gesundheitszustand habe sich in den vergangenen zwei Jahren markant verschlechtert, sagen Angehörige und Anwälte. Der unabhängige Berichterstatter der Vereinten Nationen für Folter, Mils Melzer, bezeichnete das Londoner Urteil im Fall Assange als »ein Armutszeugnis für die britische Justiz«. Gegenüber der Deutschen Presse-Agentur sprach Melzer am Freitag von einem »politisch motivierten Urteil«. Menschenrechtsgruppen haben wiederholt vor einer Auslieferung gewarnt. Organisationen wie Reporter ohne Grenzen und Human Rights Watch bezeichnen die strafrechtliche Verfolgung von Assange als »eine Bedrohung der Pressefreiheit rund um die Welt«. Der Entscheid vom Freitag wurde denn auch von vielen Gruppen scharf kritisiert. Die Richter hätten »die zutiefst mangelhaften diplomatischen Zusagen der USA akzeptiert«, sagte Nils Muižnieks von Amnesty International. Sollte der Wikileaks-Gründer ausgeliefert werden, drohten ihm Haftbedingungen, »die der Folter gleichkommen«. Der Chefredakteur von Wikileaks, Kristinn Hranfsson, sagte nach der Urteilsverkündung: »Julians Leben ist erneut in großer Gefahr und genauso das Recht von Journalisten, Material zu veröffentlichen, das Regierungen und Konzerne für unangenehm halten.«
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Peter Stäuber, London
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Julian Assange hat im Kampf gegen seine Auslieferung an die US-amerikanische Strafjustiz einen Rückschlag erlitten. Ein Berufungsgericht in London hat entschieden, dass der Gründer der Enthüllungsplattform Wikileaks an die USA ausgeliefert werden darf.
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Großbritannien, Julian Assange, Pressefreiheit, USA, Wikileaks
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Politik & Ökonomie
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Politik USA gegen Wikileaks
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1159497.auslieferung-rueckt-naeher.html
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Rauchende Köpfe
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Irgendwie war es vorhersehbar, dass der Start des Paralympicssiegers Markus Rehm bei den Deutschen Leichtathletik-Meisterschaften der Nichtbehinderten in Ulm Zündstoff liefern würde.
Fakt ist: Der 25-jährige Leverkusener feierte als unterschenkelamputierter Weitspringer im Feld der Nichtbehinderten einen spektakulären Titelgewinn: Mit einer Karbonstelze springend stellt er mit 8,24 Metern einen neuen paralympischen Weltrekord auf, den er selbst seit Juli 2013 mit 7,95 Metern hielt, und flog 19 Zentimeter weiter als die vom Deutschen Leichtathletik-Verband (DVL) festgelegte Norm für die EM im August in Zürich.
Nun rauchen die Köpfe. Denn mit seiner EM-Normerfüllung stellt Rehm den DLV, der ihn ohnehin nur unter Vorbehalt in Ulm hat starten lassen, und den Leichtathletik-Weltverband IAAF vor Probleme. Die Frage ist: Nominiert ihn der DLV überhaupt für die EM? Und wenn ja: Erhält Rehm eine Startgenehmigung auch durch den Europäischen Leichtathletik-Verband EAA?
Von dort liegt eine erste Reaktion schon vor: Der Kontinentalverband könne diese Entscheidung gar nicht treffen. Dies müsse die IAAF tun, so die EAA, die aber unverzüglich Gespräche mit dem DLV ankündigte. Der wiederum hat es versäumt, sich rechtzeitig und lange vor Ulm auf diese brisante Situation einzustellen.
Der »Fall Rehm« gibt jedenfalls keine Parallele her zum »Fall Oscar Pistorius«, den behinderten südafrikanischen 400-Meter-Läufer, der sich vor dem Internationalen Sportgerichtshof (CAS) das Startrecht für Weltmeisterschaften und Olympische Spiele erstritten hatte. Das CAS-Urteil war auf den Einzelfall bezogen und nicht generell auf alle Athleten, argumentiert die EAA. Zieht Markus Rehm demnächst also auch vor den CAS, um seinen EM-Start juristisch zu erstreiten?
Unterdessen sollen Experten durch biomechanische Messungen herausfinden, ob die leicht federnde Beinprothese Rehm einen Vorteil verschafft. Schließlich sei die Karbonstelze deutlich länger als ein gesundes Bein, von 15 Zentimetern ist die Rede. Kann dadurch sein mäßiges Sprinttempo von 11,46 s ausgeglichen werden? Der Streit fernab von Inklusionsdebatten geht weiter.
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Jürgen Holz
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Jürgen Holz zum Start des behinderten Weitspringers Markus Rehm
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Leichtathletik
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Sport
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Sport Einwurf
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/940477.rauchende-koepfe.html
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Endlich: Klare Worte gegen Lohndumping
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Die Wirtschaft sucht Schlupflöcher im Gesetz, wo sie kann. Bislang haben Unternehmen als Grundlage zur Berechnung von Zuschlägen für Nacht- und Feiertagsdienste einfach den Dumpinglohn aus der Prä-Mindestlohn-Ära herangezogen. An der Rechtswidrigkeit ließ das Bundesarbeitsgericht nun keinen Zweifel: Der Mindestlohn sei Gesetz. Die Bundesrichter demonstrieren, wie wichtig die enge Reglementierung der Wirtschaft ist. Die bisherige Berechnungspraxis ließ sich nur durch Profitgier rechtfertigen. Sie widersprach dem Geist des Mindestlohngesetzes und war Ausdruck des dreisten Versuchs, Recht zu umgehen. Man schämte sich dessen nicht einmal. Man spielte auf Zeit: Das beklagte Unternehmen - eine mittelständische Kunststofftechnikfirma - ging trotz erwarteter Niederlagen wiederholt in Revision. Das Urteil der Bundesrichter dürfte es nicht überrascht haben. Sein Kalkül wird gewesen sein, immerhin noch zweieinhalb Jahre lang niedrigere Löhne zu zahlen. Der Gang durch die Instanzen beansprucht Zeit und ein höchstrichterliches Urteil kommt häufig spät. Ein Rechtsstaat muss vorübergehend erdulden, dass vor seinen Augen Recht gebogen und gebrochen wird. Umso wichtiger ist es, wenn Bundesrichter schließlich klare Worte finden.
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Florian Haenes
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Die bisherige Berechnungspraxis der Unternehmen bei Nachtzuschlägen widersprach dem Geist des Mindestlohngesetzes und war Ausdruck des dreisten Versuchs, Recht zu umgehen. Man schämte sich dessen nicht einmal.
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Bundesarbeitsgericht, Mindestlohn
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Meinung
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Kommentare
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1064378.endlich-klare-worte-gegen-lohndumping.html
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Wuhan will offenbar Millionen Einwohner auf Coronavirus testen
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Peking. Die zentralchinesische Stadt Wuhan will chinesischen Medienberichten zufolge sämtliche seiner elf Millionen Einwohner in Rekordzeit einem Coronavirus-Test unterziehen. Das berichteten mehrere chinesische Medien am Dienstag. Demnach entschieden sich die Behörden zu der Maßnahme, nachdem Anfang der Woche in einem Wuhaner Wohngebiet nach einer längeren Phase ohne Erkrankungen in der Stadt sechs neue Infektionen festgestellt wurden. Wie das Wirtschaftsmagazin »Caixin« berichtete, sollen die Menschen in Wuhan innerhalb von zehn Tagen getestet werden. Bis Ende April hatte Wuhan, wo das Virus möglicherweise schon im November ausgebrochen war, laut dem Bericht rund eine Millionen Menschen getestet. Die chinesische Website »The Paper« berichtete, dass die Bezirke der Stadt einen Plan ausarbeiten sollen, wie der Massentest durchgeführt werden kann. Nirgendwo in China wurden so viele Infektionen und Todesfälle gemeldet wie in Wuhan, dessen Krankenhäuser Ende Januar und im Februar völlig überfordert waren. Wuhan war die weltweit erste Stadt, die wegen des Virus über Wochen komplett abgeschottet war. Von den mehr als 80 000 offiziell gemeldeten Infektionen in China waren 50 000 allein in der Metropole. Ähnlich waren von den landesweit mehr als 3300 aufgeführten Toten durch die Lungenkrankheit Covid-19 mehr als 2500 in Wuhan zu beklagen. Es wurde aber davon ausgegangen, dass bei weitem nicht alle Fälle in der offiziellen Statistik mitgezählt wurden. China hat das Virus den eigenen Angaben zufolge weitgehend unter Kontrolle, kämpft jedoch mit lokalen Ausbruchsherden. Eine zweistellige Zahl neuer Infektionen wurde so kürzlich auch aus der nordostchinesischen Provinz Jilin gemeldet. dpa/nd
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Redaktion nd-aktuell.de
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Bis Ende April wurden in Wuhan bereits rund eine Millionen Menschen getestet. China hat das Virus den eigenen Angaben zufolge weitgehend unter Kontrolle, kämpft jedoch immer wieder mit lokalen Ausbruchsherden.
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China, Corona-Krise, Coronavirus
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Politik & Ökonomie
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Politik Corona in Deutschland und weltweit
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1136632.corona-in-deutschland-und-weltweit-wuhan-will-offenbar-millionen-einwohner-auf-coronavirus-testen.html
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CCS ist eine gescheiterte Technik
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Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hat Mitte dieser Woche angekündigt, dass die Abscheidung und Speicherung von CO2, kurz: CCS, auch in Deutschland zum Einsatz kommen soll. 2023 will er ein entsprechendes Gesetz auf den Weg bringen. Was ist von der umstrittenen Technik zu halten? CCS ist eine gescheiterte Technik. Der Europäische Rechnungshof kam bereits 2018 in seinem Bericht für die EU zu diesem Urteil und schrieb: »Die für die letzten zehn Jahre geplanten Fortschritte wurden nicht erzielt.« Die vielen Milliarden Euro an Subventionen wären für die Energiewende besser aufgehoben gewesen. Reinhard Knof ist Vorsitzender der schleswig-holsteinischen Bürgerinitiative »Kein CO2-Endlager«. Manche halten CCS zum schnelleren Erreichen der weltweiten Klimaziele für notwendig. Warum ist das kein gangbarer Weg? CCS ist sehr energieaufwendig. Bei Kraftwerken mit dieser Technik wird circa ein Drittel der erzeugten Energie für das Abscheiden, den Transport und das Verpressen des Kohlendioxids benötigt. Der erforderliche Stahl für die Anlagen und die Gasleitungen zum Transport benötigen ebenfalls sehr viel Energie und verursachen eine hohe Klimabelastung. Ein Ende der Energieverschwendung einschließlich einer Wärme- und Verkehrswende würde viel schneller und effektiver zur Vermeidung von CO2-Emissionen führen. Warum klafft die Debatte bezüglich Chancen und Risiken so weit auseinander? Befürworter einer Technik neigen dazu, Gefahren komplett zu ignorieren und zu bestreiten. Man denke nur an den gerade zerborstenen Aquadom in Berlin. Dieser wurde 2003 errichtet und 2020 umfassend modernisiert. Bedenken zur Sicherheit wurden vom verantwortlichen Architekten beiseitegewischt. Unser Nachbar Dänemark hat einem CO2-Speicherungsprojekt 250 Kilometer nordwestlich von Sylt jetzt erstmals zugestimmt. Beteiligt ist auch der deutsche Gasproduzent Wintershall Dea. Warum sollte die schwarz-grüne Kieler Landesregierung dagegen vorgehen? Das Projekt reicht bis hinein in die deutsche ausschließliche Wirtschaftszone in der Nordsee. Wenn es zu CO2-Austritten kommen würde, wäre auch sie betroffen. Das besagte Greensand-Projekt ist in ausgeförderten Gas- und Ölfeldern mit wahrscheinlich undichten Altbohrungen geplant, sodass Leckagen vorprogrammiert sind. Es fand auch bisher keine internationale Umweltverträglichkeitsprüfung für die geplanten CO2-Endlager statt. Bei Wintershall ist allemal Misstrauen geboten, denn das Unternehmen steht für die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern, die Abhängigkeit von Russland und für das Blockieren der Energiewende. Allerdings halten auch renommierte Meeresforscher etwa vom Geomar Helmholtz-Zentrum in Kiel die Lagerung unter dem Meeresboden für sinnvoll. Die Wissenschaftler von Geomar propagieren seit über einem Jahrzehnt CO2-Endlager unter der Nordsee. Bisher waren sie damit nicht erfolgreich. Ihre Risikoabwägung entspricht aber der des Architekten vom Berliner Aquadom. Sie halten die CCS-Diskussion gerade zum jetzigen Zeitpunkt für verkehrt, da es vom eigentlichen Problem ablenkt. Welches wäre das? Die derzeitige Diskussion um CCS dient offenkundig der Sicherung einer langfristigen Nutzung fossiler Energieträger, insbesondere von Erdgas. Mit dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine hat sich Minister Habeck unverzüglich sowohl für den Aufbau massiver Überkapazitäten bei Flüssiggas (LNG) als auch für den Export von CO2 nach Norwegen und Dänemark engagiert. Beides gehört zusammen und hat nichts mit eventuell verbleibenden Rest-Emissionen aus der Industrie zu tun, wie immer behauptet wird. Daher muss die Reihenfolge lauten: Energieeffizienz, Wärme- und Verkehrswende, Ausbau erneuerbarer Energieproduktion. Das gilt nicht nur für Deutschland und Europa, sondern auch für die Zusammenarbeit mit dem Globalen Süden. Wenn in Europa dann noch ein Bedarf an CO2-Reduktion besteht, müssen die möglichen Alternativen wissenschaftlich sauber bewertet werden. Das ist derzeit aber nicht geplant, sondern es gibt eine dauerhafte Festlegung auf LNG plus CCS.
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Dieter Hanisch
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Die Bundesregierung setzt offenbar auf die umstrittene CCS-Technik. Zumindest wird ein Gesetz dazu für kommendes Jahr angekündigt. Umweltschützer sind dagegen.
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CO2, CO2-Lagerung, erneuerbare Energie, Verkehrspolitik
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Politik & Ökonomie
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Wirtschaft und Umwelt Energiepolitik
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2022-12-22T16:32:40+0100
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2022-12-22T16:32:40+0100
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2023-01-20T16:40:25+0100
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1169559.energiepolitik-ccs-ist-eine-gescheiterte-technik.html
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MOSEKUNDS MONTAG
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Wolfgang Hübner
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FRÜHLINGS ERWACHEN
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Mosekunds Montag
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Feuilleton
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Kultur
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/169842.mosekunds-montag.html
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Tausende sauer auf Milch-Müller
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»Kleine alltägliche Glücksmomente« beschere der Kartoffelsalat von Homann, verheißt jener Feinkosthersteller im Internet. Bei vielen Mitarbeitern aber sorgt das Unternehmen zurzeit für unglückliche Gesichter: Vier Werke werden 2020 dicht gemacht. Diese liegen in Dissen und Bad Essen, beides Orte nahe Osnabrück in Niedersachsen, sowie im nordrhein-westfälischen Bottrop und in Floh-Seligenthal, einer Gemeinde im Norden Thüringens. Salate und manches mehr, das Homann noch an diesen Standorten produziert, werden voraussichtlich in drei Jahren aus Sachsen kommen. Aus einem neuen Werk, das für 500 Millionen Euro im kleinen Leppersdorf gebaut werden soll, einem Ortsteil der Gemeinde Wachau im Kreis Bautzen. Ausgekocht hat all das Homanns Mutterkonzern, die Firmengruppe Theo Müller in Luxemburg, bei Verbrauchern vor allem bekannt durch »Müller-Milch«. Gut 27 000 Menschen arbeiten unter dem Dach jenes Unternehmens, etwa 3000 in den sieben Homann-Werken. Das sind neben den Produktionsstätten, die geschlossen werden sollen, die Niederlassungen in Rogätz/Brandenburg, Sassnitz auf Rügen und im polnischen Poznań. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, würden die vier Werke geschlossen und die Produktion in Sachsen gebündelt - so etwa begründet Müller das Aus für die Produktionsstätten, an denen sich nun Widerstand regt. So jüngst bei einer Kundgebung am Homann-Stammsitz in Dissen. Über 4000 Menschen waren dort zusammengekommen, wo Fritz Homann 1876 seine Fabrik für Fleisch- und Wurstwaren gegründet hatte und wo jetzt gut 1000 Beschäftigte um den Arbeitsplatz bangen. Beachtlichen Erfolg brachte der Firma 1924 die Idee, Margarine auf den Markt zu bringen. Das Sortiment erweiterte sich, das Unternehmen ebenfalls: Inzwischen gehören zu Homann weitere Marken, beispielsweise Nadler, Rügen-Fisch und Pfennigs Feinkost. Homann wiederum ist seit 2012 Teil des Konzerns Theo Müller. Gegen jene Unternehmensgruppe richtet sich der geballte Unmut vieler Mitarbeiter, Gewerkschafter, Politiker und weiterer Unterstützer, die jetzt vor dem Stammwerk demonstrierten, unter ihnen Niedersachsens Wirtschaftsminister Olaf Lies (SPD). Er befürchtet, im künftigen Homann-Werk in Sachsen könnte das Unternehmen Billiglohnkräfte aus Osteuropa beschäftigen. Zu prüfen sei, so Lies, ob für den neuen Standort Subventionen aus EU-Mitteln zugesagt wurden, denn: »Standortverlagerungen dürfen nicht ohne Weiteres gefördert werden.« Die Schließung werde Niedersachsen nicht einfach hinnehmen, sagte Lies und kündigte ein Gespräch mit der Müller-Spitze an. Sein Amtskollege in Nordrhein-Westfalen, Michael Groschek (SPD), war am selben Tag auf einer Protestkundgebung gegen die Schließung des Homann-Nadler-Werks in Bottrop zugegen. Dort fallen 230 Arbeitsplätze weg, wenn Müller seine Pläne wahr macht. »Wer auf diese Weise Sozialabbau betreibt, wird erleben, wie uns der Appetit auf seine Produkte vergeht«, so Groschek. Absolut keinen Appetit haben Homann-Mitarbeiter offenbar auf einen Umzug nach Sachsen, wo ihnen Homann eine Weiterbeschäftigung anbietet. Nicht wenige »Homänner« haben unweit ihres derzeitigen Arbeitsplatzes ein Häuschen gebaut, wollen die Region nicht verlassen, in der sie seit vielen Jahren auf ein solides Traditionsunternehmen vertrauten.
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Hagen Jung
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Protest gegen Schließung von vier Homann-Werken in drei Bundesländern
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Niedersachsen, Sachsen
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Politik & Ökonomie
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Politik
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1049851.tausende-sauer-auf-milch-mueller.html
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Fußball als Symbol der Souveränität
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Anatolij Tymoschtschuk war so etwas wie ein sportlicher Botschafter seines Landes. Der Fußballer hatte 144 Länderspiele für die Ukraine bestritten, noch immer ein Rekord. Nach seiner Karriere zog Tymoschtschuk 2016 nach St. Petersburg und wurde Assistenztrainer bei Zenit, dem Lieblingsklub von Russlands Präsident Wladimir Putin. Auch nach Beginn des russischen Angriffskrieges auf Tymoschtschuks Heimat wollte er sich nicht von Russland distanzieren. Und so erteilte ihm der Ukrainische Fußballverband ein lebenslanges Verbot für Tätigkeiten in der Ukraine. Tymoschtschuk ist nur ein Beispiel für die politischen Ausrufezeichen, die im ukrainischen Fußball zuletzt gesetzt wurden. Die wichtigste Botschaft möchte die Nationalmannschaft in dieser Woche verbreiten. In zwei Playoffspielen möchte sie sich noch für die WM im Dezember 2022 in Katar qualifizieren. Dafür muss sie an diesem Mittwoch zunächst in Schottland gewinnen und am Sonntag dann noch gegen Wales. Für die Ukrainer wäre das Erreichen der globalen Bühne ein Zeichen der Zuversicht, auch in Abgrenzung zu Russland. Dabei verbindet beide Nationen eine gemeinsame Fußballgeschichte. Seit Generationen prägt der Fußball den ukrainischen Patriotismus. Das war schon in der Sowjetunion so, als die Ukraine am Rand des Vielvölkerstaates lag, im Fußball aber sein Zentrum bildete. Zwischen 1961 und 1990 gewann Dynamo Kiew 13 Mal die sowjetische Meisterschaft. »Viele Menschen in der Ukraine fühlten sich vom Zentrum in Moskau dominiert«, sagt die ukrainische Historikerin Kateryna Chernii. »Kiew war eine russifizierte Stadt, doch der Fußball prägte eine lokale Identität.« In der UdSSR versuchte der Kreml, Traditionen der Teilrepubliken zu ersticken. In Briefen an Lokalzeitungen schimpften Fans aus Kiew aber mitunter gegen Schiedsrichter aus der Hauptstadt Moskau. Etliche Briefe wurden auf Ukrainisch verfasst, damals ungewöhnlich und unerwünscht, daher durften sie nicht veröffentlicht werden. In Kiew profitierten Fußball und Politik voneinander. Die Erfolge von Dynamo gingen auf Wolodymyr Schtscherbyzkyj zurück. Der Erste Sekretär der Kommunistischen Partei der Ukraine war Fußballfan. Und so konnte Trainer Walerij Lobanowskyj Dynamo mit wissenschaftlichen Methoden ins Spitzenfeld führen. Als legendär gilt der Gewinn des Europäischen Supercups 1975 gegen den FC Bayern München. Für die Eliten in Moskau war das kein ukrainischer, sondern ein sowjetischer Triumph. Sie kamen an Lobanowskyj nicht mehr vorbei und beriefen ihn auch zum Trainer des sowjetischen Nationalteams. Dort ließ Lobanowskyj die besten Spieler aus Kiew als Gerüst für die UdSSR spielen. »Nur in Momenten des unzweifelhaften, überzeugenden Erfolges wurde er von Moskau anerkannt und unterstützt«, schreibt der Autor Juri Andruchowytsch im Sammelband »Totalniy Futbol«. »Kaum erlitt er eine Niederlage, fiel Moskau schonungslos und schadenfroh über ihn her.« Dreimal war Lobanowskyj Trainer der UdSSR, zweimal dauerte sein Engagement nur einige Monate an. Irgendwann aber lag die Aufmerksamkeit woanders, denn die Weltmacht zerfiel. Im Oktober 1990 gingen Studenten in Kiew in den Hungerstreik, sie machten sich für die Unabhängigkeit stark. Einige Spieler von Dynamo hissten auf dem Maidan ihre Vereinsfahne neben der blau-gelben Nationalflagge. Sie glaubten, dass die Ukraine als eigenständiger Staat besser dran wäre, ihre Betriebe, ihr Getreideanbau und auch: ihr Sport. Anfang der 1990er Jahre fehlte auch im Fußball die Orientierung. Souverän hatte sich die Sowjetunion für die Europameisterschaft 1992 qualifiziert, doch dann hörte ihr Staat auf zu existieren. Und so spielte in Schweden als Übergang die Mannschaft der GUS, der »Gemeinschaft Unabhängiger Staaten«. Auch dieses Team wurde von ukrainischen Spielern geprägt, von Oleh Kusnezow, Andrei Kantschelskis oder Sergei Juran. Inzwischen aber spielten sie nicht mehr für Dynamo Kiew, sondern im Westen, für die Glasgow Rangers, Manchester United oder Benfica Lissabon. Der sowjetische Vorzeigetrainer Lobanowskyj hatte sich den Auflösungserscheinungen entzogen und war Trainer in den Vereinigten Arabischen Emiraten geworden. Russland erhielt die Erlaubnis, an der Qualifikation für die WM 1994 teilzunehmen. Die neue ukrainische Mannschaft durfte erst in der Qualifikation für die EM 1996 einsteigen. »Viele Ukrainer empfanden das als große Ungerechtigkeit«, sagt Kateryna Chernii, die am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam zur Transformation des ukrainischen Fußballs forscht. Der ukrainische Verband hatte so wenig Geld, dass er kaum Flugtickets für das Auswahlteam zahlen konnte. In der Sowjetunion kamen viele Nationalspieler aus gemischten Ehen, ihre Eltern stammten aus Georgien, Belarus oder Aserbaidschan. Die Fifa stellte ihnen die Wahl für die Nationalteams der Nachfolgestaaten frei. Die Aussicht auf höhere Prämien führte dazu, dass einige sowjetisch-ukrainische Spieler die russische Staatsbürgerschaft annahmen, so auch Juran, aufgewachsen in Luhansk, im Osten der Ukraine. Etliche Ukrainer bezeichneten ihn daraufhin als Verräter, der seine Identität aufgegeben habe. In den 90ern teilten sich einflussreiche Männer in der Ukraine die Konkursmasse des Kommunismus auf. Einer von ihnen, Grigoriy Surkis, hatte im Wohnungsbau-Kombinat in Kiew gearbeitet. Nach der Unabhängigkeit investierte er in Erdöl, Banken, Landwirtschaft. Woher sein Geld stammte, ist unklar. Surkis kaufte 1993 seinen Lieblingsklub Dynamo Kiew und übernahm als Präsident den Ukrainischen Fußballverband. In der Politik wollte er auch mitmischen, und so sorgte er dafür, dass die Spieler Dynamos 1998 der Sozialdemokratischen Partei beitraten. Grigoriy Surkis und sein ebenfalls schwerreicher Bruder Igor machten aus dem Fußball ein Werkzeug der Oligarchen. Sie waren nicht die Einzigen: Im Osten führte der Rohstoffmilliardär Rinat Achmetow Schachtar Donezk 2009 zum Gewinn des Uefa-Pokals. Bei den Siegesfeiern zeigte sich auch Wiktor Janukowytsch, ein Vertrauter Putins, der sich für das Präsidentenamt in der Ukraine in Stellung brachte. Surkis, Achmetow und Janukowytsch wollten sich als Staatsmänner präsentieren, als die Ukraine 2012 gemeinsam mit Polen die Europameisterschaft austrug. Jeweils fünf Spiele fanden in Kiew und Donezk statt. Die Donbass-Arena in Donezk war für fast 200 Millionen Euro errichtet und erst 2009 eröffnet worden. Kateryna Chernii engagierte sich 2012 als Helferin in Kiew, sie sagt: »Die Euro hat den Ukrainern ein Gemeinschaftsgefühl beschert.« Verblasste Zeiten. Das Stadion in Donezk wurde während des Krieges beschädigt. Der russische Fußballverband wollte 2015 die Profiklubs von der Krim in den russischen Spielbetrieb eingliedern, aber die Uefa untersagte das. Seither gingen zahlreiche ostukrainische Vereine ins Exil.
Seit Beginn des Angriffskrieges ist der Fußball ein noch stärkerer Teil der Propaganda. Das ukrainische Nationalteam und Dynamo Kiew sind seit Wochen für Freundschaftsspiele in Europa unterwegs. Spieler werben um Solidarität und Spenden. Zeitgleich schließen sich Hunderte Hooligans und Ultras den Freiwilligen-Bataillonen an der Front an. Aktuell könnte der Fußball den Ukrainern etwas Hoffnung geben, sagt Chernii. Eine Teilnahme bei der WM in Katar wäre ein Symbol der Souveränität.
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Ronny Blaschke
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Die Ukraine möchte sich noch für die WM in Katar qualifizieren und damit auch ein Zeichen gegen Russlands Angriffskrieg setzen. Dabei verbindet beide Nationen eine lange und erfolgreiche Fußballgeschichte.
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Fußball, Krieg, Männerfußball, Russland, Sport, Ukraine
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Sport
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Sport Ukraine vor WM-Qualifikation
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2022-05-31T15:21:35+0200
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2022-05-31T15:21:35+0200
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2023-01-20T18:21:50+0100
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1164191.ukraine-vor-wm-qualifikation-fussball-als-symbol-der-souveraenitaet.html
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Anklage gegen Regisseur
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Uganda hat einen britischen Theaterregisseur wegen der Inszenierung eines Stücks über Homosexualität angeklagt. Sollte ihn das Gericht in der Hauptstadt Kampala für schuldig befinden, drohen David Cecil bis zu zwei Jahre Haft, wie die ugandische Tageszeitung »Monitor« berichtete. Die Anklage wirft ihm vor, das Stück »Der Fluss und der Berg« ohne behördliche Genehmigung aufgeführt zu haben. Es handelt von einem ugandischen Geschäftsmann, der sein Coming-Out als Schwuler hat. Zum Ende des Stücks, das mit ugandischen Schauspielern besetzt ist, wird der Protagonist von seinen eigenen Mitarbeitern gelyncht. In Uganda ist Homosexualität verboten. Ein umstrittenes Gesetz, das die Thematisierung von Homosexualität ebenfalls strafbar macht, wird von Ugandas Parlament seit längerem diskutiert, ist aber noch nicht beschlossen. Menschenrechtler protestieren seit langem gegen die Unterdrückung von Homosexuellen in Uganda. Vor allem evangelikale Prediger fordern die Einführung der Todesstrafe für Lesben, Schwule, Bi- und Transsexuelle. epd
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Redaktion nd-aktuell.de
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Homophobie in Uganda
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Homophobie, Uganda
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Feuilleton
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Kultur
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/238727.anklage-gegen-regisseur.html
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Ruslan Marzinkiw: Ukrainischer Saubermann
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Eines kann man Ruslan Marzinkiw nicht vorwerfen, dass er nicht für seine Sache brennt. Diese Sache, das ist die Ukraine, oder das, was der 44-Jährige darunter versteht. Für diese Leidenschaft wechselte der Bürgermeister der westukrainischen Großstadt Iwano-Frankiwsk vor 20 Jahren aus dem Rohstoffsektor in die Politik, wollte lieber für braune Ideen statt für schwarzes Gold streiten. Dank der rechtsradikalen Partei Swoboda schaffte es Marzinkiw ins Parlament, hetzte von dort aus gegen den proeuropäischen jüdischen Bürgermeister von Iwano-Frankiwsk. Um ihn später zu beerben und zu einem der »schillerndsten« Stadtoberhäupter des Landes zu werden. Neben seiner eigentlichen Aufgabe findet der Ultrapatriot und Hardcore-Christ dabei immer wieder Zeit für äußerst fragwürdige Aktionen. Aus religiöser Überzeugung verdonnerte er Schulabsolventen zu einer Wallfahrt und verteufelte Abtreibungen und Homosexuelle. Schwule könnten keine Patrioten sein, so seine krude These. Stattdessen segnete er lieber Konzertsäle und Fahrstühle und philosophierte über neue Denkmäler für Nazi-Kollaborateur Stepan Bandera. Jetzt fühlt sich Marzinkiw vom Russischen bedroht. Das nehme in seiner Stadt nämlich zu, schlug er Alarm und versprach Abhilfe in Form von »Sprachpatrouillen«, die darauf achten sollen, dass auf der Straße auch ja Ukrainisch gesprochen werde. Immerhin sollen Sünder nur eine Ansage und keine Strafe bekommen, versprach Marzinkiw. Anders als wilde Müllentsorger. Wer dabei erwischt wird, soll an die Front geschickt werden, plant Marzinkiw. Sauber.
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Daniel Säwert
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Ruslan Marzinkiw, Bürgermeister von Iwano-Frankiwsk, sieht das Ukrainertum durch Andersliebende und Andersredende bedroht. Damit in seiner Stadt auch ja ukrainisch gesprochen wird, schickt er eine Sprachpatrouille los.
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Homosexualität, Ukraine
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Politik & Ökonomie
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Politik Iwano-Frankiwsk
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2024-09-12T17:02:18+0200
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2024-09-12T17:02:18+0200
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2024-09-15T11:31:17+0200
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1185216.ruslan-marzinkiw-ukrainischer-saubermann.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
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Schlafen überm Altar
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Ofterdingen. Wenn Alois und Margarete Payer nicht gerade auf Reisen sind, gehen sie jeden Tag in die Kirche. Dabei sind der 72-Jährige und seine 74 Jahre alte Frau weder Pfarrer noch Kantoren von Beruf. Seit mehr als 30 Jahren wohnt das Ehepaar in einer ehemaligen Kirche in Baden-Württemberg. Die beiden Theologen suchten ein Zuhause mit reichlich Platz für ihre 40 000 Bücher - das Gotteshaus in Ofterdingen hatte ausgedient und stand zum Verkauf. Die Payers sind in Deutschland kein Einzelfall. Wegen sinkender Steuereinnahmen und schrumpfender Mitgliederzahlen müssen Kirchen immer mehr Sakralbauten verkaufen. In anderen Fällen ist der Erhalt von Kirchen zu teuer oder kleine Gemeinden werden zusammengelegt. Während im Norden Deutschlands schon Pizzerien und Diskotheken in Kirchen einzogen, sucht man im Süden bislang nach anderen Wegen. »Einige Kirchen stehen in Ortschaften, in denen der letzte Bäcker und der letzte Metzger ihre Geschäfte schon vor der Jahrtausendwende dichtgemacht hatten«, sagt Robert Eberle, Sprecher der Erzdiözese Freiburg. »Der Verkauf oder Abbruch eines nicht mehr zu nutzenden Kirchengebäudes ist in der Regel Ultima Ratio.« Vorher werde geprüft, ob das Gebäude für kirchliche Jugendarbeit, Altenpflege, Caritas oder Diakonie genutzt werden könne. Bundesweit mussten seit Anfang des 20. Jahrhunderts rund 350 katholische Kirchen profaniert, sprich für einen Abriss oder eine Umnutzung entweiht werden, wie Matthias Kopp, der Sprecher der Deutschen Bischofskonferenz, sagt. Nach Angaben der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) verschwanden zwischen 1990 und 2011 bundesweit 82 Kirchen durch Abriss. Mehr als 200 evangelische Gotteshäuser fanden einen neuen Besitzer oder eine andere Nutzung, etwa als Bildhaueratelier, Veranstaltungszentrum oder Museum. Bei der Neuapostolischen Kirche Süddeutschland stehen derzeit 32 Gebäude leer, 14 davon stünden kurz vor dem Verkauf, sagt Sprecherin Susanne Raible. Seit dem Jahr 2013 seien insgesamt 60 Kirchen verkauft worden, drei Gotteshäuser habe die Kirche selbst abgerissen und Wohnhäuser gebaut. Auch Familie Payers Zuhause gehörte einst der neuapostolischen Kirche. Hier gab es jedoch zu viele - statt zu weniger - Mitglieder, weshalb eine größere Kirche gebaut und die ältere in den 1980er Jahren verkauft wurde. Für 250 000 Mark (127 823 Euro). Die Wohnung wirkt riesig, mit den etwa elf Meter hohen Decken, den über 200 Quadratmetern Wohnfläche ohne Wände und den beiden Emporen. Eine davon haben die Payers selbst gebaut - wo früher der Altar stand, über dem sie jetzt schlafen. Als das Paar in die Kirche zog, zerkleinerte Alois Payer mit der Kettensäge die Sitzbänke und baute daraus Bücherregale. Sie durchziehen heute in langen Reihen den ganzen Kirchensaal. Die Marder, die nachts im Kirchendach herumrannten, vertrieben der Kater und laute Musik von Wagner. Die bunten, aber zugigen Fenster ersetzten die neuen Bewohner durch Milchglas, gegen die Kälte schafften sie einen großen Kachelofen an. »Natürlich könnten Kirchengebäude auch auf neue Weise zu Orten des Lebens und der Freizeit werden«, meint Eberle vom Erzbistum Freiburg. So seien beispielsweise für ein Indoor-Kletterzentrum kaum Einbauten nötig, was auch der Denkmalpflege zugute komme. Schließlich sei alles umkehrbar - auch für den Fall, dass ein Sakralgebäude irgendwann wieder zur Kirche werde. dpa/nd
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Redaktion nd-aktuell.de
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Die Kirchenaustritte nehmen zu, manche Kirche ist verwaist. Die Gotteshäuser werden dann abgerissen oder verkauft und umgenutzt. Auch als Wohnung - wie in Ofterdingen in Baden-Württemberg.
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Baden-Württemberg, Christen, Kirche, Religion
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Politik & Ökonomie
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Politik
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1012517.schlafen-ueberm-altar.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
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Suu Kyi verurteilt »Menschenrechtsverletzungen« in Myanmar
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Naypyidaw. Myanmars De-facto-Regierungschefin Aung San Suu Kyi hat in einer Fernsehansprache erstmals die Gewalt gegen die muslimische Minderheit der Rohingya öffentlich verurteilt. Suu Kyi wandte sich am Dienstag gegen »Menschenrechtsverletzungen« im Bundesstaat Rakhine und versicherte, dass sie mit »allen Menschen« mitfühle, die von dem Konflikt betroffen seien. Suu Kyi erklärte sich außerdem bereit, ausländische Beobachter ins Land zu lassen. Überdies sei ihre Regierung »jederzeit« bereit, den Status der Rohingya zu prüfen, die in den vergangenen Wochen außer Landes geflohen waren. Eine Garantie für deren Rückkehr sprach Suu Kyi dabei nicht aus. Suu Kyi hatte in den vergangenen Wochen zu der Krise beharrlich geschwiegen. UN-Generalsekretär Antonio Guterres erklärte am Montag, die Fernsehansprache der Friedensnobelpreisträgerin sei die »letzte Chance« zur Beilegung des Konflikts. Der Konflikt dürfte auch ein wichtiges Thema bei der Generaldebatte der UN-Vollversammlung sein, die am Dienstag beginnt. Suu Kyi hatte ihre Teilnahme abgesagt. In Myanmar leben überwiegend Buddhisten, die Rohingya sind Muslime. Der seit Jahren andauernde Konflikt in Rakhine war Ende August eskaliert, als Rohingya-Rebellen Soldaten und Polizisten angriffen und dutzende Sicherheitskräfte töteten. Das Militär reagierte mit brutaler Gegengewalt. Flüchtlinge erzählten, dass Soldaten und Selbstjustiz-Mobs ihre Dörfer niedergebrannt und wahllos Menschen erschossen hätten. Menschenrechtsorganisationen und der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Said Raad al-Hussein, warfen Myanmar eine ethnische Säuberung vor. Die Rohingya sind staatenlos, seit ihnen 1982 die Staatsbürgerschaft entzogen wurde. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR flüchteten bereits mehr als 400.000 Rohingya ins Nachbarland Bangladesch. Agenturen/nd
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Redaktion nd-aktuell.de
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Seit Ende August sind zahlreiche Rohingya vor der Gewalt in Myanmar ins Nachbarland Bangladesch geflohen. Jetzt will Regierungschefin Aung San Suu Kyi sich um eine friedliche Lösung des Konflikts bemühen.
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Aung San Suu Kyi, Gewalt, Minderheit, Muslime, Myanmar
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Politik & Ökonomie
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Politik
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1064202.suu-kyi-verurteilt-menschenrechtsverletzungen-in-myanmar.html
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Wer hat Angst vor den Hunnen?
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Der Traum jedes Schatzsuchers: Als am 3. Juli 1799 der Bauer Nera Vun in seinem Garten nahe des Dorfes Nagyszentmiklós grub, fand er merkwürdige goldglänzende Gegenstände. Damals gehörte der Fundort zum Königreich Ungarn; heute heißt er Sannicolau Mare und liegt in Rumänien. Der Bauer war auf einen der bedeutendsten Goldschätze des europäischen Frühmittelalters gestoßen: insgesamt 23 Goldgefäße, hauptsächlich Krüge, Schalen, Becher, dazu ein Trinkhorn und eine Kanne, die insgesamt fast zehn Kilogramm wiegen und von höchster Qualität sind. Die figürlichen Darstellungen auf einigen Gefäßen zeigen Motive, die im Mittelmeerraum verbreitet waren. Zwei Gefäße weisen die Form gehörnter Löwen auf, weitere sind mit anderen Mischwesen verziert, sogenannten Adler- und Löwengreifen. Herausragend: ein Krug mit vier großen Medaillons. Eines zeigt einen gepanzerten Reiter mit Lanze, der einen Gefangenen abführt, am Sattel hängt der Kopf eines getöteten Feindes. Kein Wunder, dass das Ensemble schon bald nach seinem Auftauchen »Schatz des Attila« genannt wurde, nach dem Hunnenkönig, der im 5. Jahrhundert Europa in Angst und Schrecken versetzte. Der Schatz gibt immer noch Rätsel auf: Woher stammen die kunstvollen Gegenstände, wann entstanden sie? Bis heute fehlen exakte Vergleichsstücke. Nach Meinung von Forschern dürfte das Tafelgeschirr im 8. Jahrhundert einem awarischen Fürsten gehört haben, vielleicht sogar dem Khagan, dem obersten Führer. Herstellungsort des Tafelgeschirrs könnte Byzanz (Konstantinopel) gewesen sein. Teile des Schatzes stehen derzeit als Leihgabe des Wiener Kunsthistorischen Museums im Mittelpunkt einer hochgradigen Sonderausstellung im Landesmuseum Halle. Sie führt in die reiternomadischen Reiche der Völkerwanderungszeit und des frühen Mittelalters ein. Während es über solche Nomadenherrscher wie Attila oder Dschingis Khan in Deutschland bereits Ausstellungen gab, vermisste man bisher eine zu einem so komplexen Thema wie das hier behandelte. Erstmals werden die großen Reitervölker der Hunnen, Awaren und Ungarn in vergleichender Perspektive und mit ihren Beziehungen zu ihren Nachbarn – Germanen, Weströmisches und Oströmisches Reich – vorgestellt. Die Hunnen verheerten auf ihren Feldzügen im 4. und 5. Jahrhundert große Teile Europas, die Awaren gründeten später im Karpatenbecken ihr Reich (6. bis 8. Jahrhundert), das schließlich von den Franken zerstört wurde. Einen anderen Weg gingen die Ungarn (9./10. Jahrhundert). Nachdem sie 955 auf dem Lechfeld bei Augsburg von deutschen Heeren unter König Otto I., dem späteren Kaiser, besiegt worden waren, stellten sie ihre Raubzüge ein, wurden sesshaft, übernahmen das Christentum und gründeten unter der Dynastie der Arpaden einen europäischen Feudalstaat. Sinnbildlich dafür steht die Stephanskrone, eine Nachbildung des Diadems des ersten ungarischen Königs Stephan. Mit Exponaten von 30 Museen und Sammlungen aus sechs Ländern (Österreich, Tschechien, Ungarn, Polen, Slowakei und Deutschland) gibt die Ausstellung einen Überblick über diese Entwicklung. Das findet seine Ergänzung durch Bildmaterial aus der Mongolei, wo heute noch nomadische Traditionen und Viehwirtschaft lebendig sind. Im vergangenen Jahr war die Ausstellung auf der Schallaburg in Österreich zu sehen. Für Halle wurde sie etwas modifiziert und um einen Bereich ergänzt, der die Spuren der Steppennomaden in Mitteldeutschland in den Blick nimmt. Dazu werden Funde aus Sachsen-Anhalt und Thüringen präsentiert. Wie die Sonderausstellungen früherer Jahre im Landesmuseum Halle ist auch diese nicht nur gut bestückt, sondern auch hervorragend gestaltet. Der Besucher betritt das Atrium und sofort zieht ihn die Ausstellung in ihren Bann: In der Mitte des Rondells glänzen fünf Gefäße des Goldschatzes von Sannicolau Mare/Nagyszentmiklós, umgeben von weiteren Preziosen. Im Hintergrund ragt die lebensechte Rekonstruktion eines awarischen Reiterkriegers auf, die erstmals im Ausland gezeigt wird. Das Grab des in voller Rüstung und mit Pferd beigesetzten Kriegers wurde 2017 bei Derecske (Ungarn) gefunden. Kampf gehörte zum Alltag der Steppenreiche; ihre Krieger galten als zäh, wendig und diszipliniert, beherrschten Waffen wie Bogen, Lanze und Schwert. So schossen die Hunnen im Reiten mit ihren weit reichenden Reflexbögen, während die Awaren mit dem Säbel fochten. Eurasien, das weltweit größte zusammenhängende Steppengebiet, das sich über 7000 Kilometer von Nordwestchina bis in den Osten Österreichs erstreckt, bot günstige Bedingungen für die nomadische Viehwirtschaft und Lebensweise. Es waren wohl die eurasischen Steppennomaden, die erstmals Pferde domestizierten. Schließlich brachten die Awaren den Steigbügel nach Europa, eine Innovation, welche die Reiterei revolutionierte. Die nach Europa vordringenden Reiternomaden hatten im Karpatenbecken ihre Basislager, in die sie sich nach ihren Raubzügen zurückzogen. Aufschluss über ihre Lebensweise geben die Gräber von Mitgliedern der gesellschaftlichen Elite, die auf der Ausstellung mit ihren Beigaben – Schmuck, Waffen, reich verzierten Gürteln und Pferdezaumzeug, Tafelgeschirr etc. – präsentiert werden, zum Teil mit ihren ebenfalls bestatteten Pferden. Dafür stehen die Prunkgräber ungarischer Fürstlichkeiten von Gnadendorf (Österreich) und Zemplin (Slowakei) mit reich verzierten Säbeln. Weitere Teile der Ausstellung sind thematischen Komplexen wie Bewaffnung, Wirtschaft, religiösen Kulten und der Landnahme der Reiternomaden gewidmet. Eine sehenswerte Exposition, die den Blick weitet – über das herkömmliche Bild von Reiternomaden, darunter den Hunnen, das Kaiser Wilhelm II. martialisch bediente, als er am 27. Juli 1900 in Bremerhaven ein deutsches »Expeditionskorps« zur Niederschlagung des Boxeraufstandes im chinesischen Kaiserreich verabschiedete. Der deutsche Monarch tönte: »Kommt ihr vor den Feind, so wird derselbe geschlagen! Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht! Wer euch in die Hände fällt, sei euch verfallen! Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in Überlieferung und Märchen gewaltig erscheinen läßt, so möge der Name Deutscher in China auf 1000 Jahre durch euch in einer Weise bestätigt werden, daß es niemals wieder ein Chinese wagt, einen Deutschen scheel anzusehen!« Auch daran sollte heute erinnert werden, da die Beziehungen der westlichen Welt zu China als weiter aufstrebendem Global Player auf einen Tiefpunkt gesunken sind. »Reiternomaden in Europa – Hunnen, Awaren, Ungarn«, bis 25. Juni 2023 im Landesmuseum für Vorgeschichte Halle, dienstags bis freitags von 9 bis 17 Uhr geöffnet; Samstag, Sonntag und Feiertage von 10 bis 18 Uhr. Begleitband, 294 S., geb., 35,90 €.
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Hubert Thielicke
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Sie waren keine wüsten Gesellen, die nur auf Zerstörung aus waren: Ein Sonderausstellung in Halle führt in die reiternomadischen Reiche der Völkerwanderungszeit und des frühen Mittelalters ein.
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China, Kunstausstellung, Ungarn
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Feuilleton
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Kultur Reiternomaden
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2023-02-09T15:59:53+0100
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2023-02-09T15:59:53+0100
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2023-02-10T18:04:58+0100
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1170844.wer-hat-angst-vor-den-hunnen.html
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Chiara Malz – Die Klimapolizistin
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In ihren Instagram-Storys veröffentlichte Chiara Malz am Montagmorgen Ausschnitte von zahlreichen Social-Media Kommentaren, in denen sie beleidigt wird. Die 32-Jährige sei »ein peinliches Stück Dreck«, »einfach nur widerlich« oder »eine Schande für die Polizei«. Was war geschehen? Wenige Stunden zuvor hatte die Nachrichtenagentur dpa ein Porträt über Malz und ihre Aktivitäten bei der Klimaschutzgruppe Letzten Generation veröffentlicht, das auf zahlreichen Portalen erschien. Eine Polizistin, die bei den Klimaklebern aktiv ist, das brachte die Gemüter zum Kochen. Chiara Malz hat ihre Geschichte schon mehrfach erzählt, der Unmut darüber brachte ihr ein Disziplinarverfahren ein. Sie will sich in dem Verfahren »kritikfähig zeigen für den Fall, dass ich mich da nicht richtig verhalten habe«. Dabei hat sie bisher nichts Böses getan. An Straßenblockaden will sich die junge Frau nicht beteiligen. Bei der Bundespolizei, für die sie in Rostock arbeitet, dürfte sie auch nicht zu oft in die Not getrieben werden, ihre Mitstreiter von Straßen räumen zu müssen. Bei der Letzten Generation ist Malz, die wegen ihrer Schwangerschaft derzeit nicht im Dienst ist, in der Vernetzungsgruppe mit der Polizei aktiv. Sie seien sieben Leute, erzählt Malz der dpa. Eine Person habe sich wegen des Disziplinarverfahrens etwas zurückgezogen. Im Juni war Chiara Malz an der Hochschule der Polizei in Münster und hat ihren Kolleg*innen den Aktivismus der Gruppe erklärt. CDU und FDP in Nordrhein-Westfalen äußerten Kritik. Markus Thiel von der Hochschule verteidigt ihre Einladung. Es sei immer wichtig, auch die andere Seite zu hören; Malz habe »den Blickwinkel auf alle Seiten«, das mache sie zu einer besonders interessanten Referentin. Manche Kollegen sind weniger erfreut über Malz. Ein Vertreter der rechten Polizeigewerkschaft DPolG ätzte kürzlich: »Niemand wird sie aufhalten, ihre Kündigung bei der Polizei einzureichen.« Er sei sicher, viele Kollegen würden sie dabei »unterstützen«.
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Sebastian Weiermann
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Ihr Engagement bei der Letzten Generation bringt Chiara Malz nicht nur Hasskommentare ein, auch im Job hat sie Probleme. Die 32-Jährige ist Polizistin.
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Hochschulpolitik
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Politik & Ökonomie
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Politik Letzte Generation
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2023-08-21T16:08:35+0200
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2023-08-21T16:08:35+0200
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2023-08-22T15:29:10+0200
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1175682.chiara-malz-n-die-klimapolizistin.html
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Manche Körper sind politischer als andere
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Das Festival »XPOSED« präsentierte zusammen mit der Berlinischen Galerie unter dem Titel: »Queeres (Auf-)Begehren« sechs internationale Kurzfilme im Rahmen des Online-Projekts »Out and About. Queere Sichtbarkeiten in der Sammlung der Berlinischen Galerie«. Dabei werden widersprüchliche geschlechtliche Codes als anarchistische Strategie gegen die herrschende Norm gesetzt. Die Performancekünstler*in Va-Bene lebt über den Körper die Kunst im Alltag aus. Sie*er begibt sich heute in Frauenkleidern und morgen in Männerkleidung auf die Straßen Ghanas. Das Klischee von afrikanischer Kunst nicht bedienend und die eigene Community über das Cross-Dressing brüskierend wird Va-Bene doppelt ausgegrenzt. Ausgeschlossen vom globalen Kunstdialog und vom Familien- und Freundeskreis setzt Va-Bene sich mit den eigenen Ängsten und der Angst der Anderen vor sichtbar gelebter fluider Genderidentität auseinander. »Wenn man weiß, dass man anders ist, muss man den Mut haben, sich selbst ins Gesicht zu sehen, dann der Familie, dann der Gesellschaft«, so eine männliche Stimme aus dem Off im Film »Batería«. Im verlassenen Gefechtsstand der Festung del Morro haben die Homosexuellen Havannas zwar eine abgelegene »Cruising-Area« gefunden, nicht aber ihren Schutzraum. Bedroht durch homophobe Eindringlinge ist die Angst vor Gewalt ein ständiger Begleiter. Dennoch gewährt dieser klaustrophobische Ort die sexuelle Freiheit, die sich die Kubaner ebenso erträumen wie die Utopie eines sicheren Raums. Nicht von Ungefähr bedient sich die Kamera einer Unschärfe, die die Kälte der Mauern verunklart: »Wir befinden uns noch immer im Kampf.« In den 1980er- und 90er-Jahren stand der Club »La Piaff« in Córdoba, der zweitgrößten Stadt Argentiniens, für einen Freiraum der Drag-Szene. Die Dokumentation »Playback« der Regisseurin Agustina Comedi erzählt die Geschichte dieses Orts. Die einzige noch lebende Dragqueen des Clubs liefert zu VHS-Aufnahmen der Auftritte ein eindringliches Bild der Aidskrise. Dass eine Therapie ab 1996 auch in Argentinien verfügbar war, hat den bereits Infizierten wenig genützt. Die Medikamente gab es nur in der Hauptstadt. Dabei spendeten die Dragqueens ab 1991 alle Clubeinnahmen an das Krankenhaus, in dem die Erkrankten versorgt wurden. Originalaufnahmen aus den 1980er-Jahren zeigt auch der Beitrag »Pirate Boys« aus der Trans-Szene, gedreht 1981 im besetzten »Tuntenhaus« in Berlin. Der Film beginnt mit einer Fotografie der Punk-Autorin Kathy Acker (1947-1997). Del LaGrace Volcano (*1957), »Multigender-Hybrid« und »Teilzeit-Genderterrorist«, wie Volcano sich selbst bezeichnet, hat Acker in ihrem Todesjahr mit den Narben ihrer Brustkrebsoperation fotografiert. Diese ähneln den Narben von Transmännern, die jedoch nicht als Verstümmelung, sondern als Vervollkommnung der Körper verstanden werden sollten. Deformation und Dysfunktionalität werden in eine anarchistische Rebellion gegen gesellschaftliche Normen umformuliert. In Ackers Punk-Romanen »Pussy« (1995) und »Pussy, King of the Pirates« (1996) erobern Gender᠆hybride wie die »Pirate Boys« die Städte und transformieren lustvoll die Körper, die keiner staatlichen oder medizinischen Gewalt unterliegen sollten. Misogyne Mediziner aus allen Jahrhunderten und verstörende Bilder aus der Medizingeschichte belegen, dass Frauen weder Lust noch Selbstbestimmung über ihre Reproduktionsorgane zugestanden wurden und werden. Ausgehend vom Pygmalion-Mythos, der beschreibt, wie die von ihm geschaffene Marmorstatue der Galatea von Venus zum Leben erweckt wird, haben sich Männer seither unendlich viele (sexuell verfügbare) Galateen erschaffen: »Galatée à l’infini«. Der Film beginnt mit aufblasbaren Sexpuppen und endet mit Bildern aus Sexbot-Fabriken. Auf die Frage des männlichen Schöpfergottes: »Bist du glücklich, am Leben zu sein?« antwortet ein weiblicher Sexbot: »Dein Tonfall impliziert, dass ich glücklich sein sollte.« Der mit sphärischen Klängen und Tanz experimentierende pakistanische Beitrag »Journey to the CharBagh« (Reise zum CharBagh) greift auf die Mystik zurück. Über das repetitive Rezitieren der Frage »Can you suffer?« (Kannst du leiden?) wird mittels Musik und Tanz die meditative Befreiung der Körper aus allen einschränkenden und erniedrigenden normativen Zwängen gesucht. Die von Zān und Rakae Jamil komponierte Musik wird mit Gedichten von Momina Mamood (»Eden verlassen«) und Naveed Alam (»Geschichtenerzähler«) über farbintensive Bilder dicht miteinander verwoben. Queere Körper und genderambivalente Personen, so zeigen die Beiträge, sind niemals unsichtbar. Sie durchbrechen auf vielfältige Weise normative Erwartungshaltungen in Bezug auf Familie, Fortpflanzung und Rollenerwartungen und korrumpieren so das binäre System. Queere Körperpolitiken beschreiben kein festgeschriebenes Identitätskonzept, sondern formulieren eine generelle Kritik an Identität. Das Film-Screening »Queeres (Auf-)Begehren« von »XPOSED Queer Film Festival Berlin« fand im Rahmen des Online-Projekts »Out and About« der Berlinischen Galerie statt. Mehr Infos unter: berlinischegalerie.de/out-and-about
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Geraldine Spiekermann
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Das Berliner Filmfestival »XPOSED« zeigt online sechs Kurzfilme zu queeren Themen. Dabei werden widersprüchliche geschlechtliche Codes als anarchistische Strategie gegen die herrschende Norm gesetzt.
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Berlin, Film
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Feuilleton
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Kultur Filmfestival »XPOSED«
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1145068.filmfestival-xposed-manche-koerper-sind-politischer-als-andere.html
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Die Rezension - Köstliche Graupen
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Im Winter darf es ruhig einmal etwas kalorienreicher auf dem Speisezettel aussehen. Wie wäre es mit der russischen Küche? Abwechs-lungsreich, herzhaft, vielfältig erfreuen Speisen aus Gerste, Buchweizen, Rüben, Kohl, Gurken, Beeren und Pilzen den Gaumen. Bekannt über das große Land mit ganz unterschiedlichen Esskulturen hinaus sind Pilzsuppen, Teigtaschen, Fischgerichte – vielfach mit Sahne und Butter angerichtet und daher nicht unbedingt für eine Diät geeignet. Gesund sind die zahlreichen Kornprodukte, die traditionell in Russland angebaut werden: Gerste, Hirse, Weizen und Roggen. Die abgeschliffenen Kerne des Gerstenkorns nannte man Perlgraupen. Aus ihnen wurde ein Brei hergestellt, der die Lieblingsspeise von Peter dem Großen gewesen sein soll. Diese Perlgraupengrütze wurde im Volksmund einfach »Dicke Grütze« genannt. Sie war sättigend und die Graupen hatten einen perlenähnlichen matten Glanz, der dem Gericht den Namen gab. Ganz so einfach war die Zubereitung aber früher auch nicht, denn die Kerne mussten mehrfach bei bestimmten Temperaturen gewaschen werden. Nicht zu vergleichen mit den vorbehandelten Gerstenprodukten, die uns heute den Gebrauch erleichtern. Aber vielleicht schmecken diese auch nicht mehr ganz so authentisch. Die »Russische Küche« ist ein Originalwerk – gut übersetzt! Ein dickes Buch mit sehr schönen Fotos. Wer Hühnerpastete und Sauerkrautsuppe betrachtet, ohne Appetit zu bekommen, dem muss irgend etwas fehlen ... Gute Klassifizierung und perfekte Rezeptbeschreibungen der mitunter etwas komplizierten Arbeitsgänge machen das gewohnt eckige Kochbuch rund. Das große Buch der russischen Küche, Leopold Stocker Verlag, 208 S. zahlr. Abb., geb., 29,90 €.
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Silvia Ottow
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Küche, Russland
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Gesund leben
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/162761.die-rezension-koestliche-graupen.html
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Studie weist auf Gefährlichkeit von Islamistinnen hin
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Brüssel. Weibliche Dschihadisten sollten einem Forschungsbericht zufolge als ernsthafte Bedrohung und nicht bloß als »Bräute« von Terroristen betrachtet werden. Eine Studie der slowakischen Nichtregierungsgruppe Globsec ergab, dass Frauen und Mädchen zwar eine Minderheit unter den in Syrien und dem Irak kämpfenden Dschihadisten bilden, viele aber eine erhebliche Bedrohung darstellen. Grundlage der Studie waren Daten von 326 europäischen Dschihad-Kämpfern, die seit 2015 festgenommen, abgeschoben oder getötet wurden. In dem am Mittwoch in Brüssel veröffentlichten Bericht heißt es, Dschihadistinnen in Europa oder Rückkehrerinnen aus Gebieten der Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) sollten als Gefährderinnen betrachtet werden, die in der Lage sind, bei zukünftigen Angriffen eine aktive Rolle zu spielen. Unter den 43 weiblichen Verdächtigen in der Studie gebe es Fälle von »Anschlagsplanerinnen, aktiven weiblichen Rekruteurinnen von Dschihadisten, Propagandistinnen« und solche, die Kämpfer beherbergt hätten. Frauen im Alter von über 40 Jahren könnten nicht bloß als »Bräute« von Terroristen gesehen werden, da sie zunehmend anspruchsvolle und wichtige Rollen in terroristischen Netzwerken spielten. Ein weiteres Ergebnis des Berichts ist, dass Maßnahmen zur Entradikalisierung von Kämpfern, ob männlich oder weiblich, selten erfolgreich sind. Niederländische Behördenmitarbeiter hätten beispielsweise nach jahrelanger Arbeit nur zwei Fälle von Häftlingen nennen können, die deradikalisiert wurden, sagte der niederländische Sicherheitsforscher Bart Schuurman. »Es ist in den meisten Fällen fast unmöglich.« Stattdessen konzentrierten sich Gefängnisbehörden zunehmend darauf, Dschihadisten von anderen Häftlingen zu isolieren, um deren Radikalisierung zu verhindern. AFP/nd
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Redaktion nd-aktuell.de
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Sie sind nicht einfach nur Anhängsel ihrer Männer, sondern weiterhin radikal und eine Gefahr: Weibliche Dschihadistinnen in Europa und Heimkehrerinnen aus IS-Gebieten sollten als Gefährderinnen betrachtet werden, meinen Forscher.
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IS, Islamismus, Terror, Terrorgefahr
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Politik & Ökonomie
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Politik Dschihad
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1125705.studie-weist-auf-gefaehrlichkeit-von-islamistinnen-hin.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
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Film »Blitz«: Antifaschistisches Ausrufezeichen
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Als der neunjährige George (Elliott Heffernan) mit anderen Kindern 1940 während der deutschen Bombardierungen Londons aus der Stadt evakuiert und aufs Land verschickt werden soll, haut er kurzerhand ab und macht sich auf den Heimweg zu seiner Mutter Rita (Saoirse Ronan). Steve McQueens neuer Film »Blitz«, betitelt nach dem Bombenterror der Nazis zu Beginn der 40er Jahre, erzählt ebenso einfühlsam wie knallhart eine Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg, in der es um die Diversität der Londoner Arbeiterklasse und ihren Alltag im Kampf gegen den deutschen Faschismus und den Rassismus im eigenen Land geht. Der nichtweiße George haut ab, weil er zum einen seine Mutter vermisst und zum anderen keine Lust hat, im Zug die üblichen rassistischen Pöbeleien anderer Kinder zu ertragen. Er springt aus der fahrenden Eisenbahn, klettert in einen Güterzug, wo er anderen Jungs begegnet, die ebenfalls abgehauen sind, und irrt mehrere Tage lang durch das vom deutschen Bombenhagel heimgesuchte London, während seine alleinerziehende Mutter verzweifelt nach ihm sucht. »Blitz« ist ein kämpferischer und politischer Film über die Londoner Arbeiterklasse, die vor allem auch mit Selbstorganisation und solidarischer Hilfe durch diese schweren Tage kommt. Steve McQueen fächert in seinem bildgewaltigen Epos den Alltag der Menschen im London jener Zeit auf. Es geht in Luftschutzbunker, wo die Londoner singend aneinanderkauern, während oben die Bomben einschlagen und ganze Straßen in Flammen stehen. Die Feuerwehr ist im Dauereinsatz. In der Eröffnungsszene des Films will ein Feuerwehrmann einen riesigen Schlauch auf ein flammendes Inferno richten – es kommt kein Wasser, bis der Schlauch dann plötzlich doch Druck bekommt und die Spritzdüse den Feuerwehrmann wie mit einem Hammer umhaut und drei Männer nötig sind, um den wild um sich spritzenden Löschschlauch wieder einzufangen. Die aus den Fugen geratene Infrastruktur der Stadt ist durchgängiges Motiv dieses rasant erzählten Films. »Blitz« zeigt eine europäische Großstadt, die tagsüber einen fast schon normal wirkenden Alltag hat – mit belebten Straßen, den roten Bussen, die durch die Stadt flitzen, aber auch Arbeitern, die mit dem Aufräumen der Zerstörungen beschäftigt sind, während sich London dann nachts in einen Albtraum aus mörderischem Bombenhagel und alles zerstörenden Feuersbrünsten verwandelt. In Rückblenden wird aber auch die Geschichte Ritas und ihres aus Grenada stammenden Mannes erzählt, der von den Behörden abgeschoben wird, sodass George ohne Vater aufwächst. Es geht um die romantische Beziehung seiner Eltern, um die karibische Dancehall-Kultur der 30er Jahre in London, aber auch um rassistische Anfeindungen, die das schwarz-weiße Paar erlebt. Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen. In der Gegenwart des Krieges arbeitet Rita in einer Rüstungsfabrik. Die erhält von der BBC Besuch in den Werkshallen, wo Bomben zusammengebaut werden. Bei einer Live-Sendung mit Musikdarbietungen singt Rita als talentierte Arbeiterin live vor einem Millionenpublikum. Bis ihre Kolleg*innen am Ende des herzergreifenden Songs die Bühne stürmen und politische Parolen für die Öffnung der U-Bahnhöfe für die Bombenopfer fordern und dann von Polizisten abgedrängt werden. »Blitz« ist ein kämpferischer und politischer Film über die Londoner Arbeiterklasse, die vor allem auch mit Selbstorganisation und solidarischer Hilfe durch diese schweren Tage kommt. So wie in einem Bunker, in dem Rita nachts als Helferin tätig ist, um am nächsten Morgen wieder in der Fabrik zu stehen und mit anderen Frauen zusammen an der Drehbank und mit dem Schweißgerät Waffen gegen die Nazis zu produzieren. George sucht sich währenddessen seinen Weg durch London, trifft auf Gangster, die ihn zwingen, Einbrüche für sie zu begehen und in halb verfallene Geschäfte einzusteigen und dort zu plündern. Er trifft aber auch auf den aus Nigeria stammenden Luftschutz-Wachmann Ife (Benjamin Clementine), der ihn aufliest, sich um ihn kümmert und in einen Luftschutzbunker bringt, als wieder, wie jede Nacht, die Sirenen heulen und die deutschen Bomben fallen. In einem Keller voller Menschen, wo es eine Auseinandersetzung zwischen weißen Rassisten, einer pakistanischen Familie und einigen Juden gibt, vermittelt Ife und hält eine flammende Rede für die Diversität Londons und seiner Menschen, die genau deswegen gegen die Nazis kämpfen, weil sie sich nicht vom Hass spalten lassen wollen. Das wirkt zwar ein wenig pathetisch, ist aber ein unheimlich starker Moment in diesem Film und zeigt, dass diese Geschichte trotz des historischen Rahmens brisante Aktualität besitzt. Dieser Moment lebt vor allem von der großartigen schauspielerischen Leistung Benjamin Clementines, der in Großbritannien als Musiker bekannt ist, aber auch unlängst in »Dune« als imperialer Herold einen Auftritt hatte. Am Ende schafft es George, zu seiner Mutter zurückzukommen, aber nichts ist mehr so, wie es vorher war. Der deutsche Bombenkrieg gegen England, der sich vor allem gegen die Zivilgesellschaft richtete, ist ein hierzulande immer noch nicht genügend ins Bewusstsein gerücktes Stück Geschichte. In Zeiten der rechten globalen Mobilmachung ist Steve McQueens bewegender Film ein kämpferisches, antifaschistisches Ausrufezeichen. »Blitz«, Großbritannien/USA 2023. Regie: Steve McQueen. Mit: Saoirse Ronan, Harris Dickinson, Benjamin Clementine. 120 Min. Läuft im Kino.
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Florian Schmid
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In Steve McQueens neuem Film »Blitz« geht es um den Bombenterror der Wehrmacht auf London und die sogeannten »kleinen Leute« und ihre Widerstandskraft.
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Film, Großbritannien, Klassenkampf, Rassismus
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Feuilleton
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Kultur Kino
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2024-11-07T13:42:46+0100
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2024-11-07T13:42:46+0100
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2024-11-10T10:10:07+0100
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1186584.film-blitz-antifaschistisches-ausrufezeichen.html
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Reaktivierung der Siemensbahn in Berlin-Spandau freut nicht alle
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Wo die Nonnendammallee in den Siemensdamm übergeht, steht und fließt der Autoverkehr auf acht Spuren. Unterirdisch rattern die Züge der Berliner U-Bahnlinie 7 heran und halten an der Station Siemensdamm. Fahrgäste laufen die Aufgänge hoch und hinunter. Es ist eine quirlige, laute Gegend. Doch schon wenige Schritte nach Norden ein ganz anderes Bild: An den schmalen Straßen der alten Werkssiedlungen des Siemenskonzerns parken jede Menge Pkw, aber es fahren nur ab und zu welche hin und her. An der kleinen Grünanlage Jugendplatz haben sich Anwohner für ein Schwätzchen auf den Bänken niedergelassen. Es gibt Straßen, die von Wohnhäusern überspannt sind – und von Viadukten, auf denen Bäume und Sträucher wachsen. Dort oben verläuft die Trasse einer 1928 in Betrieb genommenen S-Bahnlinie von Jungfernheide über Wernerwerk und Siemensstadt nach Gartenfeld. Aber dort verkehren bereits seit 1980 keine Züge mehr. Bis 1980 befand sich die S-Bahn in ganz Berlin in der Verfügungsgewalt der Reichsbahn, die in der DDR fortbestand, während in der BRD im September 1949 die Bundesbahn gegründet wurde. Nur vier Tage nach dem Mauerbau am 13. August 1961 begannen Westberliner dieses günstige Verkehrsmittel in Frontstadtmanier zu boykottieren. Parole: Kein Pfennig für SED-Generalsekretär Walter Ulbricht, denn jeder Westberliner S-Bahnkunde bezahle mit seinem Fahrschein den Stacheldraht, mit dem die Grenze zunächst gesichert wurde. Die Leute stiegen lieber in die U-Bahn, für die neue Linien zum Teil fast parallel gebaut wurden. Die Verlängerung der U7 bis Rohrdamm wurde 1980 eröffnet, die bis Rathaus Spandau 1984. 1928, bei der Inbetriebnahme der sogenannten Siemensbahn mit den Stationen Wernerwerk, Siemensstadt und Gartenfeld, zählte Berlin knapp 4,3 Millionen Einwohner. 1944 rutschte die Bevölkerungszahl unter die Marke von vier Millionen. Das mit der Wiedervereinigung prognostizierte Wachstum blieb in den 90er Jahren aus. Es gab dann zeitweise sogar nur weniger als dreieinhalb Millionen Einwohner. Doch mittlerweile wächst und wächst die Zahl, ist schon bei fast 3,9 Millionen angelangt und soll voraussichtlich 2035 die Marke von vier Millionen wieder knacken, 2070 mit 4,4 Millionen sogar fast den Rekordstand von knapp 4,5 Millionen Einwohnern des Jahres 1942 erreichen. Die Berliner und die Berufspendler aus dem Umland merken es schon an immer mehr und immer längeren Staus auf den Straßen und brechend vollen Zügen im Berufsverkehr. Da ergibt es für Michael Wollitz von der Planungswerkstatt Neue Siemensstadt durchaus Sinn, die Siemensbahn zu reaktivieren. Denn in der U7 sitzen und stehen die Fahrgäste nicht selten dicht gedrängt. Da könnte die S-Bahn für Entlastung sorgen. Die Meinungen darüber gehen in der von zehn bis 15 aktiven Anwohnern getragenen Planungswerkstatt allerdings auseinander. Hans-Ulrich Riedel etwa hält die S-Bahn wegen der U7 für überflüssig, wie er am Mittwochabend bei einer von der Planungswerkstatt organisierten Anwohnerversammlung sagt. 50 Interessierte sind im Saal der evangelischen Kirchengemeinde am Schuckertdamm zusammengekommen. Riedel spielt ihnen zur Begrüßung den Signalton beim Türenschließen der neusten S-Bahnen vor. Dieses belästigende Geräusch werden die Anwohner der 4,5 Kilometer langen Strecke künftig 124 Mal am Tag je Richtung ertragen müssen, warnt er. Die fahrenden Züge würden einen Schallpegel von rund 64 Dezibel erzeugen und damit etwa so laut sein wie ein Rasenmäher. Für einen der Männer im Saal ist das alles eine Horrorvorstellung. Denn er lebt in einem 1984/85 an der Station Gartenfeld errichteten Haus – das Schlafzimmer und der Balkon nur fünf Meter von den Gleisen entfernt. So nah hätte kein Wohnhaus eine Baugenehmigung erhalten, wenn seinerzeit nicht vermutet worden wäre, dass dort niemals wieder Züge verkehren, glaubt Riedel, der als Geschäftsführer der Linksfraktion in der Spandauer Bezirksverordnetenversammlung tätig ist. Dass es nun doch dazu kommen soll, liegt nicht zuletzt an einem Vorhaben des Siemenskonzerns. Er möchte in der Siemensstadt einen sogenannten Square errichten, ein Viertel mit Büros und Gewerbe, 3000 Wohnungen, einer Schule und Kitas. Der Bundestagsabgeordnete Helmut Kleebank (SPD) weiß aus seiner früheren Verwendung als Bezirksbürgermeister etwas über die Zusammenhänge. Es seien verschiedene Standorte weltweit für diesen Square im Gespräch gewesen. Hätte sich das Land Berlin nicht bereit gefunden, die Reaktivierung der S-Bahnstrecke zu bezahlen, hätte es leicht sein können, dass Siemens woanders investiert. Doch die gepriesene Möglichkeit, in die Siemensbahn einzusteigen und in 38 Minuten am Hauptstadtflughafen BER in Schönefeld zu sein, kann Hans-Ulrich Riedel nicht überzeugen. Er hat es ausprobiert. Mit den bestehenden Bahnverbindungen sei es in 45 Minuten zu schaffen. Auf dem parallel geführten Abschnitt wäre die S-Bahn nur eine Minute schneller als die U-Bahn – wenn sie denn mit Höchstgeschwindigkeit fährt. Für bis zu 80 Kilometer in der Stunde soll die Trasse ausgebaut werden. Aber teils müsste das Tempo auf 60 Stundenkilometer gedrosselt werden, sagt Riedel. Er spricht von Kosten in Höhe von 880 Millionen Euro und hält das für eine Verschwendung von Steuergeld. Ein Schildbürgerstreich sei die Idee, die Strecke später über Gartenfeld hinaus bis nach Hakenfelde zu verlängern und dafür eventuell in einen Tunnel zu schicken. Denn um abzutauchen, müsste der Bahndamm dann rückwärts bis Siemensstadt aufgebuddelt werden. Riedel glaubt allerdings nicht, dass es dazu kommt. Er vermutet, dass es früher oder später auffallen werde, dass die Verlängerung bis Hakenfelde unnötig sei. Günstiger sei eine Erschließung per Straßenbahn vom ehemaligen Flughafen Tegel her. Auch dazu gibt es bereits Überlegungen. In der Projektbeschreibung der Deutschen Bahn (DB) sind 500 Millionen Euro veranschlagt, allerdings Stand 2021. Bekanntlich sind die Baupreise seitdem erheblich gestiegen. Was das für die Siemensbahn bedeutet, kann DB-Sprecher Gisbert Gahler aber nicht beziffern. »Das Vorhaben befindet sich noch in der Planungsphase. Da der Markt in Bewegung ist, ist es wenig hilfreich, in kurzen Abständen neue Prognosen zu erstellen«, erläutert er. »Abgerechnet wird, wenn alle Kosten bekannt sind.« 2025 sollen die ersten vorbereitenen Baumaßnahmen starten, 2026 würde es dann richtig losgehen und 2029 soll die Verbindung von Jungfernheide nach Gartenfeld stehen. Rund 30 Brücken müssen dafür saniert oder neu gebaut werden, da seit 1980 auch einzelne Brücken abgerissen worden sind. Die historischen Bahnhöfe sollen aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt und barrierefrei gestaltet werden. Dem Lärmschutz sollen Matten unter dem Schotter und Schienen-Schmieranlagen dienen. Vorteil des Vorhabens: Da die Strecke offiziell all die Jahre seit 1980 bestand und dort quasi nur vorübergehend keine Züge verkehrten, braucht es kein Planfeststellungsverfahren, das allein mindestens zehn Jahre erfordern würde. Hier braucht es die zehn Jahre von den ersten Überlegungen im Jahr 2019 bis zur Realisierung, geht also bedeutend schneller. »Wir haben noch bis 2026 Zeit«, sagt Riedel. »Genau wissen wir es nicht, aber so ungefähr.« Es wäre vielleicht ratsam, Geld für einen Rechtsanwalt zu sammeln, um juristischen Sachverstand einzuholen und sich gerichtlich wehren zu können, meint Riedel. Er hat von einem Bürger einen Brief erhalten, in dem dieser mitteilt, an den Krach werde man sich gewöhnen. Er freue sich auf die S-Bahn. Da dieser Anwohner mutmaßte, Riedel werde dieses Schreiben auf der Versammlung nicht vortragen, tut Riedel es erst recht, um das Gegenteil zu beweisen. »Wir werden hier nicht nach Hause gehen und eine Lösung haben«, hatte Riedel zu Beginn des Treffens wissen lassen. Man wolle zunächst Vorschläge sammeln. Einer gefällt Riedel sehr gut: Eine Frau wünscht sich statt Gleisen einen Radschnellweg auf dem Bahndamm.
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Andreas Fritsche
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Die Anwohner der Siemensstadt sind sich uneinig über die Reaktivierung der Siemensbahn. Einerseits könnte sie die volle U-Bahnlinie 7 entlasten, andererseits verursacht sie Lärm für die dicht angrenzenden Wohnhäuser.
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Bahnverkehr, Berlin, S-Bahn, Verkehrspolitik
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Hauptstadtregion
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Berlin S-Bahnstrecke
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2024-05-10T15:54:13+0200
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2024-05-10T15:54:13+0200
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2024-05-14T10:36:46+0200
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1182092.s-bahnstrecke-reaktivierung-der-siemensbahn-in-berlin-spandau-freut-nicht-alle.html
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Sonnenschein, Traumkulisse, Gold: Franziska Preuß holt WM-Titel
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Franziska Preuß hatte gerade ihren 20. Schuss ohne Fehler versenkt, als sich ein Betreuer eine deutsche Fahne von der prall gefüllten Tribüne in Lenzerheide herunterwerfen ließ. Elisabeth Preuß musste sich dort zur gleichen Zeit erst mal kurz auf den Boden setzen. »Ich habe einfach die Fassung verloren. Wir haben viele, viele zähe Jahre mit Franzi hinter uns. Dass wir das jetzt miterleben dürfen, ist einfach unglaublich«, sagte die Mutter der deutschen Top-Biathletin. Die Tränen flossen bei ihr und natürlich auch bei ihrer Tochter, die sich am Sonntag im strahlenden Sonnenschein unglaublich souverän die WM-Goldmedaille im Verfolgungsrennen sicherte. Nach dem letzten Schießen hatte Franziska Preuß fast eine Minute Vorsprung auf die nächste Konkurrentin und konnte wenig später entspannt mit der deutschen Tribünen-Fahne in der Hand über die Ziellinie laufen. »Es war verrückt. Ich habe gegen die Tränen gekämpft, dann musste ich lachen vor Glück. Dieses Rennen werde ich nie vergessen«, erklärte die Weltmeisterin nach dem größten Erfolg ihrer Karriere: »Ich habe schon so oft auf der Schlussrunde um jede Position kämpfen müssen, diesmal war es einfach nur ein Genuss.« Nach Bronze mit der Mixed-Staffel zum Auftakt und Silber im Sprint am Samstag komplettierte die 30-Jährige mit dem ersten WM-Einzeltitel der Karriere ihre Medaillensammlung bei den Titelkämpfen in der Schweiz. Schlüssel zum Triumph war wie so oft in diesem Winter die Nervenstärke der gebürtigen Wasserburgerin am Schießstand. Das war an diesem Tag besonders schwierig, denn bei den ersten beiden Besuchen dort schoss sie gemeinsam mit der von 13 100 Fans fanatisch angefeuerten Schweizerin Lena Häcki-Groß. Die beiden sind Freundinnen, trainieren häufiger in Ruhpolding zusammen und teilten sich auf der Strecke die Führungsarbeit. Nach dem dritten Schießen zog Preuß jedoch inmitten der grandiosen Bergkulisse davon und behielt mit Gold vor Augen auch bei der finalen Prüfung die Nerven. »Sonnenschein, Traumkulisse, Gold – das war heute der perfekte Tag. Und das bei der WM. Danke Lenzerheide!«, schwärmte Preuß. Auf dem Siegerpodest hüpfte sie glücklich in die Höhe, dann kamen ihr bei der deutschen Hymne wieder die Tränen. Kurze Zeit später lag sie sich mit ihren Eltern in den Armen. »Es war sehr emotional. Sie haben wirklich alle Tiefen mitbekommen – das war auch für sie ein magischer Moment«, berichtete Preuß. Ein Moment zum Feiern: Vater Georg hatte in seinem schwarzen Rucksack ein paar Bier (»Wir sind schließlich Bayern«) passenderweise gleich dabei. Bei der WM im vergangenen Jahr im tschechischen Nové Město na Moravě mussten die Eltern ihre Franzi noch trösten, als sie wegen Halsschmerzen nicht zur deutschen Bronze-Staffel gehörte. Auch auf die Heim-WM 2023 hatte Preuß wegen Krankheit verzichten müssen. Doch nach einer Nasennebenhöhlen-OP ist die gesundheitliche Achterbahnfahrt der letzten Jahre endlich beendet. Die Gesamtweltcup-Spitzenreiterin hat schon in der ersten Woche in der Schweiz fast im Alleingang die deutsche WM-Medaillenbilanz der letzten beiden Titelkämpfe egalisiert. Das macht natürlich auch Sportdirektor Felix Bitterling glücklich: »Franzi strahlt eine unglaubliche Gelassenheit aus und hat jede Menge Selbstvertrauen.« Als Grund für den Höhenflug von »Gold-Franzi« sieht Bitterling neben der endlich stabilen Gesundheit vor allem das perfekte Setup, das man gemeinsam gefunden habe. Preuß trainiert nur zum Teil mit der deutschen Mannschaft und ist stattdessen auch viel allein unterwegs. »Man muss selbst die Verantwortung für sich übernehmen und das habe ich relativ kompromisslos gemacht«, hatte Preuß vor der WM erklärt. Diese Einstellung passt perfekt zu der des norwegischen Co-Bundestrainers Sverre Olsbü Roiseland. Er ist eine ganz wichtige Bezugsperson für Preuß und stand am Sonntag auf der Trainerposition am Schießstand auch direkt hinter ihr. »Ich bin stolz, sie hat einen unglaublichen Job gemacht«, sagte Roiseland. Er muss diese Goldmedaille allerdings teuer bezahlen. In der Teambesprechung vor dem Verfolgungsrennen hatte er nach Bronze und Silber nämlich angekündigt, sich die Haare abrasieren zu lassen, falls eine deutsche Biathletin Gold gewinnen sollte. Roiseland: »Mal schauen, wie ich morgen ausschaue.« Schauen muss man auch, wie das Märchen von Franziska Preuß in der zweiten WM-Woche weitergeht. Sie hat theoretisch noch vier Goldchancen und Felix Bitterling meint: »Sie ist in einer tollen Form. Ich würde keine Limits setzen.«
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Lars Becker, Lenzerheide
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Nach vielen Rückschlägen in ihrer Karriere triumphiert Franziska Preuß in Lenzerheide und erfüllt sich damit einen großen Traum. Als 30-Jährige gewinnt sie ihren ersten WM-Einzeltitel.
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Biathlon, Schweiz
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Sport
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Sport Biathlon
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2025-02-16T16:57:57+0100
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2025-02-16T16:57:57+0100
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2025-02-17T18:31:29+0100
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1189092.sonnenschein-traumkulisse-gold-franziska-preuss-holt-wm-titel.html
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Trumps Irrtum
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Donald Trump muss nächste Woche nicht nur das Weiße Haus räumen. Verwehrt blieb ihm auch ein Erfolg in seinem wichtigsten globalen Projekt: die Schwächung Chinas. Der jahrelange Zollkrieg hat weder der US-Wirtschaft genutzt, noch der chinesischen nennenswert geschadet. Denn die Volksrepublik ist längst zu bedeutsam für die globale Wirtschaft geworden. Trumps Nachfolger Joe Biden hat daher nun angekündigt, im Kampf gegen Peking auf die Unterstützung Europas und anderer Verbündeter zu setzen. Damit stellt Biden zum einen klar: Was ihn von seinem Vorgänger unterscheidet, ist nicht das Ziel, es sind vielmehr die Mittel, um es zu erreichen. Gleichzeitig liefert er das Eingeständnis: Allein sind die USA nicht mehr stark genug, China niederzuringen. Seit Jahren versucht die US-Regierung, ihr Gewicht im globalen Handel einzusetzen, um wirtschaftliche und politische Ziele zu verfolgen. Hauptgegner in diesen Kämpfen ist die Volksrepublik. »Handelskriege sind leicht zu gewinnen«, twitterte Trump vor über zwei Jahren und überzog Chinas Importe mit Zöllen. Im Ergebnis rang er Peking ein Phase-I-Abkommen ab. In ihm verpflichtete sich China dazu, 2020 und 2021 zusätzliche US-Güter über 200 Milliarden Dollar zu erwerben. Allerdings ist Peking weit hinter diesen Zusagen zurückgeblieben. Laut Peterson Institute in Washington hat die Volksrepublik bis Ende November 2020 nur etwa die Hälfte der zugesagten Importe getätigt. Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch. Insgesamt hat Chinas Wirtschaft unter dem US-Handelskrieg kaum gelitten. Der Schweizer Bank UBS zufolge verlor das Land zwar bei den mit Zöllen belegten Gütern in den USA Marktanteile von einem Viertel. »Allerdings«, so UBS, »bedeutete das nicht automatisch Einbußen für die chinesischen Unternehmen.« Denn sie umgingen die Zölle für Lieferungen in die USA: Sie verschoben Produktion ins Ausland - zum Beispiel nach Vietnam - oder exportierten Güter in Länder wie Kanada, von wo sie in die USA verkauft wurden. Zudem suchten sich Chinas Konzerne neue Absatzmärkte. So haben die zehn Länder der asiatischen Asean-Gruppe inzwischen die USA als zweitgrößter Handelspartner abgelöst. Insgesamt erlebte Chinas Export daher auch dieses Jahr einen Aufschwung, im Dezember 2020 erreichte der Exportüberschuss ein Rekordhoch. »Der Appetit nach chinesischen Konsumgütern ist ungebremst groß«, meldet die VP Bank. Zudem seien Unternehmen weltweit auf Chinas riesige Produktionskapazitäten angewiesen. Die USA wiederum profitierten nicht von dem Handelskrieg. 2016 war Trump angetreten mit dem Versprechen, das Handelsbilanzdefizit mit China drastisch zu senken. Zwar wird das Defizit dieses Jahr mit rund 310 Milliarden Dollar geringer ausfallen als 2019 - doch liegt es damit deutlich höher als zu Beginn von Trumps Präsidentschaft. Trump hatte zudem angekündigt, die Importzölle würden die US-Industrie dazu animieren, China den Rücken zu kehren und wieder »nach Hause« zu kommen. Dies ist jedoch nicht zu beobachten, Produktion und Verkauf in der Volksrepublik sind noch immer zu lukrativ. Zerschlagen hat sich auch Trumps Hoffnung, heimische Waren würden Importgüter auf dem US-Markt ersetzen. »In dieser Hinsicht war die US-Zollpolitik ein Fehlschlag«, stellt die UBS fest. Denn an die Stelle chinesischer Güter seien schlicht Lieferungen aus anderen Ländern wie Vietnam oder Mexiko getreten. Von daher ist es kein Wunder, dass das Defizit der USA im Handel mit der ganzen Welt 2020 auf rund 900 Milliarden Dollar und damit auf ein Rekordhoch geklettert sein dürfte. Die Rechnung für Trumps Handelskrieg zahlte daher im Wesentlichen nicht China, sondern der/die US-Verbraucher*in. Denn durch die zollbedingte Verteuerung chinesischer Lieferungen und die Umstellung der US-Importe auf - teurere - andere Lieferländer mussten Amerikaner*innen beim Einkauf mehr bezahlen. Das kostete sie laut einer Studie der US-Zentralbank knapp 17 Milliarden Dollar. Das Ziel einer Schwächung Chinas wird Trump-Nachfolger Biden weiterverfolgen. Die Politik seines Vorgängers hinterlässt ihm einige Lehren. »China ist zu groß und zu wichtig für die Weltwirtschaft, als dass man es einfach so herausdrängen könnte«, mahnt Mary Lovely, Ökonomin an der Syracuse University auf dem Finanzportal Bloomberg. Zudem brauchen die USA China als künftigen Produktionsstandort und Absatzmarkt. Denn »auch die US-Industrie profitiert vom China-Boom«, erklärt die VP Bank. Ende September 2020 reichten 3500 US-Unternehmen beim US-Gericht für Internationalen Handel Klage gegen die Regierung ein, weil die Zölle auf Waren aus China im Wert von mehr als 300 Milliarden Dollar noch in Kraft sind. Auf ihre Seite schlägt sich Biden. Er kritisiert nicht Trumps Politik, sondern dass sie nicht zum Erfolg geführt hat: »Den Wettbewerb gegen China und jeden anderen auf der Welt zu gewinnen«, schrieb er in der »New York Times«. Statt auf Zölle und Handels-Deals mit einzelnen Ländern setzt er daher darauf, die multinationale Handelsordnung zu bestimmen. Beim »Schreiben der Regeln des globalen Handels sollten die USA, nicht China, die Führung übernehmen«. Dafür will Biden Allianzen schmieden. Während die Volksrepublik ihre Vorherrschaft ausbaue, habe Trump »Importe unserer engsten Verbündeten als Gefahr für die nationale Sicherheit behandelt und leichtfertig Zölle gegen sie erhoben«, kritisierte Biden. Der effektivste Weg gegen China sei jedoch, eine »vereinte Front von Verbündeten und Partnern« zu bilden. »Die USA repräsentieren etwa ein Viertel der globalen Wirtschaftsleistung«, so Biden. »Agieren wir gemeinsam, so verdoppelt sich unsere Stärke, und China kann es sich nicht leisten, die Hälfte der Weltwirtschaft zu ignorieren.« Das ist ein Angebot an Europa und andere Länder. Es enthält aber auch die Forderung, die US-Führung zu akzeptieren und Alleingänge zu unterlassen. So bezeichnet Biden die von Trump mit Sanktionen bekämpfte deutsch-russische Pipeline Nord Stream 2 als »fundamental schlechten Handel«. Und auch das Ende 2020 geschlossene Investitionsabkommen zwischen der EU und China wurde in Washington mit »Enttäuschung« quittiert. Die »Führung« der USA gibt es für die Verbündeten nicht umsonst. Denn wie Trump, so sagt auch Biden: »Unsere wirtschaftliche Sicherheit ist nationale Sicherheit«.
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Stephan Kaufmann
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Der Handelskrieg gegen China ist gescheitert. Vorerst.
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China, Donald Trump, USA
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Politik & Ökonomie
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Politik USA und China
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1147054.trumps-irrtum.html
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»Catcalling« ist kein Kompliment
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»Es ist 2020. Verbale sexuelle Belästigung sollte strafbar sein«, lautet die Forderung einer im August gestarteten Petition gegen das sogenannte Catcalling. Die Studentin Antonia Quell hat sie initiiert und bereits über 58.000 Unterstützende an ihrer Seite. Der Begriff Catcalling meint übergriffige, sexuelle Äußerungen fremder Personen im öffentlichen Raum, die den Körper oder das Aussehen einer anderen Person kommentieren. Meist handelt es sich dabei um Männer, die Frauen auf der Straße begegnen, pfeifen, Küsse simulieren, obszöne Geräusche machen oder sich selbst in den Schritt greifen. Catcalling meint also verbale sexuelle Belästigung. Der Begriff steht jedoch auch in der Kritik. Denn die Anlehnung an das zu sich Rufen einer Katze empfinden Einige als zu harmlos und der Ernsthaftigkeit der Sache nicht gerecht. In ihrer Petition betont Quell, dass es sich beim Catcalling nicht um missglückte Flirtversuche oder das Zeigen von Interesse handelt. Vielmehr werde Macht und Dominanz ausgenutzt: Männer sehen sich im Recht, eine Frau einfach belästigen zu dürfen. Aber »Ey Blondie«, »Schnecke komm doch mal rüber«, Kuss- und Pfeifgeräusche oder anzügliche Gesten sind keine Komplimente, heißt es in der Petition. Nichts davon würde man seiner eigenen Mutter ins Gesicht sagen, wieso aber fremden Frauen auf der Straße? In den Kommentaren zu Quells Petition pflichten viele der Studentin bei: »Catcalling wurde lange genug totgeschwiegen oder als vermeintliches Kompliment betitelt. Wir sollten der Welt zeigen, dass wir in Deutschland in der Lage sind ein respektvolles Kompliment von Belästigung unterscheiden zu können«, findet etwa Kira Lange aus Münster. In Deutschland ist sexuelle Belästigung bisher nur dann strafbar, wenn sie mit Berührungen einhergeht. »Wer eine andere Person in sexuell bestimmter Weise körperlich berührt und dadurch belästigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft«, heißt es im Paragraf 184i Strafgesetzbuch. Auch der Paragraf 177, der sexuelle Übergriffe, Nötigung und Vergewaltigung regelt, macht körperlichen Kontakt notwendig. Nur fängt sexuelle Belästigung faktisch nicht erst bei einem körperlichen Übergriff an. Auch Worte und Gesten können bereits bleibende Verunsicherung und Angst hervorrufen. Zwar können einige Catcalls auch als Beleidigung verurteilt werden, wenn beispielsweise Schimpfwörter verwendet wurden, allerdings werde dabei nicht deutlich, »dass es bei diesen Äußerungen um eine sexuelle Verobjektivierung, eine Verletzung des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung geht«, meint etwa die Juristin Anja Schmidt im »Spiegel«. Doch genau das geschieht mein Catcalling: Die Täter*innen greifen mittels Pfeifen, Anstarren oder sexualisierten Kommentaren das sexuelle Selbstbestimmungsrecht anderer Menschen an, indem sie direkt oder indirekt zu sexuellen Handlungen aufgefordert werden. Und Betroffene von Catcalling gibt es genug: Laut einer aktuellen Pilotstudie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend erleben 44 Prozent der Frauen in Deutschland Situationen, in denen sie Adressatin sexistischer Zeichen und Übergriffe sind. Bei den Männern sind es 32 Prozent. Allerdings weist die Studie auch darauf hin, dass sexuelle Belästigung nicht von jeder Person auch gleich schlimm wahrgenommen wird. Eine europaweite Umfrage des französisches Meinungs- und Marktforschungsinstitut Ifop von 2018 kam sogar zu dem Ergebnis, dass 64 Prozent der befragten Frauen in Deutschland trotz mangelnder Zustimmung beharrlich angesprochen, teils sogar verfolgt wurden. Wie also umgehen, mit verbaler sexueller Belästigung, die so vielen tagtäglich erleben, bisher aber nicht strafbar ist? Neben der Möglichkeit die Kommentare einfach zu ignorieren, wird Betroffenen empfohlen, den Belästiger auf sein Fehlverhalten anzusprechen. Etta Hallenga von der Frauenberatungsstelle Düsseldorf rät im Gespräch mit dem Onlinemagazin »Jetzt« allerdings davon ab, Fragen wie »Was soll das?« zu stellen. Damit würde Interesse an einem Austausch signalisiert, das vermutlich nicht vorhanden ist. Zudem werde der Belästiger wohl kaum eine gute Erklärung für sein Verhalten liefern können. In sozialen Netzwerken haben Betroffene weitere Wege gefunden, um mit ihrer erlebten Belästigung umzugehen: Etliche Instagram Accounts posten unter dem Hashtag #stopptbelästigung ganz konkrete Erfahrungen, die sie mit Kreide auf die Straße am »Tatort« malen. Nach dem ersten Account dieser Art in New York, gibt es diese Kanäle mittlerweile für die verschiedensten Städte – und zwar weltweit. Sie alle wollen den alltäglichen Sexismus wortwörtlich ankreiden. Eine weitere Methode fand die Holländerin Noa Jansma. Einen Monat lang fotografierte sie all jene Männer, die ihr hinterherriefen, sie beleidigten oder sogar anfassten. Die 20-Jährige machte Selfies mit ihren Catcallern, die überwiegend stolz auf ihre Taten wirken, und stellte sie ins Netz. Der Account habe »das Ziel, Bewusstsein für die Objektivierung von Frauen im Alltag zu schaffen«, erklärt Jansma auf Instagram. Mit ihrer Forderung, Catcalling strafbar zu machen, betont die Studentin Quell auch die normative Wirkung eines solchen Gesetzes: »Das deutsche Recht sollte ein Wegweiser für Richtig und Falsch sein«, heißt es in ihrer Petition. »Ein Gesetz gegen Catcalling demonstriert, dass verbale sexuelle Belästigung definitiv falsch ist.« Dies sei »noch viel wichtiger als die Geldstrafen« und kann im besten Fall dazu führen, dass übergriffige Catcalls nicht mehr als missglückte Flirts verharmlost werden. In Frankreich ist Catcalling bereits seit 2018 strafbar. Bis zu 750 Euro Bußgeld können die Behörden verhängen, in Fällen, bei denen die Betroffene unter 15 Jahren alt ist, sogar 1500 Euro. Laut der Nachrichtenagentur Reuters haben die französischen Behörden ein Jahr nach in Kraft treten des Gesetzes mehr als 700 Männer wegen Belästigung von Frauen in der Öffentlichkeit bestraft. Auch in Portugal, Belgien und in den Niederlanden ist Catcalling verboten. Ähnliches wünscht sich Antonia Quell in Deutschland. »Verbale sexuelle Belästigung braucht einen eigenen Platz im Gesetz«, findet sie. Kritiker*innen der Petition sprechen von einer unnötigen Erweiterung der gesetzlichen Strafbarkeit und sehen, wie oft im Kontext sexualisierter Gewalt, die Gefahr willkürlicher Falschanschuldigungen. Nicht zuletzt sei die praktische Umsetzung schwer, immerhin stünde Aussage gegen Aussage. Herausforderungen, die allerdings auch im Kontext von Beleidigungen oder Vergewaltigungen der Fall sind – beides im Strafgesetzbuch geregelt Straftatbestände. Was genau unter Catcalling fällt, müsste jedoch klar definiert werden. Nicht zuletzt, weil die Wahrnehmungen belästigender Kommentare oder Gesten sehr verschieden sein können. Aber dennoch: Eine gesetzliche Absicherung zu haben, täte vielen Betroffenen sicher gut. Sie macht klar, dass die Schuld niemals bei der belästigten Person selbst liegt. Unterstützung für ihren Vorstoß erhält Quell bereits von Grünen-Politiker*innen, wie Renate Künast, Anton Hofreiter und Annalena Baerbock. Mit einer gemeinsamen Stellungnahme hat die Fraktion der Grünen im Bundestag ihre Zustimmung zu Quells Forderung erklärt. Aber auch das Magazin Emma, dessen rechtsliberaler Feminismus und islamfeindliche Äußerungen seit langem kritisiert werden, wird als Unterstützerin gelistet. Quells Petition läuft noch weitere acht Wochen, dann soll sie an Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) und Frauenministerin Franziska Giffey (SPD) übergeben, sowie im Bundestag eingereicht werden - mit Aussicht auf Erfolg. Bereits die Petitionen zur verminderten Besteuerung von Menstruationsprodukten sowie der Bestrafung des Upskirting führten zu erfolgreichen Gesetzesänderungen.
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Birthe Berghöfer
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»Es ist 2020. Verbale sexuelle Belästigung sollte strafbar sein«, lautet die Forderung einer Petition gegen das sogenannte Catcalling. Die Studentin Antonia Quell hat sie initiiert und betont: Catcalls sind keine missglückten Flirtversuche.
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Catcalling, Petition, Sexuelle Belästigung, Strafgesetz
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Politik & Ökonomie
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Politik Catcalling
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2020-10-07T14:26:53+0200
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2020-10-07T14:26:53+0200
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2023-01-21T10:04:21+0100
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1142781.catcalling-ist-kein-kompliment.html
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Müntefering kommt nicht
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Beschlüsse im Sinne einer verbindlichen Regelung für die Partei werden an diesem Sonntag allerdings nicht gefasst, es handelt sich vielmehr um die Fortsetzung einer »programmatischen Debatte über ein faires und gerechtes Deutschland in Europa«, wie der Parteivorstand ankündigt. Die Ergebnisse sollen in die Vorbereitung des Ordentlichen Parteitages der SPD im nächsten Jahr einfli... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
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Uwe Kalbe
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Franz Müntefering, verflossener Partei- und Fraktionschef der SPD, erkennt keinen Abgesang darin, dass seine Partei das Vorhaben einer Rente mit 67 eine Weile aussetzen will. Ein leichter Zweifel mag ihm allerdings geblieben sein. Er hat seine Teilnahme am Sonderparteitag der SPD am Wochenende in Berlin abgesagt. In den Anträgen kann man durchaus einen Abgesang erkennen, wenn auch einen halblauten. Denn zwar lässt der Leitantrag des Vorstandes nicht ab vom Versuch, die Reformen der Bundesregierungen, an denen man in elf folgenschweren Jahren federführend beteiligt war, als richtig und angemessen zu loben. Zugleich werden Korrekturen dieser Politik vorgeschlagen: in der Arbeitsmarktpolitik, bei der Rente mit 67 und in der Steuerpolitik.
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Franz Müntefering, Parteitag, Rente mit 67, SPD
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Politik & Ökonomie
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Politik
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/180402.muentefering-kommt-nicht.html
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Handelsstreit droht zu eskalieren
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Peking. Das Vorgehen der USA im Handelsstreit mit China erbost die Führung in Peking. Nach der Ankündigung von US-Präsident Donald Trump, chinesische Handelspraktiken genauer unter die Lupe zu nehmen, drohte China am Dienstag im Falle von Sanktionen mit Gegenmaßnahmen. Trump hatte eigens seinen Urlaub unterbrochen, um am Montag in Washington das Memorandum zu unterzeichnen, damit sein Handelsbeauftragter Robert Lighthizer die Untersuchungen aufnimmt. »Alle Optionen sind auf dem Tisch«, sagte Trump. Es geht vor allem um den Diebstahl geistigen Eigentums. Das Pekinger Handelsministerium äußerte seine »tiefe Sorge«. Die USA sollten die gegenwärtigen Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zu schätzen wissen. Jeder Protektionismus durch die USA werde beiden Seiten schaden. »Wenn die USA die Regeln des multilateralen Handels nicht respektieren und Maßnahmen ergreifen, die den Wirtschafts- und Handelsbeziehungen schaden, wird China nicht tatenlos zusehen, sondern angemessene Maßnahmen ergreifen, um die legitimen Interessen Chinas zu schützen.« Der Handelsstreit könnte auch die Kooperation der USA mit China in der Nordkorea-Krise erschweren. Trump hatte in der vergangenen Woche erklärt, er erwarte von China mehr Engagement bei der Lösung des Nordkorea-Konflikts und diese Frage direkt mit seinem Vorgehen im Handelsstreit verknüpft. Das Außenministerium in Peking wies dies aber entschieden zurück. »China spielt eine positive und konstruktive Rolle zur Lösung des Konflikts durch diplomatische Mittel«, sagte eine Sprecherin. China ist auch empört, dass Washington ein altes, lange nicht angewandtes US-Gesetz als Grundlage für die Untersuchung benutzt, obwohl es längst andere Mechanismen im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) gibt. Die USA sollten »nicht die multilateralen Regeln sabotieren«, sagte die Außenamtssprecherin. Schon am Vortag hatte sie vor einem »Handelskrieg« gewarnt, der »keine Gewinner, sondern nur Verlierer« haben werde. Der US-Handelsbeauftragte sagte, die Untersuchung habe oberste Priorität. Unter anderem soll es darum gehen, den Diebstahl geistigen Eigentums zu verhindern - etwa beim Kopieren von Patenten, bei der Umgehung von Markenschutz und beim Ausspionieren von vertraulich zu behandelnder Technologie. dpa/nd
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Redaktion nd-aktuell.de
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China fordert von den USA Einhaltung von WTO-Regeln
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China, USA
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Politik & Ökonomie
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Wirtschaft und Umwelt
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1060723.handelsstreit-droht-zu-eskalieren.html
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China fällt bei afrikanischen Migranten in Ungnade
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Guangzhou etwa 120 Kilometer nordwestlich von Honkong ist die Fabrik der Welt. Das chinesische Industriezentrum zog bereits Mitte der 90er Jahre viele Afrikaner an. China hatte sich geöffnet, die Wirtschaft wuchs rasant. Das wirkt bis heute. »Das einzige, was ich wusste, ist, dass China ein Weltklasseland ist und dass die Wirtschaft gut ist«, erzählt Lamin Ceesay gegenüber Quartz Africa. Der 25-jährige Gambier begab sich im vergangenen Jahr auf die lange Reise in eine vielversprechende Zukunft. So dachte er jedenfalls damals. In seiner gerade einmal 2 Millionen Einwohner zählenden Heimat im Westen Afrikas leiden nämlich bis zu 40 Prozent der Jugendlichen unter der anhaltenden Arbeitslosigkeit - eine der Hauptgründe, die junge Leute wie Cessay in den Osten treiben. Mit viel Optimismus nehmen sie oft belastende Kredite auf, leihen sich die Ersparnisse ihrer Familien oder verkaufen ihre wenigen Besitztümer, um die Visahändler und Rei... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
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Anne Gonschorek, Kapstadt
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Immer mehr afrikanische Migranten verlassen China und warnen ihre Landsleute daheim, nicht nach Asien zu gehen. Doch die Abwanderung wird dadurch nicht gestoppt, sondern nur verlagert.
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Afrika, China, Einwanderung, Visum
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Politik & Ökonomie
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Politik
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1023028.china-faellt-bei-afrikanischen-migranten-in-ungnade.html
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Der magische A-Bus
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Jüngst war über ein nationales Verkehrsunternehmen zu lesen, dass es nun «noch pünktlicher» werden wolle. Löblich. Zumal man bislang meinen konnte, dass der inoffizielle Konzernslogan frei nach Wilhelm Busch «Pünktlichkeit ist eine Zier, doch reicher wird man ohne ihr» lautete. Dafür ein kleines Beispiel. Die Schaffnerin meiner Regionalbahn hat mich unlängst ob meines Gejammers, wieder mal nicht den S-Bahn-Anschluss zu schaffen, darauf hingewiesen, dass wir «planmäßige Verspätung» hätten. Der eingleisige Pendelverkehr mache dies bahntechnisch möglich: Eine zehnminütige Verspätung, die z.B. früh um 6 Uhr entstand, muss mitunter von jeder neuerlichen Zugpendelverbindung bis Betriebsschluss mitgeschleppt werden. Planmäßig eben. In der Statistik erscheine das dann für den ganzen Tag als nur eine Verspätung... Komfortabler hat es da eine junge Frau, die in einer Großstadt wohnt und früh zu ihrem Ausbildungsbetrieb den Bus nimmt. D... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
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Mike Mlynar
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Pünktlichkeit mal sehr relativ, mal sogar doppelt
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Verkehr
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Feuilleton
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Kultur
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/999032.der-magische-a-bus.html
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Armutszeugnis für Verteilung
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»Arme werden ärmer.« Kurz, knapp und prägnant ist das Fazit des neuen Armutsberichts des Paritätischen Wohlfahrtsverbands. Die Erklärung ist einfach: Die Preissteigerungen im Bereich Energie, Miete und Lebensmittel der vergangenen Jahre übersteigen viele niedrige Einkommen und sozialstaatliche Förderungen. Dass die Umsätze von Wohnkonzernen und Supermarktketten munter weiter wachsen, ebenso wie die Zahl der Milliardäre in Deutschland, zeigt einmal mehr: Das Problem ist menschengemacht und eine Sache politischer Entscheidungen. Ein wahres Armutszeugnis. Beherzte Maßnahmen würden Wirkung zeigen, das beweist zum Beispiel der Mindestlohn. Durch ihn sinkt inzwischen die Zahl erwerbstätiger Menschen in Armut. Trotzdem arbeiten weiterhin 23,5 Prozent der Armutsbetroffenen. Immer noch gilt, Arbeit schützt vor Armut nicht. Ebensowenig tun das die Rentenbezüge. 29,7 Prozent der Armutsbetroffenen befinden sich im Ruhestand und jede fünfte Person über 65 ist arm. Die künftige Bundesregierung scheint indes von Ideenarmut betroffen, was die Armutsbekämpfung angeht. Diese sei schließlich, so der Koalitionsvertrag, ohnehin ein ausländisches Problem. Soll heißen, kommt eigentlich nur in anderen Ländern vor. Statt sich die Situation in Deutschland ehrlich einzugestehen und lösungsorientiert daran zu arbeiten, tritt sie fleißig nach unten, hinterfragt die Anhebung des Mindestlohns, diskutiert Bürgergeldsanktionen und stellt möglichst viele Weichen Richtung Niedriglohnsektor. Der Paritätische zeigt sich dennoch optimistisch: Eine Welt ohne Armut ist möglich, schreiben die Autor*innen. Fazit: Wo ein Wille, da ein Weg. Zum Beispiel höhere Löhne, sichere Renten oder Umverteilung.
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Sarah Yolanda Koss
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Reiche werden reicher, Arme werden ärmer, die Situation ist menschengemacht. Dieses Fazit zieht Sarah Yolanda Koss aus dem Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands. Doch wo ein Wille, da ein Weg aus der Misere.
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Armut, Mindestlohn, Rentenpolitik
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Meinung
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Kommentare Armutsbericht
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2025-04-29T17:31:55+0200
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2025-04-29T17:31:55+0200
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2025-04-29T17:32:45+0200
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https://www.nd-aktuell.de/artikel/1190904.armutsbericht-armutszeugnis-fuer-verteilung.html
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Aufrufe zu Hilfe und Christlichkeit
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Berlin. Im Vorfeld des EU-Gipfels haben siebzehn Organisationen am Mittwoch die »Berliner Erklärung zum Flüchtlingsschutz« veröffentlicht. Darin warnen sie die Bundesregierung vor einer Einschränkung des Rechts auf Asyl und Flüchtlingsschutz. Zu den Unterstützern gehören neben bekannten Hilfsorganisationen auch die Berliner Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales, der Republikanische Anwaltsverein und die Neue Richtervereinigung. In ihrer Erklärung appellieren sie »an die deutsche Bundesregierung, Verantwortung für den Flüchtlingsschutz in Deutschland und Europa zu übernehmen«. Dabei beziehen sie sich auf die Genfer Flüchtlingskonvention. Konkret fordern sie in vier Punkten die Einhaltung des Asylrechts und des Flüchtlingsschutzes: Keine Zurückweisung an den europäischen Grenzen, solidarische Aufnahme von Schutzsuchenden statt nationaler Abschottung, keine Unterbringung von Schutzsuchenden in Staaten vor Europas Grenzen und die Rettung von Menschen in Seenot sowie die Ausschiffung in den nächsten europäischen Hafen. CSU soll Kurs ändern Einem Appell zur politischen Kursänderung an die CSU haben sich mittlerweile mehr als 170 großteils kirchliche Unterstützer angeschlossen. Neu hinzugekommen seien unter anderem der Diözesan-Caritasverband München und Freising sowie weitere Ordensgemeinschaften, Verbände und Lehrstuhlinhaber, teilten die Initiatoren - der Sozialethiker Pater Jörg Alt, Beatrice von Weizsäcker, Mitglied im Präsidium des Evangelischen Kirchentags, und der Würzburger Hochschulpfarrer Burkhard Hose - am Mittwoch in Nürnberg mit. In ihrem Appell fordern Alt, von Weizsäcker und Hose die CSU und ihre Wähler auf, sich an christlichen und sozialen Grundsätzen zu orientieren. Konkret sprechen sie die Schere zwischen Arm und Reich, Abschiebungen von Flüchtlingen in Kriegsgebiete und die geplante Grenzsicherung gegen Migration an. Alt forderte die CSU auf, Lösungen für soziale Ungleichheit, Klimawandel, Wohnungsmangel und die Zukunft der Sozialsysteme zu finden statt über Grenzsicherung und sogenannte Ankerzentren zu diskutieren. Von Weizsäcker sagte, sie sei erschüttert, wie »verirrt die Debatte über Flucht, Asyl und Migration inzwischen geworden ist«. Dass ein Unwort wie »Asyltourismus« salonfähig werden könne, habe sie sich nicht träumen lassen. Pfarrer Hose sagte: »Der Unmut über die Zunahme an Legitimierung und Legalisierung menschenverachtender Politik wächst spürbar.« ulk/epd
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Redaktion nd-aktuell.de
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Asylpolitik, Bayern, Christentum, CSU, Einwanderung, Flüchtlinge
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Politik & Ökonomie
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Politik
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Ostukraine: Armee tötet 20 Regierungsgegner
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Kiew. Bei Kämpfen in der ukrainischen Hafenstadt Mariupol sind nach Angaben der ukrainischen Regierung mindestens 21 Menschen getötet worden. Unter den Todesopfern seien 20 Milizionäre und ein Polizist, erklärte das Innenministerium in Kiew am Freitag. Nach Angaben der russischen Nachrichtenagentur Interfax versuchten ukrainische Militäreinheiten, ein von Separatisten besetztes Verwaltungsgebäude einzunehmen.
Zuvor hat... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
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Redaktion nd-aktuell.de
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Wieder sind bei Angriffen der ukrainischen Armee auf Regierungsgegner im Osten des Landes mehrere Menschen gestorben. Unterdessen traf Wladimir Putin zu Gedenkfeierlichkeiten auf der Krim ein.
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Donbass, Krim, NATO, Russland, Ukraine
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Politik & Ökonomie
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Politik
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Suedlink-Gegner wollen Verein gründen
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Bad Salzungen. Gegner der geplanten Stromtrasse Suedlink in Thüringen wollen einen neuen Verein für private Betroffene gründen. Das teilte das sogenannte Salzunger Bündnis mit. Ziel sei es, auch Privatpersonen, die von den Plänen betroffen sind, zu unterstützen, erklärte Reinhard Krebs, Landrat des Wartburgkreises. Krebs ist zugleich Initiator des Salzunger Bündnisses, dem weitere Thüringer Landkreise angehören. Demnach laufen Gespräche mit dem bereits bestehenden Verein »Keine Stromtrasse zwischen Rhön und Rennsteig« über ein gemeinsames Vorgehen. Am Sonntag hatten in Fambach rund 3000 Menschen in einer Menschenkette gegen den geplanten Bau der Südlink-Stromtrasse durch Teile von Thüringen protestiert. dpa/nd
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Redaktion nd-aktuell.de
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Krebs-Erkrankung, Thüringen
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Politik & Ökonomie
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Politik
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Lindner kündigt »FDP-pur« an
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Die Stimmung ist gedrückt. Nur einmal zeigen die Delegierten bei der Rede ihres Parteivorsitzenden Christian Lindner beim Europaparteitag Begeisterungsfähigkeit. Der Hoffnungsträger der Liberalen erklärt, warum man die Konkurrenten von der Partei »Alternative für Deutschland« (AfD) nicht zu fürchten habe - selbst wenn sie bei den Wahlen im Mai ins europäische Parlament einziehen sollten. »Sie werden auf Europapolitik keinen Einfluss nehmen können«, sagt Lindner. Sollte es die AfD ins Parlament schaffen, würden ihre Abgeordneten entweder fraktionslos oder Teil der ganz Rechten sein. »Wir sind eine Gestaltungskraft in Europa«, ruft er energisch. Applaus brandet auf. So funktioniert Autosuggestion.
Mit der rechtspopulistischen eurokritischen AfD hat die FDP bei den kommenden Wahlen im Mai eine bedrohliche Konkurrenz. Doch die Liberalen versuchen, den Wettbewerber klein zu reden. Hauptgegner bei der Wahl sei nicht die AfD, sondern... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
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Anja Krüger
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Nur einmal zeigen die Delegierten Begeisterung - bei der Rede ihres Parteivorsitzenden Christian Lindner. Am Sonntag hat die FDP ihre Liste für die Europawahl gewählt. Weichen für ein Comeback hat sie nicht gestellt.
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EU, Europawahlen, FDP
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Politik & Ökonomie
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Politik
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Erster Allgemeiner Verunsicherer
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Rainer Wendt spielt gerne die Rolle der Kassandra in der deutschen Sicherheitsdebatte. Der Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft wird nicht müde, uns vor ausufernder Kriminalität zu warnen. Überall nur Einbrecherbanden, Gewalttäter und andere Schwerkriminelle. Das Deutschland, das Wendt beschwört, ist ein Gangsterparadies, in dem nichts und niemand mehr sicher ist. Wendt schürt also tagtäglich die Verunsicherung bei vielen Bundesbürgern. Wie nun bekannt wurde, sitzt der Polizeigewerkschafter auch im Aufsichtsrat der Axa-Lebensversicherung. Der französische Mutterkonzern profitiert ziemlich direkt von jenen Schreckenszenarien, die Wendt regelmäßig entwirft. Schließlich kann man sich bei der Axa für teueres Geld auch gegen Diebstahl und Vandalismus versichern. Es wäre sicher falsch, Wendt zu unterstellen, dass jene 50.000 Euro, die er pro Jahr als Aufsichtsratsmitglied kassiert, auch eine Art Prämie für seine Kassandrarufe sind. Doch die Sache hat tatsächlich ein Geschmäckle: Wendt behauptet, für den Deutschen Beamtenbund (DBB) im Gremium zu sitzen. Dumm nur, dass der DBB das dementiert. So richtig zerstreuen kann Wendt die Zweifel an seiner Person nur, wenn er den Aufsichtsrat verlässt. Dann kann er wieder glaubwürdiger den Ersten Allgemeinen Verunsicherer mimen.
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Fabian Lambeck
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So richtig zerstreuen kann Rainer Wendt die Zweifel an seiner Person nur, wenn er den Aufsichtsrat verlässt. Dann kann er wieder glaubwürdiger den Ersten Allgemeinen Verunsicherer mimen.
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GdP, Kriminalität, Polizei
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Meinung
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Kommentare
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Wände reden
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Wer Herman van Veen »in concert« erlebt hat und jetzt seine Autobiografie mit dem trefflichen Namen »Bevor ich es vergesse« liest, wird dabei eine ähnliche Erfahrung machen: Da erzählt er wieder, singt förmlich, unterhält, wechselt spielerisch die Sujets, ist humorvoll und traurig, weise und närrisch, und ist der große Junge mit dem großen Herzen geblieben. Er öffnet die Türen und die Fenster seines Elternhauses, zeigt den Vater, zeigt die Mutter (die er beide innig liebt und ewig missen wird), zeigt die Straßen seiner Kindheit und Jugend, den Stadtteil von Utrecht, durch den er auf seinem abzuzahlenden Fahrrad Zeitungen austrägt, sich mal hier, mal dort für ein paar Worte aufhaltend, zuweilen auch für mehr, wenn ihn eine Schöne verlockend ins Haus bittet. Van Veen schöpft aus einem Füllhorn von Erinnerungen, sie scheinen ihm beim Schreiben mühelos gekommen zu sein, prall und plastisch, und so begegnet einem zunächst ein Jugendlicher, der ziemlich verwegen ist, ziemlich zügellos, noch ziellos, der lieber Fußball spielt als Geige, und erst nach und nach den Weg findet, den er gehen will – schließlich mit vollem Einsatz und wunderbar erfolgreich gehen wird. Er berührt seine frühe Ehe, deutet an, wie sie zerbricht, stellt uns seine Kinder vor (die ihm bleiben und immer bleiben werden) und nimmt uns mit auf Wegen um die Welt in vieler Herren Länder, deren Glanz und Elend er bildhaft macht, vor allem das Elend der Kinder, denen er helfen wird – mit Wort und Tat und dem Ende von Konzerten: in den Philippinen und so manchem fernöstlichen Land. Zusammen mit anderen namhaften Künstlern wird er sich in den sechziger Jahren an einem weltweit übertragenen Konzert beteiligen, damit Nelson Mandela endlich freikommt – und später immer wieder zu großen Auftritten nach Südafrika reisen, wo ihm beim Klang von Afrikaans zumute ist, »als ob die Wände des Rijksmuseums zu reden anfangen«. Auf französischen Bühnen wird er vom Holländischen ins Französische wechseln, auf englischen und amerikanischen ins Englische, auf deutschen ins Deutsche, und sollten ihm dabei die Worte ausgehen, hilft er sich mit Gesten, wird er ganz der Pantomime – und wird verstanden und bejubelt. Verstanden auch in dem, was er in deutschen Kirchen und Konzertsälen gegen Nazis und ihre Verbrechen zu sagen hat und in seiner Anteilnahme am Schicksal der Juden. Im Buch leuchtet diese Anteilnahme immer wieder auf. Trotzdem ist er gern in Deutschland, und muten ihn auch die Kontrollen an DDR-Grenzen mehr als übel an, sein Empfang quer durch ostdeutsche Landen versöhnt ihn: »Von allen Deutschen, die ich kenne, sind mir – bis auf eine Handvoll Ausnahmen – die aus dem Osten am liebsten, und das nicht, weil sie so viel weiter weg von Holland wohnen«, schreibt er. Am Schluss des Buches wird der nunmehr 65-Jährige fragen: »Wo kommen all die Menschen her? Müsste nicht inzwischen vierzig Prozent unseres Publikums gestorben sein? Und dennoch, dennoch, zu unserem großen Glück: Die Säle sind immer voller.«
Hermann van Veen: Bevor ich es vergesse. Aufbau Verlag, 291 S., geb., 19,95 €.
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Walter Kaufmann
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Buch: Van Veen
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Buchrezension, Lyrik
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Feuilleton
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Kultur
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/169105.waende-reden.html
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Jugendliche attackierten Ehepaar mit Messer
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Cottbus. Der AfD-Landesvorsitzende Andreas Kalbitz schimpft, ein Vorfall in Cottbus sei »ein weiterer Beleg der anhaltenden Bankrotterklärung der rot-rot-grünen Multikulti-Utopisten, die in ihren ideologischen Wahnvorstellungen rücksichtslos auf Kosten der deutschen Bevölkerung unser Land kaputt experimentieren«. Was ist geschehen? Am Freitag, kurz nach 16 Uhr, hatten ein 51-Jähriger mit seiner Ehefrau das Einkaufszentrum »Blechen Carré« an der Cottbuser Karl-Liebknecht-Straße betreten wollen, als sie von drei syrischen Jugendlichen im Alter von 14, 15 und 17 Jahren grundlos attackiert wurden, wie die Polizei meldete. »Zwei von ihnen griffen den Mann tätlich an und versuchten, ihn zu Fall zu bringen. Ein weiterer aus der Gruppe zog ein Messer.« Ein Passant sei dem Mann zu Hilfe gekommen. »Verständigte Mitarbeiter des Wachschutzes ergriffen die drei Tatverdächtigten und hielten sie bis zum Eintreffen der Polizei fest.« nd
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Redaktion nd-aktuell.de
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Brandenburg
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Hauptstadtregion
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Brandenburg
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1076322.jugendliche-attackierten-ehepaar-mit-messer.html
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Wichtiger Grund für fristlose Kündigung?
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Im Abs. 1 heißt es: »Ein wichtiger Grund liegt vor, wenn dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere eines Verschuldens der Vertragsparteien, und unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die Fortsetzung des Mietverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zur sonstigen Beendigung des Mietverhältnisses nicht zugemutet werden kann.« Trifft das auch zu, wenn ein sehr alter Mieter plötzlich in ein Pflegeheim eingewiesen werden muss? Im ND-Ratgeber Nr. 1001 vom 25. Mai 2011 hatten wir das im Zusammenhang mit der Beantwortung der Frage nach Kündigungsmöglichkeiten bejaht. Das war ein Fehler, den wir zu entschuldigen bitten. Aus mietrechtlicher Sicht ist das kein »wichtiger« Grund für eine fristlose Kündigung. Wir fragten nach bei Ulrich Ropertz, Pressesprecher des Deutschen Mieterbundes, wie in solchen Fällen die Abwägung der beiderseitigen Interessen aussehen könnte. Die Frage ist: Könnte die plötzliche Pflegebedürftigkeit eines alten Mieters nicht auch als ein wichtiger Grund für eine schnellere Kündigung der Wohnung angesehen werden statt des Abwartens auf die generelle dreimonatige Kündigungsfrist? Immerhin muss dann die Miete für drei Monate weiterbezahlt werden, obwohl die Wohnung in diesem Zeitraum leersteht. Monatliche Miete und die monatlichen Kosten des Pflegeheims können sich rasch vierstellig summieren. Ist es nicht auch im Interesse eines derart betroffenen Mieters, dessen Leben sich tief greifend und radikal verändert, solche Kosten zu vermeiden? »Natürlich ist es im Interesse des Mieters«, so der Pressesprecher des Deutschen Mieterbundes, »dass bei einem notwendigen Wechsel in ein Alten- oder Pflegeheim die bisherige Wohnung schnellstmöglich gekündigt werden kann. Aber schneller als mit der dreimonatigen Kündigungsfrist ist es nach unserer Rechtsordnung nicht möglich. Der Vermieter ist daran interessiert, dass der Mietvertrag eingehalten wird und dass er ausreichend Zeit hat, innerhalb der Kündigungsfrist einen Nachfolgemieter zu suchen. Letztlich ist auch zu berücksichtigen, dass der Umzug in ein Altenheim in der Regel nicht ›über Nacht‹ realisiert werden muss, da er sich einige Zeit vorher anbahnt oder abzeichnet. Vielleicht kann in diesem Fall schon vorher in einem Gespräch mit dem Vermieter oder der Hausverwaltung gemeinsam nach einer Lösung gesucht werden.« Bei echten Zeitmietverträgen oder einem im Mietvertrag vereinbarten Kündigungsverzicht beziehungsweise Kündigungsausschluss können die älteren Mieter noch nicht einmal mit einer Frist von drei Monaten kündigen. Hier bleibt Ihnen nur die Möglichkeit, einen Nachmieter zu suchen. Hierzu sind Sie dann aber auch berechtigt.Kurzum: Fristlos kündigen kann der Mieter also nicht, wenn er in ein Heim zieht. ND
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Redaktion nd-aktuell.de
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»Jede Vertragspartei kann das Mietverhältnis aus wichtigem Grund außerordentlich fristlos kündigen.« Eine klare Aussage des § 543 BGB. Doch was sieht das Gesetz als wichtigen Grund an?
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Kündigung, Pflegeheime
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Ratgeber
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/201389.wichtiger-grund-fuer-fristlose-kuendigung.html
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Patienten per Smartphone behandeln
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Ärzte in Bremen dürfen Patienten in Zukunft auch ausschließlich über Kommunikationsmedien wie Tablet oder Smartphone beraten und behandeln. Allerdings solle das nur in Einzelfällen passieren, wenn es ärztlich vertretbar sei und die ärztliche Sorgfalt gewahrt werde, so die Bremer Ärztekammer. Die Delegiertenversammlung habe eine entsprechende Änderung der Berufsordnung in die Wege geleitet. Die Versammlung habe sich im Interesse einer bundeseinheitlichen Regelung der Berufsordnung einstimmig für den neuen Passus ausgesprochen. Der Deutsche Ärztetag hatte im Mai das geltende Verbot der ausschließlichen Fernbehandlung gelockert. Betont wurde jedoch, dass der persönliche Arzt-Patienten-Kontakt unerlässlich bleibe. Digitale Techniken sollten die ärztliche Tätigkeit nur unterstützen. epd/nd
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Redaktion nd-aktuell.de
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Bremen
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Ratgeber
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1102854.patienten-per-smartphone-behandeln.html
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Zorn befiehlt
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Zorn regiert jetzt die Bundeswehr. Der 58-Jährige wird am Donnerstag Nachfolger von Generalinspekteur Volker Wieker, der am Vorabend mit Großem Zapfenstreich Rentner wurde, nachdem seine Amtszeit extra verlängert worden war. Es heißt, man wollte der neuen Regierung die Entscheidung über den obersten Soldaten und wichtigsten Berater der Verteidigungsministerin überlassen. Der bisherige GI war ein absoluter Glücksfall für Ursula von der Leyen (CDU). In Demut nahm er einen Gutteil fragwürdiger politischer Entscheidungen auf sich und sorgte dafür, dass der Unmut über die erste Frau an der Spitze des Verteidigungsministeriums in Grenzen blieb. Ob Generalleutnant Eberhard Zorn sich gleichfalls so zurücknehmen wird? Sein Plus: Er kennt die Berliner Schlangengrube, war bereits Referent und Referatsleiter im Bendler-Block. Dahin kam er 2015 zurück - als Leiter der Abteilung Führung Streitkräfte. Im August 2017 wechselte er an die Spitze der Abteilung Personal. Der gelernte Artillerist, der 1978 in die Bundeswehr eintrat, bis 1983 die Offiziersschule absolvierte sowie Wirtschafts- und Organisationswissenschaften an der Bundeswehr-Universität in Hamburg studierte, ist ein Mann der Chefin und hat deren Reformen »mit verbockt«. Das macht ihn in den Augen der »Truppenopposition« verdächtig. Der Neue sei nur ein Schreibtischstratege, heißt es. Man versucht ihm militärische Kompetenz abzusprechen. Grund: Zorn war nie Chef bei einer Auslandsmission. Wohl aber Kommandeur der Division Schnelle Kräfte. Das ist so ziemlich das Beste, was die Bundeswehr aufzubieten hat. Der Division ist eine niederländische Brigade unterstellt. Diese Erfahrungen lassen Zorn geeignet erscheinen, die bilateralen Beziehungen der beiden Armeen weiter auszubauen - was ein Herzenswunsch der Ministerin ist. Auch nach Frankreich reichen Zorns Kontakte. Er hat zwei Jahre lang einen Generalstabslehrgang in Paris absolviert und wird sein Möglichstes tun, um die EU als ein zweites militärisches Standbein Deutschlands neben der NATO auszubauen.
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René Heilig
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Personalie
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Bundeswehr, Verteidigungsministerium
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Politik & Ökonomie
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Politik Generalinspekteur der Bundeswehr
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1085811.generalinspekteur-der-bundeswehr-zorn-befiehlt.html
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Wenigstens mal nicht schlechter
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Es ist wohl eine Frage des politischen Überlebens für Griechenlands Linksregierung unter Ministerpräsident Alexis Tsipras: Nach dem Ende des dritten Kredit- und Austeritätsprogrammes der internationalen Gläubiger muss er angesichts nahender Wahlen nun liefern und zumindest an der einen oder anderen Stelle eine soziale Kehrtwende vollziehen. Dass gerade den Rentnern eine schon geplante Kürzung erspart bleibt, hat gute Gründe: Sie sind in Griechenland ein wichtiges linkes Wählerpotenzial und wurden in den schwarzen Krisenjahren besonders hart zur Kasse gebeten. Überraschend ist, dass die EU-Kommission dafür grünes Licht gibt und auch von der deutschen Regierung kein Gemaule zu vernehmen ist. Womöglich möchte man angesichts des weit wichtigeren Etatstreits mit der italienischen Rechtsregierung keinen zweiten Konfliktschauplatz. Und Athen will ja auch nicht das Defizit erhöhen, sondern kann auf überraschend gute Haushaltszahlen verweisen. Der Erfolg ist indes Wasser auf die Mühlen linker Kritiker, die meinen, Tsipras habe den Gläubigern die ganzen Jahre zu wenig die Stirn geboten. Ob mehr herauszuholen gewesen wäre, ist freilich seriös nicht zu beantworten. Aber vielleicht sollten sich einfach einmal alle mit den Griechen freuen, wenn sich deren Lage wenigstens mal nicht weiter verschlechtert.
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Kurt Stenger
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Kurt Stenger über eine Rentenkürzung in Griechenland, die nicht kommt
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Griechenland, linke Bewegung, Rentenpolitik
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Meinung
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Kommentare Tsipras in Griechenland
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1103989.wenigstens-mal-nicht-schlechter.html
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Bauprojekt nächste Koalition
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Nach der Wiederholung der Abgeordnetenhauswahl am Sonntag muss sich die Berliner Linke jetzt etwas in Geduld üben. Noch ist keine Einladung zu einem Sondierungsgespräch eingegangen, sagt Landesgeschäftsführer Sebastian Koch am Dienstag. Das wundert ihn aber keineswegs. Denn die CDU als künftig stärkste Kraft im Parlament hatte noch am Wahlabend angekündigt, SPD und Grüne zu Sondierungsrunden zu bitten und dort auszuloten, ob eine Koalition der CDU mit der SPD oder den Grünen möglich wäre. Rechnerisch geben die neuen Mehrheitsverhältnisse im Abgeordnetenhaus beide Varianten her. Möglich ist aber auch die Fortsetzung der rot-grün-roten Koalition, und das scheint im Moment auch das Wahrscheinlichste zu sein: wegen der größeren inhaltlichen Schnittmengen und weil Franziska Giffey (SPD) dann Regierende Bürgermeisterin bleiben könnte. Es gehört jedoch zu den Gepflogenheiten im politischen Geschäft, dass zunächst der Wahlsieger einlädt – und das ist nun einmal die CDU – und dass sich die SPD erst einmal anhört, was ihr die CDU zu sagen und zu bieten hat, bevor sich die Sozialdemokraten gegebenenfalls mit Grünen und Linken treffen. »Wenn es eine Einladung gibt, dann werden wir da hingehen«, kündigt Linke-Landesgeschäftsführer Koch wenig überraschend an. Ob und mit wem im Ergebnis von Sondierungen Koalitionsverhandlungen aufgenommen werden, wird dann vermutlich ein Parteitag entscheiden. Ein Vorstandsbeschluss würde zwar ausreichen, aber auch 2021 wurde diese Entscheidung einem Parteitag überlassen. Montagabend wertete der Linke-Landesvorstand bei einer Sitzung mit den Bezirksvorsitzenden die Wahl aus und verständigte sich anschließend über eine Strategie für die kommenden Tage und Wochen. Am Dienstagnachmittag gab es die erste Sitzung der Linksfraktion per Videokonferenz. Groß verändert hat sich die Zusammensetzung der Fraktion nicht. Einen neuen Alten habe man, sagt Pressesprecher Thomas Barthel und meint damit Ex-Stadtentwicklungssenator Sebastian Scheel, der nun der Fraktion angehört. Aber ausgerechnet Scheel habe sich für diesen Tag aus familiären Gründen entschuldigt. Bei der virtuellen Fraktionssitzung wollten sich die Abgeordneten unter anderem darüber verständigen, wann sie ihren Fraktionsvorstand wählen. Am Dienstag sollte das noch nicht erfolgen. Ohnehin tritt das durch die Wiederholungswahl bestimmte Parlament erst am 16. März zusammen. Während sich die Parteien noch sortieren, äußerten Initiativen und Verbände ihre Wünsche. Die Wirtschaft kann dabei kaum verhehlen, dass ihr ein Regierender Bürgermeister Kai Wegner von der CDU offensichtlich gut in den Kram passen würde, obwohl das natürlich niemand so direkt formuliert. Es gebe viel Handlungsbedarf, aber wenig Fortschritte bei Wohnungsbau, Verkehr und Bildungspolitik, meint etwa Christian Amsinck, Hauptgeschäftsführer der Unternehmensverbände Berlin-Brandenburg. »Gerade auf diesen Feldern haben die bisherigen Regierungsparteien die größten Differenzen«, urteilt er. »Bei einer Neuauflage der bisherigen Koalition sehen wir daher die Gefahr, dass es weiterhin kaum vorangeht. Die demokratischen Parteien sollten daher bei der Regierungsbildung alle Varianten ausloten, die mehr Fortschritt bei diesen zentralen Themen versprechen.« Sebastian Stietzel, Präsident der Industrie- und Handelkammer, wünscht sich mutige Bildungsreformen statt der Ausbildungsplatzumlage, die eine Herzensangelegenheit von Sozialsenatorin Katja Kipping (Linke) ist, und statt Enteignungsplänen ein wachstumsfreundliches Klima im Senat, das »Unternehmen, Investoren, Touristen und Fachkräfte in Berlin willkommen heißt«. »Das Ergebnis der Wiederholungswahl zeigt, dass die Berlinerinnen und Berliner vom Senat mehr erwarten. Ein ›Weiter so‹ kann es unter diesen Vorzeichen nicht geben«, findet Robert Momberg, Hauptgeschäftsführer des Bauindustrieverbands Ost. »Es braucht eine Koalition, von der Aufbruch und Entschlossenheit ausgehen. Dazu gehört auch das klare Bekenntnis zum Bauen.« Im Gegensatz dazu drückt die Initiative Deutsche Wohnen & Co enteignen nicht nur verklausuliert aus, was für einen Senat sie sich wünscht. »Nur wer enteignet, kann auch regieren«, betont Sprecherin Gisèle Beckouche unter Berufung auf die fast 60 Prozent Zustimmung beim Volksentscheid »Deutsche Wohnen & Co enteignen« im Jahr 2021. »Die nächste Regierung muss ein Vergesellschaftungsgesetz schreiben und einen klaren Zeitplan für die Enteignung großer Immobilienkonzerne vorlegen.« Berlin brauche keine Koalition der Immobilienlobby, sondern eine Koalition, die für die Mieter kämpfe. Die CDU lasse jedoch keinen Zweifel daran, dass sie nicht gewillt sei, den Volksentscheid umzusetzen, so die Initiative. Wohnungen mit dauerhaft bezahlbaren Mieten sind ein dringliches Thema, weiß der Berliner Mieterverein. Mit freundlichen Appellen an die Wohnungswirtschaft werde der Senat nicht auskommen, es brauche deutliche ordnungsrechtliche Leitplanken und umfangreiche staatliche Gelder, sagt Geschäftsführerin Ulrike Hamann. Sie forderte die Parteien auf, »zügig eine Regierung zu bilden und keine Zeit zu verlieren«. Zurzeit werde massiv bezahlbarer Wohnraum vernichtet – »durch den Verlust von Sozialbindungen, durch Umwandlung in Eigentumswohnungen, Abriss, Luxusmodernisierungen und durch Eigenbedarfskündigungen«. Der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) spricht sich gegen einen Weiterbau der Stadtautobahn A100 aus und fordert unter anderem eine Verschärfung der Baumschutzverordnung. Für den Naturschutzbund (Nabu) sagt Landesgeschäftsführerin Melanie von Orlow, das Ergebnis der Wiederholungswahl zeige ganz klar: »Weder das ewige Credo ›Bauen, bauen, bauen« der SPD noch die einseitige Konzentration auf die Verkehrspolitik seitens der Grünen hat die Berlinerinnen und Berliner überzeugt.» Eine ökologische Stadtentwicklung könne nur funktionieren, «wenn die Politik die Menschen in den Außenbezirken mitnimmt».
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Andreas Fritsche
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Die Berliner Linke hat nach dem Wahlsonntag noch keine Einladung der SPD zu Sondierungsgesprächen bekommen. Zunächst ist aber auch der Wahlsieger CDU am Zug.
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Berlin, CDU, Die Linke, SPD, Wahl
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Hauptstadtregion
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Berlin Berlinwahl
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2023-02-14T17:30:01+0100
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2023-02-14T17:30:01+0100
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2023-02-15T18:23:12+0100
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1170988.berlinwahl-bauprojekt-naechste-koalition.html
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Nicht verstanden, nicht besiegt
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Noch immer gibt es keine medikamentöse Therapie gegen die Alzheimer-Demenz. Jahrzehntelange Forschung mit verschiedenen Ansätzen hat noch kein Ergebnis in Form eines Wirkstoffes erbracht, der die Krankheit stoppen oder gar verhindern könnte. Auch die wachsende Zahl von Betroffenen weltweit und damit eine sicher hohe Nachfrage nach einem solchen Mittel konnte die pharmazeutische Suche nicht forcieren. Warum es so schwierig ist, Ergebnisse zu erzielen, fasste kürzlich die Alzheimer Forschung Initiative zusammen. Demnach gibt es ein Grundproblem: Niemand weiß bisher, wann und wie die Krankheit beginnt. Die Vermutung vieler Forscher läuft darauf hinaus, dass das bis zu 30 Jahre vor Beginn der Symptome ist. Vermutet wird eine Kettenreaktion von den ersten Gehirnveränderungen bis zum Ausbruch der Krankheit, für die noch viel Grundlagenforschung gebraucht werde. Zudem fehlten passende Modelle. In der Stellungnahme der Initiative scheint durch, dass man sich in der Forschung endlich vom beliebten Maus-Modell verabschiedet hat. Der Grund: »Alzheimer betrifft die Kognition des Menschen und damit eine Fähigkeit, die Mäuse nicht haben.« Zudem fehlten Biomarker, am besten im Blut, die signalisieren könnten, dass im Gehirn schon sicher etwas passiert, was später die Demenzform auslöst. Hätte man Biomarker, so die Annahme, könnte man Patienten schon früh behandeln und Wirkstoffe könnten bessere Ergebnisse erzielen. Tatsächlich ist aber gerade erst ein Wirkstoff zugelassen - und das auch bisher nur in den USA - dessen Genehmigung sich, entsprechend der Probandenzusammensetzung, tatsächlich auf Patienten im frühen Krankheitsstadium mit nur leichten kognitiven Beeinträchtigungen beschränkt. Eine weitere zusätzliche Herausforderung für die Alzheimerforschung sei es, dass jeder Wirkstoff - und auch die eventuell durch ihn bewirkten Abbauprodukte - die Blut-Hirn-Schranke passieren muss. Dieser Schutzmechanismus verhindert wie ein Filter, dass Krankheitserreger oder Giftstoffe ins Gehirn eindringen können. Ungeachtet dieser Einschränkungen wurden auf der internationalen Alzheimerkonferenz AAIC in Denver im Sommer auch andere Ansätze der Therapie vorgestellt - und zwar jenseits der Versuche, Eiweißverklumpungen (unter anderem Amyloide) aufzulösen oder zu verhindern. Eine der Ideen ist mit dem Glukosestoffwechsel im Gehirn verbunden, der bei Alzheimer gestört ist. Erwartet wurden nun schützende Effekte durch Antidiabetika. Eines davon kam bei einem Versuch am Imperial College in London mit 206 diabetesfreien Patienten mit leichter bis moderater Alzheimer-Demenz zum Einsatz. Ein Teil von ihnen erhielt das Mittel für ein Jahr, die übrigen Probanden nur ein Placebo. Zwar hatte sich im Ergebnis beim Glukosestoffwechsel im Gehirn in der Verum-Gruppe wenig geändert, allerdings schnitten diese Teilnehmer bei verschiedenen Kognitionstests und beim Verlust der Hirnsubstanz signifikant besser ab. Einer Gruppe von Patienten gilt in Sachen Alzheimer-Demenz besondere Aufmerksamkeit - es sind jene mit Trisomie 21. Erreichen sie das 50. Lebensjahr, entwickeln alle die neurodegenerative Erkrankung. Das hängt mit einem Vorläufer-Protein für die Amyloidentstehung auf Chromosom 21 zusammen. Es bewirkt deutlich mehr Beta-Amyloid. Forscher der Keck School of Medicine in Los Angeles untersuchten die Wirkung einer Impfung mit einem Beta-Amyloid-Fragment. Hier konnte in der kleinen Probandengruppe von insgesamt 16 demenzfreien Patienten Anfang 30 eine Immunreaktion beobachtet werden. Auch andere aktuelle Forschungsergebnisse wurden nur in kleinen Probandengruppen erzielt. Öffentlich mehr wahrgenommen wurden die Daten der AAIC zur weiteren Verbreitung der Alzheimer-Demenz. Demnach wird erwartet, dass positive Trends beim globalen Bildungszugang die Demenzerkrankungsrate bis zum Jahr 2050 weltweit um 6,2 Millionen Fälle senken werden. In der Zwischenzeit werden aber Trends beim Rauchen, einem hohen Body-Mass-Index und hohem Blutzucker diese Prävalenz um fast die gleiche Zahl erhöhen: um 6,8 Millionen Fälle. In den Industriestaaten nimmt die Demenz-Inzidenz sogar leicht ab - allerdings wächst die absolute Zahl alter Menschen, und deren Lebenserwartung steigt ebenfalls. Unter dem Strich steigt dann auch die Zahl der Menschen, die mit einer Demenz leben. Die zurückgehende Inzidenz in diesen Staaten könnte aber auch bedeuten, dass die Eindämmung ganz klassischer Risikofaktoren wirkt. Darunter finden sich etwa das Rauchen, Bewegungsmangel, Übergewicht oder soziale Isolation. Hier ließen sich die Anstrengungen verstärken, auch zum Schutz vor weiteren häufigen Krankheiten. Ein Ungleichgewicht existiert in der Verteilung der Forschungsgelder: Vor allem die Grundlagenforschung wird für wichtig erachtet. Versorgungsforschung hingegen bleibt unterfinanziert. Entsprechend findet die Schaffung demenzgerechter Lebensräume meist nur in Einzelprojekten statt.
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Ulrike Henning
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Ein Wundermittel gegen die Alzheimer-Demenz ist absehbar nicht zu erwarten. Die Forschung steht vor grundsätzlichen Problemen, aber Lebensstilfaktoren werden nur halbherzig berücksichtigt. Demenzgerechte Lebensräume gibt es deshalb kaum.
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Alzheimer, Demenz, Forschung, Gehirn, Medikamente
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Gesund leben Neurodegenerative Erkrankungen
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https://www.nd-aktuell.de/artikel/1157580.neurodegenerative-erkrankungen-nicht-verstanden-nicht-besiegt.html
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Original gefälscht
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Die barocke Kirche, das klassizistische Schloss, die Fabrikantenvilla aus der Gründerzeit – sie gelten als authentisch und repräsentativ. Aber was genau macht Orte authentisch? Dieser Frage geht ein Forschungsverbund nach, dem das Leibnitz-Institut für raumbezogene Sozialforschung (IRS) in Erkner, das Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, das Institut für Zeitgeschichte München-Berlin und andere Institutionen angehören. Am Mittwochabend stellt der Forschungsverbund seine Internetseite urban-authenticity.eu in einer Videokonferenz vor. Die Seite ist just zu diesem Termin freigeschaltet und das Ergebnis von zwei bis drei Jahren Arbeit einer Projektgruppe. Auch der Museumsverband Brandenburg hat dabei mitgewirkt. »Uns interessiert, warum bestimmte Orte in den vergangenen 50 Jahren als authentisch und identitätsstiftend angesehen werden«, erläutert IRS-Mitarbeiter Daniel Hadwiger. Die Wissenschaftler wollen herausfinden, warum das äußerlich teilweise als Abklatsch des einstigen Stadtschlosses errichtete Berliner Humboldt-Forum »so polarisiert« und warum das Kulturhaus des Kernkraftwerks Rheinsberg vom Erdboden verschwunden ist. 54 Objekte wurden untersucht und sie werden jetzt im Internet mit Fotos, Dokumenten und erläuternden Texten vorgestellt. Etwa die Hälfte der Objekte sind in Berlin oder Brandenburg zu finden – in einzelnen Fällen aber auch nicht mehr, weil sie abgerissen worden sind. Ein Beispiel für ein abgerissenes Kulturhaus präsentiert Hadwiger gleich selbst: Das bereits erwähnte Rheinsberger »Kulturhaus der Arbeiter des Atomkraftwerks« wurde 1959 eröffnet und später zum Erholungsheim umgebaut. Veranstaltungssaal, Milchbar und Bibliothek erfreuten längst nicht nur die Belegschaft des Kernkraftwerks, sondern auch die Bevölkerung von Rheinsberg und die Urlauber, die sich in der Gegend erholten. Sie wurden in der Gaststätte beköstigt. Es wurden in dem Haus Musiktage veranstaltet, wie ein Dokument von 1961 belegt, und es wurde Karneval gefeiert, wie ein Foto aus den 1970er Jahren zeigt. In den 1990er Jahren wurde das als baufällig eingestufte Kulturhaus plattgemacht. Pläne, etwas Neues hinzusetzen, zerschlugen sich. Die Fläche ist bis heute eine Brache geblieben. »Das ist ein emotionales Haus, ein Haus mit Erinnerungen«, schwärmt Hadwiger, so, als wäre es nicht Geschichte. Es weiß aber auch Tröstliches zu sagen. Wenngleich in der DDR errichtete Kulturhäuser oft geschleift wurden – es gibt noch welche. Etwa in Schwedt. Da, wo 1962 das Schloss verschwand, wurde 1974 der Grundstein für ein Kulturhaus gelegt. Die Errichtung stagnierte, weil die Bauarbeiter zum Palast der Republik nach Berlin abgezogen wurden. Die SED-Kreisleitung setzte sich allerdings über den zeitweise verfügten Baustopp hinweg und ließ weitermachen. Dafür wurde sie gemaßregelt. Doch Schwedt bekam sein modernes Kulturhaus. Es beherbergt heute die Uckermärkischen Bühnen. Den Palast der Republik gibt es indes nicht mehr. An seiner Stelle entstand das umkämpfte Humboldt-Forum mit Schlossfassade. »Ist das Berliner Schloss authentisch, das neu gebaute?«, fragt Professor Christoph Bernhardt, der den IRS-Forschungsschwerpunkt Zeitgeschichte leitet. Er gibt die Antwort gleich selbst: »Natürlich nicht!« Aber hinsichtlich der Kubatur des Schlosses, die das Humboldt-Forum im Stadtraum ausfüllt, vielleicht ein bisschen dann doch wieder. Darum hat es auch einen Steckbrief bekommen. Was echt ist und was nur nachgeäfft, wird auch anhand von Vergleichen mit Orten im polnischen Szczecin, im französischen Marseille und im fränkischen Nürnberg deutlich. Ein besonders eindrückliches Beispiel präsentiert Julia Ziegler vom Münchner Institut für Zeitgeschichte. Die alte Stadtmauer mit Waffenhof in Nürnberg wurde im Zweiten Weltkrieg von Bomben demoliert, der Frauentorturm aber 1953 wieder aufgerichtet. Der ist echt. Direkt daneben gibt es den 1971 aufgebauten Handwerkerhof, eine Touristen-Attraktion mit mittelalterlichem Flair, ein Disneyland für Besucher, denen eine Zeitreise lediglich vorgespielt wird. Zeitweise konnten sie dort mit extra einzutauschenden alten Münzen bezahlen. Zwar sprach sich die für den Handwerkerhof verantwortliche Ausstellungsgesellschaft mit dem Denkmalamt ab, damit alles schön authentisch wirkt – ist es aber nicht. Der Handwerkerhof schaffte es nichtsdestotrotz auf Platz acht der beliebtesten Sehenswürdigkeiten von Nürnberg. Eher unbeliebt ist das in den Jahren 1993 bis 1997 errichtete Potsdamer Wohnviertel Kirchsteighof. Die inzwischen 5000 Bewohner identifizieren sich wenig damit und ziehen im Schnitt nach sieben Jahren wieder fort. Sie beklagen fehlende Cafés und Kneipen, zeitweise habe es nicht einmal einen Supermarkt gegeben, berichtet Sabrina Runge vom Zentrum für Zeithistorische Forschung. Der Platz an der Kirche sollte eigentlich eine einladende Fußgängerzone sein, sei aber meistens von Autos zugeparkt. Dabei schwebte den Architekten gerade nicht eine öde Schlafstadt vor. Sie planten extra keine seelenlos wirkenden Wohnblocks. Abschreckend wirkte das Märkische Viertel in Berlin. Das war von 1963 bis 1974 gebaut worden. Quartiere für 50 000 Menschen entstanden in Häusern mit bis zu 16 Stockwerken. Das Projekt war sofort umstritten, wurde doch eine Laubenkolonie dafür abgeräumt. Die aus traditionellen Arbeitervierteln verdrängten Menschen zahlten hier mehr Miete als früher, hatten aber das geringste Durchschnittseinkommen von ganz Westberlin. Kinder lungerten wegen einer dramatischen Falschplanung notgedrungen auf der Straße herum. Es fehlte an Betreuung. Auch die Verkehrsanbindung mit Buslinien war mies. Erst 1994 kam ein U-Bahn-Anschluss. Rapper Sido machte das Viertel, in dem er damals noch selbst wohnte, 2004 mit seinem Song »Mein Block« berühmt. Er bediente zwar altbekannte Vorurteile gegen das Ghetto, machte es aber auch anziehend für Gangsta-Rapper, weil er es zur »authentischen Hood« stilisierte, zu einem Ort also, an dem Jugendliche getrost abhängen können. »Meine Stadt, mein Bezirk, mein Viertel«, rappte Sido. »Meine Gegend, meine Straße, mein Zuhause, mein Block.«
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Andreas Fritsche
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Das beliebte Kulturhaus in Rheinsberg wurde abgerissen, das in Schwedt blieb stehen. Ein Forschungsverbund ermittelt, wie Bauwerke und ganze Stadtviertel identitätsstiftend werden.
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Bayern, Berlin, Brandenburg
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Hauptstadtregion
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Berlin Sozialforschung
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2023-03-23T17:18:19+0100
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2023-03-23T17:18:19+0100
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2023-03-24T14:39:57+0100
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1171950.original-gefaelscht.html
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Migration und Flucht: Begrüßung statt Begrenzung
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Das beherrschende Thema des Wahlkampfes ist die Migration. Doch die Debatte steht auf dem Kopf. Sie hat nichts mit der demografischen Herausforderung Deutschlands zu tun, die im Vergleich mit anderen Industrieländern besonders düster ist, weil seit Jahrzehnten die Zahl der Sterbefälle weit über der Zahl der Geburten liegt. Derzeit sterben über eine Million Menschen pro Jahr, und nur 690 000 Kinder werden geboren. Die Vergreisung des Landes schreitet schnell voran. Dies gefährdet nicht nur die Existenz der Sozialsysteme, sondern auch die weitere wirtschaftliche Entwicklung, weil in den nächsten zehn Jahren etwa zehn bis zwölf Millionen Menschen der Babyboomergeneration in Rente gehen. Eins ist klar: Es kamen und kommen zu wenige Menschen aus dem Ausland nach Deutschland, obwohl 2015 und 2022 durch die Kriege in Syrien und der Ukraine mehr als üblich Menschen zugewandert sind. Armin Osmanovic ist seit 2020 Büroleiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung für Nordafrika. Zwischen 2000 und 2023 sind Zahlen des Statistischen Bundesamtes zufolge 8 216 000 Menschen mehr ein- als aus Deutschland abgewandert. Diese Nettozuwanderung führte dazu, dass Deutschland trotz des Geburtendefizits 2,2 Millionen Menschen hinzugewann und heute etwa 84,48 Millionen Einwohner zählt. Ohne die Nettozuwanderung der vergangenen Jahre läge die Einwohnerzahl heute schon bei nur noch 74 Millionen und weitaus weniger Arbeitskräfte müssten die Rentner*innen finanzieren. Dass der Anteil der Bundesmittel zur Rentenversicherung bei 2,8 Prozent am Bruttoinlandsprodukt liegt und damit niedriger als 2003 (3,5 Prozent) ausfällt, ist vor allem der Nettozuwanderung und damit der hohen Erwerbstätigenquote zu verdanken. Zum Thema: Hat sich das BSW verzockt? Das offene Befürworten der faktischen Abschaffung des Rechts auf Asyls könnte die Wagenknecht-Partei Stimmen kosten Die Zuwanderungszahlen sind aber bei weitem nicht genug, um den Abgang der Babyboomer in die Rente auszugleichen. Denn nur sieben bis acht Millionen junge Menschen kommen in den nächsten zehn Jahren auf den Arbeitsmarkt. Dabei ist noch nicht berücksichtigt, dass viele dieser jungen Menschen möglicherweise ins Ausland abwandern könnten. Um also die Lücke zu schließen, wäre eine Nettozuwanderung von mindestens einer Million Menschen pro Jahr notwendig, da nicht alle Zugewanderten Arbeitskräften sind, sondern auch Familienangehörige, sodass von zwei Zugewanderten einer für den Arbeitsmarkt zur Verfügung steht. Lesen Sie auch: »Neue Dimension von Brutalität« – Familie in Sachsen auseinandergerissen, Suizidgefährdeter aus Klinik heraus nach Gambia »rückgeführt« Eine Million Nettozuwanderung pro Jahr ist aber nicht realistisch, denn anders als die Phalanx aus AfD, BSW, CDU/CSU und FDP glauben machen will, gibt es nicht genügend Migrant*innen weltweit, die nach Deutschland kommen wollen. Das hat vor allem damit zu tun, dass sich nur wenige Migrant*innen nach Deutschland aufmachen. Denn fast alle Industrieländer haben das gleiche Problem wie Deutschland, nämlich eine schnell alternde Gesellschaft. In Deutschland liegt die Geburtenrate bei etwa 1,5 Kindern pro Frau, in Italien und Spanien bei 1,2, in Südkorea nur noch bei 0,7. Für eine stabile Bevölkerungsentwicklung wären 2,1 notwendig. Statt also Milliarden Euro auszugeben, um Flüchtlinge mit Zäunen und Polizeikräften abzuwehren, müsste man allen Ankommenden ein Begrüßungsgeld zahlen und hoffen, dass sie auf Dauer oder zumindest einige Jahre in Deutschland bleiben.
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Armin Osmanovic
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Deutschland braucht jährlich Zuwanderung, sonst drohen die Sozialsysteme zusammenzubrechen. Armin Osmanovic stellt die deutsche Migrationsdebatte vom Kopf auf die Füße.
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Einwanderung, Geburten, Rentenpolitik
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Meinung
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Kommentare Migrationsdebatte
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2025-02-11T15:42:28+0100
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2025-02-11T15:42:28+0100
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2025-02-13T12:17:47+0100
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1188956.migrationsdebatte-migration-und-flucht-begruessung-statt-begrenzung.html
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Rückkehr nach Biała
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Der Schriftsteller Harry Thürk (1927-2005) gehörte zu dem meistgelesenen Autoren der DDR. Seine Bücher haben die »Wende« überstanden und sind nach wie vor gefragt, was Nachauflagen belegen. Zu den besonderen Anliegen Thürks gehörte, sich für die Verständigung des deutschen und des polnischen Volkes einzusetzen, wofür seine Herkunft einer der Gründe ist. In den letzten Jahren wurde seiner und seiner Werke in Polen, und ganz besonders in seiner alten Heimat gedacht.
Harry Thürk stammte ursprünglich aus dem oberschlesischen Zülz, heute polnisch Biała. Die Familie zog später nach Neustadt (Prudnik). Er hat die Bindung zu seiner Heimat nie verloren, obwohl auch er und seine Familie unter den Wirrungen und Irrungen nach dem Zweiten Weltkrieg gelitten haben. Harry Thürk wusste, dass sich Deutsche und Polen wieder annähern, vielleicht sogar aussöhnen würden. Er sollte Recht behalten. Mit seinen Büchern, vor allem mit dem Roman »S... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
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Ulrich Völkel
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Der Schriftsteller Harry Thürk (1927-2005) gehörte zu dem meistgelesenen Autoren der DDR. Seine Bücher sind nach wie vor gefragt, was Nachauflagen belegen. Zu den besonderen Anliegen Thürks gehörte, sich für die Verständigung des deutschen und des polnischen Volkes einzusetzen.
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DDR, Polen, Schriftsteller
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Feuilleton
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Kultur
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/830552.rueckkehr-nach-bia-a.html
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Wenn Buben zu Tätern werden
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Ende April wurde in den USA ein Urteil gegen Harvey Weinstein aufgehoben. Die öffentliche Empörung darüber hielt sich in Grenzen, lediglich Aktivist*innen demonstrierten. Was sagt uns das? Das sagt uns, dass Gewalt gegen Frauen immer noch nicht in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung gelangt ist, sich hauptsächlich Akivist*innen des Themas annehmen. Seit #MeToo gibt es zwar dafür eine größer Aufmerksamkeit als zuvor, aber wenn wir schauen, wer Gewalt an Frauen anprangert, zum Gegenstand von Diskursen macht, politische Vorstöße unternimmt, wirklich empört ist und nicht nur mit der Schulter zuckt oder das Problem verharmlost, so sind das immer noch zu wenige und nicht die große Mehrheit. Bedeutete das jüngste Weinstein-Urteil einen Rückschlag für die #MeeToo-Bewegung? Nein, im Gegenteil. Es hat aufgezeigt, dass es die Bewegung immer noch dringendst braucht. Warum hat es überhaupt so lange gedauert, dass Gewalt an Frauen öffentlich skandalisiert wurden? Wir schreiten auf die Mitte des 21. Millenniums zu. Es ist schon lange Thema. Feministinnen und Fachorganisationen weisen schon seit vielen Jahrzehnten darauf hin und fordern zum Handeln auf. Aber solange die Männer diejenigen sind, die mehrheitlich auf den Bühnen stehen und als Experten zu Wort kommen, solange sie in den mächtigen Positionen, zum Beispiel den Führungsetagen der Medienhäuser deutlich überrepräsentiert sind, solange wird dem Thema sexualisierte Gewalt nicht die Wichtigkeit gegeben, die es bräuchte. Anders gesagt: Männer profitieren vom gegenwärtigen System, denn solange Frauen sich vor sexualisierter Gewalt fürchten, werden sie ihr Verhalten so ändern, dass sie die Dominanz der Männer nicht gefährden. Agota Lavoyer, 1981 in Budapest geboren, studierte Sozialarbeit undhat jahrelang Opfer sexualisierter Gewalt beraten. Sie gilt als Möglichmacherin der Schweizer Sexualstrafrechtsrevision und engagiert sich für die Prävention und Intervention bei Gewalt gegen Kinder. 2022 erschien ihr Aufklärungsbuch für Kinder »Ist das okay?«, das fünf Wochen auf Platz 1 der Schweizer Bestsellerliste stand. Just kam ihr neues Werk auf den Buchmarkt: »Jede_Frau. Über eine Gesellschaft, die sexualisierte Gewalt verharmlost und normalisiert« (Yes Publishing, 288 S., geb., 22 €). Bei Ihnen in Schaffhausen demonstrierten vergangenes Wochenende Hunderte gegen Polizei und Justiz. Können Sie kurz den Hintergrund schildern. Zeigt dieser öffentliche Protest, dass die Sensibilisierung für das Thema voranschreitet? Kurz gesagt: Eine Frau wurde (mutmaßlich) vergewaltigt. Eine Woche später lockte der Anwalt des Täters die Frau zu sich nach Hause, wo seine drei Kumpels sie brutal verprügelten und mutmaßlich sexualisierte Gewalt an ihr ausübten. Dies alles, um sie davon abzuhalten, den (mutmaßlichen) Vergewaltiger anzuzeigen. Danach versagten sämtliche Behörden: Die männlichen Forensiker untersuchten die Frau trotz Schmerzen nicht im Intimbereich, die Polizisten verhielten sich äußerst unprofessionell und stellten Beweismaterial nicht korrekt sicher und vor allem: Obwohl es Videoaufnahmen von der Tat gibt, sind die vier Männer bis heute auf freiem Fuß. Mehr noch: Sie haben die Aufnahmen sogar in der Stadt rumgereicht. Das Verfahren wegen Vergewaltigung wurde eingestellt, das Verfahren wegen schwerer Körperverletzung immer noch nicht zur Anklage gebracht. Ah, und der Anwalt ist immer noch als Anwalt tätig. Der öffentliche Protest zeigt, wie schockiert die Menschen sind, dass so was in der Schweiz möglich ist. Und der Fall zeigt auch: Männer können Gewalt gegen Frauen ausüben und haben wenig zu befürchten. Während die Frauen öffentlich beschämt werden. Sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen sind kein Problem nur im Showbusiness, sondern ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, in allen sozialen Schichten und Kulturen, morgen- oder abendländischen, zu registrieren. Hat ergo nichts oder nicht viel mit Bildungsniveau oder religiösen Hintergründen zu tun? Nein. Sexualisierte Gewalt kommt überall vor. Täter gibt es überall, unabhängig von der sozialen Schicht, der Herkunft, der Religion oder anderer Merkmale. Aber eine Gemeinsamkeit haben die Täter: Sie sind fast ausschließlich alle Männer. Und das ist nicht etwa zufällig, sondern hat System. Dieses Ausmaß an sexualisierter Gewalt ist nur möglich, weil Sexismus, Frauenfeindlichkeit und patriarchale Männlichkeitsvorstellungen immer noch tief verankert sind in unserer Gesellschaft. Im Titel Ihres neuen Buches haben Sie Jede Frau mit einem Unterstrich gekoppelt ... Der Unterstrich nach »Jede_« steht für alle Menschen, die sich als weiblich identifizieren oder so gelesen werden und für alle, die als Mädchen sozialisiert wurden. »Frau« und »Mann« verstehe ich hingegen als soziale und historische Konstrukte, denen Menschen aufgrund gewisser Merkmale zugeordnet werden und die ihre Sozialisation bestimmen. Dies geschieht innerhalb eines patriarchalen Systems, in dem es nur zwei Geschlechter gibt und in dem diese zwei Geschlechter in einer klaren Hierarchie zueinander stehen. In Deutschland wurde just 75 Jahre Grundgesetz gefeiert und weist doch noch einige Leerstellen auf. Zum Jubiläum wurde eine Ausweitung des Diskriminierungsverbots hinsichtlich sexueller Identität gefordert. Wie ist es darum in der Schweizer Verfassung bestellt? Wir haben in der Schweiz eine Strafnorm gegen Diskriminierung und Aufruf zu Hass – bezogen auf »Rasse«, Ethnie, Religion und sexuelle Orientierung. Allerdings möchten wir es ausgeweitet haben auf Diskriminierung aufgrund des Geschlechts und der Geschlechtsidentität. Es ist erwiesen, dass solche Diskriminierungsverbote die betroffenen Menschengruppen schützen, weshalb sie sehr wichtig sind und auch ausgeweitet werden müssen. Gleichzeitig reicht ein gutes Gesetz allein nicht aus. Erst kürzlich zeigte in der Schweiz eine Investigativrecherche, dass über die Hälfte der Anzeigen wegen Hate Speech von der Poliezi entweder nicht entgegengenommen oder nie bearbeitet wurde. Sprich: Die Polizei hat schlicht ihren Auftrag nicht erfüllt. Diese Recherche zeigt, dass es bei der Polizei an grundlegendem Wissen bezüglich dieser Strafnorm fehlt. Sie waren selbst sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Ist die Arbeit an Ihrem neuen Buch auch eine Art Selbsttherapie gewesen? Nein. Ich brauche keine Selbsttherapie. Ich brauche Menschen, die sich gegen unsere patriarchale Gesellschaft und gegen Gewalt gegen Frauen auflehnen und Männer, die einander zur Rechenschaft ziehen. Wenn mein Buch dazu einen Beitrag leisten kann, ist mein Ziel erreicht. Sie fassen den Begriff sexualisierter Gewalt sehr weitreichend. Komplimente oder Zeichen der Bewunderung nimmt frau aber doch gern entgegen? Ja, klar. Nur haben Komplimente und Zeichen der Bewunderung nichts mit sexualisierter Gewalt zu tun. Sexualisierte Gewalt ist ein Überbegriff, der jedes Verhalten von taxierenden Blicken über Nachpfeifen, verbale und körperliche Belästigung, aber auch Gewalt im digitalen Raum bis hin zu sexueller Nötigung und Vergewaltigung mit einschließt. Dass sexualisierte Übergriffe als Komplimente verharmlost werden, zeigt genau das auf, was ich in meinem Buch darlege: Wir leben in einer Gesellschaft, in der sexualisierte Gewalt immer noch verharmlost, normalisiert und zuweilen ignoriert oder gar glorifiziert wird. In Ihren Beratungsstunden haben Sie viel Schlimmes gehört. Wie gehen Sie damit um? Als Sozialarbeiterin habe ich gelernt, eine professionelle Distanz zu Gehörtem halten zu können. Gleichzeitig bin ich nie nur Fachperson, sondern immer auch eine Frau und eine Betroffene und selbstverständlich geht mir die Arbeit nah. Aber sie gibt mir auch sehr viel, nicht zuletzt das Gefühl, im Kollektiv so viel erreichen zu können. Meine Wut kanalisiere ich, indem ich auf Instagram aktiv bin, Referate halte oder eben Bücher schreibe. Das ist mein Ventil und ich bin dankbar, dass ich dieses habe. Ein Kapitel ist überschrieben mit: »Zum Täter erzogen« ... Wenn Jungen lernen, dass sie Sex brauchen und dass Frauen ihnen Sex schulden und dass das »Zieren« einer Frau eigentlich ein Ja ist, dann werden sie zu Männern, in deren Wertesystem ein Nein einer Frau gar nicht vorkommt. Wenn wir Jungs beibringen, dass Dominanz, besonders über Frauen, eine entscheidende Qualität von Männlichkeit ist, dann werden sie zu Männern, die sich berechtigt fühlen, Frauen als ihren Besitz zu sehen, den sie kontrollieren dürfen. Notfalls mit Gewalt. Und so erziehen wir Buben zu Tätern. Was ist zu tun, um sexualisierte Gewalt zu bekämpfen und ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen? Wir müssen alles daran setzen, dass Gleichberechtigung nicht nur ein Versprechen auf dem Papier ist. Wir werden keine gewaltfreie Gesellschaft, solange wir nicht gleichberechtigt sind. Und wir werden keine Gleichberechtigung haben, solange wir zulassen, dass Männer so viel Gewalt gegen Frauen ausüben. Wir müssen uns auflehnen gegen Geschlechterstereotype, toxische Männlichkeitsvorstellungen, Sexismus, Frauenfeindlichkeit und Rassismus. Wir müssen uns nicht in erster Linie fragen, ob sexualisierte Gewalttaten strafrechtlich relevant sind, ob es Beweise gibt, ob die betroffene Person glaubwürdig genug ist oder wieso sie keine Anzeige erstattet. Sondern wenn wir uns fragen, ob wir Teil dieser Ungerechtigkeit sind und ob wir auf allen Ebenen genug tun, um sexualisierte Gewalt zu verhindern, heute und zukünftig.
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Interview: Karlen Vesper
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Jede dritte Frau im deutschsprachigen Raum ist von sexuellen Übergriffen belästigt, weltweit grassiert nach wie vor sexualisierte Gewalt. Die Schweizer Expertin Agota Lavoyer fordert ernsthafte Abwehr und Ahndung.
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Antidiskriminierung, linker Feminismus, Schweiz
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Feuilleton
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Kultur Das Beste aus dem nd
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2024-05-29T18:06:59+0200
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2024-05-29T18:06:59+0200
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2025-01-01T16:50:50+0100
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1182551.wenn-buben-zu-taetern-werden.html
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Alle einig gegen »Populisten«
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Interessant war, worin am Donnerstag im Bundestag Einigkeit bestand. Nahezu alle Redner von CDU bis zu den Grünen betonten, es sei gar keine Frage, dass es nach 1990 »Fehlentwicklungen« gegeben habe, dass auch die bundeseigene Treuhandanstalt bei der Privatisierung der DDR-Betriebe viele »falsche« Entscheidungen getroffen hat, dass unseriöse »Glücksritter« unterwegs gewesen seien. Auch, dass die Tätigkeit der Behörde aufgearbeitet werden müsse, räumten die meisten ein. So viel ist also bei allen angekommen. Ebenso einig war man sich jedoch, dass eine wissenschaftliche Aufarbeitung, die bereits geleistet werde (siehe unten), ausreiche. Das Parlament sei kein geeigneter Ort dafür. Zur Debatte stand der Antrag der Linksfraktion, einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss zur Treuhandanstalt einzusetzen. Denn ihr Wirken - die rasante Verscherbelung des Großteils der Betriebe zu symbolischen Beträgen, überwiegend an westdeutsche Unternehmen - sei »eine Ursache« für die bis heute existierende »wirtschaftliche und soziale Kluft« zwischen Ost- und Westdeutschland, heißt es im LINKE-Papier, das dem Bundestag bereits seit Ende April vorliegt. Es wurde am Donnerstag zusammen mit einem Antrag der AfD diskutiert, der von dieser erst zwei Tage vor der Sitzung eingereicht worden war. Die rechte Partei stellt darin fest, die Bevölkerung in »Mitteldeutschland« leide noch heute »an den Folgen der Transformation der Planwirtschaft der DDR hinüber zur Marktwirtschaft«. Der Schaden durch »Veruntreuung und Betrug im Zusammenhang mit Privatisierungen« sei bereits 1998 auf fünf Milliarden Euro beziffert worden. Die kurzfristige Initiative der AfD machte es etwa FDP-Generalsekretärin Linda Teuteberg und anderen leicht, beide Anträge in einen Topf zu werfen und als billigen populistischen Schachzug vor den Landtagswahlen in drei ostdeutschen Bundesländern im Herbst darzustellen. Eingangs hatte Linksfraktionschef Dietmar Bartsch eindringlich gemahnt, eine parlamentarische Aufarbeitung sei »notwendig für den inneren Frieden in unserem Land«. Die früheren beiden Untersuchungsausschüsse zum Thema hätten hier die notwendige Arbeit nicht leisten können, da der Großteil der Unterlagen zur Tätigkeit der Bundesbehörde den Abgeordneten nicht zugänglich gemacht worden sei. Dabei sei das »Desaster«, das diese angerichtet habe, ein wesentlicher Grund für den verbreiteten Frust unter Ostdeutschen. Bartsch betonte, es gehe um eine seriöse und damit »ergebnisoffene« Aufarbeitung. Natürlich sei die DDR-Wirtschaft »vielfach marode« gewesen. Doch die Treuhand habe »aus dem Osten einen Ein-Euro-Laden gemacht«. 85 Prozent der Betriebe seien von ihr an Westunternehmen verkauft worden, der Rest hauptsächlich an ausländische Investoren. Dabei sei es ihr Auftrag gewesen, die »Wettbewerbsfähigkeit möglichst vieler Betriebe« herzustellen. »Stattdessen wurde alles plattgemacht und der Rest verscherbelt«, konstatierte der LINKE-Politiker. Ostdeutsche CDU-Politiker wie Eckhardt Rehberg und Arnold Vaatz stellten in der anschließenden Debatte vor allem die Linkspartei an den Pranger, deren Vorgängerorganisation SED die eigentlich Schuldige am vermeintlich desaströsen Zustand der ostdeutschen Wirtschaft sei. Beide beriefen sich auf den sogenannten Schürer-Bericht, dem zufolge die DDR pleite gewesen sei. Gerhard Schürer, Chef der staatlichen Plankommission beim Ministerrat der DDR, war Ende Oktober 1989 zusammen mit anderen Autoren aufgrund der hohen Auslandsverschuldung davon ausgegangen, dass eine Zahlungsunfähigkeit des Staates unmittelbar bevorstehe. Vaatz leitete daraus ab, dass ein drastisches Absinken des Lebensstandards in der DDR unausweichlich gewesen sei. Demgegenüber seien die Entwicklungen nach 1990 ausgesprochen erfreulich gewesen. Die Treuhand hat aus seiner Sicht gerettet, was zu retten war. CDU-Rechtsaußen Vaatz lastete der LINKEN indirekt auch noch den Mord an Detlev Carsten Rohwedder am 1. April 1991 an. Denn Anfang der 90er Jahre hätten Linke gegen den ersten Treuhand-Präsidenten gehetzt. Der LINKE-Abgeordnete Diether Dehm wies mit Blick auf diese Anwürfe darauf hin, dass es Recherchen des Münchner Schriftstellers Wolfgang Schorlau zufolge viele Indizien dafür gebe, dass nicht Linksterroristen, sondern andere Kreise Interesse am Tod Rohwedders gehabt hätten. Denn der erste Präsident der Treuhandanstalt habe, anders als eine Nachfolgerin Birgit Breuel, der Erhaltung von Betrieben den Vorzug vor Privatisierung und Schließung gegeben. Abgeordnete von SPD und Grünen räumten ein, es bestehe ein »hohes gesellschaftliches Interesse an einer Aufarbeitung der Treuhand-Geschichte«, so zum Beispiel Sonja Amalie Steffen (SPD). Sie zeigte sich jedoch überzeugt, dass hierzu die Arbeit von Historikern ausreicht, zumal die beiden vorangegangenen Treuhand-Ausschüsse bereits »ein hohes Maß an Aufklärung betrieben« hätten. Die seinerzeit verantwortlichen Politiker seien zudem heute alle im Ruhestand. Stefan Gelbhaar (Grüne) wiederum hält eine angemessene Aufarbeitung für die Aufgabe des Ostbeauftragten der Bundesregierung, Christian Hirte (CDU). Der werde dieser Verantwortung aber nicht gerecht. Die Notwendigkeit für einen Untersuchungsausschuss sieht Gelbhaar dennoch nicht. Die SPD-Abgeordnete Katrin Budde schilderte am Beispiel Sachsen-Anhalts plastisch die Verheerungen, die die Treuhand angerichtet hat, indem sie auch überlebensfähige Betriebe zerschlug. »Wenn mir jemand den Tag versauen will, muss er nur das Wort Treuhand in den Mund nehmen«, sagte Budde. Sie habe das »bewusste Zerstückeln« und die Arroganz unbedarfter McKinsey-Berater als Landtagsabgeordnete hautnah erlebt. 1990 habe es allein in Sachsen-Anhalt 600 000 Industriearbeitsplätze und gut 100 000 weitere Stellen gegeben. Heute seien es gerade noch 105 000. In den 1990er Jahren habe die Beseitigung und Einverleibung von Konkurrenz den westdeutschen Unternehmen eine »Schonfrist« nach dem »Globalisierungsschub« der 80er Jahre verschafft, so Budde. Sie hätten Überkapazitäten gehabt und mit Ostdeutschland über einen vergrößerten Markt verfügt. Doch auch Budde sprach sich gegen einen Untersuchungsausschuss aus. Wichtiger sei es, einen erneuten Strukturbruch mit dem Ausstieg aus dem Kohleabbau zu verhindern. Ihre FDP-Kollegin Teuteberg ätzte fast so gekonnt wie die CDU-Mannen gegen die Linke, die wie die AfD »hier nicht zufällig Verschwörungstheorien« aufwärme, um »am linken und rechten Rand« zu fischen. Die Ursachen der Probleme nach der »Wende« lägen schließlich »in den 40 Jahren zuvor«. »Vieles müsste man auch wieder so machen«, wie es die Treuhand getan habe, meint Teuteberg. Es sei schließlich notwendig gewesen, eine »Plan- und Kommandowirtschaft in die Marktwirtschaft« zu überführen, die keine »weltmarktfähige Produktpalette« vorzuweisen gehabt habe. Zudem hätten die Ostdeutschen seinerzeit einen »schnellen Übergang« gewünscht, sagte Teuteberg. Die LINKE, meinte Teuteberg, verhalte sich »wie ein Brandstifter, der ruft, haltet den Dieb«. Nach dem Muster, »Sündenböcke« zu suchen, sei es der Partei auch gelungen, von ihrer Herkunft aus der SED und von der »Stasi« abzulenken. Die beiden Anträge wurden am Ende der einstündigen Debatte zur weiteren Beratung in den Immunitätsausschuss des Bundestages überwiesen.
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Jana Frielinghaus
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Wahlkampfcoup, Ablenkung von der eigenen »Schuld«: So lauteten im Bundestag die Vorwürfe gegen die LINKE. Sie fordert ein Parlamentsgremium zur Aufarbeitung des Wirkens der Treuhandanstalt.
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DDR, Die Grünen, Die Linke, FDP, linke Parteien, Ostdeutschland, SPD, Treuhandanstalt
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Politik & Ökonomie
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Politik Treuhand
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https://www.nd-aktuell.de/artikel/1121874.treuhand-alle-einig-gegen-populisten.html
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Streiter für veränderte Spielregeln
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»Wir zeichnen mit dem Alternativen Nobelpreis Menschen aus, die die Spielregeln verändern. Gerade weil sie das tun, sind sie oft sehr unbequem und arbeiten deshalb unter lebensgefährlichen Bedingungen«, sagt Juliane Kronen von der Stiftung Right Livelihood Award im Gespräch mit dem »nd«. Einer von ihnen ist der Arzt Denis Mukwege, der neben dem schweizer Insektenforscher Hans Herren, dem palästinensischen Anwalt Raji Sourani und dem US-amerikanischen Chemiewaffenexperten Paul Walker in diesem Jahr die Auszeichnung erhält.
Es war im Oktober 2010, Mukwege kam gerade von der Arbeit in dem von ihm geleiteten Panzi-Krankenhaus im Osten der Demokratischen Republik Kongo nach Hause zurück, als mehrere zivil gekleidete Männer auf ihn schossen. Ein Leibwächter starb, Mukwege konnte sich gerade noch retten. Sein Vergehen: Er behandelt nicht nur Opfer sexueller Gewalt, er spricht die Ursachen dafür auch offen an. 40 000 Mädchen und Fraue... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
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David Graaff, Bogotá
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Ein Arzt, ein Politikwissenschaftler, ein Rechtsanwalt und ein Insektenforscher sind die Träger des diesjährigen Right Livelihood Awards, bekannt als »Alternativer Nobelpreis«.
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Nobelpreis
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Politik & Ökonomie
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Politik
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/834368.streiter-fuer-veraenderte-spielregeln.html
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Es kommt kein Arzt ins Pflegeheim
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»Warten bis der Arzt kommt?« Unter diesem Motto diskutieren Fachleute und Betroffene am Montagnachmittag Probleme der medizinischen Versorgung in Berliner Pflegeheimen. Zunächst heißt es im Quadriga-Forum am Werderschen Markt aber: »Warten bis der Czaja kommt.« Gesundheitssenator Mario Czaja (CDU) verspätet sich um sieben Minuten. Um 14.09 Uhr tritt er zur Begrüßung der rund 100 Teilnehmer ans Pult. 2030 werde es in der Hauptstadt doppelt so viele über 80-Jährige geben wie heute, sagt Czaja. Damit steige die Zahl der Pflegebedürftigen, was eine Herausforderung sei. 291 Pflegeheime gebe es in Berlin und bei 70 Prozent von ihnen herrsche für die Politik keine Klarheit über die hausärztliche Betreuung. »Wir wissen, dass die jahrelange Beziehung zum Hausarzt beim Einzug in ein Pflegeheim in der Regel verloren geht.« Der Hausarzt praktiziere dreieinhalb bis fünf Kilometer vom Wohnsitz entfernt, aber so nah befinde sich in der Regel kei... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
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Andreas Fritsche
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Die Patientenbeauftragte Karin Stötzner organisierte eine Diskussion über die medizinische Versorgung in Seniorenheimen.
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Pflege, Pflegeheime
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Hauptstadtregion
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Berlin
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1137241.bundesliga-pionierinnen-in-europa.html
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Lindner schreibt die Ärmsten ab
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»Lieber hackedicht als Unterschicht«, sagt eine junge Frau im Business-Kostüm in die Kamera und lacht schäbig. Sie tut dies in einem aktuellen Video von der Insel Sylt, irgendwo im Internet, das der medial längst ausgeschlachteten kleinen Punkerinvasion dort die Erben der reichen westdeutschen Elite gegenüberstellt. Auch Bundesfinanzminister Christian Lindner, der bereits mit 14 Jahren in die Jugendorganisation der FDP eintrat, befindet sich zurzeit auf der Distinktionsinsel des westdeutschen Geldadels. Er heiratet dort dieser Tage die Journalistin Franca Lehfeldt, Hochzeitspaar und Gäste werden laut »Spiegel« im »Severin’s Resort & Spa« unterkommen. Die Hotelanlage hat unter anderem einen 2000 Quadratmeter großen Wellnessbereich, die Kosten für eine Übernachtung liegen bei 390 bis 3500 Euro pro Nacht. Während Lindner seinem ganzen Habitus entsprechend auf Sylt den großen Zampano gibt, wurden am Donnerstag weitere Informationen aus dem Haushaltsentwurf des Kabinetts für 2023 öffentlich. Demnach will der Bundesfinanzminister in den kommenden Jahren massiv bei der Förderung von Langzeitarbeitslosen sparen. Konkret sollen für das kommende Jahr »Leistungen zur Eingliederung in Arbeit« in der Grundsicherung für Arbeitsuchende von aktuell gut 4,8 Milliarden Euro auf 4,2 Milliarden Euro gekürzt werden – das wäre ein Minus von insgesamt 609 Millionen Euro. Selbst die CDU spielt hier Opposition und gibt sich entsetzt über die neuerliche neoliberale Offensive des FDP-Finanzministers. »Insbesondere trifft das Langzeitarbeitslose, deren Eingliederung in den Arbeitsmarkt und soziale Teilhabe nun schwieriger wird«, bringt CDU-Sozialexperte Kai Whittaker Lindners Anliegen auf den Punkt. Darüber hinaus beklagt der CDU-Mann: »Nachhaltig ist dieser Sozialkahlschlag ganz sicher nicht«, was man auch so verstehen könnte, dass er selbst nachhaltigere Sozialkahlschläge in petto hat. Auch für die Linksfraktion wäre eine entsprechende Kostenreduktion eine »krasse Bankrotterklärung«, so deren sozialpolitische Sprecherin Jessica Tatti. »Statt zwanghaft an der Schuldenbremse festzuhalten, muss die Bundesregierung in dieser Krise endlich die massiven Übergewinne der Konzerne besteuern«, forderte sie. Dies blockiert der FDP-Mann aber schon lange und genauso vehement wie eine Vermögenssteuer. Dass Lindner lieber den Rotstift bei den Langzeitarbeitslosen ansetzt, wundert Tatti nicht. »Aber wenn Bundesarbeitsminister Hubertus Heil, die SPD überhaupt und die Grünen da mitmachen, verspielen sie auch noch den letzten Rest an sozialpolitischer Glaubwürdigkeit«, warnt die Linken-Abgeordnete. Aus dem SPD-geführten Bundesarbeitsministerium hieß es zur Berichterstattung über mögliche Kürzungen beim Sozialen Arbeitsmarkt nur allgemein, »der Bundesminister für Arbeit und Soziales, Hubertus Heil, wird sich weiterhin für eine aktive Arbeitsmarktpolitik und für eine entsprechende dauerhafte Mittelausstattung des sozialen Arbeitsmarkts stark machen«. Dieser sei ein hocherfolgreiches Instrument, um Langzeitarbeitslose in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu bringen, so Heils Sprecherin Franziska Haas. Und: »Die für den Bundeshaushalt 2023 im vorgesehenen Mittel für Eingliederungsleistungen bewegen sich auf dem Niveau dessen, was im Jahr 2019 für Eingliederung ausgegeben worden ist. Über die endgültige Ausstattung des Eingliederungstitels entscheidet der Deutsche Bundestag.« Auch bei den Sozialverbänden herrscht Unverständnis gegenüber Lindners Vorstoß. So erklärte Maria Loheide, Vorständin für Sozialpolitik der Diakonie Deutschland: »Den Rotstift gerade bei der Förderung von Arbeit und Qualifizierung von Langzeitarbeitslosen und Geringqualifizierten anzusetzen, ist unanständig. Herr Lindner sollte sich darauf besinnen, dass er für alle in der Gesellschaft Verantwortung trägt und nicht nur für Wohlhabende und gut Qualifizierte.« Bereits in der vergangenen Woche hatte die stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag, Gesine Lötzsch, Lindner unterstellt, jene, die am meisten unter der herrschenden Inflation leiden, mit Almosen abzuspeisen, während er die Vermögenden schone wie ein gelernter Vermögensverwalter. Der heutige Bundesfinanzminister hat tatsächlich genau das von der Pike auf gelernt. Wie ein »Stern-TV«-Beitrag aus dem Jahr 1997 zeigt, war er bereits als 16-Jähriger in Anzug und Krawatte und geliehenem Angeberauto unterwegs, um Unternehmer in Neoliberalismus zu schulen. Dass die Veröffentlichung seiner Kürzungsoffensive bei Arbeitslosen nun mit seiner eigenen pompösen Hochzeit zusammenfällt, führt in den sogenannten sozialen Medien zu einer heftigen Debatte. Unter dem Hashtag #FDPmachtkrank machen auf Twitter viele Menschen ihrem Ärger darüber Luft, dass ihnen seit Wochen gesagt wird, den Gürtel enger zu schnallen, während es einige Spitzenpolitiker offenbar weiter krachen lassen. »Ein Schlag in die Fresse all derer, die ab Mitte des Monats nicht mehr wissen, wie sie sich Essen leisten können«, heißt es dort.
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Martin Höfig
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Aus am Donnerstag bekannt gewordenen Eckdaten des Haushaltsentwurfs für 2023 geht hervor, dass Finanzminister Lindner in den kommenden Jahren massiv bei der Förderung von Langzeitarbeitslosen sparen will. Linke fordert, Regierung müsse stattdessen endlich die massiven Übergewinne der Konzerne besteuern.
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Arbeitslosigkeit, Arbeitsmarkt, SPD
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Politik & Ökonomie
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Politik Haushaltskürzungen
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2022-07-07T18:16:15+0200
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2022-07-07T18:16:15+0200
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2023-01-20T18:03:13+0100
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https://www.nd-aktuell.de/artikel/1165145.haushaltskuerzungen-lindner-schreibt-die-aermsten-ab.html?sstr=Vermögensverwalter
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Kinder dürfen Waffen der Bundeswehr nicht mehr anfassen
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Berlin. Die Bundeswehr präsentiert an Besuchertagen künftig keine Waffen zum Anfassen mehr. Das hat Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) entschieden, wie sie in den Zeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschland erklärte. Zuvor war bekanntgeworden, dass Vorschulkinder am Wochenende in einer Kaserne im baden-württembergischen Stetten bei einem Tag der offenen Tür mit Handfeuerwaffen ohne Munition hantiert hatten. »Um so etwas in Zukunft von vornherein auszuschließen, habe ich entschieden, dass auf künftigen Tagen der Bundeswehr keine Handwaffen zum Anfassen mehr präsentiert werden«, so die Ministerin. In Stetten sei »trotz klarer Vorschriften ein bedauerlicher Fehler passiert«. Friedensaktivisten warfen der Bundeswehr vor, »Grenzen überschritten« zu haben. Sie veröffentlichten Bilder von Kindern beim Hantieren mit Waffen der Typen G36 und P8 sowie bei einer Einweisung an einer Maschinenpistole des Typs MP7. Roland Blach von der DFG-VK sprach von einem erschreckenden Verhalten, Ralf Willinger von der Organisation Terres des Hommes bezeichnete das Vorgehen der Streitkräfte als »inakzeptabel«. Die Bundeswehrwies den Vorwurf unterdessen zurück, ungeladene Handwaffen in die Hände von Kindern gegeben zu haben. »Kein einziger Soldat hat einem Minderjährigen Waffen in die Hand gegeben«, sagte der Standortälteste Hansjörg Friedrich am Dienstag. Vielmehr hätten erwachsene Begleitpersonen am vergangenen Samstag die Waffen weitergereicht - und Soldaten ihnen diese umgehend wieder abgenommen. Agenturen/nd
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Redaktion nd-aktuell.de
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Am "Tag der Bundeswehr" haben Kinder in einer Kaserne mit Waffen hantiert. Das hat auch die Bundespolitik aufgeschreckt. Minister von der Leyen hat nun klar gestellt: Kriegswaffen sind kein Kinderspielzeug.
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Bundeswehr, Friedensbewegung, Kinder, Waffen
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Politik & Ökonomie
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Politik
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1015221.kinder-duerfen-waffen-der-bundeswehr-nicht-mehr-anfassen.html
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Bund zu Beschluss über G36-Ausfuhr verurteilt
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Frankfurt am Main. Die Bundesregierung und ihre Behörden müssen eine Entscheidung treffen, ob der Waffenhersteller Heckler & Koch Teile seines Sturmgewehrs G36 nach Saudi-Arabien liefern darf. Dazu hat das Verwaltungsgericht Frankfurt den Bund am Donnerstag verurteilt. Zweieinhalb Jahre nach dem Antrag auf Genehmigung habe das Rüstungsunternehmen einen Anspruch auf eine Entscheidung der Politik - ob positiv oder negativ. Den Antrag von Heckler & Koch, den Bund auch zur Genehmigung des Geschäfts zu verurteilen, wies die Kammer aber zurück. In Saudi-Arabien gibt es seit längerem eine Lizenzfertigung von G36-Gewehren. Die Ausfuhr von Komponenten und Ersatzteilen ist Heckler & Koch bereits 2006 von der Bundesregierung zugesichert worden. dpa/nd
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Redaktion nd-aktuell.de
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Bundesregierung, Saudi-Arabien
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Politik & Ökonomie
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Politik
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1016348.bund-zu-beschluss-ueber-g-ausfuhr-verurteilt.html
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Zeit zu handeln
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Wann, wenn nicht jetzt? Das fragt sich eine Initiative in Ostdeutschland - und möchte vor den Landtagswahlen im Herbst in Brandenburg, Sachsen und Thüringen gegen rechte Hetze zusammenstehen. Mit einer Konzerttour auf Marktplätzen in mehreren Städten werden Musik und politisches Engagement zusammengebracht. Das erste Konzert findet am kommenden Samstag in Zwickau statt. »Mit WannWennNichtJetzt ermutigen wir alle dazu, im Alltag mehr Toleranz zu zeigen, aktiv zu werden und sich nicht in die Defensive drängen zu lassen«, erklärte der Sprecher der Kampagne, Bruno Rössel, auf einer Pressekonferenz am Mittwoch. Die Initiative will einen »Sommer der Solidarität« einläuten und zeigen, dass es im Osten viele Menschen gibt, die für linke und emanzipatorische Politik einstehen. Entstanden ist die Initiative aus dem Gedanken heraus, den Funken des großen Wirsindmehr-Konzerts in Chemnitz in andere Städte und den Alltag hineinzutragen. Auftakt der Tour : 20. Juli, 10 Uhr, Hauptmarkt Zwickau Weitere Termine: 27.07. Bautzen, 02.08. Gera, 03.08. Cottbus, 03.08. Annaberg-Buchholz, 03.08. Müncheberg, 10.08. Plauen, 16.08. Neuruppin, 17.08. Forst, 30./31.08. Grimma, 21.09. Saalfeld Infos: www.wannwennnichtjetzt.org Sarah Fartuun Heinze sagt dazu: »WannWennNichtJetzt bedeutet: wir sind nicht immer mehr, aber jetzt ist die Zeit zu handeln«. Die Theaterpädagogin aus Cottbus ist wie Rössler in die Planung der Konzerttour involviert. Sie fühlt sich in Cottbus zu Hause, auch wenn sie dort aufgrund ihrer Hautfarbe bereits beschimpft und mit dem Hitlergruß provoziert wurde. »Wir organisieren uns, um Städte zu schaffen, in denen sich alle Menschen frei bewegen können und nicht bedroht werden. Wir wollen Orte, in denen Busse fahren, Kultureinrichtungen kostenfrei sind und wir solidarisch miteinander handeln«, sagt Heinze zu den Zielen der Kampagne. Finanziert wurde diese durch ein monatelanges Crowdfunding. Mehr als 60 000 Euro konnten gesammelt werden. Beflügelt wurde die Spendenaktion durch die Ergebnisse der Kommunal- und Europawahlen, bei denen die AfD viele Stimmen erhielt. Von diesem Geld wird die Tour finanziert, bei der es neben Konzerten auch Lesungen, Vorträge und Workshops geben wird, und beim ersten Marktplatzkonzert in Zwickau sogar ein Fußballturnier, wie Organisatorin Maria Evers stolz ankündigt. Obwohl am Anfang auch mit großen Bands und Künstlern gerechnet wurde, sind die letztlich bestätigten Auftritte eher unbekannt. In Zwickau haben sich die Rapper Kobito und Matondo angekündigt, außerdem Shkoon und die Band Klostein. Der Sänger der letzteren sagte gegenüber »nd«, das Konzert sehe er als »Aufklärungsarbeit gegen Rechts«. Die Stimmung in der Stadt vor dem Konzert beschreibt er als angespannt. Er selbst sei als Veranstalter schon angegangen worden, sein Name wurde an Wände gesprüht, er bedroht. In letzter Zeit sei er mehrfach umgezogen, weil Nazis seine Adresse bekannt war. Besonders die Neonazikleinpartei III. Weg und die »Identitären« hätten sich in der Stadt breit gemacht. Auch deshalb sei er glücklich darüber, dass am Samstag viele Menschen auch aus größeren Städten nach Zwickau kommen. »Es ist schön, zu sehen, dass die Menschen die ostdeutsche Provinz nicht vergessen haben«, sagt er. Auch Maria Eversfreut sich, dass am Samstag viele Menschen nach Zwickau kommen. Ihr gehe es darum, »die Stadt ein wenig bunter zu machen«. Es sei ihr ein Anliegen zu zeigen, dass es in Zwickau seit Jahren eine engagierte Zivilgesellschaft gebe. Ein Miteinander zwischen Flüchtlingen und Alteingesessenen. Dieses bei der Marktplatztour »in Szene zu setzten«, ist ihr wichtig. Die letzten Kommunalwahlen, bei denen rechte Kräfte an Land gewannen, hätten ihr Angst gemacht. Umso mehr freue sie sich, einen so großen Protest dagegen organisiert zu haben. Laut einem Sprecher des Bündnisses geht es bei der Tour darum, ein Gesprächsangebot für die Menschen vor Ort zu schaffen und die Pluralität der Gesellschaft sichtbar zu machen. Am 24. August kommt die Initiative dann mit dem Bündnis unteilbar in Dresden zusammen. Zur gleichnamigen Großdemonstration auf dem Altmarkt werden mehrere zehntausend Teilnehmer erwartet.
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Fabian Hillebrand
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Mit Konzerten gegen Rassismus und die AfD: Eine Marktplatztour will am Samstag in Zwickau damit beginnen, das andere Ostdeutschland sichtbar zu machen.
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Brandenburg, Dresden, Musik, Ostdeutschland, Rechtsradikalismus, Zwickau
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Politik & Ökonomie
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Politik Wannwennnichtjetzt
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Spielball der EU-Politik
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Nach tagelanger Irrfahrt mit 141 Flüchtlingen an Bord hat nun Malta der »Aquarius« einen sicheren Hafen angeboten. Fünf Länder wollen die Geflüchteten aufnehmen. Können Sie nun aufatmen? Wir haben die Nachricht bisher nur von Twitter erfahren. Natürlich begrüßen wir die Entscheidung. Wir weisen aber gleichzeitig daraufhin, dass dies nur eine kurzfristige Lösung darstellen kann. Aus fadenscheinigen Gründen werden immer noch verschiedene Seenotrettungsorganisationen an ihrer Arbeit gehindert. Unsere Forderung lautet demnach: Wenn man uns nun nach Malta einfahren lässt, muss man uns auch wieder herausfahren lassen. Gibraltar hat der »Aquarius« mit dem Entzug der Flagge gedroht. Das Schiff sei im Land fälschlicherweise als Forschungs- und nicht als Rettungsschiff registriert. Befürchten Sie eine Festsetzung in Malta? Die Vorwürfe sind haltlos. Wir sind als Rettungsschiff registriert und auch die vergangenen zwei Jahre ohne Probleme mit dem Flaggenstaat gefahren. Wir haben in dieser Zeit auch nichts Wesentliches geändert. Es gibt keine Regelverstöße, wegen denen man uns festhalten dürfte. Noch ist ja auch nichts passiert. Falls es doch dazu kommen sollte, muss man sehen, mit welchen Behauptungen sie versuchen, uns aus dem Verkehr zu ziehen. Wie ist die Lage an Bord? Über die Hälfte der 141 Geretteten sind Jugendliche und Kinder, die ohne Begleitung alleine geflüchtet waren. Ein Drittel sind Frauen. Wir haben keine medizinischen Notfälle an Bord, aber die Geretteten sind erschöpft. Viele haben Folterspuren, die ihnen vermutlich in Libyen zugefügt wurden. Die Flüchtlinge erzählen, dass fünf Boote an ihnen vorbeigefahren sind, ohne sie zu retten. Mehrere Länder hatten der »Aquarius« einen sicheren Hafen verweigert. Mit wem hatten Sie Kontakt? Es ist nicht unsere Entscheidung, welchen Hafen wir anfahren, sondern die der koordinierenden Seenotleitstelle. Die beiden Rettungen liefen unter Koordination der Libyer, diese haben uns jedoch danach keinen Hafen zugewiesen, sondern an andere Seenotleitstellen verwiesen. Offiziell hatten wir dann die zuständigen weil nächstgelegenen Seenotleitstellen bei Malta und Italien angefragt, bis zu dreimal am Tag. Alles andere, wie die Äußerungen von Spanien, vernahmen wir nur aus den Medien. Niemand fühlte sich zuständig und alle schoben sich gegenseitig die Verantwortung zu. Spaniens Regierung hatte jüngst noch erklärt, dass es keinen sicheren Hafen geben könne, da keine »humanitäre Notlage« auf der »Aquarius« herrsche. Empfinden Sie so eine Aussage als Zynismus? Die Tatsache, dass sich Madrid auf den gesundheitlichen Zustand der Geretteten fokussierte, lenkte von der eigentlichen Debatte vollkommen ab. Es geht nicht darum, ob jemand schwerverletztes an Bord ist und deswegen ein Schiff an Land gehen darf. Es geht darum, dass jetzt wieder jeder EU-Mitgliedsstaat nach Gründen suchte, warum er offensichtlich nicht in der Lage ist, die geretteten Flüchtlinge an Land zu lassen. Auch die EU-Kommission hatte Druck auf die Mitgliedsländer ausgeübt. Ein gutes Zeichen? Es wäre vor allem gut, wenn die EU endlich anerkennt, dass das Dublin-System nicht funktioniert. Sie müsste daraus folgernd zum einen sicherstellen, dass die diesbezügliche Uneinigkeit in Europa nicht auf dem Rücken von Geretteten und zivilen Rettern ausgetragen wird. Seit der letzten Irrfahrt der »Aquarius« vom Juni hat sich hier aber offensichtlich nichts geändert. Zum anderen müsste ein System etabliert werden, wonach die Schutzsuchenden innerhalb der EU-Mitgliedsstaaten solidarisch aufgeteilt werden. Nun bewegt sich zwar etwas, aber mit Sicherheit noch nicht genug. Angela Merkel verhandelt Rücknahmeabkommen mit anderen EU-Ländern, bei ihrer Sommerpressekonferenz verteidigte sie die libysche Küstenwache. Enttäuscht Sie das? Die Bundesregierung trägt eine Mitverantwortung an den Toten, die seit Juni im Mittelmeer ertrunken sind. Und auch Berlin hilft gerade dabei, das Mittelmeer zu einer menschenrechtsfreien Zone zu machen. Dieses Verhalten ist deprimierend. Wir stehen aber für einen Dialog bereit. Und fordern die Bundesregierung erneut dazu auf, humanitäre Hilfe nicht zu kriminalisieren und das internationale Seerecht anzuerkennen. Dieses schreibt vor, das gerettete Menschen zu einem sicheren Hafen gebracht werden müssen. Einem Ort also, wo Schutzsuchende nicht bedroht oder diskriminiert werden, wo ihre Grundbedürfnisse und Menschenrechte erfüllt sind, wo ein funktionierendes Asylsystem besteht. Ein sicherer Hafen existiert demnach derzeit weder in Libyen noch in anderen nordafrikanischen Ländern. Wie bewerten Sie das Vorgehen der libyschen Behörden während der Rettungseinsätze? Wir hatten offiziell die Koordination der Libyer bei den Rettungseinsätzen anerkannt, aber letztlich die zwei Schlauchboote selber gefunden. Die libysche Küstenwache hatte uns als nächstgelegenes Schiff diese Notfälle nicht zugewiesen, obwohl es ihre Aufgabe gewesen wäre. Zu einer kompetenten Seenotleitstelle gehört auch, dass sie einen sicheren Hafen zuweisen kann. Hier hatte die libysche Seenotleitstelle komplett ihre Verantwortung abgegeben. Vor diesem Hintergrund kann man die Frage stellen, ob die Anerkennung der libyschen Seenotleitstelle die richtige Entscheidung der EU war. Wenn man die ganzen Reaktionen zusammen betrachtet - wurde über die »Aquarius« erneut ein Machtkampf ausgetragen? Die zivilen Seenotrettungsorganisationen und jetzt auch die »Aquarius« sind definitiv zum Spielball europäischer Mitgliedstaaten geworden, die sich offensichtlich nur sehr schwer einigen können, wer Schutzsuchende aufnimmt. Zehntausende gehen derzeit in ganz Deutschland gegen die Kriminalisierung der Seenotrettung auf die Straßen. Wie kommt die »Seebrücke«-Bewegung bei Ihnen an? Das finden wir super. Was sich gerade mit den Mobilisierungen innerhalb der Zivilgesellschaft, mit den »Seebrücke«-Protesten oder auch mit unserer Kampagne »Spende Menschlichkeit« zeigt: Es gibt viele Leute, denen die Abschottungspolitik und die Kriminalisierung der Seenotrettungsorganisationen zu weit gehen. Die unterschiedlichen Aktionen tun dem Team auf dem Schiff und auch an Land unglaublich gut. Und es beweist, dass auch wir viele sind. Nicht jeder denkt, Seenotretter seien Schlepper. Die Leute, die nun ihre Stimmen erheben, verteidigen die Menschenrechte vor den Toren Europas.
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Sebastian Bähr.
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Fünf Schiffe fuhren vorbei, erst die SOS Mediterranée nahm die 141 Flüchtlinge auf - Viele hatten Folterspuren. Ein Gespräch über die Vorwürfe gegen das Rettungsschiff und über die ermutigende Wirkung der Seebrücken-Proteste.
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Europäische Union, Malta
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Politik & Ökonomie
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Politik Rettungsschiff Aquarius
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1097344.spielball-der-eu-politik.html
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Vor den nächsten Pandemien
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Zum ersten Mal seit Langem ist Europa Hotspot einer Pandemie. Etwas scheinbar Undenkbares ist Realität. Denn Infektionskrankheiten galten über weite Strecken des 20. Jahrhunderts als Problem der »Anderen«, des globalen Südens. Selbst HIV, Ebola, Schweinegrippe und Sars hatten daran wenig geändert. Tatsächlich aber war die historische Ausnahme, was wir für normal hielten. Nur von etwa 1950 bis 1990 - also vor dem Fall des »Eisernen« beziehungsweise »Bambus-Vorhangs« - waren auch Fachkreise überzeugt, dass der medizinische Fortschritt dieses Thema für »uns« erledigt habe. Das Interesse an dem Thema und an bestimmten Krankheiten wie Malaria, Cholera und Tuberkulose schwand, je mehr diese Krankheiten aufhörten, ein Problem wohlhabender westlicher Staaten zu sein. Doch seit den späteren 80er Jahren kamen in den einschlägigen Wissenschaften Zweifel am »Sieg« über die Seuchen auf. Erste Warnungen vor neuen oder wieder vermehrt auftretenden Infektionskrankheiten - »new emerging and reemerging infectious diseases« - gingen um. Prominentes Beispiel für dieses neue Problembewusstsein ist der Molekularbiologe, Genetiker und Nobelpreisträger Joshua Lederberg. Bei einem Abendessen 1988 soll Lederberg seinen Kollegen Stephen Morse ermuntert haben, für mehr Interesse an dem Thema zu werben. Daraufhin organisierte Morse 1989 - vor dem Hintergrund der HIV-Aids-Pandemie mit breiter Unterstützung - die Konferenz »Emerging Viruses: The Evolution of Viral Disease« in Washington. Die Tagung hob die »ökologische« Dimension von Infektionskrankheiten hervor: Lösungsansätze, die sich nach dem Motto »one bug, one drug« - also »ein Erreger, ein Medikament« auf einzelne Pathogene konzentrierten, müssten ergänzt werden: Nötig sei ein umfassendes Verständnis der komplexen Bedingungen von Infektionskrankheiten. Dazu gehörten prominent die Eigenschaften des Wirts, der Transfer von Erregern in neue Populationen, menschengemachte Veränderungen der Umwelt, während die Mutationen der Mikroorganismen selbst eher zweitrangig seien. Die 1992 abgehaltene, von Lederberg mit geleitete Konferenz des Institute of Medicine zum Thema »Emerging Infections: Microbial Threats to Health in the United States« war die Geburtsstunde eines sich von nun an entfaltenden Bedrohungsdiskurses. Ab Mitte der 90er Jahre griffen dann auch in Deutschland Fachgesellschaften, Forschungsinstitute und Politik das Thema auf. Das alte Bundesseuchengesetz wurde unter der Annahme einer neuen Vulnerabilität zu jenem Infektionsschutzgesetz umgestaltet, das wir heute praktisch kennenlernen. Die Einschätzung, Infektionskrankheiten seien Vergangenheit, wurde ihrerseits ad acta gelegt. Nun konnte von neuartigen Bedrohungen nur aus der Perspektive des Nordens die Rede sein; andernorts hatten Infektionskrankheiten nie aufgehört, ein Problem zu sein. Doch indem man dieselben nun als ökologische Phänomene des Anthropozäns verstand, konnten sie - ähnlich wie die Erderhitzung - als globales Problem gerahmt werden. So entstand zumindest theoretisch die Möglichkeit eines gemeinsamen, vielleicht solidarischeren Ansatzes. Diese als neu wahrgenommene Bedrohung sorgte in Medizin und »Public Health« für ein wachsendes Interesse an Seuchengeschichte und setzte Planungen für einen Ernstfall in Gang - für den die Influenza als prominenteste Kandidatin galt. Ab dem Ende der 90er Jahren wurde in den USA an einem ersten nationalen Plan zur Pandemie-Vorbereitung (»Pandemic Preparedness«) gearbeitet. Nach 9/11 und den Anthrax-Briefanschlägen von 2001 in den USA vermischten sich diese Pandemiepläne indes mit Programmen zum Umgang mit jeglicher Art von biologischer Bedrohung. Pandemien und Epidemien wurden in dieser Zeit auch über die USA hinaus zum Thema nationaler Sicherheit. In dieser von den Interessen westlicher Akteure bestimmten Diskussion gewannen reaktive Sicherungsbestrebungen den Vorrang. Ansätze der Prävention hingegen, etwa durch den Ausbau solider medizinischer Infrastrukturen, gerieten eher ins Hintertreffen. Wie der Mensch zu neuen Viren kam
Umweltzerstörung und schnelle Transportmittel begünstigen die Ausbreitung von Krankheitserregern Als Katalysator wirkte die Sars-Pandemie von 2002/2003. Sie machte deutlich, wie schlecht Gesundheitseinrichtungen weltweit auf eine Pandemie vorbereitet waren. Nach Sars bekräftigte die WHO die Notwendigkeit nationaler Pandemiepläne. Danach endlich, zwischen 2005 und 2009, entwickelte der Großteil etwa auch der EU-Staaten solche Szenarien. Während man auf der einen Seite an Strategien für den gesundheitlichen Ausnahmezustand tüftelte, wurde nach der Finanzkrise 2008 die Gesundheitsinfrastruktur besonders in den stärker von der Krise betroffenen Ländern Südeuropas regelrecht kaputt gespart. Immer wieder stand der Pandemie-Fall in diesen Jahren kurz bevor: 2009 deklarierte die WHO angesichts der sich ausbreitenden »Schweinegrippe« zum ersten Mal eine »Gesundheitliche Notlage mit internationaler Tragweite« - das Signal für die Umsetzung der nationalen Pandemiepläne. Doch das Virus erwies sich schließlich als relativ harmlos. Im August 2014 lag nach Ansicht der WHO mit der befürchteten weltweiten Verbreitung des Ebola-Virus erneut ein solcher Notfall vor. Doch die Eindämmung der wenigen Fälle außerhalb des Epizentrums der Epidemie in Westafrika stellte sich auch hier als verhältnismäßig kleines Problem heraus. Erst jetzt wird sich zeigen, was etwa jene europäischen, von den »European Centers for Disease Control and Prevention« begleiteten Planungen taugen, die bisher nur Theorie waren. Deutlich wird aber bereits jetzt, dass die politischen Strategien und Rhetoriken die aktuelle Pandemie weiterhin als sicherheitspolitischen Not- und Ausnahmefall behandeln. Angesichts des Virus - dem Feind - formieren sich die nationalen Schicksalsgemeinschaften - die bereitwillig ihre Opferbereitschaft bekunden. Immer wieder wird sich heute von Vietnam über Frankreich bis in die USA fleißig der Kriegsmetaphorik bedient, um den Ausnahmecharakter der Situation zu unterstreichen. Trotz einiger symbolischer Akte der Unterstützung gegenüber Frankreich und Italien ist bisher von Seiten Deutschlands selbst, innerhalb der EU überhaupt, nur wenig von der Solidarität zu spüren, die in nationalen Pandemieplänen so prominent hervorgehoben wird. So wird deutlich, dass die Mission, die sich unter anderem der 2008 verstorbene Joshua Lederberg Ende der 80er Jahre gab, nur in einem sehr schlechten Sinne erfüllt ist. Der Satz von Walt Kellys Comicfigur Pogo, »we have met the enemy and he is us« - wir haben den Feind getroffen und der Feind sind wir - ist mittlerweile zu einem Stehsatz in der Forschung zu neuen Infektionskrankheiten geworden. Die Pandemie, die wir gerade erleben, ist eine Begleiterscheinung einer Globalisierung, von der insgesamt die Länder des Nordens am stärksten profitiert haben. Zu den Existenzbedingungen dieser und auch der kommenden Pandemien zählen »unser« Vordringen in immer entlegenere ökologische Räume, zählen Klimawandel, Zunahme des Reiseverkehrs und internationale Verflechtungen bei der Lebensmittelversorgung ebenso wie das Wachstum infektionsgefährdeter Bevölkerungsgruppen wie Intensivpatienten (siehe nebenstehenden Beitrag). Solidarität - nicht nur in Europa, sondern global - in einem umfassenderen Sinne wäre eine angemessenere Reaktion. Nicht im Sinne eines vereinten Kampfes gegen die Mikroben, sondern in dem Bewusstsein einer geteilten und gemeinsam fabrizierten Welt. Es kann nicht nur darum gehen, jeweils möglichst schnell Medikamente zu entwickeln, die dann möglichst barrierefrei weltweit zur Verfügung zu stellen sind. Sondern auch darum, Gesundheitssysteme zu fördern und aufzubauen, deren Ressourcen und Kapazitäten darauf ausgerichtet sind, dass der jetzt erlebte »Ausnahmefall« in gewisser Weise die neue Normalität darstellen könnte. Die Politologin Dr. phil. Irene Poczka, geb. 1981 in Westberlin, forscht an der Uni Tübingen im Institut für Ethik und Geschichte der Medizin zur Geschichte von gesundheitlicher Prävention und Seuchenbekämpfung. Im Rahmen eines Sonderforschungsbereichs der Deutschen Forschungsgemeinschaft bearbeitet sie derzeit das Teilprojekt »Resistente Mikroben: Die Bedrohung und Neuordnung der ›Medizinischen Ordnung‹ durch Antibiotikaresistenzen seit den 1990er Jahren«.
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Irene Poczka
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Seit den späteren 80er Jahren kamen in den einschlägigen Wissenschaften Zweifel am »Sieg« über die Seuchen auf. Erste Warnungen vor neuen oder wieder vermehrt auftretenden Infektionskrankheiten wurden geäußert.
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Corona, Epidemie, USA
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Politik & Ökonomie
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Politik Pandemie
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IWF fordert Schuldenerlass »ohne Bedingungen«
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Berlin. In Brüssel kommen am Dienstag die Euro-Finanzminister zusammen, um über die Auszahlung einer Tranche aus dem Kreditprogramm für Griechenland zu beraten. Die Regierung in Athen hat Kürzungsauflagen durch das Parlament gebracht. Neun bis elf Milliarden Euro könnten nun fließen, hieß es. Doch sicher ist noch nichts. EU-Experten legten sich nicht fest, ob die Zeit für eine endgültige Bewertung reichen werde. Eine endgültige Auszahlungsentscheidung kann ohnehin noch nicht bei der Ministersitzung fallen, da zuvor nationale Parlamente zur Billigung eingeschaltet werden müssten - auch in Deutschland. Das dürfte bis zu zwei Wochen in Anspruch nehmen. Vor allem die Debatte über Schuldenerleichterungen dürfte die Runde in Brüssel bewegen: Der Internationale Währungsfonds (IWF) beharrt auf einer Schuldenerleichterung für Griechenland, die »an keine Bedingungen geknüpft« sein dürfe. In einem am Montag in Washington veröffentlichten Pap... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
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Redaktion nd-aktuell.de
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In Brüssel kommen die Euro-Finanzminister zusammen, um über das Kreditprogramm für Griechenland zu beraten. Der IWF pocht auf einen Schuldenschnitt - ohne neue Auflagen für die SYRIZA-Regierung in Athen.
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Griechenland, IWF, Kreditprogramm, Krisenpolitik, Schuldenerlass, Schuldenschnitt
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Politik & Ökonomie
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Wirtschaft und Umwelt
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Hänger, die in Löcher fallen
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Sonderbar, dass Drogenfilme so wenig abhängig machen. Sie sind zumeist langweilig, und das auch noch aus Gründen, denn es gibt durchaus Aufregenderes als Hängern dabei zuzusehen, wie sie in Löcher fallen. Ein Charakter, der an Dingen scheitert, die andere einfach Alltag nennen, sonst aber wenig Bemerkenswertes an sich hat, bedarf entweder einer dynamischen Handlung, wie zum Beispiel in »Trainspotting« (1996), die dann allerdings den gebotenen Ernst sabotiert. Oder einer Aufwertung durch herausragende Fähigkeiten, wie etwa bei Sherlock Holmes, dem Urbild des verrückten Genies - als der Form, worin der Common Sense das Außergewöhnliche noch eben erträgt. Der Film »Ben Is Back« bezieht seine Kraft weder aus der Handlung noch von seinem Titelhelden, sondern daraus, dass der Suchtfall als Anlass dient, die gesamte Familie einem Tox-Screen zu unterziehen. Denn an der wirkt zunächst gar nichts vergiftet. Der Film erzählt ein Geschehen von circa 24 Stunden. Überraschend kehrt das lange abwesende Problemkind Ben (Lucas Hedges) am Heiligabend ins Haus seiner Familie zurück, angeblich mit Erlaubnis seines Betreuers. Noch ehe ein Wort gewechselt ist, machen sich Risse in der Familie bemerkbar. Die kleinen Liam und Lacy freuen sich, ihren Halbbruder kennenzulernen. Mama Holly (Julia Roberts) ist vorsichtig, aber sofort auf Bens Seite. Schwester Ivy (Kathryn Newton) und Stiefvater Neal (Courtney B. Vance) schalten auf Abwehr. Peter Hedges, als Drehbuchautor eine Art Spezialist für seltsame Familienverhältnisse, arbeitet hierbei mit klassischen Mustern: das Einzelkind, dem das Korrektiv des zweiten Elternteils fehlte, der Stiefvater, der den heimkommenden Sohn als Einfall einer fremden Macht wahrnimmt, die zweitgeborene Schwester, die ihr Hintanstehen durch Fleiß kompensiert und ihren Neid in Moralität verbirgt. Natürlich bleibt es nicht dabei. Die Beziehungen ändern sich, manches tatsächlich, anderes dadurch, dass etwas ans Licht kommt. Es gibt keine reinen Figuren in dieser Umgebung, wo niemand ganz sauber bleiben kann. Der Film lässt sich Zeit, all das zu entwickeln, ehe er in der zweiten Hälfte unterm dynamischen Gewirr einer Crimestory verloren geht. Immerhin: Man zahlt nur einmal Eintritt für eigentlich zwei Filme. Ben zeigt sich gebessert. Nur: Ist er das auch? Wir sehen ein permanentes Spiel mit der Lüge in der Wahrheit und der Wahrheit in der Lüge. Das ist das eigentliche Thema des Films, der zum Suchtproblem selbst eher Nuancen als Wesentliches parat hat (etwa wenn das Kostüm beim Krippenspiel juckt und der suchterfahrene Bruder rät: »Der Trick ist, nicht zu kratzen«). Wahrheit oder Fürsorge: Was einer will und was er braucht, das ist zweierlei. Ist es manchmal besser zu lügen? Aber kann man je unehrlich sein, ohne dass ein Schaden entsteht? Die Handlung zeigt das Lügen als Folge des Drogenproblems, doch rekonstruktiv scheint sich dieses Verhältnis umzukehren. Julia Roberts spielt diesen Umschlag so brillant, dass der gern gelobte Lucas Hedges - hier ohnedies und besonders beim Einsatz seiner Stimme überfordert - neben ihr kaum bestehen kann. Sie ist die erfahrene, robuste, scharfsinnige, zugleich vom Schmerz gezeichnete Mutter, durch deren Entschlossenheit immer wieder die Liebe durchscheint. Und diese Mutter, nicht ihr Sohn, erweist sich als die eigentliche Haupt- und Problemfigur. Hollys Umgang mit der Wahrheit wird im Laufe der Handlung beliebiger. Sie deckt Ben gegen den Rest der Familie, und in einer Diner-Szene spricht sie ihn von der Verantwortung für sein vergangenes Handeln damit frei, dass er damals doch ernsthaft geglaubt habe, richtig zu handeln. »Aber für dich«, sagt sie, »war es wahr« - womit die Wahrheit nicht bloß im Handeln, sondern auch als Begriff liquidiert wird. Hollys Verhalten scheint zunächst das Ergebnis der Verwicklung um Ben zu sein, doch wenn man die Frage stellt, wie eine Figur zu dem wurde, was sie nun, in der Handlung, von sich zeigt, lässt es sich auch umgekehrt denken: Hollys legerer Umgang mit der Wahrheit könnte habituell und für Ben prägend gewesen sein. Diese Rekonstruktion der Vergangenheit hält den zerschnittenen Film gerade noch so zusammen. Erst bricht Ben in die heile Welt der Familie ein, dann Holly in seine schmutzige Welt der Drogen - als habe der Autor seiner Charakterstory nicht genügend vertraut. Das Finale ist dann irgendwas zwischen unentschieden und verharmlosend. Die Andeutung eines nie aufhörenden Kreislaufs durchaus an der Sache vorbei, weil der Gebrauch von Drogen eben doch, früher oder später, ein Ende hat, ein tödliches. Das Ende der Handlung macht einen dramaturgischen Effekt, aber der wurde kaum etabliert und scheint an dieser Stelle gar nicht mehr wichtig. - Um so bedauerlicher das, als dieses unprätentiös und geradlinig inszenierte Werk eben dadurch, dass man die Regie kaum bemerkt, von großer Ausgeglichenheit und Konzentration auf die Handlung, also ganz bei sich ist. »Ben Is Back«, USA 2018. Regie: Peter Hedges; Drehbuch: Peter Hedges; Darsteller: Julia Roberts, Lucas Hedges, Kathryn Newton.103 Min.
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Felix Bartels
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In dem geradlinig inszenierten Suchtdrama »Ben Is Back«, das 24 Stunden aus dem Leben einer gespaltenen Familie erzählt, brilliert die Schauspielerin Julia Roberts in der Rolle als ebenso scharfsinnige wie entschlossene Mutter.
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Drogen, Film
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Feuilleton
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Kultur "Ben is Back"
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1109723.haenger-die-in-loecher-fallen.html
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Nah am Sättigungspunkt
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nd: Wird angesichts der aktuellen Probleme mit dem Reaktor Olkiluoto 3 eine neue Debatte über Atomkraft in Finnland entbrennen?
Yrjö-Koskinen: Dass Olkiluoto 3 ein Pilotprojekt ist, also das erste AKW seiner Art, kann ein paar der Probleme in der Planung und am Bau erklären, jedoch nicht alle. Die politische Entscheidung für diesen Reaktor wurde getroffen. Wir akzeptieren sie zwar nicht, aber müssen uns nach ihr richten. Jetzt verfolgen wir sehr intensiv die Diskussion um das neue AKW im Norden des Landes bei Oulu. Dort soll der russische Konzern Rosatom bauen. Die Vorgänge in der Ukraine haben die Situation aber verkompliziert. Mit Blick auf die internationale Politik ist es gerade nicht so einfach, ein AKW aus Russland zu bestellen. Offen ist auch die Finanzierung. Die Regierung ist versessen darauf, die Anlage mehrheitlich zu besitzen.
Ist die finnische Öffentlichkeit denn ausreichend über die aktuellen Pläne informiert?
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Redaktion nd-aktuell.de
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Ist die finnische Öffentlichkeit über die Atompläne des Landes informiert? Welche Folgen haben diese? Eero Yrjö-Koskinen ist Direktor des Finnischen Verbands zum Erhalt der Natur. Mit ihm sprach Katja Herzberg.
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Atomkraft, Energiepolitik, Finnland
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Feuilleton
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Kultur
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/932450.nah-am-saettigungspunkt.html
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Guckloch ins Mittelalter
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Unter dem Berliner Asphalt liegen rätselhafte Welten versteckt. Mittelalterliche Fundamente, eine Lateinschule, tausende Gräber. Solche Überreste vergangener Epochen wurden in letzter Zeit ans Großstadtlicht befördert. Die Entdecker waren meistens keine Archäologen, sondern Bauarbeiter: Baumaßnahmen fördern die erstaunlichsten Funde zutage und sind zugleich deren größte Bedrohung. Immer wieder werfen sie die Frage auf, wie man mit dem historischen Erbe umgeht. Jetzt ist in Berlin erstmals eine Ausstellung zu sehen, die das Verhältnis von Archäologie und Stadtplanung in der Hauptstadt thematisiert. »Eine Zukunft für unsere Vergangenheit« nennt sich die Schau der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, die am vergangenen Freitag eröffnet hat. In einem einzigen Raum wird das Spektrum archäologischer Grabungen in Berlin auf 20 Schautafeln gezeigt. Ergänzt von einigen Originalfundstücken, Skizzen und einem Film. »Die Stadt ist eine Ansammlung verschiedener Zeitschichten«, sagte Senatsbaudirektorin Regula Lüscher im Vorfeld der Eröffnung. Es habe sich gezeigt, dass die historische Mitte Berlins »nahezu flächig im Untergrund erhalten geblieben« sei. Erklärtes Ziel der Ausstellung ist es, »Möglichkeiten der Erhaltung von Bodendenkmalen und deren Integrierung in die Stadtplanung« zu erörtern. Allerdings wird nur ein knapper Überblick gegeben über die vier aktuellen archäologischen Projekte Schlossplatz, Petriplatz, Rathaus und Jüdenhof. Wer verschiedene architektonische Vorschläge erwartet hat, oder gar ein Abwägen ihres Für und Wider, wird enttäuscht. Dafür stellt die Senatsverwaltung mit der Ausstellung ihr Projekt »Zukunftsraum historische Mitte« vor. Es sieht vor, aus den Grabungsstätten »Archäologische Fenster« zu machen, sie also begehbar oder hinter Glas zu präsentieren. Die historische Schlosshalle etwa soll man betreten können, das Alte Rathaus durch eine Scheibe betrachten. Geplant ist ein Ärchäologischer Pfad, der die Fenster verbindet und dessen Höhepunkt ein Besucherzentrum über den Fundamenten der Petrikirche sein soll. Ganz neue Möglichkeiten für die Verbindung von Alt und Neu bietet das Archäologische Informationssystem Berlin (AISBer). Es verschmilzt historische Karten mit aktuellen Informationen für jede Parzelle und soll als Planungsgrundlage dienen, um Bauprojekte von Anfang an besser auf Grundstücke und ihr historisches Erbe abzustimmen. Streitpunkte spart die Ausstellung aus. Wer über »Archäologie und Stadtplanung in Berlin« nachdenkt, darf aktuelle Debatten wie jene um den Weiterbau der U 5 nicht verschweigen. Viele Bürger befürchten, dass die Bauarbeiten aus Kostengründen zu rasch fortgesetzt werden und jene Teile des historischen Rathauses und seiner Umgebung zerstören, die noch nicht freigelegt sind. Anfang Februar hat sich darum das »Bürgerforum Historische Mitte Berlin« gegründet, das eine öffentliche Debatte um die Planungen zum U-Bahnbau anstoßen möchte. Zu einer ersten Veranstaltung zum Thema »Altes Rathaus« lädt das Forum heute um 19 Uhr in die Marienkirche in Mitte. Dann wird sich zeigen, was die Berliner unter dem Thema Archäologie und Stadtplanung verstehen.Bis 29.4., Eintritt frei, Am Köllnischen Park 3, Gebäude der Senatsverwaltung, Lichthof/Südsaal
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Jenny Becker
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Ausstellung zu Archäologie und Stadtplanung
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Ausstellung, Stadtentwicklung
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Hauptstadtregion
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Brandenburg
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/194225.guckloch-ins-mittelalter.html
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Das Hakenkreuz kaschieren lohnt sich
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Helmut Weitze, der Inhaber eines militärischen Antiquitäten-Ladens, präsentiert sich in Videos auf seiner Internetseite freundlich und offen. Er führt durch seinen Laden »mitten im Herzen von Hamburg« und zeigt »Stücke der deutschen Geschichte von 1813 bis Ende des Zweiten Weltkrieges«. Schnell fällt auf, dass einige Artikel nicht ganz zu erkennen sind: An Orden- und Ehrenzeichen mit Hakenkreuzen sind kleine Aufkleber angebracht, um diese zu verdecken. Der Händler schützt sich so, nicht mit dem deutschen Recht in Konflikt zu geraten. Denn die Gesetzeslage ist klar: Paragraf 86 des Strafgesetzbuches verbietet den Handel und die Verbreitung von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen. Außerdem sind solche Symbole untersagt, die »nach ihrem Inhalt dazu bestimmt sind, Bestrebungen einer ehemaligen nationalsozialistischen Organisation fortzusetzen«. Dennoch finden sich im Internet zahlreiche Seiten von Anbietern, die originale Uniformen und Abzeichen der Wehrmacht vermarkten. Weitze gibt ein Beispiel, wie professionell dies betrieben werden kann. Den Antiquitätenladen gibt es seit 1988 in Hamburg, doch der Inhaber ist mit der Zeit gegangen, er stellt sein Angebot auch auf Militariamessen in ganz Deutschland und im Ausland aus. Auf seiner Homepage, die regelmäßig aktualisiert wird, gibt es mehrere tausend Artikel, etliche davon aus der Hitlerjugend oder der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei. Wir fragen uns immer wieder, was wir besser machen können und was unsere LeserInnen überhaupt wollen. Dazu führen wir jetzt wieder eine Umfrage durch. Sagt uns eure Meinung, mit eurer Teilnahme! Hier gehts los! So wie das Geschäft im Laden funktioniert, praktiziert Weitze es auch im Internet: Bei militärischen Schmuckstücken, die das rechte Herz begehren, werden die Hakenkreuze mithilfe kleiner blauer oder weißer Kreise unkenntlich gemacht. In dem Video, das es auch in englischer und russischer Version gibt, zeigt Weitze mit einem Lächeln ein Eisernes Kreuz. Dass dieses auch von den Nazis verliehen und für nationalsozialistische Propaganda instrumentalisiert wurde, erwähnt er allerdings nicht. Im Deutschen Bundestag gab es 2007 und 2008 mehrere Debatten über die Wiedereinführung des Kreuzes als Orden. Der damalige Präsident des Reservistenverbandes, Ernst-Reinhard Beck (CDU), setzte sich dafür ein, das Eiserne Kreuz an Bundeswehrsoldaten zu vergeben, die besondere Dienste erwiesen hätten. Aufgrund der Verwendung des Kreuzes im Dritten Reich hagelte es Kritik. Der Linkspolitiker Paul Schäfer sprach von einem neuen »Heroenkult«, die Grünen bezeichneten den Vorschlag als »schräge Symbolpolitik«. Letztendlich billigte der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler den Vorschlag des damaligen Verteidigungsministers Franz Josef Jung (CDU) zu einem Orden für »außergewöhnlich tapfere Taten«, womit die Diskussion um die Wiederbelebung des Eisernen Kreuzes endgültig beendet wurde. Wer das Eiserne Kreuz noch immer vermisst, kann heute bei Weitze oder auf anderen Internetseiten fündig werden. Denn auch auf Amazon, eBay oder dem Auktionsportal Hood vertreiben Privatanbieter unkenntlich gemachte NS-Propagandamittel. Der Rechtsanwalt Michael Terhaag erklärt, dass die Anbieter geschickt vorgehen und sich daher nicht unbedingt strafbar machen. »Wenn die verfassungsfeindlichen Symbole unkenntlich gemacht werden, kann man die Anbieter nicht für die Verbreitung der Inhalte belangen«, so Terhaag. Dann erklärt er eine juristische Logik, die Laien wie ein Paradox vorkommen kann: Die Verbreitung von nationalsozialistischem Propagandamaterial ist verboten. Originale, die von 1933 bis 1945 hergestellt wurden, sind von diesem Verbot jedoch ausgenommen, da das Grundgesetz erst 1949 verabschiedet wurde. Terhaag erklärt: »Weil die Verfassung zu einem späteren Zeitpunkt entstanden ist, können sich die Gegenstände per Definition nicht gegen diese richten.« Wenn man auf der Internetseite von Helmut Weitze durch die Artikel klickt, wird schnell klar, dass der Handel mit Fotos, Wehrmachtsuniformen, aber vor allem mit Orden aus dem Dritten Reich ein lukratives Geschäft ist. So werden beispielsweise für das Ehrenzeichen »Pionier der Arbeit« aus dem dritten Reich 35.000 Euro gefordert. In der Artikelansicht wird auch der geschichtliche Hintergrund der Auszeichnung beschrieben. Ob Formulierungen wie »eine der höchsten und seltensten Auszeichnungen des III. Reiches in exzellenter Erhaltung« propagandistisch und somit strafbar sind, ist jedoch nicht ausgemacht. »Es ist im Graubereich, ich befürchte, dass die Darstellung hier historisch geschildert und sachlich nicht verherrlichend ist«, sagt Anwalt Terhaag. Der Fachanwalt für gewerblichen Rechtsschutz erklärt, der einzige Fakt, woraus man dem Anbieter einen Strick drehen könnte, sei ein proportional großes Angebot von Artikeln mit Hakenkreuzen im Verhältnis zu anderen Artikeln. »Aber das reicht strafrechtlich noch nicht für eine Verurteilung«, so Terhaag. In einem einschlägigen Urteil habe es geheißen, Propagandamittel müssten »kämpferisch aggressive Tendenzen aufweisen«. Zudem könnten die Händler von militärischen Orden strafrechtlich nicht dafür belangt werden, »wenn sich Käufer mit diesen Symbolen schmücken und damit auf die Straße ziehen«.
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Katharina Schwirkus
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Nach deutschem Recht ist der Handel und die Verbreitung von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen verboten. Dennoch vermarkten Antiquitätenläden NS-Devotionalien. Dabei konzentrieren sie sich zunehmend auf den Verkauf im Internet.
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Handel, Internet, Nazis, Recht, Verfassung
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Politik & Ökonomie
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Politik Nazi-Devotionalien
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2018-04-04T14:13:38+0200
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2018-04-04T14:13:38+0200
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2023-01-21T22:21:01+0100
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1084326.nazi-devotionalien-das-hakenkreuz-kaschieren-lohnt-sich.html
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Nicht von dieser Welt
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Der Herr ruft mich, den Berg hinaufzusteigen», verkündete Benedikt XVI., als er am 28. Februar 2013 vom Papstamt zurücktrat. Fünf Jahre nach seiner Demission sagte er der Mailänder Tageszeitung «Corriere della Sera»: «Während die physischen Kräfte langsam dahinschwinden, bin ich innerlich auf der Pilgerreise nach Hause.» Nun, nach weiteren fast fünf Jahren, hat sich dieser Aufstieg, diese Reise, vollendet. Der erste deutsche Papst seit 500 Jahren, der erste «Papa emeritus» der Neuzeit, der am 16. April 1927 im oberbayerischen Marktl geborene Joseph Aloisius Ratzinger starb am Silvestermorgen im Alter von 95 Jahren in der Vatikanstadt. Dass Benedikt die Berg-Metapher ausgerechnet in dem Moment gebrauchte, da er nach profanen Maßstäben eigentlich längst ganz oben angekommen war und es nun wohl nur noch abwärts gehen konnte, deutet auf eine Weltsicht im Sinne von Friedrich Nietzsches «amor fati». Allerdings war für Joseph Ratzinger, der Nietzsche durchaus schätzte, diese «Liebe zum Schicksal» ausgefüllt vom Glauben an die Liebe Gottes, einem Glauben, dessen Erfüllung er schließlich in der «Pilgerreise nach Hause» sah. Als Verkünder und Verteidiger dieses Glaubens hatte er es auf seinem «Weg nach oben» vom Dorf am Rande der Alpen an die Spitze der ältesten und größten Institution der Welt gebracht, der katholischen Kirche mit 1,3 Milliarden Gläubigen. Dieses Selbstverständnis, dessen Glaubenseifer ihn für viele – ob gläubig oder nicht – zum «Eiferer» machte, ist unverzichtbar zum Verstehen des Gelehrten im geistlichen Ornat, seines Umgangs mit Andersdenkenden und -glaubenden, seines Regimes als Glaubenspräfekt, seines oft Empörungswogen auslösenden Agierens und Äußerns; aber auch seiner intellektuell glanzvollen Verkündigungen und theologischen Schriften (so die Jesus-Biografie), seiner Kassandra-Warnungen vor Verwässerung des Glaubens, seiner dramatischen Darstellungen einer «Diktatur des Relativismus». Joseph Ratzinger setzte Zeichen. Gewollte und ungewollte. In die Zukunft und in die Vergangenheit. Kompromisse waren das selten. Vergessen wird oft, dass die Karriere des später als «Panzerkardinal» und «Großinquisitor» Geschmähten als radikaler Erneuerer eine Zäsur erfuhr: Während des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965) machte der damalige Dogmatikprofessor Furore als Kritiker der philosophisch-theologischen Unbeweglichkeit der Romkirche. Als von Papst Paul VI. zum Konzilstheologen ernannter Prälat flossen Ratzingers reformerische Ideen in Texte der historischen Kirchenversammlung ein. Dieses Denken fand bleibenden Ausdruck mit dem 1967 erschienenen und bis heute populären theologischen Longseller «Einführung in das Christentum». Die dort dargelegte Bibelexegese, die auch dem Zweifel Raum gibt, verbindet die Sicht des Glaubens mit der historisch-kritischen Interpretation – ein seinerzeit couragierter Ansatz, der Ratzingers Ruf als brillanter Theologe maßgeblich begründete. Dieser Ruf, den er in den Jahren als Erzbischof von München und Freising (1977–1982) ausbaute, veranlasste den 1978 zum Papst gewählten Polen Karol Wojtyła, den deutschen Startheologen 1982 als Kurienkardinal nach Rom zu holen und mit dem Amt des Präfekten der Kongregation für die Glaubenslehre zu betrauen. Die Nachfolgebehörde der Heiligen Inquisition war maßgeschneidert für den damals 55-Jährigen. Hier hatte er den Einfluss und die Macht, an zentraler Stelle dafür zu wirken, was ihm das für sein Leben und Denken Wesentliche war und bis zum Ende blieb: den katholischen Glauben zu verkünden, zu schützen und zu stärken. Ein klassischer Seelsorger war Joseph Ratzinger sicher nicht. Der zurückhaltende, menschenscheue und angesichts von Massenversammlungen stets etwas verloren wirkende Kleriker fühlte sich am wohlsten beim Studium von Büchern und Dokumenten, beim Kreisenlassen der Gedanken und Eingebungen und deren Materialisierung per Bleistift in seiner winzigen, exakt ausgerichteten Handschrift. Kardinal Ratzinger wurde der engste und wichtigste Mit- und Zuarbeiter von Johannes Paul II., der sicher sein konnte, dass das Kirchenschiff während der zahlreichen Abwesenheiten des «Reisepapstes» klaren Kurs hielt in der engen Fahrrinne von Einheit und Reinheit der katholischen Lehre. Meinungen, das Büro der Glaubenskongregation mit seinem bisweilen päpstlicher als der Papst erscheinenden Chef sei zum eigentlichen Machtzentrum der Una Sancta geworden, sind gewiss übertrieben. Aber sie illustrieren, wie nachdrücklich der neue Mann hinter den Leoninischen Mauern mit seinem stillen Wirken das Entscheidungsgefüge der Weltkirche veränderte. Vor allem zum Schlechten, glaubt man seinen Kritikern. Ratzinger war federführend beim päpstlichen Lehrschreiben «Dominus Iesus», das den protestantischen Konfessionen den Kirchenstatus verwehrte. Er maßregelte prominente Vertreter der Befreiungstheologie, denen er politische Instrumentalisierung des Evangeliums vorwarf. Unter seiner Ägide wurde in der Neufassung des Katechismus der Katholischen Kirche weiterhin eine rigide Sexualmoral verfügt. Sein durchaus bemerkenswertes Handeln im ökumenischen Geist war davon in der öffentlichen Wahrnehmung verschattet – so sein wesentliches Wirken für die «Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre» von Lutherischem Weltbund und Römisch-katholischer Kirche oder seine Teilnahme am interreligiösen Weltgebetstreffen in Assisi, das er ein «wichtiges Zeichen für den Frieden» nannte. 2005 starb Johannes Paul II. Der Mann, dessen aus Altersgründen (75) eingereichtes Rücktrittsgesuch der Papst drei Jahre zuvor abgelehnt hatte, war auf den Listen mit den «papabili», den chancenreichen Nachfolgekandidaten, meist auf den hinteren Plätzen zu finden. Als Joseph Ratzinger dennoch am 19. April 2005 zum neuen Pontifex gewählt wurde, reichte das Medienecho vom triumphalistisch-ironischen «WIR SIND PAPST!» («Bild») bis zum sarkastisch-fassungslosen «Oh, mein Gott» («Taz»). Wahrscheinlich begann schon damals jene Passion, die knapp acht Jahre später zur Abdankung führte und von Benedikt/Ratzinger in die Metapher vom Bergaufstieg gekleidet wurde. Die tatsächlichen und vermeintlichen Eklats begleiteten alttestamentarischen Flüchen gleich das Pontifikat Benedikts: die missverstandene Rede in Regensburg, die zu Aufruhr in der islamischen Welt führte; die Aufhebung der Exkommunikation von vier Bischöfen der traditionalistischen Piusbruderschaft, darunter der Holocaustleugner Richard Williamson; die Wiederzulassung der tridentinischen Messe mit der sogenannten Karfreitagsfürbitte für die Juden … Zugleich wurde dem Deutschen auf dem Stuhl Petri von jüdischer Seite bescheinigt, wesentlich für die Beziehungen zwischen Juden und Katholiken zu wirken. Zum Ende seiner Amtszeit hieß es, diese seien nie besser gewesen. Die schärfste Kritik jedoch hatte Benedikt XVI. durch seinen Umgang mit dem Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche auf sich gezogen. Die Vorwürfe, Anschuldigungen und Anklagen gegen Priester und Kirchenfunktionäre, ihnen schutzbefohlene Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht zu haben, überrollten die Romkirche während Benedikts Amtszeit mit voller Wucht. Die Maßnahmen und Maßregeln, die der Papst mit aller ihm eigenen Energie ergriff, wurden von vielen Betroffenen als halbherzig und wirkungsarm beurteilt. Als zu spät sowieso. Auch der Umgang mit den Opfern, die Für- und Abbitte, um die sich Ratzinger nach Kräften bemühte, konnten angesichts der Ausmaße von Schuld und Versagen nicht überzeugen. Noch den emeritierten Papst holte die Vergangenheit diesbezüglich ein, als er 2022 der Mitverantwortung an Missbrauchsfällen während seiner Zeit als Erzbischof von München und Freising beschuldigt wurde. Als Benedikt XVI. im Herbst 2011 Deutschland besuchte, hielt er zum Abschluss in Freiburg eine Rede, die man als sein Vermächtnis sehen kann. Darin entwirft er in prophetischer Manier die künftige Rolle seiner Kirche. Der Schlüsselsatz lautet: «Um ihre Sendung zu verwirklichen, wird sie immer wieder auf Distanz zu ihrer Umgebung gehen, sie hat sich gewissermaßen zu ›entweltlichen‹.» Ein Satz, der den geistlichen Glutkern des Mannes aus Marktl am Inn offenbart. Legte doch Joseph Ratzingers Werden und Wirken wider jeglichen Zeitgeist oft den Schluss nahe, dass sein «Reich», wie es im Johannes-Evangelium heißt, «nicht von dieser Welt» ist.
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Ingolf Bossenz
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Tatsächliche und vermeintliche Eklats begleiteten alttestamentarischen Flüchen gleich das Pontifikat von Benedikt XVI. Sein Glaubenseifer machte ihn für viele Menschen zum «Eiferer».
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Christentum, Katholische Kirche
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Feuilleton
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Kultur Benedikt XVI.
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2023-01-01T15:32:06+0100
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2023-01-01T15:32:06+0100
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2023-01-20T16:36:49+0100
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1169764.benedikt-xvi-nicht-von-dieser-welt.html
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Berlin erlässt faktischen Abschiebestopp nach Ungarn
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Berlin. Ungarn steht international massiv wegen seines Umgangs mit Flüchtlingen in der Kritik: Die Bundesregierung will nun nur noch Flüchtlinge in das osteuropäische Land zurückschicken, wenn die Regierung in Budapest die Einhaltung von EU-Standards garantiert, wie das Bundesinnenministerium mitteilte. Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl sieht darin faktisch einen »Abschiebestopp« und fordert weitere Schritte gegen Ungarn. Mit Erlass vom 6. April forderte das Bundesinnenministerium das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) auf, bei Dublin-Übernahmeersuchen an Ungarn »bis auf weiteres von den ungarischen Behörden eine Zusicherung zu erbitten«, dass der betroffene Flüchtling entsprechend den Normen der EU-Richtlinie zu Aufnahme von Asylbewerbern untergebracht wird, wie ein Ministeriumssprecher der Nachrichtenagentur AFP mitteilte. Zudem soll die ungarische Seite zusichern, dass der Asylantrag gemäß der EU-Asylverfahrens-Richtlinie bearbeitet wird. »Ohne eine derartige Zusicherung von den ungarischen Behörden soll keine Überstellung erfolgen«, erklärte der Ministeriumssprecher weiter. Er bestätigte damit einen Bericht der Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Nach Ansicht der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl kommt diese Anweisung an das Bamf einer Aussetzung von Rückführungen nach Ungarn gleich: »Wenn man das genau liest, ist das ein Abschiebestopp«, sagte Pro Asyl-Europareferent Karl Kopp der AFP. »Konsequenter wäre es, angesichts der eklatanten Menschenrechtsverletzungen, jetzt EU-weit Abschiebungen nach Ungarn auszusetzen und die Asylverfahren selber durchzuführen.« Ungarn steht für seinen Umgang mit Flüchtlingen international in der Kritik. Die rechtsgerichtete Regierung des Landes weigert sich beständig, Flüchtlinge aufzunehmen. Sie hat an seinen Grenzen Sperranlagen gebaut, um die Migranten abzuhalten. Einem neuen Gesetz zufolge werden alle Flüchtlinge für die Dauer ihres Asylverfahrens in Containerdörfer nahe der Grenze zu Serbien eingesperrt, sie verlieren jegliche Bewegungsfreiheit. Die Vereinten Nationen forderten die Europäische Union bereits am Montag auf, keine Asylsuchenden mehr nach Ungarn zu schicken. Das neue ungarische Flüchtlingsgesetz sei »inakzeptabel«, erklärte UN-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi. Er kritisierte die schlechte Behandlung von Flüchtlingen. Solange Budapest seine »Praxis und Politik« nicht an »europäisches und internationales Recht« anpasse, müssten die EU-Staaten den Flüchtlingstransfer auf der Grundlage des Dublin-Abkommens aussetzen, verlangte Grandi. Die Dublin-Regeln sehen vor, dass die Schutzsuchenden in jenem Land ihren Asylantrag stellen, wo sie zuerst EU-Boden betreten haben; notfalls müssen sie aus anderen EU-Ländern dorthin zurückgebracht werden. Deutschland stellte im vergangenen Jahr nach Angaben der Bundesregierung 11.998 Übernahmegesuche an Ungarn. Allerdings wurden nur 294 Asylsuchende tatsächlich nach Ungarn überstellt. Nach Informationen der Menschenrechtsgruppe Helsinki Komitee wurden vergangenes Jahr insgesamt 513 Asylbewerber nach den Dublin-Regeln aus anderen europäischen Ländern nach Ungarn zurückgeschickt. Pro Asyl-Experte Kopp forderte die Europäische Union auf, außer einem Abschiebestopp weitere Maßnahmen gegen die Regierung in Budapest zu ergreifen. »Die Situation dort ist so dramatisch, dass dies nur ein Aspekt sein kann«, so Kopp. Aufgrund der eklatanten Menschenrechtsverletzungen müsse die EU ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn einleiten und Sanktionen etwa in Form von Stimmrechtsentzug verhängen. Agenturen/nd
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Redaktion nd-aktuell.de
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Ungarn steht wegen seines Umgangs mit Flüchtlingen in der Kritik: Die Bundesregierung will nun nur noch Flüchtlinge in das Land zurückschicken, wenn Budapest die Einhaltung von EU-Standards garantiert.
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Asylpolitik, EU, Flüchtlinge, Ungarn
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Politik & Ökonomie
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Politik
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1047837.berlin-erlaesst-faktischen-abschiebestopp-nach-ungarn.html
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Aufstieg und Fall von Zika
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Vor 70 Jahren, im Jahre 1947, beschrieben Forscher erstmals das Zika-Virus. Sie fanden es in Rhesusaffen im Zika-Wald in Uganda. Fünf Jahre später wurden die ersten Zika-Infektionen beim Menschen festgestellt. In Brasilien tauchte der Erreger erstmals Ende März 2015 auf und löste in den Folgemonaten einen Gesundheitsnotstand mit Hunderttausenden von Infizierten aus. Erst vergangenen Mai hob Brasiliens Gesundheitsministerium den Notstand auf, da die Zahl der Neuinfektionen in diesem Jahr stark zurückging. Im US-Fachjournal »Science« (Bd. 357, S. 631) beleuchtet Jon Cohen nun die Ursache für diesen verblüffenden Rückgang der Zika-Infektionen. »Das Verbreitungsgebiet des Flavivirus Zika war für Jahrzehnte auf Afrika und Asien beschränkt«, berichtet er. Erst 2015 tauchte es erstmals auf dem amerikanischen Kontinent auf und verbreitete sich mithilfe der schon früher eingeschleppten Ägyptischen Tigermücke (Aedes aegypti). Bis dahin galt Zika als relativ harmlos. Doch als vor allem im Nordosten Brasiliens Tausende mit dem Virus infizierte Schwangere Kinder mit zu kleinen Gehirnen auf die Welt brachten, deklarierte im Februar 2016 die Weltgesundheitsorganisation (WHO) das Virus als eine Gesundheitsgefahr von internationalem Ausmaß. 2016 hatten Brasiliens Gesundheitsbehörden mehr als 200 000 Neuinfektionen gezählt. Von Januar bis Juli dieses Jahres indes registrierten die Behörden nur noch 13 253 neue Zika-Fälle und gaben deshalb im Mai Entwarnung. Einen ähnlich starken Rückgang verzeichneten auch die anderen von Zika betroffenen lateinamerikanischen Staaten. Anthony Fauci, Direktor des National Institute of Allergy and Infectious Diseases (NIAID) der USA in Bethesda (Maryland), erklärt sich diesen drastischen Rückgang damit, dass weite Teile der Bevölkerung bereits immun gegen das Virus geworden seien. Bereits Infizierte könnten sich nicht erneut damit anstecken. Dabei seien die registrierten Zika-Fälle nur die Spitze des Eisbergs, so der »Science«-Bericht, da 80 Prozent der Infizierten keine Krankheitssymptome zeigten und deshalb nicht auf eine Infektion hin untersucht würden. Genaue Zika-Statistiken seien zudem dadurch erschwert, dass die Antikörper gegen Zika den Antikörpern gegen die gleichfalls von Tigermücken übertragenen Infektionskrankheiten Dengue und Chikungunya extrem stark ähnelten. »Diagnostische Standardtests können die Antikörper der drei verschiedenen Infektionen nicht voneinander unterscheiden.« Der WHO-Epidemiologe Christopher Dye geht deshalb in einer jüngst im »New England Journal of Medicine« (Bd. 376, S. 1591) veröffentlichten Studie davon aus, dass in Brasilien in den vergangenen zwei Jahren möglicherweise viele Fälle von Chikungunya fälschlich als Zika klassifiziert wurden, da beide auch ähnliche Krankheitssymptome hervorrufen. Christopher Dye: »Es gibt eine regelrechte Verwirrung zwischen Zika, Chikungunya und Dengue.« Nach Meinung des amerikanischen Infektologen Lyle Petersen aus Colorado sollte man Zika trotzdem noch lange nicht abschreiben. Petersen: »Wir müssen weiterhin wachsam bleiben.« Ein Rückgang der Krankheitszahlen sollte auch nicht die Bemühungen um einen vorbeugenden Impfstoff verringern. Brasilianische Wissenschaftler des Instituto Agreu Magalhães in Recife entdeckten zudem im August, dass sehr wahrscheinlich nicht nur die eingeschleppten Tigermücken, sondern auch die heimischen Moskitos, genannt Pernilongo, die Zika-Viren auf den Menschen übertragen könnten. Ein anderes Forscherteam in Rio de Janeiro wiederum kam zum Schluss, dass viele Zika-Infektionen in Brasilien möglicherweise eher durch Sexualkontakte als durch Mückenstiche übertragen wurden. Von den 29 301 zwischen April 2015 und April 2016 in Rio de Janeiro registrierten Zika-Infektionen betrafen nur wenige Männer, aber zum überwiegenden Teil Frauen im sexuell aktiven Alter. Die Forscher registrierten 90 Prozent mehr Zika-Infektionen in der Gruppe der Frauen im Alter zwischen 15 und 65 Jahren als in den jüngeren sowie älteren Vergleichsgruppen. Dieser gravierende Unterschied bei der Infektionsrate sei signifikant und lasse auf eine Übertragung durch Sexualkontakte schließen, glaubt Flavio Codeco Coelho von der Fundação Getúlio Vargas. Der Virologe Tom Friedrich von der University of Wisconsin-Madison in den USA hält sogar eine Übertragung des Virus durch Küssen für möglich. Die Übertragung über Speichel sei theoretisch möglich. Doch viel wahrscheinlicher ist die Infektion über den Sexualverkehr. In Laborexperimenten zeigte sich, dass die Anzahl der Viren im Speichel sehr gering sei. Zudem seien die Zika-Erreger bei infizierten Personen nur bis etwa zwei Wochen nach der Infektion im Speichel nachweisbar, in der Samenflüssigkeit hingegen über Monate.
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Norbert Suchanek , Rio de Janeiro
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Brasilien: 2017 ging die Zahl der Erkrankungen zurück, doch für eine Entwarnung ist es zu früh
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Brasilien, Krankheiten
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Feuilleton
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Wissen
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1063868.aufstieg-und-fall-von-zika.html
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Millionenstrafe für Deutsche Wohnen
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Wegen massiver Verstöße gegen die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) muss der Immobilienriese Deutsche Wohnen 14,5 Millionen Euro Strafe zahlen. Wie die Berliner Datenschutzbeauftragte Maja Smoltczyk am Dienstag mitteilte, hatte die Aufsichtsbehörde bereits im Juni 2017 festgestellt, dass das Unternehmen in unzulässiger Weise personenbezogene Daten von Mieter*innen speichert. So seien Daten zu persönlichen und finanziellen Verhältnissen, wie etwa Gehaltsbescheinigungen, Auszüge aus Arbeits- und Ausbildungsverträgen, Steuer-, Sozial- und Krankenversicherungsdaten sowie Kontoauszüge über Jahre hinweg gespeichert worden. Die Daten seien dabei in einem System gespeichert worden, das keine Möglichkeit vorsah, diese wieder zu löschen. Nachdem die Deutsche Wohnen im März 2019, also mehr als anderthalb Jahre später, die Daten immer noch nicht gelöscht hatte, verhängte Smoltczyk am 30. Oktober das Rekord-Bußgeld gegen den Konzern. »Datenfriedhöfe, wie wir sie bei der Deutsche Wohnen SE vorgefunden haben, begegnen uns in der Aufsichtspraxis leider häufig«, so Smoltczyk. Die Datenschutzbeauftragte sprach von einem »eklatanten Verstoß gegen die Grundsätze des Datenschutzes« vor dem die Betroffenen geschützt werden müssten. Laut Sven Kohlmeier, Datenschutzexperte der SPD-Fraktion, ist die Millionenstrafe das höchste Bußgeld, das in Deutschland jemals für Verstöße gegen die DSGVO verhängt worden ist. Für Kohlmeier angesichts der Gefahren durch einen möglichen Datenmissbrauch eine »angemessene Reaktion«. Auch der Landesvorsitzende der Grünen, Werner Graf, begrüßte die Entscheidung und kritisierte die Deutsche Wohnen scharf: »Egal ob beim Datenschutz oder beim Wohnen, diesem Unternehmen geht es nur um den eigenen Profit - und dafür verstößt es auch gegen das Gesetz.« Der Geschäftsführer des Berliner Mietervereins, Reiner Wild, forderte Konsequenzen für die verantwortlichen Vorstandsmitglieder der Deutsche Wohnen: »Wer auf die Hinweise der Datenschutzbehörde nicht oder nicht hinreichend reagiert, ist offensichtlich zu einer ordentlichen Geschäftsführung nicht bereit.« Für die Deutsche Wohnen hätte es weitaus schlimmer kommen können. Laut Bemessung der Bußen nach dem Jahresumsatz, der bei dem Konzern bei über einer Milliarde Euro liegt, wäre eine Strafe bis zu 28 Millionen Euro möglich gewesen. Neben der Millionenstrafe wurden noch weitere Bußgelder von 6000 bis 17 000 Euro wegen Datenschutzverstößen in 15 Einzelfällen verhängt.
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Marie Frank
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Wegen der unzulässigen Speicherung personenbezogener Daten von Mieter*innen muss der umstrittene Immobilienkonzern ein Rekord-Bußgeld von 14,5 Millionen Euro zahlen.
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Berlin, Datenschutz, Deutsche Wohnen
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Hauptstadtregion
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Berlin Deutsche Wohnen
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1128213.deutsche-wohnen-millionenstrafe-fuer-deutsche-wohnen.html
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Von Schreien, Schweigen und stillbarer Sehnsucht
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Es gibt auch ehrliche Lügen. Das ist dann die Wahrheit. Kapierst du das, Jan?« Kein Wort kapiert der deutsche Bub, zu dessen ersten Freunden in einer Schule im Nachkriegsberlin-West der derart philosophisch-sinnierende Junge Oleg aus Russland gehört, der nicht Stulle oder Bemme sagt, sondern Brot. Nicht von ungefähr, haben doch Handwerker und Unternehmer dereinst aus deutschen Landen das Wort »Butterbrot« ins Reich der Zarin Katharina der Großen gebracht. Jan weiß, dass in Russland die Menschen hungern. Folge des verbrecherischen Überfalls Deutschlands. Auch Berlin ist noch von Ruinen gezeichnet, für die Kinder Abenteuerspielplätze, nicht ungefährlich und fatal verlockend. Sie spielen Krieg zwischen den Trümmern. Und da ist noch der alte Geist, der fortlebt in Kinderhirnen, durch Gespräche der Erwachsenen am Küchentisch implantiert: »Wer gegen die Russen kämpft, ist gut, weil die immer angreifen. Da muss man auf der Hut sein.« Es gibt auch viele Flüchtlinge in der Stadt an der Spree. Ebenfalls Folge vormaliger nationaler Hybris. »Sie kommen mit etwas Gepäck auf dem Rücken, manchmal nur in eine Decke gewickelt. Das ist alles, was sie haben. Gelaufen kommen sie.« Jetzt sagen die Deutschen: »Krieg ist schlecht.« Alle, die Jan kennt, sagen das. Seine Mutter und sein Vater, die blinde Oma Elli, Opa Hans und Oma Maria. Der Vater hat den Krieg mitmachen müssen. Deshalb weiß er auch, dass das ärmliche Viertel in Lankwitz, in dem die Familie wohnt und das Mau-Mau-Siedlung genannt wird, seinen Namen nicht dem beliebten Kartenspiel verdankt. Der aus britischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrte Vater klärt auf, dass die Mau Mau ein Stamm in Afrika waren, der sich gegen das britische Kolonialjoch erhoben hat. »Da ist auch nur Chaos. Und Elend. Und Gewalt.« Lutz van Dijk bietet ein fein ziseliertes, feinfühliges Panorama einer Zeit, die uns heute so fern erscheint und doch noch so nah ist. »Wir waren arm, aber nicht bettelarm«, resümiert der Ich-Erähler. »Wir Kinder hungerten nie und hatten immer was anzuziehen.« Jan trägt die Kleidung seines älteren Bruders Harald auf, wie es früher hieß. Vater und Mutter drehten jeden Pfennig dreimal um, bevor sie sich selbst etwas kauften. Die Mutter stopfte und flickte Socken, Hosen, Hemden. »Es gab kein Auto, keine Urlaubsreisen, auch keinen Fernseher … Manchmal gab es drei Tage lang denselben Eintopf, am Ende mit Wasser verlängert«, erinnert sich Jan, das Alter Ego des Lutz van Dijk. Der 1955 in Berlin-West geborene deutsch-niederländische Lehrer und emsige Buchautor hat seine Kindheitserinnerungen aufgeschrieben. Und diesen ein Gedicht aus eigener Feder vorangestellt: »Obwohl der Krieg endlich vorbei ist./ Jedenfalls der mit Bomben und Bunkern./ Oder gibt es weiterhin Krieg in den Erwachsenen?/ Mühsam verborgen, verschwiegen./ Hinter brüchigen Fassaden./ So viel Schreien um mich herum./ Dann wieder tagelanges Schweigen./ Schweigen und Schreien./ Schreien und Schweigen./ Gab es nichts anderes?« Doch. »Unsere sprachlose Sehnsucht nach Liebe.« Um die Liebe in einer lieblosen Welt im Großen wie im Kleinen geht es vor allem im autobiografischen Roman des Lutz van Dijk. Aufgewachsen in einem zerstrittenen Elternhaus (einmal nimmt die Mutter gar Reißaus, um dann doch wieder pflichtbewusst zu den Kindern und dem streitsüchtigen Ehemann zurückzukehren), entdeckt Jan früh, dass er sich zu Jungs hingezogen fühlt. Lisas liebliche Offerten rühren ihn an, der erste Kuss, den er von ihr empfängt, ist angenehm, aber nicht aufregend. Mit Anton ist es etwas anderes. Die erste große Liebe des Teenagers. Heimliche, prickelnd-erregende Treffen im Keller ihres Hauses. Der erste Sex. Eine unschuldige Liebe, die ihm viel zu früh entrissen wird, da Anton an einer Knochenerkrankung leidet und in ein Sanatorium weit weg in Westdeutschland geschickt wird. Nach Jahren des Schweigens erreicht Jan ein Brief von Anton, in dem dieser mitteilt, dass er einen neuen Freund gefunden hat. Eine Enttäuschung von vielen. In Berlin-West, und nicht nur dort, herrscht allgemeine Schwulenfeindlichkeit. Noch ist der Paragraf 175 mit NS-Konation in Kraft. »Schwul« ist ein Schimpfwort, schon von den Kindern alltäglich strapaziert. Mitschüler, die in den Verdacht gleichgeschlechtlicher Zuneigung geraten, werden gejagt und vertrimmt. Sogar von vermeintlichen oder eigentlichen Freunden. Und viel brauner Ungeist wabert noch durch die Gesellschaft. Lutz van Dijk, der an der Universität Hamburg seine Dissertation zu nicht gerade weitverbreitetem oppositionellen Verhalten von Lehrern während der NS-Zeit verteidigte und seitdem viele Bücher über die Verfolgungsgeschichte von Juden und Homosexuellen unterm Hakenkreuz verfasst hat – und auch eine bemerkenswerte Würdigung des 17-jährigen Herschel Grynszpan, der am 7. November 1938 ein Attentat auf den deutschen Legationsrat Ernst vom Rath in Paris verübte, Vorwand für die sogenannte Reichskristallnacht –, berichtet von einem Vorfall an seinem, dem Beethoven-Gymnasium. Darüber informierte damals gar das Fernsehen, die »Berliner Abendschau«. Der Schuldirektor, Oberstudienrat Zawonski, ein alter Nazi, wird frühzeitig in Pension geschickt wird, nachdem ihm mal wieder im Unterricht »die Hand ausgerutscht« ist. Ein Schüler der 11. Klasse hatte sich das diesmal allerdings nicht gefallen lassen und es diesem mit gleicher Münze heimgezahlt. Historische Zäsuren werden reflektiert. Am Tag des Mauerbaus beginnt die Mutter aus Angst vor einem erneuten Krieg die Koffer zu packen; die Familie trägt sich mit dem Gedanken, nach Amerika auszuwandern. Es kommt nicht dazu. »Wir leben jetzt auf einer eingemauerten Insel«, konstatiert der Vater, Bereitschaftspolizist (»Bepo«) wider Willen; er hätte lieber als Goldschmied gearbeitet. Wenn der Fußball der Kinder über die Mauer in den Osten fliegt, ist er weg. Für immer. »Westberlin als Rest-Berlin«, sagt der Vater. Als nächstes »Weltereignis« notiert Jan den Besuch des US-Präsidenten John F. Kennedy in Westberlin zwei Jahre später (»Ich bin ein Berliner!«) und dessen Ermordung kurz darauf. Politisch sensibilisiert wird Jan durch seinen Mitschüler, Martin, Sohn eines US-amerikanischen GIs. Durch ihn erfährt er von der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Martin nimmt Jan auch zu dessen erster Demonstration mit, zur Unterstützung des Hungerstreiks eines politischen Gefangenen in Moabit. »Auch Gefangene haben Rechte, egal, ob schuldig oder nicht«, erklärt Martin. »Natürlich sage ich daheim kein Wort«, gesteht der Autobiograf. Denn der »Bepo«-Vater steht auf der anderen Seite. Die Situation eskaliert. Es fliegen Eier und Pflastersteine, die Polizei geht rabiat mit Prügelstöcken und Wasserwerfern gegen die Demonstranten vor. Martin ist es auch, der im Gegensatz zu vielen anderen volles Verständnis für Jans sexuelle Orientierung zeigt und ihm zu dessen 16. Geburtstag ein Taschenbuch schenkt, »Giovannis Zimmer« des Afroamerikaners James Baldwin. »Eine traurige Geschichte um zwei weiße Schwule in Paris. Viel Drama, viel Angst und Lügen.« Seinen Oleg, trifft Lutz van Dijk, der sich seinen Kindheitstraum – »Irgendwann die weite Welt« – erfüllte und heute in Amsterdam und Kapstadt lebt, Jahrzehnte später bei einem Berlin-Besuch wieder, »rein zufällig, in der Nähe vom Bahnhof Zoo. Da hockt er neben einer Mülltonne. Zuerst erkenne ich ihn nicht.« Der Freund aus Kindheitstagen ist fast kahlköpfig, in einer Hand eine Bierbüchse, er wirkt verlebt. Dessen Anblick schmerzt den Autobiografen, hatte er doch dereinst für Oleg, der von seinem Vater missbraucht worden war, wie ein junger Löwe gekämpft, sich nicht damit zufriedengeben wollen, dass das Vergehen ungesühnt bleiben sollte, aber anfangs niemand, auch Lehrer nicht, einzuschreiten gewillt schien. Lutz van Dijk bietet ein fein ziseliertes, feinfühliges Panorama einer Zeit, die uns heute so fern erscheint und doch noch so nah ist. Der in der Friedens- und der Schwulenbewegung engagierte Autor reflektiert die Jahre einer im Kalten Krieg erstarrten und vom Atomtod bedrohten Welt, Jahren, in denen aber auch mit Studentenrevolte und sexueller Revolution, Anti-Vietnamkrieg-Protesten und antikolonialem Kampf die Saat für spätere grundsätzliche gesellschaftliche Veränderungen gelegt wurde: für gleiche Rechte aller Menschen, unabhängig von ihrer Hautfarbe, ihrem Geschlecht, ihrer sozialen Herkunft und sexuellen Orientierung. Und er hatte daran seinen Anteil: Lutz van Dijk, der an internationalen Friedenskongressen unter anderem in Budapest, Kopenhagen und Paris teilgenommen und zur Millenniumswende in einem Township bei Kapstadt Hokisa (Homes for Kids in South Africa) mitbegründet hatte, eine Organisation, die sich um Kinder und Jugendliche kümmert, die ihre Eltern durch AIDS verloren haben oder selbst infiziert sind. Für seinen unermüdlichen Einsatz gebührt Lutz van Dijk Dank und Respekt. Auch die erste Gedenkveranstaltung für die unter der Hitlerdiktatur verfolgten und ermordeten Homosexuellen im Deutschen Bundestag vergangenes Jahr verdankt sich seiner Initiative. Umso mehr sei seinem bewegenden, beeindruckenden Kindheitsroman eine aufmerksame Leserschaft gewünscht. Und dem Autor viel Kraft in seinem Kampf gegen seine Parkinson-Erkrankung. Lutz van Dijk: Irgendwann die weite Welt. 216 S., kart., 16 €. Lesungen des Autors: 3.9., 20.30 Uhr, Buchhandlung Eisenherz, Motzstraße 23, 10777 Berlin; 5.9., 20 Uhr, Switchboard, Alte Gasse 36, 60313 Frankfurt/Main; 9.9., 20 Uhr, Buchsalon Köln-Ehrenfeld, Wahlenstraße 1, 50823 Köln; 12.9., 19.30 Uhr, Buchhandlung Löwenherz, Berggasse 8, 1090 Wien (auch via Zoom); 18.9., 19 Uhr, Buchpalast, Kirchenstraße 5, 81675 München.
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Karlen Vesper
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Ein fein ziseliertes, feinfühliges Panorama einer Zeit, die uns heute so fern erscheint und doch noch so nah ist, hat der deutsch-niederländische Autor Lutz van Dijk verfasst. Eine spannende Zeitreise.
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Berlin, Bildungspolitik, Friedensbewegung, Homosexualität
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Feuilleton
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Kultur Geschichte der Schwulenbewegung
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2024-09-02T15:06:48+0200
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2024-09-02T15:06:48+0200
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2024-09-03T13:37:46+0200
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1184946.von-schreien-schweigen-und-stillbarer-sehnsucht.html
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BSW in Brandenburg: Neue Wählergruppen vor Kommunalwahlen
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Selbst unter den vorerst handverlesenen Mitgliedern weiß nicht jeder, wie der komplette Name der neuen Partei lautet: »Bündnis Sahra Wagenknecht – Vernunft und Gerechtigkeit« (BSW). Bezugnehmend darauf haben sich im Land Brandenburg jetzt aber einige Bündnisse für Vernunft und Gerechtigkeit gebildet, um an der Kommunalwahl am 9. Juni teilzunehmen. Einen Wiedererkennungswert in der Bevölkerung hat das allerdings nicht, denn der BSW-Namenszusatz »Vernunft und Gerechtigkeit« dürfte weithin unbekannt sein. Ein »Bündnis MOL – Vernunft und Gerechtigkeit« mit dem früheren Linke-Kreisvorsitzenden Niels-Olaf Lüders als Kopf hat eine Liste für die Wahl des Kreistags in Märkisch-Oderland aufgestellt. In der Gemeinde Rüdersdorf bildete sich mit Blick auf die Kommunalwahl eine Wählergruppe »Bündnis Rüdersdorf für Vernunft und Gerechtigkeit«, in der zwei Personen mitwirken, die dort jetzt noch der Linksfraktion angehören. Man hätte vielleicht vermuten können, dass Gemeindevertreter Göran Schöfer (Linke) zu ihnen stößt. Denn der frühere Inhaber des Kleinen Buchladens im Karl-Liebknecht-Haus gehört zum brandenburgischen Karl-Liebknecht-Kreis. Dort haben Anhänger von Sahra Wagenknecht zusammengefunden. Ein Wechsel von der Linken zu BSW kommt für Schöfer jedoch nicht infrage. »Man verlässt nicht die Partei von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg«, sagt er. nd.Muckefuck ist unser Newsletter für Berlin am Morgen. Wir gehen wach durch die Stadt, sind vor Ort bei Entscheidungen zu Stadtpolitik – aber immer auch bei den Menschen, die diese betreffen. Muckefuck ist eine Kaffeelänge Berlin – ungefiltert und links. Jetzt anmelden und immer wissen, worum gestritten werden muss. Nachdem von der fünfköpfigen Rüdersdorfer Linksfraktion zwei Leute zu der BSW-nahen Wählergruppe gehen, ein dritter gerade weggezogen ist und der vierte wegen seines hohen Alters nicht erneut kandidieren will, bleibt Göran Schöfer übrig. Es sei ihm aber gelungen, drei Mitstreiter zu finden, die mit ihm gemeinsam in die Gemeindevertretung einziehen wollen, berichtet Schöfer. Diesen Donnerstag soll die Liste aufgestellt werden. Derweil könnten nach Angaben von Niels-Olaf Lüders in Märkisch-Oderland außer in Rüdersdorf möglicherweise auch in den Städten Strausberg und Altlandsberg sowie in der Gemeide Hoppegarten BSW-nahe Listen ins Rennen gehen. Den Umweg über Wählergruppen müssen sie gehen, weil ein BSW-Landesverband Brandenburg noch nicht existiert. Überhaupt zählt die neue Partei im Bundesland erst 17 Mitglieder, weitere seien jedoch im Aufnahmeverfahren, erläutert der BSW-Landesbeauftragte Stefan Roth. Zum Vergleich: Die Linke hat in Brandenburg 4350 Mitglieder. Stefan Roth zufolge werden sich Wagenknechts Anhänger in ungefähr der Hälfte der 14 Landkreise und vier kreisfreien Städten auf den Stimmzetteln finden. »In der Uckermark organisiert zum Beispiel der frühere Intendant des Schwedter Theaters das Unterstützerbündnis«, sagt Roth und meint damit Reinhard Simon. »Es wird noch weitere Kreise geben. Da ist noch Bewegung drin.« In der kreisfreien Stadt Brandenburg/Havel formierte sich eine BSW-nahe Wählergruppe »Bürger für Frieden, Vernunft und Gerechtigkeit«. Dass sich im Namen neben Vernunft und Gerechtigkeit auch der Begriff Frieden findet, hat eine besondere Bewandtnis. In Brandenburg/Havel gibt es ein Bündnis für Frieden, das im Herbst 2022 zwei große Demonstrationen organisierte. Jeweils 1000 bis 1500 Menschen haben teilgenommen, in der großzügigsten Schätzung sogar bis zu 3000. Aber nicht das sorgte für Schlagzeilen, sondern die Tatsache, dass damals einige Dutzend Neonazis und außerdem der AfD-Landtagsabgeordnete Lars Hünich mitgelaufen sind. Lars Hünich, das ist der Mann, der neulich für große Aufregung sorgte, weil er Ende Januar bei einem Stammtisch vor laufender Kamera des Senders ZDF sagte: »Wenn wir morgen in Regierungsverantwortung sind, dann müssen wir diesen Parteienstaat abschaffen.« Er will damit aber keineswegs gefordert haben, mit der Demokratie Schluss zu machen. Er wünsche sich im Gegenteil mehr Demokratie durch Volksabstimmungen nach Schweizer Vorbild, beteuerte Hünich. Im Juni 2023 veranstaltete das Bündnis für Frieden in Brandenburg/Havel eine dann nazifreie Kundgebung mit 600 Teilnehmern gegen das Luftwaffenmanöver Air Defender – rund 200 Meter von dem Festplatz entfernt, auf dem sich zeitgleich die deutschen Streitkräfte beim Tag der Bundeswehr präsentierten. Bernd Lachmann und Heidi Hauffe vom Bündnis für Frieden wollen jetzt ebenso wie der Stadtverordnete und frühere Linksfraktionschef Andreas Kutsche bei der Wahl der Stadtverordnetenversammlung für die »Bürger für Frieden, Vernunft und Gerechtigkeit« kandidieren. Alle drei gehören zum vorerst kleinen Kreis der BSW-Mitglieder, die anderen neun Personen auf der Liste der Wählergruppe noch nicht. nd.Muckefuck ist unser Newsletter für Berlin am Morgen. Wir gehen wach durch die Stadt, sind vor Ort bei Entscheidungen zu Stadtpolitik – aber immer auch bei den Menschen, die diese betreffen. Muckefuck ist eine Kaffeelänge Berlin – ungefiltert und links. Jetzt anmelden und immer wissen, worum gestritten werden muss. Erst einmal benötigt die Liste für jeden der drei Wahlkreise in der Stadt 20 Unterschriften von Unterstützern. »Sollten wir diese Hürde genommen haben, können wir uns mit voller Kraft in den Wahlkampf begeben«, sagt Heidi Hauffe. Anfang April wolle man konkrete kommunalpolitische Forderungen präsentieren, »um den Bürgern der Stadt Brandenburg ein seriöses politisches Angebot im Sinne von Frieden, Vernunft und Gerechtigkeit zu unterbreiten«. Und Dominik Mikhalkevich – Sprecher des Bündnisses für Frieden und BSW-Mitglied – freut sich, »dass in der Brandenburger Stadtpolitik nun endlich eine Kraft entsteht, die konsequent friedens- und sozialpolitische Forderungen miteinander verbindet«. Derweil nominierte seine frühere Partei – Die Linke – am 17. Februar 27 Kandidaten für die Stadtverordnetenversammlung, darunter Linksfraktionschefin Heike Jacobs, den Ex-Landtagsabgeordneten René Kretzschmar und die Kreisvorsitzende Christin Willnat. In den Vorstellungsreden spielten soziale Themen eine wichtige Rolle. »Die Linke möchte sich gerade für die Belange der Menschen einsetzen, deren Stimmen leider viel zu oft nicht gehört werden«, hieß es. Außerdem ließ der Linke-Kreisverband im vergangenen Jahr keinen Zweifel daran, was er über das Luftwaffenmanöver Air Defender und über das »Werben fürs Sterben« beim Tag der Bundeswehr denkt. Christin Willnat hatte seinerzeit erklärt: »Dieses Säbelrasseln lehnen wir strikt ab, denn Krieg darf niemals ein Mittel der Politik sein.«
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Andreas Fritsche
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Einen BSW-Landesverband gibt es noch nicht in Brandenburg. Mit erst 17 Mitgliedern im Bundesland möchte die Wagenknecht-Partei dennoch bei der Kommunalwahl am 9. Juni präsent sein – mithilfe von Unterstützern.
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Brandenburg, Die Linke, Friedensbewegung
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Hauptstadtregion
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Berlin Bündnis Sahra Wagenknecht
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2024-03-11T14:37:26+0100
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2024-03-11T14:37:26+0100
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2024-03-12T17:47:34+0100
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https://www.nd-aktuell.de/artikel/1180614.buendnis-sahra-wagenknecht-bsw-in-brandenburg-neue-waehlergruppen-vor-kommunalwahlen.html?
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Faktencheck-Webseite fühlt sich von Rechten bedroht
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Die Betreiber der österreichischen Faktenchecker-Webseite Mimikama fühlen sich laut eigenen Angaben bedroht. Auf Facebook erklärten sie am Mittwoch: »Wir haben mittlerweile Angst das Büro zu verlassen.« Mimikama ist seit sechs Jahren mit dem Projekt »Zuerst denken – dann klicken« verbunden. Die Seite versucht, Falschmeldungen im Internet zu entlarven und Fakten zu umstrittenen Themen zu überprüfen. Die Autoren hinterfragen dabei oft auch Gerüchte, die in sozialen Netzwerken gegen Flüchtlinge erhoben werden. Nun sind Klarnamen und Adressen der Betreiber im Impressum des vermeintlichen Hartgummi-Waffenverkäufers »Migrantenschreck« aufgetaucht. Die Faktenüberprüfer beteuern, in keiner Verbindung zu der Webseite zu stehen. Dafür erhalten sie jedoch nach eigener Aussage fortan ungewollte Briefe, Botendienste und Bedrohungen, die in Zusammenhang mit dem dubiosen Webshop verschickt werden. Von den Behörden fühlen sie sich nicht geschützt. Die Betreiber überlegen aufgrund des Drucks sogar, ihr Projekt zu beenden. Werbung für den Webshop mit russischer Domainendung soll laut dem »Standard« vor allem das »Anonymous.Kollektiv« (AK) gemacht haben. Deren Facebook-Seite hatte zu Hochzeiten rund zwei Millionen deutsche Nutzer, ist aber mittlerweile auf das russische soziale Netzwerk »VK« umgezogen. Dort tummeln sich zahlreiche deutschsprachige Rechtsradikale und Verschwörungsideologen. Die Mimikama-Betreiber vermuten, dass dieselbe Personengruppe hinter dem AK und dem Waffengeschäft steckt. Und dass sie letztlich aus Rache im Impressum von »Migrantenschreck« gelandet sind, weil sie zuvor immer wieder Berichte des »Anonymous.Kollektivs« kritisch überprüft hatten. Der »Anonymous«-Bewegung nahe stehende Personen haben immer wieder darauf hingewiesen, dass die ehemalige Facebook-Seite des »Anonymous.Kollektivs« nichts mit den ursprünglichen Ideen der Gruppe zu tun hatte. Während Anonymous sich hauptsächlich gegen Netzüberwachung, Scientology oder autoritäre Regime einsetzte, hetzte die Netz-Seite unter dem nicht geschützten Label vor allem gegen Migranten, Linke, Juden und die deutsche Regierung. Laut einem Artikel der »FAZ« hatten bis 2012 vier Personen die entsprechende Facebook-Seite gemeinsam moderiert. Dann hatte jedoch einer der Verantwortlichen die drei anderen Admins hinaus geworfen. Bei dem späteren alleinigen Betreiber soll es sich mutmaßlich um einen rechtsradikalen Erfurter handeln. Dieser hatte das jedoch - auch eidesstattlich – immer wieder bestritten. Der »Süddeutschen Zeitung« zufolge hatte der Grüne-Bundestagsabgeordnete Volker Beck Anfang des Jahres Anzeige gegen den Betreiber des AK gestellt. Er habe der Staatsanwaltschaft auch Hinweise geliefert, dass der verdächtige Admin für das »Anonymous.Kollektiv« verantwortlich sein soll. Die Justiz fandet laut »Spiegel« nun gegen den Mann wegen des Verdachts auf Betrug, Volksverhetzung und der öffentlichen Aufforderung zu Straftaten. Einer monatelangen Focus-Recherche zufolge soll der Erfurter auch der Betreiber der Seite »Migrantenschreck« sein. Die österreichischen Grünen haben derweil aus Solidarität am Freitag den Verein hinter Mimikama mit 1000 Euro unterstützt. Das Geld stamme aus einem Hass-Posting-Verfahren, heißt es beim Standard. Die Arbeit des Projektes sei aktuell mehr denn je gefragt, so die Politiker: »Immer mehr HassposterInnen versuchen gezielt durch Hass und Hetze eine Meinungshoheit in sozialen Netzwerken zu erzwingen. Ziel der Hetze ist es, andere mundtot zu machen und sie aus dem digitalen Raum zu verdrängen.«
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Sebastian Bähr
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Die Betreiber der österreichischen Faktenchecker-Webseite Mimikama fühlen sich laut eigenen Angaben bedroht. Klarnamen und Adressen sind im Impressum des Waffenverkäufers „Migrantenschreck“ aufgetaucht.
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Hacker, Nazis, Österreich, Rassismus
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Politik & Ökonomie
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Politik
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https://www.nd-aktuell.de/artikel/1022713.faktencheck-webseite-fuehlt-sich-von-rechten-bedroht.html?sstr=migrantenschreck
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Die Software, die Steve Ballmer hasste
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Manchmal kann eine beiläufige Schmähung durch einen mächtigen Widersacher eine größere Auszeichnung bedeuten als noch so viele Lobeshymnen durch die eigenen Unterstützter. Als der Chef von Microsoft, Steve Ballmer, einmal von Reportern nach seiner Meinung zu Freier Software gefragt wurde, war das so ein Moment: Linux sei ein »Krebsgeschwür, das in Bezug auf geistiges Eigentum alles befällt, was es berührt«, sagte Ballmer und wetterte im Interview mit der »Chicago Sun-Times« gegen die US-Regierung, die die Entwicklung solcher Software auch noch unterstütze. Das »Krebsgeschwür« Linux wird dieser Tage 25 Jahre alt. Und mit dem Betriebssystem, das anders als Ballmers Microsoft Windows jeder frei verbreiten und verändern kann, ist »Open Source« heute allgegenwärtig: Vom Android-Smartphone übers Navigationsgerät im Auto bis hin zum Großraum-Webserver: In der Mehrzahl aller Geräte, in deren Inneren ein Chip arbeitet, läuft heute Linux od... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
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Fabian Köhler
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Die vor 25 Jahren erfundene Software Linux kann jeder frei verbreiten. Inzwischen ist das Betriebssystem allgegenwärtig. Der Siegeszug scheint unaufhaltsam, obwohl immer wieder versucht wird, die Nutzung einzuschränken.
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Computer, Linux, Open Source
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Feuilleton
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Kultur
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1023718.die-software-die-steve-ballmer-hasste.html
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Italienische Bank schafft doch Kapitalerhöhung
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Rom. Die angeschlagene italienische Regionalbank Banca Carige hat sich nach eigenen Angaben mit ihren wichtigsten Anteilseignern nun doch auf eine Kapitalerhöhung geeinigt. Die Bank teilte am späten Freitagabend mit, dass sie über die Ausgabe neuer Aktien 500 Millionen Euro von ihren Aktionären sowie weitere 60 Millionen Euro von ihren Anleihehaltern einnehmen wolle. Die neuen Aktien werden vom kommenden Mittwoch an bis zum 6. Dezember angeboten. Ein internationales Bankenkonsortium, das Credit Suisse, Deutsche Bank und Barclays Bank einschließt, habe sich verpflichtet, die bis dahin nicht veräußerten neuen Aktien zu kaufen. Die Aktien der Bank waren am Freitag an der Mailänder Börse aus dem Handel genommen worden. Die Schwierigkeiten der Carige hatten neuerlich Zweifel am italienischen Bankensektor genährt. dpa/nd
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Redaktion nd-aktuell.de
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Italien
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Politik & Ökonomie
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Wirtschaft und Umwelt
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1070555.italienische-bank-schafft-doch-kapitalerhoehung.html
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»Thriller« feiert Jacksons Musik
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Zum Finale erzitterte der ausverkaufte Admiralspalast endgültig unter dem Tanzsturm im Auditorium und auf den Rängen. Den King of Pop hätte gefreut, welch hypnotische Wirkung nach wie vor seine Musik auf alle Altersstufen besitzt. Ehe Michael Jackson im Juni 2008 neue Heimstatt auf dem Pop-Parnass nahm, war noch mit seiner Zustimmung »Thriller Live« längst zum Erfolgsformat geworden. Was Adrian Grant, Wegbegleiter des Genius, Autor des ersten Fanmagazins sowie mehrerer Dokumentationen, aus einer Tribute-Show seit 1991 über die Jahre und viele Zwischenformen zur »Show über den King of Pop« entwickelte, ist gottlob keine musicalisierte Lebensgeschichte. Gefeiert wird in »Thriller Live« »schlicht« die Musik, mit der Jackson die Welt beschenkt hat. Sie kann noch immer auf ungezählte Bewunderer rechnen und hat viele Stars zu eigener Interpretation gereizt. Neben den Beatles dürfte er damit der kreative Kopf in der Pop-Musik des letzten Jahr... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
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Volkmar Draeger
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Show über den King of Pop begeistert fernab von musicalisierter Lebensgeschichte
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Admiralspalast, Berlin, Michael Jackson
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Hauptstadtregion
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Brandenburg
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/162818.thriller-feiert-jacksons-musik.html
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Schlepper
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Der Bundesaußenminister ist besorgt. Das Mittelmeer dürfe kein Massengrab für Flüchtlinge werden. Seine Schlussfolgerung: Deutschland solle sich an der militärischen Mission zur Bekämpfung der Schlepper und Schleuser beteiligen, die Flüchtlingen den häufig einzigen Weg nach Europa bieten - den illegalen, den Weg auf wackligen Booten, den Weg, der nicht selten in den Tod führt. Doch die Bekämpfung der Schleuser kann kein einziges Problem lösen. Außer dem, dass Fl... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
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Uwe Kalbe
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Der Außenminister ist besorgt. Das Mittelmeer dürfe kein Massengrab für Flüchtlinge werden. Seine Antwort: Mit dem Militär auf Schleuser schießen. Doch Flucht durch Bekämpfung der Fluchthilfe zu unterbinden, ist nicht human.
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Asylpolitik, EU, Flüchtlinge, Frank-Walter Steinmeier
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Meinung
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Kommentare
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/983958.schlepper.html
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Viele Worte, wenig Geld
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Wie die katholische ist auch die evangelische Kirche in Deutschland seit mehr als acht Jahren mit der Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs in ihren Einrichtungen befasst. Der am Dienstag in Würzburg diskutierte Bericht dokumentiert eher unfreiwillig das Versagen der EKD: Schuldeingeständnisse sind darin in unerträglich lange Abhandlungen über den wunderbaren Zusammenhalt in den Kirchengemeinden eingebettet. Ja, man tut etwas: Man gibt Studien in Auftrag, hat Anlaufstellen für Opfer eingerichtet und ein Präventionskonzept erarbeitet. Und man geht davon aus, dass die bekannten 480 Fälle nur die Spitze des Eisbergs sind. Vertrauen zurückzugewinnen, wird dennoch schwierig. Denn sexueller Missbrauch ist nur Teil einer Geschichte von systematischer Demütigung, Misshandlung und Ausbeutung Hunderttausender Kinder in kirchlicher Obhut. Eine angemessene Entschädigung hat der Runde Tisch Heimerziehung, an dem Vertreter der Kirchen saßen, verhindert. Bis zu 10 000 Euro konnten Opfer bekommen - in Form von Sachleistungen. Wegen der mit der Antragstellung verbundenen retraumatisierenden Prozedur verzichteten viele darauf. Materielle Wiedergutmachung hält man in den Kirchen bis heute ohnehin für zweitrangig. Man glaubt schon dadurch Größe zu zeigen, dass man bereit ist, Menschen zuzuhören und zu glauben.
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Jana Frielinghaus
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Jana Frielinghaus zur kirchlichen Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs
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Christentum, EKD, Evangelische Kirche
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Meinung
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Kommentare Sexueller Missbrauch
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1105645.viele-worte-wenig-geld.html
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Innere Einheit kommt später
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Die Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen stehen vor der Tür, und die CDU verliert in ihren ehemaligen ostdeutschen Hochburgen an Zustimmung. Um trotz der miesen Umfragewerte ein wenig gute Laune zu verbreiten, trafen sich die Christdemokraten am Dienstag unter dem Motto »20 Jahre Deutsche Einheit – Gemeinsam zukunftsfähig« in Weimar. Neben Kanzlerin Merkel waren auch die ostdeutschen CDU-Ministerpräsidenten Tillich, Böhmer und Althaus in die Klassikerstadt gereist, um das »Zusammenwachsen von Ost und West zu diskutieren«, wie es in einer Pressmitteilung hieß. Dass auch 20 Jahre nach Vollzug der Einheit erheblicher Diskussionsbedarf besteht, beweist auch eine nun veröffentlichte Umfrage des sozialwissenschaftlichen Forschungszentrum Berlin-Brandenburg (SFZ) im Auftrag der Linkspartei. Während die CDU-Funktionäre in der Weimarhalle den geglückten Aufbau Ost feierten, verwies die LINKE-Bundestagsabgeordnete Gesine Lötzsch auf die wenig schmeichelhaften Ergebnisse der Befragung. »Wenn die Kanzlerin heute in Weimar eine Rede zur Deutschen Einheit hält, dann sollte sie wissen, was die Ostdeutschen über ihre Arbeit denken«, so die Linkspolitikerin. Laut Umfrage sind 77 Prozent der Ostdeutschen von ihrer Kanzlerin enttäuscht und wünschen sich ein stärkeres Engagement Merkels für die Belange des Ostens. In der Weimarhalle beschwor Merkel derweil eine frohe Zukunft: Bis 2019, so die Kanzlerin, müsse die Wiedervereinigung vollendet sein. Viele Ostbürger sind da pessimistischer. In der Umfrage meinten 41 Prozent der Bürger, dass die Einheit »nie verwirklicht wird«. Ebenso viele Ostdeutsche fühlten sich »von vielen Westdeutschen, die sie kennen, nicht verstanden«. Mehr als die Hälfte der Befragten vermisst einen »ausgewogenen und sachlichen Blick auf die DDR durch westdeutsche Politiker«. Die Befragung scheint dem Psychotherapeuten Hans-Joachim Maaz recht zu geben. Der Bestsellerautor hatte in einem Interview des Magazins »Spiegel« festgestellt, dass »die reine Negativdarstellung der DDR« auf viele Ostdeutsche »nicht aufklärerisch« wirke. Die innere Einheit kommt also nicht voran. Wohl auch deshalb schwelgte die Kanzlerin am Dienstag in der Vergangenheit. Die Aufbruchstimmung des Jahres 1989, so die Kanzlerin, sei ein Ansatz, um die aktuelle Wirtschaftskrise zu bewältigen. Wenn die Bundesbürger demnächst die Zentralen der Großbanken stürmen und »Wir sind das Volk« skandieren, dann haben sie die Worte der Bundeskanzlerin beherzigt.
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Fabian Lambeck
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Bundeskanzlerin Angela Merkel beschwor am Dienstag auf einem Kongress zur Deutschen Einheit die Aufbruchstimmung von 1989 und warnte vor »Geschichtsvergessenheit« in Sachen DDR. Dabei sollte sich Merkel besser auf die Gegenwart konzentrieren. Denn eine aktuelle Umfrage zeigt, dass 77 Prozent der Ostdeutschen mit ihrer Kanzlerin unzufrieden sind.
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Angela Merkel, CDU, DDR, Deutsche Einheit
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Politik & Ökonomie
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Politik
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/154211.innere-einheit-kommt-spaeter.html
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Mehr als nur frommer Wunsch
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Nach jeder Krise stellt sich unweigerlich die Frage, wer die Rechnung zahlen soll. Das war nach der Finanzkrise 2007/2008 so, das ist auch gerade im Zuge der Coronakrise der Fall. Die Linke will jene zahlen lassen, die besonders viel haben, die Milliardär*innen und Multimilliardär*innen. Die Linksfraktion im Bundestag legte nun zusammen mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung eine Studie vor, wie das ablaufen könnte. Das ist gut, weil es eine Vermögensabgabe konkreter macht. Wer wirklich die Superreichen zur Kasse bitten will, muss zeigen wie das gehen kann. Ansonsten wird es ein frommer Wunsch bleiben. Natürlich gehört dazu auch, an politischen Mehrheiten dafür zu arbeiten. Und sicher wird am Ende keine Maximalforderung durchsetzbar sein. Jedoch fragt man sich, warum die Linksfraktion nicht das Modell favorisiert, das laut ihrer Studie der Allgemeinheit am meisten einbringen könnte. So wären bis zu 560 Milliarden Euro mit einer Abgabe drin, die Fraktion begnügt sich mit 310 Milliarden. Besonders fraglich ist, warum der Freibetrag für Betriebsvermögen weitaus höher sein soll als jener für anderes Vermögen. Diese Regelung führt auch schon bei der Erbschaftsteuer zu Ungerechtigkeiten und ist normalen Menschen nicht wirklich vermittelbar.
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Simon Poelchau
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Die Linke will jene zahlen lassen, die besonders viel haben, die Milliardär*innen und Multimilliardär*innen. Das ist gut, weil es eine Vermögensabgabe konkreter macht. Wer wirklich die Superreichen zur Kasse bitten will, muss zeigen wie das gehen kann.
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Die Linke, Reichtum
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Meinung
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Kommentare Corona und soziale Folgen
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1143987.corona-und-soziale-folgen-mehr-als-nur-frommer-wunsch.html
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Kabarettist Emil Steinberger - E wie Emil
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Der Schweizer Komiker Emil Steinberger ist mittlerweile 91 und soll im Oktober »Das Goldene Auge« bekommen, vom Zürcher Film Festival verliehen für sein Lebenswerk, völlig zu Recht. Er war stets sehr rege. Zuerst Postbeamter, lernte er Grafiker, wurde Werber, Theatermacher und Kinobetreiber, bevor er unter dem Motto »E wie Emil« in der BRD wie der DDR plus Österreich bekannt wurde, zeitgleich mit Otto Waalkes, der in den 70 Jahren ebenfalls auf seinen Vornamen setzte. Doch anders als Otto hat sich Emil nie mit Plumpheit als Erfolgsrezept begnügt. Waalkes fanden die Deutschen lustig, weil er Witze wie in der vierten Klasse machte (die er sich von den führenden »Titanic«-Leuten schreiben ließ), Steinberger (der seine Gags selbst schrieb), weil er einen Schweizer Akzent hat. Dass der Luzerner seine eher sanften »Grotesk-Miniaturen« (»Filmdienst«) dreisprachig (Schwyzerdütsch, Hochdeutsch, Französisch) präsentieren konnte, wussten sie weder im Hamburger Schauspielhaus noch beim »Kessel Buntes«. Während für Otto Gesellschaftskritik darin bestand, sich über Heino zu beeumeln, machte sich Emil schon 1979 in dem Film »Die Schweizermacher« über die Paranoia vor der sogenannten Überfremdung lustig, der Urangst der Rechten. Sein Witz speist sich nicht aus der Verachtung, sondern aus der Einfühlung. Es ist ein Old-School-Humanismus-Jokus. Mit 60 wollte er sich von der Emil-Figur befreien, um von ihr nicht »aufgefressen« zu werden, wie er sagte. Er zog nach New York, schrieb Kolumnen für die deutschsprachige Presse, kam zurück, gründete einen Verlag und machte doch wieder Kabarett, während Waalkes als eine Art BRD-Godfather of Comedy künstlerisch einfror. Kann Humor etwas bewirken, wird Waalkes öfters gefragt. Er sagt dann gern, die Leute sollten lachen, Nachdenken sei zu anstrengend.
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Christof Meueler
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Emil Steinberger bekeommt einen Preis fürs Lebenswerk. Völlig zu Recht: Zuerst Postbeamter, lernte er Grafiker, wurde Werber, Theatermacher und Kinobetreiber, bevor er unter dem Motto »E wie Emil« bekannt wurde.
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Film, Kabarett, Schweiz, Theater
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Feuilleton
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Kultur Personalie
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2024-07-31T18:04:53+0200
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2024-07-31T18:04:53+0200
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2024-08-02T12:29:39+0200
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1184167.personalie-kabarettist-emil-steinberger-e-wie-emil.html
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Schachbrett mit Kraftwerken
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Die Bund-Länder-Einigung zum Kohleausstieg aus der vergangenen Woche birgt jede Menge Risiken: für Klimaschutz, die Energiepolitik und die Gesellschaft im Ganzen. Darauf weisen Mitglieder der einst von der Bundesregierung eingesetzten Kohlekommission hin. Das Gremium aus Politik, Wirtschaft, Gewerkschaften, Wissenschaft und Umweltverbänden hatte in monatelangen Debatten im Januar 2019 einen Kompromiss ausgearbeitet. Trotzdem setzen sich Bund und Länder in zentralen Punkten über diesen hinweg. Was nun droht, war schon am Montagabend zu ahnen. Da versuchte das Bundeswirtschaftsministerium in einer langen »Information zur Kohleverständigung«, der zunehmenden Kritik an der 50 Milliarden Euro teuren Bund-Länder-Einigung den Wind aus den Segeln zu nehmen. Der vereinbarte Stilllegungspfad bei der Braunkohle sei »klimapolitisch stringent«, verkündete das Ministerium. In den 2020er Jahren würden alle älteren, emissionsstärkeren Braunkohleblöcke vom Netz gehen. Dann erst folgten die neueren. Gerade bei der Braunkohle spricht eine am Dienstag von ehemaligen Mitgliedern der Kohlekommission vorgelegte Stellungnahme eine andere Sprache. Der Brief an Kanzlerin Angela Merkel ist unterzeichnet unter anderem von der Kommissionsvorsitzenden Barbara Praetorius, den Chefs der Umweltverbände BUND, Greenpeace und Deutscher Naturschutzring (DNR), von Antje Grothus von der Bürgerinitiative Buirer für Buir, dem Energieexperten Felix Christian Matthes und dem Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber. Auf einer Pressekonferenz in Berlin verdeutlichte Matthes, dass der Ausstiegspfad bei der Braunkohle der »klimapolitische Knackpunkt« des Kohlekompromisses ist. Man könne Kraftwerke nicht wie auf einem Schachbrett einfach hin- und herschieben, erläuterte er. Wenn Bund und Länder nun versuchten, eine längere Laufzeit von Braunkohlekraftwerken dadurch zu kompensieren, dass man ein paar ganz alte Steinkohlemeiler früher stilllege, werde es nicht ansatzweise gelingen, die klimaschädlichen Effekte wettzumachen. Vereinfacht gesagt: Weil Braunkohlestrom deutlich am »schmutzigsten« ist, lässt sich deren Stilllegung nicht 1:1 durch Steinkohlekraftwerke gegenrechnen. Um die CO2-Emissionsminderung, die durch Stilllegung von 1000 Megawatt Braunkohle erreicht werden, zu kompensieren, müsste man um die 3000 Megawatt Steinkohle vom Netz nehmen. Datteln 4 bringt die Bahn auf die Palme
Selbst der Hauptkunde will das Steinkohlekraftwerk in Nordrhein-Westfalen loswerden. Trotzdem soll es ab Sommer Strom liefern Der Energieexperte kritisierte zudem, dass Bund und Kohleländer nunmehr die meisten Braunkohlekraftwerke bis kurz vor den jeweiligen Stichjahren 2030 und 2038 laufen lassen wollen. Folge dessen sei dann eine Art »wasserfallartiges« Abschalten 2028/2029 sowie 2037/2038. Dass man erst »nichts« tue und dann riesige Stromerzeugungsleistungen abschalte, führt laut Matthes zu Mehremissionen von etwa 40 Millionen Tonnen CO2 sowie zu »starken Brüchen«, die für den Strommarkt schwer zu verkraften seien. Bund und Länder schlügen damit eigene Warnungen vor Gefahren für die Versorgungssicherheit in den Wind. Matthes hält auch die in Aussicht gestellten Milliardenentschädigungen gerade für die Braunkohle für klimapolitisch kontraproduktiv, zumal in Kombination mit späten Abschaltterminen. Selbst bei einem hohen CO2-Preis im europäischen Emissionshandel, der den Braunkohlestrom in die Verlustzone bringe, könnten die Betreiber die Anlagen problemlos über Jahre weiterlaufen lassen - solange die Verluste kleiner seien als die Entschädigungszahlungen. Die, so Matthes, ins »Fenster gestellten« Entschädigungen minderten die Wirkung des Emissionshandels. Das sei ein weiterer »Kollateralschaden« des Abweichens vom Kohlekompromiss. Neben der Braunkohle erbost noch ein Punkt der Bund-Länder-Einigung besonders die Umweltschützer: Die Bestandsgarantie für den Hambacher Forst am Tagebau Garzweiler wird mit dem Abbaggern weiterer Ortschaften für RWE-Braunkohle verknüpft. Diese »unnötige und unwiederbringliche Zerstörung von Dörfern« sei nicht akzeptabel, heißt es in der Stellungnahme. Überdies sei die von RWE geplante »Insellösung« für den Hambacher Wald »empörend«. Jahrelang habe RWE beteuert, dass dieser vom Tagebau nicht umfahren werden könne, weil das die mittelfristige Austrocknung des Waldes und die Zerstörung dahinter liegender Dörfer bedeute. Nun solle genau das geschehen. In der Stellungnahme vermeiden es die Kritiker allerdings, den Kohlekompromiss aufzukündigen, der ihnen seinerzeit selbst nicht weit genug ging. Die Teilnahme an der Kommission war in den Umweltverbänden umstritten. Auch DNR-Präsident Kai Niebert sprach am Dienstag klar vom »Verstoß« gegen den Kohlekompromiss, er stehe aber weiter hinter diesem. Allerdings ließ er seinem Ärger freien Lauf. Wie könne es sein, fragte er, dass man einen »mühsam ausgehandelten Kompromiss nach Art von Hasardeuren den ostdeutschen Ministerpräsidenten zum Fraß vorwirft« und die ganze Kohledebatte noch mal von vorn losgehe? Er fühle sich »betrogen« - auch von der Kanzlerin.
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Jörg Staude
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Über Monate rangen wichtige gesellschaftliche Gruppen um einen Konsens beim Kohleausstieg. Die Politik setzt sich quasi im Handstreich darüber hinweg.
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Braunkohle, fossile Energie, Klimaschutz, Kohleausstieg, Kohlekommission, Umweltschutz
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Politik & Ökonomie
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Wirtschaft und Umwelt Kohlekommission
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1172072.koalitionsstreit-koalitionsausschuss-fortschritt-als-phrase.html
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Athen: Uns und Gläubiger trennen 450 Millionen
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Update 15.55 Uhr: Athen: Uns und Gläubiger trennen 450 Millionen Euro
Im Streit um das griechische Sparprogramm geht es nach Angaben aus Athen letztlich nur noch um Maßnahmen für 450 Millionen Euro. Die Gläubiger machten zusätzlich Einsparungen in dieser Höhe zur Bedingung für die Auszahlung weiterer Hilfen, sagte Staatsminister Alekos Flambouraris im griechischen Fernsehsender MEGA. Er Flambouraris dämpfte allerdings die Hoffnung auf einen Erfolg des Sondergipfels der EU am Montag. Die Gläubiger seien nicht bereit, Athen wie gefordert eine Reduzierung des Schuldenberges zuzusichern. »Hoffentlich akzeptieren sie es, aber sie werden es nicht machen, das ist meine persönliche Ansicht«, sagte der Staatsminister, der einer der engsten Berater des linken griechischen Regierungschefs Alexis Tsipras ist. Berlin. Am EU-Sondergipfel am Montag sollen auf Einladung von Gastgeber Donald Tusk auch die Gläubiger Griechenlands teilnehmen. Neben den Staats- und Regierungschef der Euro-Staaten habe er die Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF), Christine Lagarde, und den Präsidenten der Europäischen Zentralbank (EZB), Mario Draghi, eingeladen, teilte der Präsident des Europäischen Rates am Freitagabend mit. Den Chef der Eurogruppe, also der Finanzminister der Euro-Staaten, Jeroen Dijsselbloem, lud Tusk ebenfalls ein. Weiterhin werde der Chef der EU-Kommission Jean-Claude Juncker zu dem Treffen am Montagabend erwartet, hieß es in dem Brief. Tusk betonte in dem Schreiben, dass die Zeit bis zum Auslaufen des von den Gläubigern blockierten Kreditprogramms für Griechenland dränge. Der Gipfel könne aber nicht »der letzte Schritt« sein. Vor dem Spitzentreffen am Abend sollen nachmittags in Brüssel die Finanzminister der Euro-Staaten zusammenkommen. Griechenland hat zum letzten Mal im August 2014 eine Überweisung von den Gläubigern aus dem laufenden Kreditprogramm erhalten. Seither wird über die von den Gläubigern gestellten Bedingungen gestritten. Der Konflikt drehte sich zuletzt vor allem um von den Gläubigern geforderte Einschnitte bei den Renten und eine Erhöhung der Mehrwertsteuer für Medikamente und Strom. Attac: Merkel erpresst Griechenland
Tsipras: Grexit wäre »Anfang vom Ende der Eurozone« / Varoufakis wehrt sich gegen Vorwürfe - Finanzminister veröffentlicht Rede vor Eurogruppe: »Das einzige Gegenmittel gegen Propaganda« / IWF-Chefin: Brauchen jetzt wieder Dialog mit Erwachsenen - der Newsblog vom Freitag zum Nachlesen Zwei Tage vor dem Sondergipfel dominiert die Krisenpolitik und der Streit um die Bedingungen der Gläubiger für die Auszahlung der ausstehenden Tranche aus dem Kreditprogramm auch die griechische Presse. »Fieberhafte Beratungen zwei Tage vor dem Großen Montag«, berichtet die Boulevardzeitung »Ethnos«. Auf dem Tisch sei eine neue Verlängerung des griechischen Konsolidierungsprogramms um vier, sechs oder sogar neun Monate, meint das Blatt. »Hartes Ultimatum der EU«, titelt die konservative Athener Zeitung »Kathimerini«. »Einigung aufgrund der Vorschläge der Gläubiger oder Pleite« sei die Nachricht der EU an die Adresse Athens. Die griechischen Banken könnten nur noch deswegen Geld auszahlen, weil sie Finanzspritzen von der Europäischen Zentralbank bekämen. Das linke Blatt »Efimerída ton Syntaktón« meint, die Gläubiger würden nachgeben. »Das Geld ist viel zuviel für Europa«, lautet der Tenor. Die Gläubiger versuchten ein »Panikklima« zu erzeugen. Dabei hätten sie selbst mehr Angst vor einer griechischen Pleite, weil die Folgen nicht berechnet werden könnten, meint das Blatt. »Einigung oder Chaos«, titelt die Athener Zeitung »Ta Nea«. Der linke Regierungschef Alexis Tsipras stehe nun »mit dem Rücken zur Wand«. Er habe es mit seiner Hinhaltetaktik am Ende verursacht, dass die Bürger ihre Konten leer räumen. Die letzte Woche sei »eine schwarze Woche« für die griechischen Banken gewesen. Allein am Freitag sollen die Griechen nach übereinstimmenden Berichten der Athener Presse 1,7 bis zwei Milliarden Euro von ihren Konten abgehoben haben. Damit seien seit Montag fünf Milliarden Euro aus dem Banksystem abgeflossen, berichtete die konservative Athener Zeitung »Kathimerini«. Einen sichtbaren so genannten »Bank Run« mit langen Schlangen vor den Schaltern gab es jedoch nicht. Am Samstagmorgen herrschte nach Augenzeugenberichten reger, aber nicht unnormaler Betrieb vor den Geldautomaten. Derweil hat die US-Regierung Griechenland und die Gläubiger zu einer Einigung aufgerufen. Es sei »dringend« nötig, dass beide Seiten sich einem Kompromiss annäherten, sagte Regierungssprecher Eric Schultz am Freitag. Es müsse »rasch ein glaubwürdiges Reformprogramm« aufgelegt werden - als »Grundlage langfristiges Wachstum in der Eurozone«. Der Vorsitzende des Europaausschusses im Bundestag, Gunther Krichbaum (CDU), sagte, das Treffen der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union in Brüssel sei die »allerletzte Chance«, um eine Staatspleite in Griechenland abzuwenden, sagte Krichbaum der »Saarbrücker Zeitung«. Ministerpräsident Tsipras müsse »eine 180-Grad-Wende vollziehen, damit wir noch zum Erfolg kommen«. Zugleich äußerte Krichbaum die Einschätzung, dass eine weitere mögliche Verlängerung des zweiten Kreditprogramms für Athen auf erheblichen Widerstand in der Unionsfraktion stoßen würde. Eine Zustimmung dafür sei in der Fraktion »äußerst schwierig«. »Das hängt sehr davon ab, zu welchen Gegenleistungen Griechenland bereits ist«, sagte Krichbaum. Agenturen/nd
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Redaktion nd-aktuell.de
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Bei dem EU-Sondergipfel am Montag sollen auch die Gläubiger Griechenlands teilnehmen: IWF, EZB und der Chef der Eurogruppe sind mit am Tisch. Eine Einigung wird es aber wohl nicht geben - das Treffen sei nicht "der letzte Schritt".
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EU, Eurogruppe, Griechenland, IWF, Kreditprogramm, Krisenpolitik, SYRIZA
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Politik & Ökonomie
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Politik
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/975197.athen-uns-und-glaeubiger-trennen-millionen.html
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Thüringen: Mit Kaffee und Kuchen gegen rechts
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Sie haben sich vor fünf Jahren bewusst dafür entschieden, in den Saale-Holzland-Kreis zu ziehen – und damit in eine Region, in der die AfD besonders viel Zuspruch bekommt. Wenn Sie auf der Straße unterwegs sind, können Sie davon ausgehen, dass ungefähr jeder Dritte eine rechtsextreme Partei gewählt hat. Wie gehen Sie damit um? Das ist sehr von der Situation abhängig. Natürlich ist Antifaschismus für mich eine feste innere Haltung. Und na klar passiert es, dass ich zum Beispiel an der Kasse im Supermarkt auf eine rechte Person treffe. In so einem Moment halte ich mich eher zurück, denn da geht es ja auch um meine persönliche Sicherheit. Aber es gibt natürlich andere Gelegenheiten, in denen man Menschen auf ihre politische Einstellung anspricht, mit ihnen darüber redet, warum sie die AfD wählen. Was für Gelegenheiten? Wir machen das immer wieder bei Personen, von denen wir glauben, dass sie noch nicht gefestigt rechtsextrem sind, dass man sie noch erreichen kann – etwa bei einer Kirmes oder beim Maibaumsetzen. Wir als Initiative sind bei solchen Gelegenheiten häufig einfach da, da kommt man dann schon ins Gespräch. Aber ganz klar: Das funktioniert nicht bei allen Menschen. Man muss sich immer bewusst machen, dass der Rechtsextremismus nicht erst da ist, seit es die AfD gibt. Gerade in ländlichen Räumen gibt es diese Denkmuster schon sehr, sehr lange. Personen, die zum Beispiel durch Tätowierungen oder Nazisymbole auf Kleidungsstücken eindeutig als Rechtsextremisten zu identifizieren sind, mit denen suchen wir kein Gespräch. Das macht keinen Sinn. Die junge Frau, die sich »Elli« nennt, ist im Coburger Land, direkt hinter der südlichen Landesgrenze Thüringens aufgewachsen. Die 31-Jährige war zum Studium nach Jena gekommen und ist vor fünf Jahren in ein Dorf im Saale-Holzland-Kreis gezogen – jener Landkreis, der die Studentenstadt in Ostthüringen fast vollständig umgibt. Sie arbeitet derzeit für die Thüringer Landtagsabgeordnete Lena Saniye Güngör und engagiert sich in der Initiative »Antifaschistisch* Initiativ* Solidarisch«, die 2023 mit dem Thüringer Demokratiepreis ausgezeichnet wurde. Es ist im ländlichen Raum viel schwieriger, anonym zu bleiben, als in einer Stadt. Haben Sie manchmal Angst, hier als Antifaschistin aktiv zu sein? Sicherheit ist ein ganz großes Thema. Wir reden da in der Gruppe auch immer wieder darüber, zum Beispiel dann, wenn wir besprechen, wie weit wir bei bestimmten Aktionen gehen. Eigentlich sprechen wir darüber sogar bei allem, was wir tun. Jede Person hat einen eigenen Umgang mit dieser Frage. Ich persönlich versuche, mich nicht lähmen zu lassen. Ich stehe dazu, dass ich Antifaschistin bin. Sind Sie schon mal körperlich angegriffen worden? Körperlich nicht. Aber es gab schon Bedrohungen, Beleidigungen oder Situationen, in denen ich von Nazis verfolgt wurde. Was machen Sie und Ihr Bündnis konkret im ländlichen Raum, unabhängig von Kirmes-Veranstaltungen oder Ähnlichem? Wir organisieren Proteste gegen die AfD oder gegen andere Nazis, die hier in der Region präsent sind. Zum Beispiel haben wir protestiert, als ein Nazi in Eisenberg einen Tattooladen eröffnet hat. Und wir versuchen, unsere eigenen, linken Werte in die Bevölkerung zu tragen, indem wir zum Beispiel gemeinsam kochen oder Diskussionsrunden organisieren, indem wir auch einfach mal Spieleabende anbieten. Dabei ist es uns ganz wichtig, dass wir immer auch ein Gefühl von Solidarität vermitteln – Solidarität mit anderen Menschen in ländlichen Räumen, die so wie wir eine stabile Haltung haben; aber auch Solidarität mit Menschen, die als »nicht-deutsch« gelesen werden. Sie werben also mit Kaffee und Kuchen, um linke Botschaften unter die Leute zu bringen? Na ja, wir merken schon, dass es oft eine gewisse Zurückhaltung gibt, wenn wir bei unseren Aktionen unser Linkssein zu sehr in den Vordergrund rücken. Es gibt immerhin einzelne Orte, in denen es eine rechte Hegemonie gibt. In diesen Orten haben Menschen häufig Angst, sich offen dazu zu bekennen, dass sie eine linke Haltung haben oder dass sie gerne progressive Positionen beziehen würden. Da hilft es, wenn man diesen Menschen ganz niedrigschwellige Angebote macht. Im Saale-Holzland-Kreis kamen Linke, SPD und Grüne bei der Europawahl zusammen auf ungefähr 15 Prozent; bei einer Wahlbeteiligung von fast 70 Prozent. Die AfD hat klar gewonnen. Es sieht nicht danach aus, als würden besonders viele Menschen dort Ihre Werte teilen … Diese Zahlen kann man nicht leugnen. Aber auch wenn eine Mehrheit bei uns im Landkreis Blau, Braun oder Schwarz wählt, so gibt es doch überall auch hier Menschen, die links denken, die links sind. Das ist doch spannend. Und abseits des Politischen ist das Dorf für mich einfach ein Wohlfühlort. Das Dorf ist mein Zuhause geworden. Das will ich mir nicht von Nazis nehmen lassen. Spannend? Ja, spannend. Denn anders als in der Stadt habe ich hier beim Kampf gegen rechts doch einen viel größeren Gestaltungsspielraum. Das ist auch eine Chance. Eine Chance? Na klar. Wenn ich mich zum Beispiel in Jena für Feminismus engagiere, dann gibt es da bereits ein großes Angebot, viele Themen sind abgedeckt. Im Saale-Holzland-Kreis gibt es keine feministischen Gruppen, das eröffnet ganz neue Möglichkeiten. Ich kann Dinge ausprobieren. Das Wahljahr 2024 ist kein beliebiges. Schon lange nicht mehr war die Zukunft der Linken so ungewiss, noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik waren die politische Landschaft und die Wählerschaft so polarisiert, noch nie seit der NS-Zeit war eine rechtsextreme, in Teilen faschistische Partei so nah an der Macht. Wir schauen speziell auf Entwicklungen und Entscheidungen im Osten, die für ganz Deutschland von Bedeutung sind. Alle Texte unter dasnd.de/wahljahrost. Sie sind im Coburger Land, im bayerischen Teil Frankens, aufgewachsen, auch diese Region ist ländlich geprägt. Unterscheidet sich das Dorfleben in Ost und West? Die Infrastruktur ist sehr unterschiedlich, auf jeden Fall. Daran merkt man ziemlich schnell, ob man in einem Dorf im Osten oder im Westen unterwegs ist. Was meinen Sie mit Infrastruktur? Dass es in Dörfern in Westdeutschland noch Kneipen, Fleischer und Bäcker gibt? Genau. Ist es dort deshalb einfacher, über Feminismus oder Solidarität mit den Menschen ins Gespräch zu kommen? Das ist eine spannende Frage. Und einerseits stimmt es schon, in vielen Dörfern im Raum Coburg gibt es noch Orte der Begegnung wie etwa Gasthöfe. Trotzdem tue ich mich schwer damit, diese Frage zu bejahen. Ich habe nicht den Eindruck, dass die Offenheit gegenüber linken Positionen zum Beispiel in Bayern größer wäre als in Thüringen. Die CSU und die Freien Wähler fangen dort einfach nach wie vor sehr viele Wähler*innen auf, die wahrscheinlich AfD wählen würden, wenn es die CSU dort nicht gäbe. Für die Landtagswahl in Thüringen am 1. September zeichnet sich ab, dass das Ergebnis ähnlich ausfallen dürfte wie bei der Europawahl. Die AfD könnte etwa ein Drittel der Stimmen erhalten, auf dem Land vielleicht sogar noch ein paar mehr. Wenn das so kommt: Verlassen Sie dann den ländlichen Raum? Ich bleibe hier. Schon aus Solidarität mit all den Menschen, die den Saale-Holzland-Kreis auch nicht einfach so verlassen können. Zum Beispiel, weil sie finanziell eingeschränkt sind, oder weil ihr Aufenthaltsstatus es ihnen nicht gestattet, den Landkreis zu verlassen. An diese Menschen muss man doch auch denken. Wahrscheinlich wird sich unsere Arbeit verändern, wenn die AfD im Landtag noch stärker werden sollte. Aber wir als Initiative werden trotzdem weitermachen. Viele Menschen, die sich gegen Rechtsextremismus engagiert haben, sind inzwischen mütend – also wütend und müde gleichermaßen. Sie wirken nicht so. Oder täuscht das? Es gibt Momente, in denen ich auch müde bin. Man kommt immer wieder an die eigenen Grenzen. Immer mal wieder kommt sogar das Gefühl hoch, dass das alles doch nichts bringt. Es gibt aber noch sehr viel mehr Momente, in denen ich wütend bin. Aus dieser Wut ziehe ich einen großen Teil meiner Motivation. Die Zustände, die wir hier haben im Saale-Holzland-Kreis, in Thüringen, aber auch in anderen Bundesländern, die können einfach nicht so bleiben, wie sie sind. Mir geht es darum, aus dieser beschissenen Situation irgendwie herauszukommen. Ich will ein gutes Leben für alle haben.
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Interview: Sebastian Haak
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Elli ist in Thüringen auf Land gezogen, in einen Landkreis, in der die AfD besonders viel Zuspruch bekommt. Dort engagiert sie sich gegen rechts – und lädt dafür zum gemeinsamen Kochen und zu Spieleabenden ein.
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AfD, Antifaschismus, linke Bewegung, Linkssein-Hintergrund, Ost-Wahlen, Rechtsradikalismus, Thüringen
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Politik & Ökonomie
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Politik Rechtsruck
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2024-07-15T15:26:09+0200
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2024-07-15T15:26:09+0200
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2024-07-31T11:51:32+0200
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1183720.rechtsruck-thueringen-mit-kaffee-und-kuchen-gegen-rechts.html
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Angstkampagne gegen »Rote«
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Wenn am Samstag in Australien das Parlament neu gewählt wird, hofft Regierungschef Scott Morrison auf eine Mehrheit für seine Liberal Party. Der letzten, allerdings schon drei Wochen alten Umfrage der Tageszeitung »The Australian« zufolge liegt allerdings die oppositionelle sozialdemokratische Labor-Partei unter ihrem Chef Anthony Albanese (59) mit 53 Prozent in der Wählergunst weit vorn. Bei den persönlichen Beliebtheitswerten liegt hingegen Premier Morrison alias »ScoMo« in Führung. 45 Prozent halten den 54-Jährigen für den besseren Regierungschef, 39 Prozent bevorzugen Albanese. Wenige Tage vor den Parlamentswahlen in Australien plätschert der Wahlkampf eher müde vor sich hin. Dabei handelt es sich nach Auffassung vieler Kommentatoren um eine Schicksalswahl. Nach einem fast 30-jährigen Aufschwung, der zu einem Großteil von der Nachfrage Chinas nach australischen Rohstoffen getragen wurde, droht Australien nun in die Rezession abzugleiten. Der Journalist Nick Bryant diagnostiziert auf dem fünften Kontinent einen Mentalitätswandel: Aus dem »lucky country«, dem »glücklichen Land«, sei ein »anxious country« geworden, ein »ängstliches Land«. Der Begriff »lucky Country« wurde in den 1960er Jahren von dem Intellektuellen Donald Horne geprägt, was allerdings eher als Kritik denn als Lobpreisung gemeint war. Australien sei ein »glückliches Land, welches von zweitklassigen Menschen geführt« werde, meinte er abfällig. Morrison hatte im August 2018 nach dem Rücktritt von Malcolm Turnbull das Amt des Premierministers und den Parteivorsitz der Liberal Party of Australia übernommen. Bei der Parlamentswahl im Mai 2019 wurde er allen Umfragen zum Trotz im Amt bestätigt und führt seither eine Koalitionsregierung mit der noch konservativeren National Party of Australia. Lange gingen politische Beobachter davon aus, dass ein solch »rechtslastiger« Sieg noch einmal gelingen könnte. In den letzten Tagen allerdings sagen die Meinungsforscher der seit neun Jahren regierenden liberal-konservativen Koalition eine Wahlniederlage voraus. Die künftige Regierung muss 76 der 150 Sitze des Unterhauses kontrollieren. Ob Labor eine absolute Mehrheit erreichen kann, ist zur Stunde allerdings völlig unklar, schon aufgrund der Zersplitterung der politischen Landschaft. Die Menschen zwischen Darwin und Adelaide leiden derzeit unter explodierenden Lebenshaltungskosten. Hausbesitzer fürchten, ihre Hypotheken nicht mehr bedienen zu können, während Naturkatastrophen zahlreiche Regionen in Risikogebiete verwandeln. Die Inflationsrate liegt derzeit bei 5,1 Prozent, es ist die höchste seit 20 Jahren. Die australische Notenbank sah sich jüngst veranlasst, den Leitzins zum ersten Mal in zehn Jahren wieder zu erhöhen, von 0,1 auf 0,35 Prozent. Dieses bedeutet für junge Familien eine erhebliche zusätzliche Belastung ihrer ohnehin strapazierten Budgets. In Australien verfügen die meisten Haushalte über Wohneigentum; sie gehören zu den am stärksten verschuldeten weltweit. Hauptgrund hierfür sind die in den letzten Jahren drastisch angestiegenen Immobilienpreise. Zugleich sind die Folgen der Corona-Pandemie nicht überwunden, während die amtierende Koalition in Canberra drauf und dran ist, sich – auf Druck der USA – mit China, dem größtem Handelspartner des Landes, zu überwerfen. Hinzu kommt, dass Morrisons Kabinett bei Frauen massiv an Rückhalt verloren hat. Grund hierfür ist eine Kette von Sexskandalen von Regierungsmitgliedern und Abgeordneten – von einer Vergewaltigung im Parlamentsgebäude durch einen jungen Regierungsmitarbeiter bis hin zum Missbrauch einer Untergebenen durch einen Minister. Morrison wurde vorgeworfen, darauf ungeschickt reagiert zu haben. Tatsache ist, dass bisher keine Täter zur Verantwortung gezogen wurden. Aktuell wird der Wahlkampf von antichinesischen Hetzkampagnen belastet. Die Frage, wer wie zu China steht, rückt in den Mittelpunkt. Für Australien ist die asiatische Supermacht der wichtigste Handelspartner, die aber zugleich als Bedrohung dargestellt wird. Die Regierung Morrison hat die Beziehungen zu Chinas Staatspräsident Xi Jinping und seiner Kommunistischen Partei heruntergefahren. Verteidigungsminister Peter Dutton (Liberale) erklärte kürzlich, Australien müsse sich für den Krieg rüsten, um den Frieden zu bewahren. Insbesondere Konservative behaupten eine besondere Nähe von Anthony »Albo« Albaneses Sozialdemokraten zu den chinesischen Kommunisten. Diese Thesen sind auch auf Plakaten zu lesen, die auf Lastwagen durch australische Städte kutschiert werden. Darauf zu sehen ist Xi Jinping, der einen mit »Labor« beschrifteten Wahlzettel in eine Urne wirft. Die Kommunistische Partei Chinas empfehle, Labor zu wählen, ist auf dem Plakat zu lesen. Dabei unterstellen rechtslastige Kreise auch einer Vertreterin der Liberalen, Gladys Liu, allein wegen ihrer chinesischen Abstammung eine Nähe zur Regierung in Peking. Auf einem Wahlplakat wird behauptet, sie sei »Xis Wunschkandidatin«. Hinter der aggressiven Kampagne gegen Labor steckt Rupert Murdochs Medienkonzern News Corp. 70 Prozent der australischen Printmedien sowie ein einflussreicher Fernsehsender werden von ihm kontrolliert. Es bleibt abzuwarten, inwieweit derart plumpe Kampagnen die Wähler beeinflussen werden.
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Ramon Schack
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Kurz vor der Parlamentswahl suggeriert in Australien eine Plakatkampagne, wer für Labour votiere, mache das Land zur Kolonie Chinas. Dennoch kann die oppositionelle sozialdemokratische Partei gar auf eine absolute Mehrheit hoffen.
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Australien, Klimakrise, Klimapolitik, Parlamentswahl
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Politik & Ökonomie
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Politik Wahl in Australien
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2022-05-19T16:54:03+0200
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2022-05-19T16:54:03+0200
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2023-01-20T18:26:52+0100
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https://www.nd-aktuell.de/artikel/1163928.wahl-in-australien-angstkampagne-gegen-rote.html?fbclid=IwAR1s6SiKJc4v13rXVX5wHCyNdBGExv0DFuwQKKIdoeGfHcPsOGoOKcWG1q0
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WM-Eröffnungstag: Proteste in Sao Paulo und Rio
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Berlin. Gummigeschosse, Tränengas, Blendgranaten: Nach den Protesten in der WM-Eröffnungsstadt São Paulo ist es am Donnerstag auch in Rio de Janeiro zu Demonstrationen gekommen. Hunderte WM-Gegner beteiligten sich an einem Marsch im Zentrum der Millionenmetropole, etwa zehn Kilometer vom FIFA-Fanfest an der Copacabana entfernt. Die Polizei war mit einem massiven Aufgebot vor Ort. Es gab mindestens drei Festnahmen. Zuvor schon war es vor dem Eröffnungsspiel zwischen Brasilien und Kroatien zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei in São Paulo gekommen. Auch dort löste die Polizei die Proteste gewaltsam auf. Wenig später begannen sie an anderer Stelle, es folgten regelrechte Jagdszenen.
Jirka Grahl berichtet aus Brasilien.
Das nd-Feuilleton kommentiert.
Hintergründe, Reportagen, Ergebnisse.
Alles zur Fußball-WM gibt es hier
Die Demonstranten hatten ein Transparent mit der Aufschrift »Wenn wir keine Rechte haben, wird es keine WM geben« ausgerollt. Ein Mann, der sich widersetzte, wurde mit Gummigeschossen beschossen und festgenommen. Brasilianische Medien berichteten zunächst von mindestens zwei verletzten Demonstranten und vier verletzten Journalisten, Augenzeugen berichteten von deutlich mehr. Die U-Bahn-Angestellten sagten wegen der Zwischenfälle zunächst ihre geplanten Streiks ab, was zu Auseinandersetzungen zwischen den unterschiedlichen Gruppen der Aufständischen führte.
Ein Demonstrant sagte der Nachrichtenagentur AFP, dass das Ziel der Demo die Besetzung des Stadions sei. Die Aktivisten wollen den WM-Start verhindern. »Brasilianer lieben den Fußball, aber wir brauchen diese WM nicht. Alle Brasilianer sollten sich erheben.« Am Mittag Ortszeit hatte sich die Lage halbwegs beruhigt. Vor allem das fordern die Demonstranten, die seit dem Confed Cup im Vorjahr immer wieder auf die Straße gegangen waren: Ein besseres Bildungs- und Gesundheitssystem sowie eine verbesserte Infrastruktur. Die milliardenschweren Investitionen in die Stadien, von denen viele nach der WM nicht ausreichend genutzt werden können, stellen für sie unverhältnismäßige Ausgaben am falschen Ort dar.
An der Copacabana selbst herrschte ausgelassene Karnevalsstimmung. Tausende Fans aus vielen WM-Teilnehmerländern zogen singend mit Fahnen und Nationaltrikots über die Strandpromenade. In Rio wird am 13. Juli das WM-Finale ausgetragen.
Derweil hat Bundestrainer Joachim Löw Verständnis für friedliche Demonstrationen bei der Fußball-WM in Brasilien geäußert. »Ich habe immer gesagt, ich unterstütze, was die Leute einfordern. Bildung, Gesundheitswesen, Erziehung - das ist elementar und auch für Brasilien die Zukunft«, sagte Löw am Donnerstag in Santo André. »Ich glaube schon, dass die Leute, die für so etwas eintreten, das Richtige tun - wenn es friedlich abläuft.« Die aktuellen Proteste habe er »nicht wahrgenommen«, sagte Löw. Agenturen/nd
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Redaktion nd-aktuell.de
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Gummigeschosse, Tränengas, Blendgranaten: Nach den Protesten in der WM-Eröffnungsstadt São Paulo ist es am Donnerstag auch in Rio de Janeiro zu Demonstrationen gekommen. Die Polizei ging hart gegen die Proteste vor.
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Brasilien, Fußball-WM 2014, Protestbewegung, Rio de Janeiro, Sao Paulo
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Politik & Ökonomie
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Politik
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/935767.wm-eroeffnungstag-proteste-in-sao-paulo-und-rio.html
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Arbeiten und leben im digitalen Kuhdorf
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Es träumen viele Großstädter davon, weit raus aufs Land zu ziehen. »Die Arbeit kann man auf dem Laptop mitnehmen«, sagt Frederik Fischer. Die Mieten sind dort viel niedriger als in Berlin und die Grundstücke kosten auch weniger. Trotzdem bleibt der große Ansturm auf die brandenburgischen Dörfer außerhalb des unmittelbaren Berliner Umlands bislang aus. Die jungen Leute aus der Kreativwirtschaft machen sich Sorgen, ob sie auf dem Dorf schnell Anschluss finden. Ob die alten Freunde aus Berlin wirklich zu Besuch rausfahren, das ist noch die Frage. Einmal im Sommer zum Grillen vielleicht. Aber das war es dann auch. Doch es gibt eine Lösung: Gemeinsam umsiedeln nach Wiesenburg/Mark im Landkreis Potsdam-Mittelmark. Auf dem Gelände eines alten Sägewerks am Bahnhof sollen 30 kleine Holzhäuser errichtet werden. Die Bewohner wollen zusammen leben und arbeiten und dabei das einbeziehen, was von dem Sägewerk noch übrig ist. Von dem Wort Kooperation ... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
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Andreas Fritsche
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Für Digitalpioniere soll sich ein Plätzchen auf dem Lande finden, beispielsweise in der Gemeinde Wiesenburg oder in der Stadt Wittenberge.
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Bahnverkehr, Berlin, Digitalisierung
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Hauptstadtregion
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Berlin
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Lokal denken, global ignorieren
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Eigentlich unglaublich, aber noch immer steht in Deutschland als Enddatum für die Verstromung von Braunkohle das Jahr 2038 wie einbetoniert. Klimapolitisch muss dies sehr viel früher sein, da es sich um die emissionsreichste Energiequelle handelt. Und spätestens ab 2030 dürfte der Betrieb dieser Kraftwerke nur noch ein Verlustgeschäft sein. Eigentlich ist das allen Beteiligten klar, doch es passiert bisher nichts. Die drei Ost-Kohleländer lehnen dies mit Blick auf mögliche lokale Verwerfungen kategorisch ab und wissen bisher den Kanzler auf ihre Seite. Jetzt wollen die Grünen einen Vorstoß starten, wie im Rheinland den Ausstieg vorzuziehen. Doch hier geht es eigentlich nur darum, das in Sachen Klimaschutz schwer ramponierte Image der Partei etwas aufzupäppeln. Solche taktischen Spielchen machen es der Kohlelobby natürlich einfach. Es geht nämlich nicht um ein Ja oder Nein in dieser Sache, sondern nur um das Wie. Ein beschleunigter Ausstieg braucht ein paar Änderungen bei den Fördermilliarden. Mit Blick auf die weltweiten Klimaschutznotwendigkeiten eigentlich keine schwierige Sache, die jedoch am Motto der politisch Beteiligten scheitert, das da lautet: lokal denken, global ignorieren.
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Kurt Stenger
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Die Grünen-Fraktion im Bundestag peilt an, den Kohleausstieg auch im Osten des Landes auf 2030 vorzuziehen. Die betroffenen Landesregierungen sind dagegen. Dabei geht es längst nicht mehr um das Ob, sondern um das Wie.
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Braunkohle, fossile Energie, Klimaschutz
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Meinung
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Kommentare Kommentar zum Braunkohleausstieg Ost
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2023-03-19T17:37:01+0100
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2023-03-19T17:37:01+0100
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2023-03-22T23:59:35+0100
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1171822.lokal-denken-global-ignorieren.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
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»Nicht über die Menschen hinweg«
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nd: Am heutigen Dienstag entscheidet das Bundesverfassungsgericht über die Rechtmäßigkeit des Eurorettungsschirms ESM, gegen den Sie und andere geklagt haben. Sind Sie zuversichtlich?
Huber: Mit relativ großer Sicherheit wird das Gericht die ESM-Verträge nicht für verfassungswidrig erklären. Doch es wird vermutlich dem Bundestag weitere Rechte einräumen. Das ist auch das, was wir hoffen.
Waren die mangelhaften Rechte des Bundestages der einzige Grund, warum Sie gegen den ESM klagten?
Wir gingen vor Gericht, weil es uns untragbar erschien, dass die Eurorettung über den ESM organisiert wurde. Denn dieser permanente Rettungsschirm ist eine Organisation, die nicht auf den europäischen Verträgen fußt und weder demokratisch legitimiert ist noch kontrolliert werden kann. Aus unserer Sicht wurden deshalb mit der Einführung des ESM rechtsstaatliche Prinzipien gebrochen.
Bereits im September 2012 haben die Karlsruher Richter z... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
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Redaktion nd-aktuell.de
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Roman Huber ist Geschäftsführer beim Verein Mehr Demokratie, der zu den Klägern gegen den Eurorettungsschirm ESM vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe gehört. Mit Huber sprach Simon Poelchau.
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Demokratie, ESM, Klagen
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Politik & Ökonomie
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Politik
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/927256.nicht-ueber-die-menschen-hinweg.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
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Neue Heimat für linken Ladenbesitzer
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Kurz bevor Hans-Georg Lindenau, kurz HG, mit seinem »Gemischtwarenladen für Revolutionsbedarf« aus der Manteuffelstraße 99 in Kreuzberg geräumt werden soll, haben Unterstützer eine neue Bleibe für ihn und seine Waren gefunden. Ein Happy End für den Rollstuhlfahrer, der in seinem Laden seit rund 30 Jahren Demo-Utensilien, linke Zeitschriften und Antifa-Sticker verkauft, ist das allerdings noch nicht: Der Vertrag ist laut der Nachbarschaftsinitiative »Bizim Kiez« bereits unterschrieben, allerdings erst ab dem 2. Mai 2017. Der Eigentümer bestehe dennoch auf einem Auszug am 22. September. Lediglich seine Möbel und Waren könne er im Keller lagern. Darauf will sich Lindenau aber nicht einlassen: Weil er nicht nur sein Geschäft, sondern auch sein Zuhause verlieren würde. Bis vor kurzem hatte er zwar noch eine Wohnung im ersten Stock über dem Laden, aber durch seine Gehbehinderung kam er dort nur noch schlecht hin und schlief im Laden. Um die zuletzt für den 9. August geplante Räumung aufzuschieben, ließ sich Lindenau auf eine Vereinbarung mit dem Eigentümer ein und übergab diesem seine Wohnung bereits im August. Die neue Ladenwohnung liegt nach Aussage Lindenaus in der Falckensteinstraße 46, am Hotspot zwischen Kreuzberg und Friedrichshain. Der bisherige Mieter hat einen befristeten Vertrag, der Ende April ausläuft. Die Räume müssen dann noch umgebaut werden: zur behindertengerechten Wohnung. Damit Lindenau bis dahin nicht obdachlos ist, hat sich »Bizim Kiez« an das Amtsgericht gewendet, mit der Bitte, den Räumungstermin auf nächstes Jahr zu verschieben. Bisher ohne Erfolg. Deshalb halten Unterstützer an Aktivitäten für die kommende Woche fest. Das Bündnis »Zwangsräumung verhindern« will am Dienstag den Eigentümer besuchen. »Wir setzen auf direkte Kommunikation«, sagte Sprecherin Sara Walther dem »nd«. Sie glaubt, dass die Räumung noch abzuwenden ist. Dann soll es eine große Party im Kiez geben. Das Haus in der Manteuffelstraße 99 wechselte in den vergangenen Jahren mehrmals den Besitzer. Diverse Räumungsversuche scheiterten. Aktuell wird das Haus saniert.
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Johanna Treblin
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Das Kreuzberger Geschäft für Demo-Untensilien und Antifa-Sticker »M99« soll im Mai in die Falckensteinstraße ziehen. Solange droht dem Besitzer die Obdachlosigkeit.
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Berlin, Räumung
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Hauptstadtregion
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Berlin
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https://www.nd-aktuell.de/artikel/1025803.neue-heimat-fuer-linken-ladenbesitzer.html?
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Per Chat zurück ins Erwerbsleben
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Als zu Beginn der 2000er Jahre die damalige rot-grüne Bundesregierung die Agenda 2010 einführte, waren zunehmende Verarmung und Verelendung die voraussehbaren Folgen für die Betroffenen. Wie außerordentlich schwierig es im Jahre 15 nach der Einführung von Hartz IV ist, die von jeglicher gesellschaftlicher Teilhabe endgültig Ausgegrenzten zurück in die Gesellschaft zu holen, belegt eine wissenschaftliche Studie, an der auch die Bundesagentur selbst beteiligt ist. Am Institut für Business Analytics der Universität Ulm untersuchen Forscher seit Langem, wie sich Teilnehmer einer sogenannten Peergroup, also eine Gruppe Gleichgesinnter mit denselben Interessen und Bestrebungen, per digitalem Chat austauschen, um gemeinsame Ziele zu erreichen. Forschungsleiter Mathias Klier nennt als positive Beispiele die Themen Abnehmen, Erziehung und Gesundheit. In einem Vorprojekt mit der Bundesagentur für Arbeit habe man festgestellt, dass digitale Peer-Gruppen auch Jugendlichen bei der Arbeits-, Ausbildungs- und Studiensuche helfen. Daraus, erklärt der Inhaber der Péter-Horvát-Stiftungsprofessur für Betriebswirtschaftslehre (BWL) gegenüber »nd«, sei die gemeinsame Idee für das Projekt DIGIPEG entstanden: Ein freiwilliges Angebot, den digitalen Peer-Gruppen-Austausch auch älteren Arbeitslosen über 50 zugänglich zu machen. Der Chat in den Gruppen mit bis zu 30 Teilnehmern erfolgt anonym. Interessierte können sich eine bestimmte App auf ihr Smartphone oder ihren Laptop herunterladen und zu jeder Tages- und Nachtzeit miteinander kommunizieren, ohne Namen, Adressen oder andere private Informationen von sich preisgeben zu müssen. Ein Moderator oder eine Moderatorin von der Arbeitsagentur unterstützt bei Problemen oder beantwortet Fragen zu Fortbildungsmöglichkeiten, finanzieller Unterstützung und ähnlichem. Die Teilnehmer sollen von ihren gegenseitigen Erfahrungen profitieren, eine gemeinsame Motivation entwickeln oder Unterstützung erfahren, die anders schwer zu finden ist. Alle Teilnehmer müssen jeweils zu Beginn und am Schluss des dreimonatigen Projektes einen Fragebogen ausfüllen. Die Wissenschaftler der Uni Ulm werten dann die Inhalte der anonymen Chats aus. Bisher haben an dem Projekt, das auch das baden-württembergische Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau mit knapp 200 000 Euro unterstützt, rund 500 »Kunden« aus 15 baden-württembergischen Arbeitsagenturen in 25 Chatgruppen teilgenommen, so eine wissenschaftliche Mitarbeiterin. Wirtschaftsmathematiker Mathias Klier zeigte sich gegenüber »nd« beeindruckt von den ersten Zwischenergebnissen: »Die Teilnehmer der digitalen Peer-Gruppen verbessern ihre Bewerbungsaktivitäten signifikant und werden häufiger zu Bewerbungsgesprächen eingeladen.« Konkret stieg die mittlere Zahl an abgeschickten Bewerbungen unter den Teilnehmenden im Schnitt um 40 Prozent an, die Zahl an Bewerbungsgesprächen verdoppelte sich. Diese Entwicklung wurde wissenschaftlich unter Einbezug einer Kontrollgruppe analysiert, die für beide Größen eine konstante Entwicklung aufwies. »Somit konnten signifikant positive Effekte der digitalen Peer-Gruppen-Beratung nachgewiesen werden«, erläutert der Forschungsleiter. In Zeiten der Pandemie mit geschlossenen Arbeitsagenturen und Jobcentern, in denen Langzeitarbeitslose nicht wie sonst in regelmäßigen Abständen zur Überprüfung ihrer Bewerbungsaktivitäten eingeladen werden können, liegt es nahe, die Chatmöglichkeiten auch Hartz IV Empfängern zu ermöglichen, dachten sich Forschung und Verwaltung. Die Resonanz hierauf hatten sie sich allerdings etwas anders vorgestellt. Ausgewählt wurde das Jobcenter Breisgau-Hochschwarzwald mit 240 registrierten Langzeitarbeitslosen über 50 Jahren. Wie Dagmar Manser, Geschäftsführerin des Jobcenters auf nd-Anfrage mitteilte, wurden alle infrage kommenden Personen angeschrieben, über das Projekt informiert und gebeten, sich zu beteiligen. »Ungefähr fünf«, so die Geschäftsführerin, waren letzten Endes dazu dann auch bereit. Man habe das Vorhaben dann auf vier weitere Jobcenter im Land ausweiten müssen, um überhaupt eine chatfähige Größe zusammenzubekommen. So konnte man am 5. Oktober immerhin mit 13 Teilnehmenden beginnen, und bis Ende Oktober konnten noch einmal sechs weitere Personen zum Mitmachen überredet werden. Gefragt nach den Gründen sagte die Geschäftsführerin: »Die Benachrichtigungen erfolgten kurzfristig mit wenig Vorlauf. Insbesondere bei freiwilligen Maßnahmen gibt es immer sehr wenig Resonanz, vor allem bei denjenigen, die schon länger im Leistungsbezug sind. Hätte man die Möglichkeit gehabt, die Leute vorher noch einzuladen, wäre die Resonanz sicher größer gewesen«, ist sich Dagmar Manser sicher. Etwas skeptischer in Bezug auf die Resonanz der Beteiligung von Hartz-IV-Empfänger und dem Gesamtprojekt gegenüber ist Inge Zeller, Beraterin der Freiburger Initiative gegen Arbeitslosigkeit. »Langzeitarbeitslose sind weitestgehend finanziell nicht dazu in der Lage, sich mit den notwendigen Geräten auszustatten, um an solchen Projekten teilzunehmen. Außerdem fehlt ihnen natürlich die Kenntnis und das Know How, um an digitalen Projekten zu partizipieren«, berichtete Inge Zeller aus der Praxis. Mit Blick auf die zugesicherte Anonymität ruft die Beraterin zur Vorsicht auf. Zudem sei grundsätzlich nicht nur zu fragen, wie viele der Erwerbslosen vermehrt zu Vorstellungsgesprächen eingeladen würden, sondern auch, wie viele tatsächlich eingestellt werden und zu welchen Konditionen. Grundsätzlich werde die Bezahlung nämlich immer schlechter, je länger die Betroffenen keine neuen Stellen fänden.
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Dirk Farke
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In Baden-Württemberg wird derzeit getestet, ob Langzeiterwerbslose durch digitale Chatgruppen effektiver Bewerbungen schreiben. Das Projekt stößt bei Betroffenen jedoch auf wenig Resonanz. Auch die Wirksamkeit ist strittig.
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Arbeitsagentur, Arbeitslosigkeit, Digitalisierung, Hartz IV
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Politik & Ökonomie
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Wirtschaft und Umwelt Arbeitslose
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1144746.arbeitslose-per-chat-zurueck-ins-erwerbsleben.html
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Klimaerwärmung tut jetzt schon weh
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Hunderte Expertinnen und Experten der Arbeitsgruppe zwei des Weltklimarates, des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) sitzen seit einer Woche virtuell zusammen, wägen Satz für Satz ab und haben noch eine ganze Woche mit Debatten vor sich. Etwa alle sechs Jahre legt der Weltklimarat einen umfangreichen Bericht vor, der den Stand der Forschungen zum Klimawandel zusammenfasst, der seine Folgen benennt und die Möglichkeiten, den Planeten zu schützen. Am 28. Februar soll vom sechsten IPCC-Sachstandsbericht der zweite Teil erscheinen. Über den beugen sich gerade die Fachleute der Arbeitsgruppe zwei, vor allem über den wichtigsten Teil: die Zusammenfassung für Politiker. Beim Klimaschutz geht es im Kern immer um zwei Dinge, im Englischen mitigation und adaptation genannt. Mitigation - das meint in der ursprünglichen lateinischen Wortbedeutung, etwas zu besänftigen, zu mildern oder zu lindern. Aufs Klima bezogen bedeutet mitigation, die Ursachen für den Klimawandel zu beseitigen. Also vor allem die zivilisatorischen Emissionen von Treibhausgasen zu reduzieren, zunächst auf null; und später Treibhausgase aus der Atmosphäre wieder herauszuholen und auf diese Weise sogenannte negative Emissionen zu erzeugen. Doch selbst wenn es gelingt, die Erderwärmung auf zwei Grad oder weniger zu begrenzen, hat der Klimawandel bereits Folgen für das menschliche Leben. An dem Punkt kommt die zweite Säule des Klimaschutzes ins Spiel: adaptation, Anpassung. Hier geht es darum, sich mit den Änderungen des Klimas zu arrangieren oder so darauf einzustellen, dass zivilisatorische Schäden so weit wie möglich vermieden oder auch entstehende Chancen genutzt werden können. Der in Endredaktion befindliche zweite Teil des sechsten IPCC-Berichts beschäftigt sich vor allem mit diesen Folgen des Klimawandels und den Möglichkeiten, sich daran anzupassen. Frohe Botschaften stehen nicht ins Haus. Wie kein anderer zuvor werde der neue Bericht zeigen, »wie sehr sich die Welt aufgrund des Klimawandels schon verändert hat und mit welchen katastrophalen Klimarisiken wir in Zukunft rechnen müssen - je nachdem, wie schnell und wie weit wir den Ausstoß der Treibhausgase senken«, stimmte Hans-Otto Pörtner, einer der beiden Co-Vorsitzenden der Arbeitsgruppe zwei, kürzlich bei einem Pressegespräch des Deutschen Klima-Konsortiums auf das zu Erwartende ein. Nicht allein, weil er Klimafolgen wie Hitze, Dürre, Niederschlagsextreme oder neue Krankheitserreger behandelt, wird der neue Bericht für Furore sorgen. Diesmal würden die Wissenschaftler die Zusammenhänge zwischen Mensch, Klima und Natur »in sehr viel engerer und deutlicherer Weise« als früher darstellen, charakterisiert Pörtner die neue Qualität. In der Klimadebatte dominiert für den Meeresbiologen vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung noch das »Silodenken«. Was er meint, lässt sich anhand der Ansprüche illustrieren, die derzeit zum Beispiel an die Landnutzung gestellt werden. Windkraftbetreiber wollen berechtigterweise mehr Fläche - aber auch Naturschützer, um die Artenvielfalt zu retten, oder die Bundesregierung, die jedes Jahr 400 000 Wohnungen neu bauen will. Für Pörtner ist es aber auch eine Art »Silodenken«, wenn heute beispielsweise 70 Prozent der globalen Ackerfläche für die Produktion von Tierfutter genutzt werden. »Wir brauchen etwa zehn Kilo Pflanzenmasse, um ein Kilo Tierfleisch zu erzeugen«, rechnet er vor. Mit einer konsequenten Umstellung der Ernährungsweise täte die Menschheit nicht nur direkt etwas für den Klimaschutz, weil Emissionen von Methan und Lachgas aus der Tierhaltung zurückgingen - zugleich würde viel Landfläche für Biodiversität, Arten- und Flächenschutz gewonnen und natürlich auch zur Produktion solcher Lebensmittel, die nicht den Umweg übers Tier nehmen müssen. Für Pörtner wird auch die Speicherung von Kohlendioxid noch viel zu sehr aus dem »Silo« Technologie betrachtet. Im Klimaziel der EU - Klimaneutralität bis 2045 - sei bereits ein Prozentanteil an CO2 eingerechnet, der in natürliche Ökosysteme »verpackt« werden soll. So ein Vorgehen setze ja voraus, so Pörtner, dass die Ökosysteme das Speichern auch hinbekämen. »Wir haben aber jetzt schon eine Dämpfung wichtiger CO2-Speichersysteme wie des Regenwaldes und borealer Wälder«, warnt der Biologe. Das seien Warnzeichen. »Es gibt nicht mehr die Schublade, wo man CO2 hineintun kann, sondern man muss diese Schublade hegen und pflegen«, erklärt er. Verlässt man das »Silo«, dann erkennt man, so formuliert es Pörtner, »zwanghafte Abhängigkeiten« und »gegenseitige Beeinflussungen«. Anders gesagt: Mensch, Klima und Natur hängen enger zusammen, als wir das bisher gedacht haben - und danach gehandelt haben wir schon gar nicht. Vom Hegen und Pflegen kann derzeit nicht die Rede sein, beklagt Josef Settele, Leiter der Naturschutzforschung am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) in Halle. Der menschengemachte Klimawandel bedrohe zunehmend die heutige Natur, warnt er. Settele hat dabei nicht allein die großen, sichtbaren Zerstörungen durch Dürren, Hitzewellen oder Waldbrände im Blick. Schon kleinere, durch veränderte Temperaturabläufe zeitlich verschobene Aktivitäten reichten aus, um die Natur aus ihrem Gleichgewicht zu bringen. Als Beispiel nennt er die Flugzeiten von bestäubenden Insekten, die häufig nicht mehr mit den klimabedingt verschobenen Blühzeiten der Pflanzen übereinstimmen. Dann fliegen die Bestäuber zu früh oder zu spät aus. Settele fordert, 30 bis 50 Prozent der kontinentalen Lebensräume sowie der Weltmeere unter Schutz zu stellen, um den Rückgang der Artenvielfalt aufzuhalten. Dies sei »keine utopische Zahl«, wenn man unterschiedliche Schutzkategorien einbeziehe. Es gehe nicht nur um Totalreservate, sondern auch um geschützte Kulturlandschaften. Dass diese Forderung für viele Wirtschaftstreibende ein Affront ist, ist dem Wissenschaftler sicher klar - nur gibt es, wie Settele durchblicken lässt, wohl keine Alternative. »Wer die Zusammenhänge von Klima, Natur und den Lebensgrundlagen des Menschen ignoriert, wird keine Erfolge beim Klimaschutz feiern«, betont der Ökologe. »Was den Rückgang der Biodiversität aufhält, nützt auch dem Klimaschutz.« Auch in städtischen Regionen werden Klimaschutz und Klimaanpassung noch weitgehend getrennt betrachtet, bekräftigt Daniela Jacob, Direktorin des Climate Service Center Germany, das im Auftrag der Bundesregierung die Ergebnisse der Klimaforschung für Deutschland sammelt und aufbereitet. Beim Klimaschutz gehe es meist um die »Stadt der kurzen Wege«, den Ausbau des öffentlichen Verkehrs oder energieeffiziente Gebäude - und beim Thema Anpassung eben um Hitzeperioden oder den Umgang mit Starkregen. Jacob plädiert dafür, beides zusammenzudenken, beispielsweise die »blaue«, auf den Wasserhaushalt ausgerichtete Infrastruktur der Städte mit der »grünen«, auf Bäume und Grünflächen ausgerichteten. Es gehe ihr um ein intelligentes, grünes Bauen, sagt sie. In Städten sei ein Verbundnetz von Grünflächen und Gründächern denkbar. Natürliche Verschattungen könnten die Sonnenwirkung abschwächen und zugleich den häuslichen Kühlbedarf und die dafür benötigte Energiemenge senken. Tatsächlich wären schon heute klimapolitische Doppel- und Mehrfacheffekte in der Kombination von Natur und Technik möglich. Fassaden, die vor Hitze schützen, könnten zugleich mittels Fassaden-Fotovoltaik Strom erzeugen. Unter Fotovoltaik-Dachanlagen könnte es grün sprießen. Dasselbe gilt für Landschaften. Nicht nur Windkraft, auch Fotovoltaik könnte weiterhin genutzte Agrarflächen überspannen oder auch - die neueste Idee - renaturierte Moorflächen. Ein faszinierendes Konzept: Der größte Teil einstiger Moore in Deutschland wird heute als Grünland genutzt - als Weide oder zur Futtergewinnung für Rinder. Eine Umstellung der Ernährung auf weniger Fleisch und Kuhmilch, wie sie Hans-Otto Pörtner vorschwebt, würde es erleichtern, einen Großteil der Moore aus der Nutzung zu nehmen, sie wiederzuvernässen und als natürlichen CO2-Speicher zurückzugewinnen. Käme dann noch Fotovoltaik obendrauf, ohne den Moorschutz zu beeinträchtigen, ergäbe das eine bisher nicht gekannte natürlich-technische CO2-Senke. Öko-Puristen mögen hier die Nase rümpfen. Doch die Natur so zu erhalten, wie wir sie derzeit noch kennen, wird ohnehin kaum möglich sein. »Organismen sind auf bestimmte Klimaeigenschaften und Temperaturfenster spezialisiert. Das ist für die künftige Planung von Renaturierungsmaßnahmen ein wichtiger Punkt«, gibt Pörtner zu bedenken. »Einfach anzunehmen, wir könnten Historisches wiederherstellen, wird in manchen Fällen zu kurz greifen.« Waldexperten in Deutschland rätseln zum Beispiel gerade, welche Bäume für Klimaverhältnisse geeignet sind, wie sie in 20 bis 30 Jahren in Deutschland herrschen werden. Weder weiß man genau, wie stark sich dann das regionale Klima verändert haben wird, noch welche Bäume für die neuen Bedingungen geeignet sein könnten. Um das herauszufinden, müsste man eine Vielzahl von Bäumen über lange Zeiträume testen - Zeit, die Menschheit und Natur nicht mehr haben, wenn der Klimawandel seine derzeitige Dynamik behält. Bei allen Bemühungen um Natur und Biodiversität muss - da lassen auch die Klimaexperten keinen Zweifel - der klassische Klimaschutz weiter die erste Rolle spielen. Josef Settele: »Erfolge werden sich erst einstellen, wenn wir den Einsatz fossiler Brennstoffe massiv reduzieren. Daran führt kein Weg vorbei. Die Emissionen komplett zu kompensieren, ist nicht zu schaffen.« Auch für Pörtner ist die CO2-Reduktion die entscheidende Voraussetzung, damit es überhaupt eine Zukunft gibt. Aus dem Zusammenspiel veränderter Temperaturen und dem noch verfügbaren globalen CO2-Budget ergibt sich für den IPCC-Experten eine knapp bemessene Frist, in der sich noch eine vernünftige Klimapolitik betreiben lässt und die Gesellschaften resilient, widerstandsfähig gegenüber dem Klimawandel, werden können. Und für ihn ist die Botschaft des kommenden neuen Kapitels des Weltklimaberichts ziemlich eindeutig: »Das Zeitfenster für eine klimaresiliente Welt schließt sich.« Auch Daniela Jacob warnt. »Wir können uns nicht an alles anpassen, insbesondere, wenn wir über drei Grad globalen Temperaturanstieg hinauskommen. Dann haben wir regional bis zu sechs Grad plus - und dann ist Schluss.« Dann geht es nicht mehr um Klimaschutz und -anpassung, sondern ums blanke Überleben der Zivilisation.
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Jörg Staude
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Am 28. Februar soll der zweite Teil des sechsten Sachstandsberichts des Weltklimarats IPCC erscheinen. Schon im günstigsten Falle einer 1,5-Grad-Erwärmung wird es schmerzhafte Veränderungen geben.
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CO2, IPCC, Klimaschutz, Klimawandel
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Feuilleton
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Wissen Klimawandel
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2022-02-18T16:32:29+0100
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2022-02-18T16:32:29+0100
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2023-01-20T19:14:39+0100
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Eon will 380 Millionen Schadenersatz für Atom-Moratorium
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Berlin. Der Energiekonzern Eon fordert von der Bundesregierung 380 Millionen Schadenersatz für das dreimonatige Atom-Moratorium nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima. Dabei gehe es um entgangene Gewinne wegen der Abschaltung der Kernkraftwerke Unterweser (Niedersachsen) und Isar 1 (Bayern), sagte ein Sprecher am Mittwoch. Die Klage sei beim Landgericht Hannover eingereicht worden, weil hier der Sitz der Kernkraft-Sparte i... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
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Redaktion nd-aktuell.de
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Für den Atomausstieg will sich Eon von der Bundesregierung fürstlich entschädigen lassen. Verfassungsbeschwerde hat das Unternehmen neben anderen ebenfalls eingereicht - damit geht es um mehrere Milliarden Euro.
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Atomkraft, Atommüll, Eon, Klagen, Wirtschaft
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Politik & Ökonomie
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Wirtschaft und Umwelt
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Chaos und Ruhe in der Ukraine
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Großes Chaos - nur so lässt sich der Zustand zusammenfassen, in dem sich am Dienstag die ukrainischen Regierungsbehörden befanden. Am Vortag hatte das Parlament die Ausrufung des Kriegsrechts angesichts der Zuspitzung der Krise am Asowschen Meer in zehn ukrainischen Regionen beschlossen. Allerdings war man sich selbst bei der Präsidialverwaltung und im Sicherheitsrat nicht sicher, wann der Kriegszustand wirklich in Kraft treten soll - dazu gab es letztlich völlig unterschiedliche Angaben. Am Mittwochmorgen klärte sich die Frage: Sowohl der Parlamentsvorsitzender Andrij Parubij als auch Präsident Petro Poroschenko unterzeichneten das entsprechende Gesetz. Darin begann das 30-tägige Kriegsrecht offiziell jedoch bereits am Montag, und wird somit vorerst bis zum 26. Dezember dauern. Bisher hat sich aber für den Durchschnittsukrainer in den zum Kriegszustand ausgerufenen Gebieten so gut wie nichts geändert. Konkret heißt das: Die Bürger dürfen frei ein- und ausreisen, kulturelle und sportliche Events sollen zumindest aus Kiewer Sicht wie geplant stattfinden. Eine Sperre ist nicht vorgesehen - und die Bürger müssen auch nicht immer ihren Pass mitnehmen, um sich ausweisen zu können. Dem Gesetz zufolge können die Bürgerrechte und die Pressefreiheit aber jederzeit eingeschränkt werden, eine konkrete Grundlage muss nicht vorliegen. Auch beim Thema potenzielle Mobilmachung bleibt alles beim Alten: Vorerst wird sie nicht durchgeführt. Allerdings müssen Auto- und Busfahrer bei der Einreise ins Kriegsrechtsgebiet mit Checkpoints rechnen - und alle Ausländer, die sich dort befinden, sollen sich bei der Migrationsbehörde registrieren. Besondere Restriktionen werden vor allem russische Staatsbürger betreffen: bei der Grenzkontrolle mussten sie bisher ohnehin schon mit längeren Befragungen als üblich rechnen. Seit Montag verweigert die Ukraine nun mehreren Russen die Einreise. Am Dienstag bestätigte Petro Poroschenko in einem Interview mit dem Nachrichtensender CNN, dass neue Regeln für die Einreise der Russen während des Kriegsrechts derzeit erarbeitet würden. Das diesbezügliche Dokument soll Poroschenko zufolge noch am Mittwoch veröffentlicht werden. In Poltawa, 345 Kilometer östlich von Kiew, aber nicht zur Kriegsrechtszone gehörend, mussten bereits die Fußballfans die schmerzhaften Folgen des Kriegszustandes spüren. Das viel erwartete Spiel der Europa League zwischen dem örtlichen Worskla und Arsenal London wurde vom europäischen Verband UEFA aus Sicherheitsgründen nach Kiew verlegt. In der Hauptstadt selbst ist die Stimmung zwar aufgeregter als sonst - und das Thema Kriegsrecht kommt fast in allen Alltagsgesprächen vor. Dennoch geht das normale Leben weiter, obwohl die Schlangen in Lebensmittelgeschäften und in Banken größer sind als sonst. Der Kurs der Nationalwährung Hrywnja ist derzeit instabil und ändert sich mehrmals täglich, ein großer Kursverlust ist jedoch im Moment eher unwahrscheinlich. In der öffentlichen Debatte wird wiederum vor allem darüber diskutiert, ob ein Kriegszustand, der de facto am Leben des Landes nur wenig ändert, überhaupt notwendig ist. Die mit dem Präsidenten Poroschenko in Verbindung gebrachten Politologen Olexij Holobuzkij und Taras Beresowez verteidigen die Ausrufung des Kriegsrechts offen. »Diese schnelle Entscheidung des Präsidenten hat das Land vor einer erneuten russischen Invasion gerettet«, meint Ersterer. »Das alles hat doch nichts mit einem echten Kriegszustand zu tun. Wenn man die erste Gesetzversion liest, dann ist sofort klar: Das einzige Ziel war und bleibt, den Wahlprozess zu beeinflussen«, kritisiert dahingegen Politologe Petro Oleschtschuk von der Kiewer Schewtschenko-Universität. »Viereinhalb Jahre nach der Annexion der Krim wird das Volk immer noch belogen.« Auf der annektierten Krim selbst behalten dagegen zumindest die offiziellen Behörden die Ruhe. »Das Kriegsrecht in der Ukraine enthält keine Gefahren für die Krim«, meint Sergej Aksjonow, Ministerpräsident der Republik Krim. »Dank der Unterstützung unseres Präsidenten Putin ist die Krim eine uneinnehmbare Festung. Niemand darf die russische Staatsgrenze verletzen.«
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Denis Trubetskoy, Kiew
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Das in der Ukraine eingeführte Kriegsrecht ändert am Alltagsleben der Menschen nicht viel - dennoch ist die Atmosphäre angespannt. Die Entscheidung des Präsidenten
Poroschenko ist umstritten.
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Russland, Ukraine
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Politik & Ökonomie
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Politik Kriegsrecht
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1106819.chaos-und-ruhe-in-der-ukraine.html
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Bangladeschs Presse hat nichts zu lachen
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Fragt man Syed Shukur Ali Shuvo nach dem Stand seiner Profession, erhält man zuerst den Eindruck, alles sei in Ordnung: »In unserem Land haben Journalisten keine ernsten Probleme«, sagt der Medienvertreter mit sichtlichem Stolz. »In unserem Land genießen wir Pressefreiheit.« Wenn einer wie Shuvo so etwas sagt, lässt dies aufhorchen: Er ist Journalist bei der führenden Presseagentur BSS und Präsident der Dhaka Reporters Unity, einem der größten Journalistenverbände in der Hauptstadt von Bangladesch. Shuvo räumt ein, dass es in der Natur des Journalismus liege, wenn es auch mal Probleme gebe. Teller und Rand ist der nd.Podcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch. Es gebe da verschiedene herausfordernde Themen. »Ich arbeite zur nationalen Sicherheit, ein heikles Feld. Außerdem ist es problematisch, wenn man jemanden persönlich angreift.« Dann werde sich diese Person wohl vor Gericht wehren. Beim ersten Hinhören mag es nach den üblichen Problemen klingen, mit denen Medienschaffende in einer liberalen Demokratie nun mal konfrontiert sind. Wobei in den vergangenen Jahren immer mehr kritische Stimmen betont haben, dass Bangladesch den Standards einer liberalen Demokratie kaum noch entspreche: Im Vorfeld der Wahlen im Januar waren zahlreiche Oppositionelle und Medienschaffende verhaftet worden. Die stärkste Oppositionspartei, die Nationale Partei Bangladeschs oder BNP, boykottierte die Wahlen letztendlich. Die NGO Reporter ohne Grenzen mahnte in einer Pressemitteilung: »In den letzten Monaten haben sich die Angriffe auf Journalisten vervielfacht und ein Klima des Terrors gefördert, das dem herrschenden Regime zugutekommt: Einige wurden ermordet, andere inhaftiert und Dutzende Reporter während ihrer Berichterstattung misshandelt.« Im Ranking der Pressefreiheit landet das südasiatische Land auf Rang 163 von 180 Staaten – und damit in der untersten Kategorie mit dem Attribut: »sehr ernste Lage«. Kaum eine Demokratie steht so schlecht da. Der Journalist Shuvo ist einer der Wenigen, der überhaupt bereit ist, etwas öffentlich zu dem Thema zu sagen. Aber auch er äußert sich nicht zu allem. Zu den Festnahmen zum Beispiel sagt er nichts. Wohl aber zu Fragen der Parteilichkeit, die in Bangladesch üblich sind: »Wenn ich zum Beispiel anfange, für deine Zeitung zu arbeiten, werde ich deinen Regeln folgen«, sagt er. Einige Medienbesitzer und -vertreter halten eher zur Awami League, die seit 15 Jahren an der Regierung ist. Andere dagegen zur oppositionellen BNP. »Ein guter Kollege von mir ist für die BNP. Ich bin für Awami. Aber wir haben keinen Streit. Wir sind doch beide Journalisten«, sagt Shuvo. Anderswo wird die Lage weniger entspannt beurteilt. Der Deutsche Leo Wigger zum Beispiel, der beim Berliner Thinktank Candid Foundation die Programme zu Südasien sowie Eurasien leitet und beim deutschen Fachmagazin »Zenith« im Redaktionsrat sitzt, beobachtet einen besorgniserregenden Trend: Aus der Zwei-Parteien-Demokratie ist ein De-facto-Einparteienstaat geworden. Auf die Frage, was dies konkret bedeute, sagt Wigger: »Die Awami League von Sheikh Hasina hat das Land eben ganz fest unter Kontrolle. Bürgerliche Freiheiten und Grundrechte werden immer weiter eingeschränkt, wie unter anderem auch die Pressefreiheit.« Wie es dann kommt, dass Medienschaffende selbst die Lage anders bewerten? Leo Wigger beobachtet eine Tendenz zur Selbstzensur. Zwar gebe es viele Medienschaffende, die »einen tollen, unabhängigen Job machen, obwohl die Bedingungen immer schwieriger werden«. Aber üblicher werde Schoßhundjournalismus. Etwas Ähnliches sagt Yusuf Saadat vom unabhängigen Thinktank Centre for Policy Dialogue. Im 1971 gegründeten Staat sei die Idee der Pressefreiheit noch eher jung – durch Gesetze nun allerdings zusehends beschränkt. Zunächst gab es nur staatliche Medien. In den 1990er Jahren ging es mit privaten TV-Sendern los. »Heute gibt es viele davon. Aber die Gesetze in Bangladesch verhindern, dass Nachrichten zum Beispiel die religiösen Gefühle der Menschen verletzen oder dem Image des Landes schaden könnten.« Und in so einem Umfeld seien Journalistinnen eher vorsichtig. Ein Problem: Das »Image des Landes« scheint in einem zusehends autoritären Staat oft gleichbedeutend mit der Regierung. So bleibt zu hoffen, sagen mehrere Beobachtende, ohne damit zitiert werden zu wollen, dass sich die Lage nun, wo sich die Awami League erneut die Macht gesichert hat, wieder etwas entspannt. Damit man vielleicht auch mal die Regierung oder Justiz offen kritisieren kann.
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Felix Lill
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Bangladesch ist eine stolze Demokratie. Doch wie in kaum einer anderen Demokratie weltweit werden kritische Stimmen unterdrückt. Die Pressefreiheit leidet darunter besonders.
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Bangladesch, Medienkritik, Pressefreiheit
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Politik & Ökonomie
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Politik Pressefreiheit
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2024-05-02T15:54:04+0200
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2024-05-02T15:54:04+0200
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2024-05-05T10:04:57+0200
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https://www.nd-aktuell.de/artikel/1181915.pressefreiheit-bangladeschs-presse-hat-nichts-zu-lachen.html
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»Reichsbürger«-Verdacht bei Sachsens Polizei
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Berlin. Auch in den Reihen der Polizei in Sachsen gibt es offenbar sogenannte Reichsbürger. Es liefen Ermittlungen gegen drei Polizisten, die »möglicherweise Verbindungen zu den ›Reichsbürgern‹ haben«, sagte Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Sollte sich der Verdacht bestätigen, wird es laut Tillich harte Konsequenzen geben. Fälle von »Reichsbürgern« in den Reihen der Polizei waren zuvor aus Sachsen-Anhalt und Bayern bekannt geworden. Die »Reichsbürger« lehnen die Bundesrepublik und damit auch ihre Gesetze und Institutionen wie die Polizei ab. Im Oktober hatte ein »Reichsbürger« in Bayern vier Polizisten mit Schüssen verletzt, einen von ihnen tödlich. Unterdessen kündigte der Innenminister des Landes, Markus Ulbig (CDU), ein rasches Waffenverbot für »Reichsbürger« an: »Wir müssen dafür sorgen, dass solche Typen nicht in den Besitz von Waffen kommen.« Ihnen sollten deshalb Waffenbesitzkarten entzogen werden. Ulbig will »Reichsbürger« überdies wegen »Überschneidungen mit Rechtsradikalen« stärker vom Verfassungsschutz beobachten lassen und fordert die Kürzung von Sozialleistungen: »Einerseits wird der Staat abgelehnt - aber wenn es darum geht, Sozialleistungen zu erhalten, sind viele Reichsbürger plötzlich in der Lage, das Geld zu holen«. AFP/nd
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Redaktion nd-aktuell.de
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Bayern, Polizei, Waffen
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Politik & Ökonomie
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Politik
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Verkehrswende im Schneckentempo
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Deutschland tut sich schwer mit seiner Verkehrswende. Die Zahl der zugelassenen Autos steigt weiter. Der Ausstoß von Treibhausgasen im Verkehr verharrt auf viel zu hohem Niveau. Der Umstieg auf Elektroautos verläuft nach wie vor zu schleppend und brach zuletzt erheblich ein, nachdem die Förderung von der Bundesregierung gestrichen worden war. Auch Deutschlands Politiker*innen sind immer noch wenig klimaverträglich unterwegs, zeigt der jährliche Dienstwagen-Check der Deutschen Umwelthilfe (DUH), den die Organisation am Montag vorgelegt hat. Der Fuhrpark der Ministerien in Bund und Ländern kommt demnach auf einen durchschnittlichen CO2-Ausstoß von 158 Gramm pro Kilometer. Das sind lediglich sieben Gramm weniger als vergangenes Jahr. Vor allem ist es sehr viel mehr, als eigentlich erlaubt wäre. Der EU-Grenzwert liegt bei 95 Gramm CO2 pro Kilometer. Der tatsächliche, von der DUH ermittelte Durchschnittswert liegt um zwei Drittel darüber. »Das ist eine sehr traurige Bilanz«, sagt Barbara Metz, Bundesgeschäftsführerin der Umwelthilfe. »Dieser Stillstand ist sinnbildlich für den gesamten Verkehrssektor, der beim Klimaschutz ebenfalls stagniert.« »Dieser Stillstand ist sinnbildlich für den gesamten Verkehrssektor, der beim Klimaschutz ebenfalls stagniert«. Schon zum 18. Mal führte die DUH die Umfrage durch. Insgesamt befragte sie 252 deutsche Bundes- und Landespolitiker*innen zu ihren Dienstwagen. Die besonders geschützten Fahrzeuge des Bundeskanzlers, des Vizekanzlers, des Verteidigungsministers sowie der Außen- und Innenministerin und der Minister für Gesundheit und Finanzen wurden, wie auch in den Vorjahren, nicht gewertet, damit Rückschlüsse auf die Panzerung der Fahrzeuge nicht möglich sind. Gepanzerte Autos von Landespolitiker*innen wurden hingegen einbezogen. Je nach ermitteltem CO2-Ausstoß der Dienstwagen vergab die DUH grüne, gelbe oder rote Karten. Grün bedeutet, der Ausstoß entspricht dem EU-Grenzwert oder liegt darunter. Eine gelbe Karte gab es, wenn der Grenzwert um weniger als 20 Prozent überschritten wurde. Rot, wenn die Überschreitung mehr als 20 Prozent betrug. »Politiker und Politikerinnen haben eine Vorbildfunktion, der müssen sie gerecht werden«, erläutert Metz die Idee, die dem Dienstwagen-Check zugrunde liegt. Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen. Von den 252 Befragten erhielten 162 eine rote Karte, 24 bekamen Gelb und 66 eine grüne Karte. Dabei legte die DUH den CO2-Ausstoß im realen Fahrbetrieb zugrunde, nicht die Herstellerangaben, die davon teils erheblich abweichen. Bei Plug-in-Hybriden orientierte sie sich an Studien des Thinktanks International Council on Clean Transportation (ICCT), nach denen diese Fahrzeuge vorwiegend mit leerer Batterie gefahren werden, und ermittelte deshalb den CO2-Ausstoß im reinen Verbrennermodus. Bei Elektroautos bezog sich die DUH auf aktuelle Angaben zum CO2-Gehalt des deutschen Strommixes. Auf Bundesebene gibt es nur zwei grüne Karten: für Entwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD) und Familienministerin Lisa Paus (Grüne). Die Grünen Steffi Lemke (Umwelt) und Cem Özdemir (Landwirtschaft) kommen mit jeweils 105 Gramm CO2 pro Kilometer nur auf Gelb. Rund doppelt so viele Emissionen verursachen hingegen die Dienstwagen der FDP-Minister*innen Volker Wissing (Verkehr), Bettina Stark-Watzinger (Bildung) und Marco Buschmann (Justiz). »Das ist enttäuschend«, sagt Metz. Auf Landesebene sind indes noch klimaschädlichere Fahrzeuge im Einsatz. Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner (CDU) und sein Parteikollege Hendrik Wüst, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, verursachen mit ihren Audi A8 jeweils rund 380 Gramm CO2 pro Kilometer und überschreiten damit den EU-Grenzwert um das Vierfache. Insgesamt sind die Politiker*innen von Union und FDP besonders emissionsreich unterwegs, die der Grünen hingegen besonders klimafreundlich. Vier von ihnen verzichten sogar auf einen eigenen Dienstwagen und nutzen stattdessen ein Dienstfahrrad oder Fuhrparkfahrzeuge. Das ist immerhin ein kleiner Fortschritt. Noch vor wenigen Jahren konnte die DUH bei ihrem Ranking keine einzige grüne Karte vergeben. Noch mehr Politiker*innen sollten keinen eigenen Dienstwagen mehr nutzen, fordert die Umwelthilfe, oder zumindest keine Plug-in-Hybride fahren. »Das sind Greenwashing-Fahrzeuge, die nur auf dem Papier gut abschneiden«, sagt Metz. Auch ein nach CO2-Ausstoß gestaffelter Umwelt-Malus könnte aus DUH-Sicht für klimafreundlichere Mobilität sorgen. In Frankreich gibt es diese Steuer, die bei der Erstzulassung eines Pkw einmalig fällig wird, bereits seit gut zwei Jahren, sie wurde jüngst verschärft – um mehr leichtere und emissionsarme Fahrzeuge auf die Straßen zu bringen.
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Verena Kern
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Der Co2-Ausstoß der Politiker*innen hat sich im Vergleich zum Vorjahr minimal verringert. Die Bilanz steht symbolisch für die deutsche Verkehrspolitik. Ein Lichtblick: Einige Grüne verzichten auf einen Dienstwagen.
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Verkehrspolitik
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Politik & Ökonomie
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Wirtschaft und Umwelt Dienstwagen
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2024-07-09T16:55:27+0200
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2024-07-09T16:55:27+0200
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2024-10-22T11:28:47+0200
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https://www.nd-aktuell.de/artikel/1183592.dienstwagen-dienstwagen-check-verkehrswende-im-schneckentempo.html
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Autobahnplanungen »auf Biegen und Brechen«
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Die Planung der Stadtautobahn-Verlängerung A 100 von Neukölln bis zum Treptower Park tritt in die entscheidende Phase. Ab heute startet im Berliner Congress Center (bcc) am Alex die Anhörung zu dem umstrittenen Projekt. Die Träger öffentlicher Belange, beispielsweise die Bezirke, als auch Umweltschutzverbände kommen zu Wort, ebenso die Bürger, die in Einwendungen ihre Vorbehalte und Einsprüche gegenüber den Planungen zu Ausdruck gebracht haben. Insgesamt gingen 2500 Einwendungen gegen den Weiterbau bei der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung ein, eine »ungewöhnlich hohe Zahl«, wie man dort eingestand. Dies zeige, dass die Planungen an den Bedürfnissen der Berliner vorbeigingen, so der Grünen-Landeschef Stefan Gelbhaar. Er glaubt auch nicht, dass die Senatsverwaltung inzwischen auf die Bedenken der Bürger eingegangen ist. Dafür war nach Ansicht von Harald Moritz von der Bürgerinitiative Stadtring Stadtring Süd (BISS), die seit Jahren ... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
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Bernd Kammer
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Heute startet Anhörungsverfahren zur Verlängerung der A 100 / Protest von Bürgerinitiativen und Umweltverbänden
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A 100, Autobahn, Bürgerinitiative, Umweltverbände
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Hauptstadtregion
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Brandenburg
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/159062.autobahnplanungen-auf-biegen-und-brechen.html
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Grüne Basis wählt konservativ
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Berlin. Die Basis hat gewählt: Die Grünen ziehen mit Cem Özdemir und Katrin Göring-Eckardt als Spitzenkandidaten in den Bundestags-Wahlkampf. Die Parteimitglieder entschieden sich damit in der Urwahl ihres Spitzenduos für einen bürgerlichen Kurs der Mitte. Eine Wahl hatten die Parteimitglieder nur bei den Männern: Parteichef Cem Özdemir, Fraktionschef Anton Hofreiter und der schleswig-holsteinische Umweltminister Robert Habeck bewarben sich. Auf den Frauenplatz gab es nur eine Anwärterin, Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt hatte ihren Platz im Spitzenduo damit sicher. Bei den Männern war das Votum dagegen äußerst knapp ausgefallen: Özdemir landete mit 35,96 Prozent nur 75 Stimmen mehr als Habeck, der auf 35,74 Prozent kam. Obwohl alle Grünen betonen, dass sie selbstständig in die Wahl gehen wollen, dürfte die Entscheidung als Wink in Richtung schwarz-grüner oder rot-rot-grüner Koalition gewertet werden. Allerdings haben beide Kombinationen derzeit in Umfragen keine Mehrheit. 2013 hatten die Grünen sich für eine rot-grüne Koalition ausgesprochen und eher enttäuschende 8,4 Prozent geholt. Göring-Eckardt, Özdemir und Habeck zählen zum eher bürgerlichen Flügel der Partei, Hofreiter gehört dem linken Parteiflügel an. Nun landen zwei »Realos« an der Spitze - für die Grünen ist das ungewöhnlich. »Der linke Flügel kann dann natürlich nicht das Ergebnis der Urwahl in Frage stellen, aber er muss dann inhaltlich Pflöcke einschlagen, um sichtbar zu bleiben«, sagte der Parteienforscher Oskar Niedermayer von der Freien Universität Berlin der Deutschen Presse-Agentur im Vorfeld. Dies könne im Wahlkampf zum Problem werden, denn wenigstens in der Endphase sollten Parteien geschlossen wirken. »Die Bevölkerung mag es nicht, wenn sie nicht weiß, wen sie eigentlich wählt.« Auch aus den Reihen der LINKEN gab es Äußerungen zum Wahlausgang. Bundesgeschäftsführer Matthias Höhn erklärte, die Chancen für ein mögliches schwarz-grünes Bündnis seien nun gestiegen. »Nur eine Stimme für DIE LINKE ist eine verlässliche Stimme gegen Seehofer & Merkel«, so Höhn in einer Erklärung. SPD und Grüne hielten sich offen, Merkel im Amt zu bestätigen. »Das kratzt an der Glaubwürdigkeit von Grünen und Sozialdemokraten.« Fast 60 Prozent der rund 61.000 Mitglieder haben sich an der Urwahl beteiligt. Das Urwahl-Verfahren haben die Grünen vor der letzten Bundestagswahl erstmals eingeführt, um Streit über die Kandidaten zu vermeiden. Beim letzten Mal gab es eine Überraschung, weil Göring-Eckardt sich gegen die Grünen-Promis Claudia Roth und Renate Künast durchsetzte. Diesmal gilt Habeck als Außenseiter. dpa/nd
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Redaktion nd-aktuell.de
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Mit Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir treten die Grünen mit zwei konservativen Vertretern im Spitzenduo zur Bundestagswahl an. Die Mitglieder haben entschieden - auch über die Ausrichtung ihrer Partei.
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Bundestagswahl, Grünen
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Politik & Ökonomie
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Politik
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1038959.gruene-basis-waehlt-konservativ.html
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Mehr Wolken beim Höhenflug
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Einen klaren Unterschied zwischen Lage und Erwartungen verzeichne der jüngste Konjunkturbericht, stellte bei dessen Vorstellung gestern Jan Eder, Hauptgeschäftsführer der Berliner Industrie- und Handelskammer, fest. Erstmals seit drei Jahren habe sich das Wirtschaftsklima etwas abgekühlt. Der Konjunkturklimaindex sank von 139 Punkten im Mai auf nun 127 Punkte im September. In Beziehung gesetzt werden dabei Geschäftslage und Erwartungen. Das Mittel der letzten zehn Jahre liegt bei 108 Punkten. Der heutige Wert sei, so Eder, »immer noch hervorragend«. Zur Verdeutlichung wählte er das Beispiel eines Segelfliegers. Der sei schön hoch gestiegen, sehe nun aber Wolken auf sich zukommen. Ob sie nichts oder neuen Aufwind bringen, vielleicht aber auch gemieden werden sollten, wisse man noch nicht so recht. Derzeit machten die Unternehmen gute Geschäfte, Verunsicherungen würden die weltwirtschaftliche Situation und die Schuldenkrise mit sich bringen, erläuterte Jan Eder. Trotz abgeschwächter Wachstumsaussichten will ein Viertel der befragten Unternehmen zusätzliches Personal einstellen. Lediglich ein Zehntel geht von Entlassungen aus. Jürgen Wittke, Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer, schaute noch etwas glücklicher drein. »Es ist Krise und keiner macht mit«, scherzte er. So konnte er von einem »stabilen Aufwärtstrend« berichten und einem Ansteigen des Geschäftsklimaindexes des Handwerks zum fünften Mal in Folge. Aktuell wurde der Rekordwert von 112, das sind zehn Punkte über dem Vorjahreswert, erreicht. Das Geheimnis des Erfolges sah Jürgen Wittke in gut aufgestellten und gesunden Betrieben, deren Zahl erstmals seit langem wieder steige. Die Branche habe den Strukturwandel im Anschluss an den Boom der Nachwende gemeistert. Eine besonders gute Lage herrsche im Gastgewerbe wegen des Touristenansturms und in der Bauwirtschaft. Hier seien nur bei öffentlichen Aufträgen Einbußen zu verzeichnen, sagte Wittke, und warnte vor einem Sanierungsstau.
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Klaus Joachim Herrmann
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Konjunkturbericht mit sehr guten Daten und weniger guten Erwartungen
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Berlin, Konjunktur, Wirtschaftswachstum
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Hauptstadtregion
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Brandenburg
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/209245.mehr-wolken-beim-hoehenflug.html
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Gerhart-Hauptmann-Schule kann geräumt werden
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Die besetzte Gerhart-Hauptmann-Schule in Kreuzberg kann geräumt werden. Das Landgericht gab einer Klage des Bezirks am Mittwoch statt. Dem Land Berlin als Eigentümer stehe das Recht zu, die Herausgabe der Räume zu verlangen. Die Bewohner könnten sich nicht auf ein dauerhaftes Wohnrecht berufen, eine Vereinbarung mit dem Bezirk sei nur eine vorübergehende Einigung zur Deeskalation gewesen. Eine Berufung gegen das Urteil ist möglich. Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann (Grüne) hatte bereits im Sommer vergangenen Jahres eine Räumungsklage eingereicht. Damals hatte sie erklärt: »Die Bewohner haben alles angeboten bekommen, was man sich vorstellen kann.« Unter anderem hätten sie abgelehnt, statt im ganzen Gebäude verteilt zu wohnen, auf eine Etage zusammenzurücken. Sie hätten außerdem gefordert, mietfrei im Haus zu wohnen. Das hätte für andere potenzielle Nutzer des geplanten sozialen Zentrums »Campus Ohlauer« »exorbitant hohe Mieten« bedeutet, die kein Träger habe zahlen wollen. Nach dem Urteil sagte Hermann am Mittwoch, bisher sei lediglich entschieden worden, dass in der Schule kein Wohnrecht bestehe. Der Bezirk werde den Bewohnern andere Räume anbieten. Die Schule war im Dezember 2012 von Flüchtlingsaktivisten aus ganz Deutschland besetzt worden, die zuvor auf dem Oranienplatz campiert hatten. Seitdem laufen Verhandlungen, bereits 2014 und 2015 hatte der Bezirks versucht, die Schule räumen zu lassen. Schließlich einigten sich Bewohner und Bezirk aber auf eine befristete Nutzung. Im Nordflügel richteten die Johanniter im vergangenen Jahr eine Notunterkunft ein, im Sommer zogen rund 100 Bewohner ein. Der Südflügel blieb besetzt. Dort soll nach Wunsch des Bezirks ein internationales Flüchtlingszentrum entstehen, in das auch Einrichtungen für soziale, juristische und gesundheitliche Beratung einziehen. Die Friedrichshain-Kreuzberger LINKE hatte im vergangenen Jahr die Räumungsklage als »Alleingang« der Grünen kritisiert. Die anderen Bezirksstadträte seien nicht in die Entscheidung einbezogen worden, das sei unüblich. »Wir haben immer auf den Verhandlungsweg gesetzt«, sagte am Mittwoch Lothar Jösting-Schüßler dem »nd«, stadtentwicklungspolitischer Sprecher der Linksfraktion. Er habe die Besetzer immer unterstützt. Aber die Situation habe sich verändert. »Ich bin nicht unzufrieden mit dem Urteil«, sagte er. Die Verhältnismäßigkeit stimme nicht mehr. Mit hoher Wahrscheinlichkeit lebten mittlerweile nicht mehr als zehn Menschen im Südflügel, das stehe in keinem Verhältnis zu den Kosten, die der Bezirk dadurch zu tragen habe. Die Besetzung sei ein wichtiges Symbol gewesen, doch die politische Bedeutung bestehe längst nicht mehr. Jösting-Schüßler hofft nun, dass die Bewohner die alternativen Wohnplätze, die der Bezirk ihnen anbiete, auch annehmen werden, um einer Räumung zuvorzukommen. Das scheint die linke Szene Berlins anders zu sehen. »Die Belagerungsfestspiele können erneut beginnen«, twitterte der kürzlich geräumte Neuköllner Kiezladen in der Friedelstraße 54.
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Johanna Treblin
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Bereits vor einem Jahr wurde Klage eingereicht. Jetzt urteilte das Landgericht Berlin, nach einer gescheiterten Räumung habe man sich auf ein befristetes Wohnrecht geeinigt - deshalb müssen die Bewohner nun raus.
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Asylpolitik, Berlin, Flüchtlinge, Gerhart-Hauptmann-Schule
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Hauptstadtregion
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Berlin
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1057142.gerhart-hauptmann-schule-kann-geraeumt-werden.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
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IOC plädiert für neue Testbehörde
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Pyeongchang. Als Konsequenz aus dem Dopingskandal in Russland will das Internationale Olympische Komitee (IOC) ein unabhängiges Antidoping-Testsystem aufbauen. Die IOC-Exekutive um Präsident Thomas Bach veröffentlichte in Pyeongchang am Donnerstag zwölf Vorschläge zur Zukunft der Welt-Antidoping-Agentur WADA und für die Struktur einer neuen Testbehörde. Die WADA müsse »gleichermaßen unabhängig von Sportverbänden wie auch von staatlichen Interessen« sein, hieß es in der Erklärung. Das IOC wolle deutlich machen, »dass es keinen Raum für Missverständnisse« auf dem Weg gebe dürfe, ein unabhängiges Antidoping-Testsystem voranzubringen, erläuterte IOC-Sprecher Mark Adams in Südkorea. Es gehe in der Erklärung zunächst vornehmlich um Prinzipien und weniger um Details. Pyeongchang, wo die IOC-Exekutive bis Freitag tagt, richtet die Olympischen Winterspiele 2018 aus. Die WADA soll den Vorschlägen zufolge von neutralen Vorsitzenden und Stellvertretern geleitet werden, die beide keine Funktion in staatlichen und sportlichen Organisationen haben. Bisher hatte das IOC immer die Unabhängigkeit von Nationen gefordert, nicht aber von Sportverbänden. Allerdings werden mit Ausnahme der Vorsitzenden und der Athletenvertreter alle restlichen Positionen in Vorstand und Aufsichtsrat weiter von Regierungen und Sportverbänden besetzt, weil sie die WADA finanzieren. Die Aufgaben der Agentur sollen die Auflistung verbotener Substanzen, die Beglaubigung von Testlabors und die Forschung umfassen. Sie soll auch einzelne Länder überprüfen können, ob sie regelkonform arbeiten. »Dies würde zu Chancengleichheit für alle Sportler weltweit führen«, prognostizierte das IOC. Nationale Olympische Komitees (NOK) sperren dürfte die WADA demnach aber nicht. Testpläne für Athleten sollen hingegen künftig von einer unabhängigen Behörde entwickelt werden, die dabei dann doch wieder mit den internationalen Sportverbänden zusammenarbeiten soll. Jeder Athlet müsse künftig eine Mindestzahl von Tests vorweisen, um an Weltmeisterschaften oder Olympischen Spielen teilnehmen zu können. Ob ein Testplan unangekündigte Trainings- oder nur Wettkampfkontrollen umfassen soll, ist noch ungeklärt. Er soll dann aber von den nationalen Antidoping-Agenturen vorgenommen werden, über deren Unabhängigkeit von den Staatsführungen wiederum die WADA wachen soll. Nach dem Willen des IOC würde bei positiven Fällen der Internationale Sportgerichtshof CAS über Strafen befinden, also nicht mehr - wie in einigen Sportarten noch immer üblich - die Verbände. Im Kampf gegen Doping im eigenen Land fordert derweil der ehemalige Chef des russischen NOK, Witali Smirnow, finanzielle Anreize für Kronzeugen. Dafür soll ein eigener Fonds eingerichtet werden, wie der jetzige Leiter der Antidoping-Kommission am Donnerstag der Agentur Interfax sagte. Der kanadische Sonderermittler Richard McLaren hatte in seinen Berichten im Juli und Dezember 2016 Beweise für staatlich gelenktes Doping in Russland zusammengetragen. Davon hätten mehr als 1000 russische Sportler profitiert. Die Führung in Moskau weist den Vorwurf des Staatsdopings zwar weiterhin zurück, doch laut Smirnow erfordere die Krise besondere Maßnahmen. Für Russland würde die Ermutigung sogenannter Whistleblower eine Kehrtwende bedeuten. Bislang gelten Kronzeugen dort eher als Verräter. dpa/nd
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Redaktion nd-aktuell.de
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Kampf gegen Doping soll unabhängiger von Nationen und Sportverbänden werden
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Doping, IOC, Russland
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Sport
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Sport
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