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»Jetzt wird auf einmal geschossen«
Dossenheim, idyllisch gelegen am Fuße des Odenwaldes, ist keine großen Kriminalfälle gewohnt. »Sonst ist es eine Sensation, wenn ein Fahrrad geklaut wird, jetzt wird auf einmal geschossen«, sagt ein Ladenbesitzer. Der 12 000-Einwohner-Ort ist Schauplatz eines Amoklaufs geworden. Der Fall heizt den Streit um Waffenbesitz an: Der Täter war Sportschütze. Der 71-Jährige rastete am Dienstagabend bei einer Versammlung von Wohnungseigentümern im Nebenraum einer Gaststätte aus. Laut Polizei fühlte er sich betrogen - es ging um die Nebenkostenabrechnung. Die Stimmung unter den Eigentümern war schon lange schlecht, der Streit ist wohl der Tropfen, der das Fass für den Täter zum Überlaufen brachte: Er wird aus dem Raum geworfen - und kommt mit einer großkalibrigen Waffe zurück. »Ich bring› Euch a... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Christine Cornelius, dpa
Eine Bluttat nahe Heidelberg facht die Waffendebatte neu an: Ein Mann verliert die Kontrolle, erschießt zwei Menschen und richtet sich selbst. Es ist ein Sportschütze, wieder einmal.
Amoklauf
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/830996.jetzt-wird-auf-einmal-geschossen.html
Mehr Menschen sollen Wohngeld bekommen
Wohl kaum einer hat etwas dagegen, wenn das Wohngeld steigt - aber vom Hocker reißt der Gesetzentwurf, den das Bundeskabinett am Mittwoch beschlossen hat, allenfalls den verantwortlichen Innenminister selbst: »Mit der Reform tragen wir dazu bei, dass Wohnen auch für einkommensschwache Haushalte bezahlbar bleibt«, sagte Horst Seehofer (CSU) in Berlin. Hinter diesen Satz dürften viele Menschen ein dickes Fragezeichen machen. Denn auch ein höheres Wohngeld wird bereits erfolgte oder kommende Mietsteigerungen lediglich abfedern. Vorgesehen ist, dass das Wohngeld für Haushalte, die es heute schon bekommen, im Schnitt um etwa 30 Prozent steigt. Ein Zwei-Personen-Haushalt hätte dadurch beispielsweise im Schnitt 190 Euro Wohngeld, statt bisher 145 Euro. Eine wichtige Neuerung ist, dass das Wohngeld künftig alle zwei Jahre an die Entwicklung von Mieten und Einkommen angepasst werden muss. Bisher hinkt es der Mietensteigerung hinterher, weil es nur selten erhöht wurde. Zudem soll eine neue Mietstufe für besonders teure Gegenden eingeführt werden. Dies ist entscheidend für die Höhe des Zuschusses. Etwa 660.000 Haushalte könnten im kommenden Jahr von dem staatlichen Zuschuss profitieren, teilt das Innenministerium mit. Das wären rund 180.000 mehr als bisher. Darunter sind auch 25.000 Haushalte, die durch die Erhöhung des Wohngelds nicht mehr auf Hartz IV oder Sozialhilfe angewiesen sein sollen. Wohngeld ist eine Leistung für Geringverdiener, die keine anderen Sozialleistungen erhalten. Es richtet sich nach dem Einkommen, der Zahl der Haushaltsmitglieder und den Mietpreisen in der Wohngegend. Bundestag und Bundesrat müssen der Novelle noch zustimmen. Bund und Länder finanzieren die Mehrkosten von 214 Millionen Euro je zur Hälfte. Die Gesamtausgaben steigen Seehofer zufolge von derzeit knapp einer Milliarde auf 1,2 Milliarden Euro im kommenden Jahr. Im Grundsatz wird das Vorhaben allseits begrüßt. Der Deutsche Mieterbund vermisst jedoch die Klimakomponente beim Wohngeld für Mieter teurer energetisch sanierter Wohnungen. Darauf hatten sich Union und SPD im Koalitionsvertrag verständigt. Zudem fordern Sozialverbände wie der SoVD ebenso wie die LINKE, die Anpassung des Wohngelds jährlich vorzunehmen. Die stellvertretende LINKEN-Fraktionschefin Caren Lay sprach von einem »Mini-Reförmchen, das den Mangel an Sozialwohnungen nicht ausgleichen kann«. Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund monierte: Auf Dauer sei es »keine Lösung, immer mehr öffentliches Geld in die überzogenen Renditeerwartungen von privaten Wohnungseigentümern und Miethaien zu pumpen«, so DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach. Mit Agenturen
Ines Wallrodt
Vom Wohngeld sollen künftig mehr Menschen profitieren als bisher. Das Kernproblem - steigende Mieten und knapper Wohnraum - wird dadurch freilich nicht gelöst.
Armut, Die Linke, Horst Seehofer, Mieten, Mietenwahnsinn, Wohnen
Politik & Ökonomie
Politik Sozialleistungen
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1118339.mehr-menschen-sollen-wohngeld-bekommen.html
BLOGwoche: Guttenberg und die Elite
Des Feldherrn zu Guttenbergs geklaute Diss regt die meisten Leute überhaupt nicht auf. Was die Leute aufregt, ist, wie jetzt auf dem armen Mann herumgehackt wird. (…) Es ist schon was dran: Der Plagiats-Vorwurf gegen Guttenberg ist zutiefst elitär, ein Debattierthema von Akademikern für Akademiker. Für eine Frisöse, für einen Altenpfleger, für einen Investmentbanker ist es nicht mehr als eine Petitesse von ungefähr der gleichen Tragweite, als hätte Guttenberg beim Abitur gespickt. (…) Sarah Palin in den USA macht es vor, welche unglaublichen Erfolge man mit diesem anti-elitären Ticket einfahren kann: Jeder Professor, der ihr Irrtüme... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Maximilian Steinbeis
Elite, Karl-Theodor zu Guttenberg
Feuilleton
Kultur
https://www.nd-aktuell.de//artikel/191824.blogwoche-guttenberg-und-die-elite.html
Sao Paulo: Tausende obdachlose Arbeiter protestieren
Berlin. Entgegen Berichten über eine angeblich angekündigte Demonstrationspause will die Bewegung obdachloser Arbeiter (MTST) während der WM in Brasilien doch Straßenproteste organisieren. Für die MTST sei die Mobilisierung auf der Straße ein nicht verhandelbarer Punkt. »Wir haben keinerlei Abmachung in diesem Sinne getroffen«, sagte der n... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Am Mittwoch haben in São Paulo Tausende Menschen gegen den Stadtentwicklungsplan für die Metropole und für die Lösung des Wohnungsprobblems demonstriert - sie folgten einem Aufruf der Bewegung obdachloser Arbeiter.
Brasilien, Fußball-WM 2014, Obdachlosigkeit, Protestbewegung, Sao Paulo, Wohnungsbau
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/936436.sao-paulo-tausende-obdachlose-arbeiter-protestieren.html
Streik an Universitäten in Großbritannien
London. Hunderte Professoren und Dozenten an Dutzenden Universitäten in Großbritannien haben am Donnerstag im Streit um eine Rentenreform die Arbeit niedergelegt. Sollte keine Einigung zustande kommen, droht die Gewerkschaft UCU den zweitägigen Streik auf bis zu 14 Tagen bis Mitte März auszuweiten. Betroffen sind davon laut Gewerkschaft bis zu eine Million Studenten. Die Hochschullehrer protestieren gegen eine geplante Rentenreform des Universitätsverbands Universities UK. Der Universitätsverband will mit der Reformein Loch von etwa 6,1 Milliarden Pfund in seiner Rentenkasse stopfen. dpa/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Großbritannien, Hochschulpolitik, Rentenpolitik, Streik
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1080343.streik-an-universitaeten-in-grossbritannien.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
»Azadi« heißt Freiheit
Der Nahe und Mittlere Osten ist in Bewegung. Ob Bagdad, Beirut oder Teheran: tiefgreifende Proteste erschüttern die dortigen Regime. In Iran waren schon 2018 Tausende auf der Straße, weil die Unterstützung für Bedürftige zusammengestrichen wurde und Lkw-Fahrer kein Geld bekamen. Heute sind die Proteste grundsätzlicher, weil die Erhöhung der Benzinpreise und der Lebenshaltungskosten ganze Teile der Bevölkerung ins Aus geschleudert hat. Das Internet wurde zeitweilig gesperrt, über hundert Menschen wurden getötet, noch viel mehr inhaftiert. Das Schweigen des sonst so großmäuligen Westens in dieser Situation ist unerträglich, denn diese Menschen, die in einer faktisch geschlossenen Gesellschaft dem Demonstrationsverbot trotzen, brauchen unsere unzweideutige und laute Unterstützung. Der brutal niedergeschlagene Protest zeigt, dass der Kredit der islamischen Republik verspielt ist. Die Wirtschaft ist ausgeblutet durch die korrupten Revolutionsgarden und ihres Revolutionsführers, der die Uhren zurückdrehen will. Wer noch glaubt, dass die Chance auf einen progressiven Aufbruch nun näher rückt, hat die Lektionen der letzten Jahrzehnte nicht gelernt. Iran hat keinen Plan B, der Rückfall in Zeiten einer abgeriegelten, noch aggressiveren Gesellschaft ist wahrscheinlicher. Daran hat der Westen, allen voran die USA mit ihrem irrlichternden Präsidenten, ihren Anteil. Mit Trumps verantwortungsloser Politik wurde erneut die Hoffnung vieler Iraner*innen auf Besserung ihrer Lage totgetreten. Das ist umso schlimmer, als wir in den letzten Jahren trotz aller Schwierigkeiten spürbaren Wandel erleben konnten. 2013 behandelte man die erste offizielle Delegation des EU-Parlaments wie heiße Kartoffeln, und doch taten sich uns Türen auf. Beim Besuch 2017 standen die Signale auf Kooperation. Hauptbotschaft war, das Antiatomabkommen einzuhalten. Kooperation mit Europa, Wirtschaftsbeziehungen, Austausch auf verschiedensten Feldern waren Themen. Man eröffnete einen ganzen Katalog zur Zusammenarbeit, weit über den Antiatom-Deal (JCPOA) hinaus. Mitten in diese Entwicklung hinein grätschten die USA mit ihrem Ausstieg aus JCPOA, obwohl die Iraner bis dahin sich an das Abkommen hielten. Die Sanktionen gegen Iran sind so radikal, dass der gesamte Öl- und Gashandel davon betroffen ist, mit 80 Prozent Haupteinnahmequelle aus Exporten Irans. Damit machten die USA jeden Warenaustausch auf Dollar-Basis unmöglich. Dieses Geschenk insbesondere an den regionalen Hauptrivalen Saudi-Arabien hat gravierende Auswirkungen auf das gesamte Leben der Bevölkerung in Iran. Dass bei den Wahlen 2020 die Moderaten weggestimmt und die Ultrakonservativen erneut an die Macht kommen, ist sehr wahrscheinlich. Das hätte Einfluss auf die gesamte Region. Deshalb ist der Kurs der USA gegen Iran kreuzgefährlich. Dennoch gilt es, zwei Strategien voranzutreiben. Zum einen alle Möglichkeiten auszuloten, das mühsam ausgehandelte JCPOA zu erhalten und die wirtschaftlichen Beziehungen zu Iran zu entwickeln. Zum anderen, die Rolle von Menschenrechten auf die Tagesordnung zu setzen. Das Fehlen demokratischer Grundrechte behindert die zivilisatorische Entwicklung des Landes. So muss jeder Zentimeter Bewegung schwer erkämpft werden, wie die Beendigung des absurden Verbotes für iranische Frauen, Fußballspiele in Stadien besuchen zu dürfen. Dass es für dessen Aufhebung Jahrzehnte brauchte, zeigt die Schwere der emanzipatorischen Kämpfe. Am 10. Oktober 2019, als Iranerinnen zum ersten Mal offiziell Tickets kaufen durften, spielte Iran in der WM-Qualifikation gegen Kambodscha und die Frauen waren unüberhörbar im Teheraner Fußballstadion, das den Namen »Azadi« trägt. »Azadi« heißt »Freiheit«.
Cornelia Ernst
Der Nahe und Mittlere Osten ist in Bewegung. Ob Bagdad, Beirut oder Teheran: tiefgreifende Proteste erschüttern die dortigen Regime. In Iran waren schon 2018 Tausende auf der Straße. Heute sind die Proteste aber grundsätzlicher
Frauen, Fußball, Iran, USA
Meinung
Kommentare Iran
2019-11-29T18:06:12+0100
2019-11-29T18:06:12+0100
2023-01-21T12:54:03+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1129384.iran-azadi-heisst-freiheit.html
Die Kumpel von rechts
22 Prozent der jungen Menschen würden AfD wählen. Das ist das Ergebnis der aktuellen Trendstudie »Jugend in Deutschland 2024«. Die über zehn Jahre hinweg liebevoll gepflegten Feindbilder stimmen nicht mehr. Würde die ach so linksgrünversiffte Jugend, mit ihren bunten Haaren und ihren verwirrenden Geschlechtsidentitäten, am Sonntag allein zur Wahl gehen, würden wir am Montag von einer braunschwarzen Koalition regiert. Die überall gescholtene Boomer-Generation, die lange als fleischgewordenes Fortschrittshindernis gezeichnet wurde, voller Hass gegenüber allem, was neu oder anders ist, zeigt sich hingegen als Bastion des Fortschritts und des Antifaschismus. Über die Gründe wird ein großes Rätselraten angestellt. Schnell sind einige mit Generationenschelte bei der Hand: Die heutige Jugend habe halt keine Resilienz, sei im Wohlstand aufgewachsen, heißt es mancherorts. Ob diejenigen, die in den üppigen 70ern und 80ern die Karriereleitern hochgepurzelt sind, hier die richtigen Resilienzprofis sind, sei dahingestellt. Die »tief sitzende mentale Verunsicherung«, die die Autor*innen der Jugend attestieren, werden solche Gesten alternder Kraftmeier wohl kaum heilen. Viel wahrscheinlicher ist, dass die AfD schlicht die einzige Partei ist, die junge Leute heute überhaupt wahrnehmen. Auf Tiktok werden 25 Prozent der politischen Accounts von den Blaubraunen gestellt; das Netzwerk sympathisierender Influencer*innen ist noch mal größer. Jede Bundestagsrede eines AfD-Abgeordneten, von den Redenschreiber*innen schon passgenau auf minutenlange Videoschnipsel hin formuliert, wird dort in Hunderte kleine Häppchen zerteilt, mit Musik und Grafikeffekten unterlegt, wieder und wieder gepostet. Andere Parteien tauchen nur in hämischen Zitaten von AfDler*innen auf. Leo Fischer ist Journalist, Buchautor und ehemaliger Chef des Satiremagazins »Titanic«. In seiner Kolumne »Die Stimme der Vernunft« unterbreitet er der Öffentlichkeit nützliche Vorschläge. Alle Texte auf: dasnd.de/vernunft Die Strategie ist perfide: Während der Spitzenkandidat für die Europawahl Maximilian Krah wegen seiner Spionageaffäre die analoge Öffentlichkeit meidet, stampft seine Social-Media-Maschinerie munter Video um Video aus der Erde. Auf Tiktok tritt er Freund der Jugend auf, wendet sich an verunsicherte junge Männer, die keine Freundin finden: Väterlich erklärt er ihnen, dass das an der Regierung liege, die traditionelle Männlichkeit bestrafe. Er gibt Tipps, wie man sich gegen »linke Lehrer« wehrt, und gibt sich überhaupt als »Kümmerer«. Die Strategie der 90er-NPD, wegbrechende Sozialsysteme und Gemeinschaften zu kompensieren, wird hier konsequent digital gedacht. Und was haben die anderen Parteien denn zu bieten, außer neoliberalen Floskeln? Wer sich auf die Programmseite der Grünen begibt, erhält erst mal ein Werbebanner mit dem Spruch »Werde aktiv!« Überall verlangen die progressiven Parteien von der Jugend Engagement, Aktivität, Einsatz für die bessere Welt – das junge Individuum soll richten, wo die alten Institutionen versagt haben. Das implizite Bedürfnis nach Frischfleisch für den Parteiapparat, nach billigen Plakataufhänger*innen trieft nur so aus den Zeilen. Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen. Jahrelang haben die Parteien auf »asymmetrische Demobilisierung« gesetzt – wenn nur unsere eigenen Leute zur Wahl gehen, reicht es schon für unsere Mandate! Lieber keine Inhalte, keine Kontroversen. Währenddessen hat die AfD stumpf Propaganda gemacht – und damit eine Jugend erreicht, für deren Zukunft diese Partei ganz sicher nichts Gutes bedeutet.
Leo Fischer
Die AfD ist die einzige Partei, die junge Leute heute überhaupt wahrnehmen. Jede Rede eines AfD-Abgeordneten wird von den Redenschreibern passgenau auf Videoschnipsel hin formuliert und in Häppchen mit Musik gepostet.
AfD, Digitalisierung
Meinung
Kommentare AfD
2024-04-26T15:20:12+0200
2024-04-26T15:20:12+0200
2024-04-29T17:56:23+0200
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1181803.die-kumpel-von-rechts.html
Kill your darlings
»Deutschland ist ein hochgeschätzter Nato-Verbündeter«, sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg kurz nachdem er in Berlin das Redaktionsschiff »Pioneer One« des Medienunternehmers Gabor Steingart bestiegen hatte. Er wurde nicht müde, dies auch weitere Male beim »Natotalk«, der jährlich von der Bundesakademie für Sicherheitspolitik und dem Presse- und Informationsamt der Bundesregierung ausgerichteten Expert*innenrunde, wieder und wieder vorzubringen. Künftige Kriegs- und Krisengebiete standen im Fokus der Veranstaltung, während vergangenes Scheitern zunächst pflichtbewusst abgehandelt wurde. Spreeauf, spreeab schipperte dafür am vergangenen Freitag ein Tross aus Journalist*innen, Verteidigungsexpert*innen und Politiker*innen. Der Gastgeber, dessen elektrisch angetriebenes Schiff als Veranstaltungsort ausgewählt wurde, ist dabei selbst Konservativen suspekt. Kürzlich kritisierte der ehemalige stellvertretende Regierungssprecher und einstige »Bild«-Politikressortleiter Georg Streiter, Steingart sei einer seiner »Lieblingsjournalisten in der Kategorie Angeber«. Er sei ein »Heuchler« und bewege sich dabei auch unterhalb der Gürtellinie. »Da unten – ganz tief unten – kennt Steingart sich bestens aus«, so Streiter. Als Redaktionsleiter buhlt Steingart in seinem erzkonservativen, oft polemischen Newsletter »Morning Briefing«, um Aufmerksamkeit. Jens Stoltenberg beklagte während der Schiffstour, die Situation an der Grenze zu Polen und Belarus verlange nach Bündnissolidarität, wie auch die Lage an der Grenze zur Ukraine. Der Generalsekretär forderte zudem von Russland einen transparenten Umgang mit Truppenbewegungen. Auch den Aufstieg von China nehme die Nato wahr. Nicht zu vergessen die zunehmenden Cyber-Angriffe, denen mit einem geschlossenen transatlantischen Auftreten begegnet werden müsse. Selbstverständlich respektiere man die territoriale Integrität der Ukraine und strebe Gespräche mit Russland an. »Zuversichtlich« zeigte sich Stoltenberg, dass sich die neue deutsche Regierung zur Nato, dem transatlantischen Bund, bekennen wird. Deutschland sei ein wichtiger Verbündeter und die größte Volkswirtschaft in Europa. »Was Deutschland tut, macht einen Unterschied«, meinte der Nato-Generalsekretär. Die simple Formel dahinter: Mehr Geld, mehr Rüstung und mehr Einsätze stehen auf dem Wunschzettel, der auch Atomwaffen enthält. »Nukleare Waffen mag niemand. Aber wenn andere sie haben, dann brauchen wir sie auch«, so Stoltenberg. Trotz des umfassenden und weitreichenden Blicks auf die anstehenden Konflikte zeigte man sich im weiteren Verlauf des Natotalk eher schmallippig, was das Scheitern auch des deutschen Partners in Afghanistan angeht. Während die deutsche Ankündigung der Podiumsdiskussion auf »strategische Lehren aus dem Afghanistan-Einsatz« hindeutete, sprach der englische Ankündigungstext unverblümt von »Afghanistan-Failure« – dem Versagen in Afghanistan. »Was in Afghanistan passiert ist, ist eine Tragödie für Afghanen«, so Nato-Chef Stoltenberg. Die Mission sei in Bezug auf verhinderten internationalen Terror aber dennoch ein Erfolg gewesen. »Kill your Darlings« lautete die Forderung des Chefs der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, Ekkehard Brose, der den internationalen Traum von Demokratien westlichen Zuschnitts nicht nur in Afghanistan für überdenkenswert hielt und so zur Abkehr riet. Die Ampel-Koalition müsse nachbessern, künftig brauche es ein »Team Red«, das sich dauerhaft schon während einer militärischen Maßnahme mit der Evaluation befasse und im laufenden Betrieb nachbessere. Wie dringend das notwendig ist, stellte das Verteidigungsministerium zuletzt anlässlich des Afghanistangedenkens unter Beweis. Nachdem Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) im Vorfeld mal von 150 000, mal von 160 000 deutschen Afghanistan-Soldat*innen sprach, bereinigte ihr Ministerium diese Zahlen zuletzt und rechnete Soldat*innen heraus, die an mehreren Einsätzen teilnahmen. Die Bilanz lag dann bei 93 000 Soldat*innen. Gastgeber Steingarts Redakteurin Marina Kormbaki sorgte sich bei der Afghanistan-Nachbetrachtung um die interkulturelle Kompetenz von Soldat*innen. Sie implizierte, die Bundeswehr sei abhängig von »möglicherweise interessengeleiteten Ortskräften« und solle Soldat*innen lieber selber sprachlich und interkulturell befähigen. Bundeswehrgeneral Markus Laubenthal forderte, Strategien zu entwickeln, um solche Einsätze »zu gewinnen« und räumte ein, die Armee sei Fremdkörper in Afghanistan gewesen.
Daniel Lücking
Beim »Natotalk« besprachen Verteidigungsexpert*innen Nato-Ziele, altes Scheitern und erklärten den Afghanistankrieg zum Erfolg. Nur eben nicht für Afghan*innen, denen man keine Lösung für die aktuelle Notlage bot.
Afghanistan, Annegret Kramp-Karrenbauer, Ekkehard Brose, Gabor Steingart, Jens Stoltenberg, Marina Kormbaki, Markus Laubenthal, Natotalk
Politik & Ökonomie
Politik NATO-Gespräch
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1158900.nato-gespraech-kill-your-darlings.html
Joachim Löw: Erlöser
Den Gedanken, der Joachim Löw in den letzten Stunden als Bundestrainer gekommen ist, hätte man ihm schon sehr viel früher gewünscht. Vielleicht müsse er all die Gefühle mal zulassen, sinnierte er nach dem Achtelfinalaus bei der EM am Dienstagabend gegen England. Einen Tag nach der »großen Enttäuschung« war die Eingebung zur Erkenntnis gereift. »Ich brauche emotionalen Abstand«, sagte der 61-Jährige auf seiner letzten Pressekonferenz nach »15 sehr langen Jahren«. Irgendwann im Sommer 2014 hatte Löw aufgehört zu reflektieren. Er kannte als Weltmeistertrainer nur noch ein Gefühl – der Beste zu sein. Verlieren kann man, gerade nach dem größtmöglichen Erfolg, es kommt nur darauf an, wie. Unter einem entrückten Bundestrainer fiel die deutsche Nationalmannschaft so tief wie noch nie. Aber selbst das historische Vorrundenaus bei der WM 2018 führten weder bei Löw noch beim Deutschen Fußball-Bund zum Umdenken. Die logische Konsequenz formulierte der gebürtige Schwarzwälder am Mittwoch dann in seinem bekannten badischen Tonfall: »Es ist nicht der Abschied, den wir uns alle gewünscht haben.« Joachim Löw ist zu wünschen, dass ihm die eigene Befreiung aus dem »Panzer«, den er sich zugelegt habe, gelingt. Dann kann er den Fußball, in welcher Funktion auch immer, zweifelsfrei wieder bereichern. So, wie es ihm ab 2004 erst als Taktikflüsterer von Jürgen Klinsmann und dann zwei Jahre später als Bundestrainer schon eindrucksvoll gelungen ist. Mit seiner damals erfrischenden Art und einer neuen, offensiven Spielidee hat er das Land vom Rumpelfußball erlöst, die DFB-Auswahl wieder in die Weltspitze geführt und schließlich den vierten Stern auf das deutsche Trikot gezaubert. Aus der Tiefe des Traumes. Joachim Löw will mit aller Macht siegen, auch gegen seine Kritiker. Aber die Schatten des Erfolgs sind lang Rückblickend wird es dieser große Sieg in Brasilien sein, den man mit dem Namen Löw verbindet. Für neue Erfolge braucht es, und das nicht erst seit gestern, neue Namen.
Alexander Ludewig
Für Joachim Löw ist das Aus im Achtelfinale der Europameisterschaft und als Bundestrainer eine Befreiung. Für den deutschen Fußball auch – weil sich der Weltmeistertrainer einen emotionalen Panzer gebaut hatte.
England, Fußball-EM, Joachim Löw, Jürgen Klinsmann, Nationalmannschaft
Sport
Sport Fußball EM
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1153913.joachim-loew-erloeser.html
Piloten und Ryanair einig über Tarif-Eckpunkte
Frankfurt/Main. Passagiere des Billigfliegers Ryanair können aufatmen. Bis auf weiteres drohen keine weiteren Piloten-Streiks mehr an den deutschen Basen, weil sich die Gewerkschaft Vereinigung Cockpit und das Unternehmen auf wesentliche Eckpunkte eines umfassenden Tarifwerks geeinigt haben. Bis Ende Februar sollen Gehaltstarif und Manteltarif stehen, die dann bis März 2023 gelten sollen, wie beide Seiten am Dienstag mitteilten. VC-Tarifexperte Ingolf Schumacher zeigte sich sehr optimistisch, die angestrebte Einigung tatsächlich erreichen zu können. »Ich bin da sehr positiv«, sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Die grundsätzliche Einigung wurde mit Hilfe der beiden Schlichter Stefan Simon und Holger Dahl erreicht. Für das Kabinenpersonal hatte ver.di im November eine ähnliche Grundsatzvereinbarung mit Ryanair getroffen. Die gut 400 in Deutschland stationierten Piloten hatten vor knapp einem Jahr erstmals gestreikt und im laufenden Jahr noch drei Mal die Arbeit niedergelegt. Nun sollen unter anderem die Grundgehälter deutlich zulasten der variablen Gehaltsbestandteile steigen. Ganz junge Co-Piloten könnten mit einer Verdoppelung ihres Fixgehalts auf 50.000 Euro pro Jahr rechnen, heißt es in Papieren der Tarifkommission. Für Kapitäne soll es um bis zu 33 Prozent auf zunächst 100.000 Euro zulegen. Unter dem Strich gebe es leichte Steigerungen des Gesamtgehalts, die aber nicht näher beziffert wurden, weitere jährliche Steigerungen wurden vereinbart. Ryanair habe seine Ankündigung bereits umgesetzt, die in Deutschland eingesetzten Piloten selbst anzustellen, sagte Schumacher. Früher hatte es viele prekäre Arbeitsverhältnisse bei Verleihfirmen gegeben. Ab Ende Februar 2019 sollen die Arbeitsverträge auf deutsches Recht umgestellt werden, ab April werde deutsches Steuerrecht angewendet. Wegen der geringeren Steuersätze im Vergleich zu Irland steige damit das Nettogehalt der Piloten. Auch für den Fall von Stationsschließungen und Versetzungen seien soziale Regelungen gefunden worden, bestätigten beide Seiten. Dies soll auch rückwirkend für die geschlossene Station Bremen und die reduzierte Mannschaft in Weeze am Niederrhein gelten. Auch über die Bildung eines Cockpit-Betriebsrats nach Tarifrecht sei man sich einig, erklärte die VC. Die insgesamt vier Tarifverträge sollen bis Ende Februar (Gehalt und Mantel) beziehungsweise zum 1. April unter Dach und Fach sein. Bis dahin wird es wegen der vereinbarten Friedenspflicht auch keine weiteren Streiks der hierzulande stationierten Piloten mehr geben. Bundestag beschließt »Lex Ryanair« Bordpersonal kann nun auch Betriebsräte wählen Ryanair ist der größte Billigflieger Europas. Er fliegt mit seinen einheitlichen Boeing 737-Maschinen mehr als 215 Flughäfen in 37 Ländern an und operiert von 86 Basen in Europa und Nordafrika. Das hochprofitable Unternehmen beschäftigt nach eigenen Angaben rund 14.500 Menschen. Im Geschäftsjahr 2017/2018 machten die Iren bei 7,15 Milliarden Euro Umsatz einen Gewinn von 1,45 Milliarden Euro. dpa/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Tatsächlich noch vor Weihnachten haben sich die deutschen Piloten und der Billigflieger Ryanair auf Grundzüge eines Tarifwerks geeinigt. So sollen unter anderem die Grundgehälter deutlich steigen.
Arbeitskampf, Piloten, Ryanair, Streik, verdi
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt Pilotenstreik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1107228.piloten-und-ryanair-einig-ueber-tarif-eckpunkte.html
Rechtsstaat – 
rechte Polizei?
Das Polizeipräsidium Oberbayern Süd hat Ende der vergangenen Woche einen sogenannten Reichsbürger ausgemacht - in den eigenen Reihen. Der Mann, der einen »Staatsangehörigkeitsausweis« beantragt hatte, soll auch während seines Dienstes »Gedankengut der Reichsbürgerbewegung« verbreitet haben. Polizeipräsident Robert Kopp suspendierte den Polizisten mit sofortiger Wirkung. Auch im Polizeipräsidium München war jüngst ein 26-jähriger Polizeiobermeister vom Dienst ausgeschlossen worden. Gegen eine Reihe weiterer uniformierter Staatsdiener wird ermittelt, in Franken wurden gleich mehrere Beamte vom Dienst suspendiert. Noch vor Monaten hätte man gelächelt und gefragt, warum es denn gerade unter Polizisten keine »Gespinnerten« geben sollte. Doch nach dem tödlichen Angriff eines Reichsbürgers auf einen Elitepolizisten im mittelfränkischen Georgensgmünd im Oktober, ist man wachsamer geworden. Zumal es sich herausgestellt hat, dass rund 340 der 1700 Reichbürger in Bayern über Waffen verfügen. Dass Reichsbürger auch in der Polizei zu finden sind, hält Oliver Malchow, Chef der Gewerkschaft der Polizei (GdP), »für leider normal«. Die Polizei sei in gewisser Weise »ein Spiegelbild der Gesellschaft«, sagt er im nd-Gespräch. Doch wer sich verfassungswidrigen Organisationen zugehörig oder zugeneigt zeige, »der könne nicht gleichzeitig dem demokratischen Staatsgefüge dienen«. Es sei dringend geboten, dass die jeweiligen Dienstherren in den Ländern und im Bund darauf disziplinarrechtlich reagierten. »Dabei haben sie jede Unterstützung der GdP«, betonte deren Chef und versicherte, dass seine Gewerkschaft überführten Rechtsextremen in den eigenen Reihen keinen Rechtsschutz gewähren werde. Schließlich hätten die sich klar gegen die Statuten der 173 000 Mitglieder zählenden Organisation gestellt. Mit seinen Aussagen trifft sich das SPD-Mitglied mit dem CSU-Mann Joachim Herrmann. Der Bayerische Innenminister hatte bereits im November angekündigt, gegen Reichsbürger im Staatsdienst rigoros vorzugehen: »Wer bestreitet, dass es diesen Staat gibt, kann nicht gleichzeitig ein Beamtengehalt oder eine Pension kassieren.« Die Reichsbürger sind kein neues, aber ein neuerdings als gefährlich erkanntes Problem. Seit Jahren stößt man immer wieder auf »rechtsextrem angehauchte« Polizisten, bestätigt das Bayerische Innenministerium indirekt, wenn es auf diverse Antworten auf Landtagsanfragen verweist. In denen wird deutlich, wie oft Vorfälle bagatellisiert werden. Da klebt beispielsweise ein Bereitschaftspolizist aus Würzburg eindeutig rechtsextremistische Aufkleber an Gerätschaften, doch damit seien keine politischen Haltungen verbunden gewesen, heißt es. Die Staatsanwaltschaft findet - obwohl die Urheberschaft der Aufkleber eindeutig auf gefährliche Kameradschaften wie das »Freie Netz Süd« zurückgehen - keine Möglichkeit, um strafrechtlich einzugreifen. Bereits im vergangenen Jahr hatte jemand in der Facebook-Gruppe »Spotted Pocking« gefragt, womit man ankommenden Flüchtlingen helfen könnte, ob jemand Spielsachen, Fernseher, Kleidung oder Handys verschenken könne. Es gab hasserfüllte Reaktionen. Einer schrieb: »I häd nu 60 Eintrittskarten fürs Onkelzkonzert mit Zugticket herzugeben. Aber ohne Rückfahrt. De erübrigt sich dann sowieso.« Die deutsche Rockband Böhse Onkelz war jahrelang beliebt bei rechten Skinheads. Mehrere ihrer Lieder wurden wegen ihrer Nähe zum Nationalsozialismus zensiert. Die Anspielung auf »Zugtickets ohne Rückfahrt« erinnert sicher nicht zufällig an die Deportationen der Juden im Dritten Reich. Der Urheber der Hasszeilen wurde ermittelt. Auch er ist Angehöriger des Polizeipräsidiums Oberbayern Süd. In seiner Einlassung »hat er seine Äußerung bedauert und er war sich auch der Tragweite nicht bewusst«, hieß es - bevor die Ermittlungen eingestellt wurden. Nun ist Bayern keine Ausnahme. Ähnliche Beispiele von rechtsextremistischen »Verfehlungen« lassen sich in allen Länderpolizeien und in denen des Bundes belegen. »nd« fragte bei zuständigen Innenministerien nach. »Bezogen auf den Zeitraum seit 2014 wurden beziehungsweise werden in der Landespolizei Sachsen-Anhalt Disziplinarverfahren gegen sechs Polizeivollzugsbeamte wegen einer möglichen rechtsextremistischen Haltung geführt«, hieß es aus Magdeburg. Vier dieser Verfahren richten sich gegen Reichsbürger. Davon soll es, so war in anderem Zusammenhang zu erfahren, im ganzen Land allerdings nur 80 geben. Ein Disziplinarverfahren wurde eingestellt, der Vorwurf ließ sich offenbar nicht beweisen. Die übrigen fünf Verfahren laufen noch, drei beim Verwaltungsgericht Magdeburg als sogenannte Disziplinarklagen. Ziel sei eine »Entfernung aus dem Beamtenverhältnis«. Die Berliner Polizei antwortete mit einem Ausflug in kompliziertes Beamtenrecht. Im Disziplinarrecht gebe es das Vergehen »rechtsextremistische Haltung« nicht. Mit einem Disziplinarverfahren werde immer konkretes Handeln, Verhalten oder relevante Äußerungen, »also unmittelbar aktive oder passive Handlungen von Beamtinnen und Beamten, die in der Regel neben Beamtenpflichten zugleich strafrechtliche Normen verletzen, verfolgt«. Beispiel Volksverhetzung oder Beleidigung. Weiter heißt es: »Nach Eintritt des Verwertungsverbotes eines Vorgangs ist nicht mehr erkennbar, ob eine rechtsgerichtete Geisteshaltung der/des von dem Verfahren betroffenen Beamtin/Beamten eine Rolle gespielt hat.« Kurzum: Die Hauptstadtpolizei kann seit 2013 insgesamt nur zehn eingeleitete Verfahren gegen Polizeibeamte belegen, weil »fremdenfeindliche Äußerungen getätigt oder entsprechende Handlungen an den Tag gelegt wurden«. Zwei der Verfahren seien abgeschlossen. Dem niedersächsischen Ministerium für Inneres und Sport liegen derzeit »keine Erkenntnisse darüber vor, dass Beschäftigte der Polizei der Reichsbürgerbewegung angehören oder mit ihr sympathisieren«. Es gab auch keine Disziplinarverfahren wegen Zugehörigkeit zur dieser Bewegung, zu rechtsextremistischen oder rechtspopulistischen Gruppierungen, heißt es. Wohl aber habe man in den vergangenen Jahren zwei Studierende der Polizeiakademie Niedersachsen »wegen Vorfällen entlassen, die einen rechtsextremistischen Hintergrund hatten«. Ein Disziplinarverfahren war anhängig, das rechtsextremistisches Gedankengut zum Inhalt hatte. Es endete mit Zahlung einer Geldbuße. Derzeit noch anhängig sei ein Verfahren mit möglicherweise rechtsextremistischem Hintergrund. Ausgang offen. Derzeit werden sechs Disziplinarverfahren gegen Polizeibeamte des Landes Baden-Württemberg geführt, bei denen der Verdacht einer extremistischen Haltung beziehungsweise eines fremdenfeindlichen Hintergrunds besteht oder zumindest nicht ausgeschlossen werden kann, schrieb das Innenministerium in Stuttgart. Man verwies darauf, dass neben den genannten Fällen 2015 ein Fall und im Jahr 2016 zwei weitere Fälle abgeschlossen worden sind. »Als Disziplinarmaßnahme wurde ein Verweis erteilt und zwei Gehaltskürzungen verhängt.« Das Ministerium lässt wissen, dass eine Erfassung solcher Fälle erst seit Juni 2015 erfolgt. Zugleich legt man Wert auf einen guten Gesamteindruck: »Derzeit hat die Polizei Baden-Württemberg im Vollzugsbereich knapp 24 100 Stellen.« Der Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen rechnet insgesamt mit 300 Reichsbürgern. Auf Polizeibeamte angesprochen, unterstreicht das Innenministerium in Düsseldorf: Es sei »selbstverständlich, dass jeder, der unserem Staat und seinen Gesetzen jede Legitimation abspricht, keinen Platz in der NRW-Polizei hat«. Als Bekräftigung wird formuliert: »Verfassungsfeinde können nicht glaubhaft für unsere Verfassung eintreten und sie schützen.« Erst im November hatte Ressortchef Ralf Jäger (SPD) alle seine Polizeibehörden um Auskunft über Disziplinarverfahren im Zusammenhang mit der sogenannten Reichsbürger-Bewegung gebeten. Es waren zwei. Bei drei weiteren ist eine Zugehörigkeit zu den Reichsbürgern »denkbar«. Dem Polizeipräsidium Brandenburg liegen - Stand Ende Oktober - keine Erkenntnisse über Polizeibeamtinnen oder Polizeibeamte vor, die Reichsbürger sind oder mit der Szene sympathisieren. Also gibt es weder Disziplinarverfahren noch Suspendierungen. Anders verhält es sich mit möglichen rechtsextremistischen Haltungen. Ebenfalls Stand Ende Oktober liefen vier Disziplinarverfahren gegen Polizisten wegen des Verdachts rechtsextremistischer Aktivitäten. »Es sind bislang zwei vorläufige Dienstenthebungen ausgesprochen worden.« Dass Sachsen schon mehrfach Probleme hatte mit allzu großer Nähe von Polizeibeamten zu Rechtsextremisten ist mehrfach belegt. Zur Zeit laufen Ermittlungen wegen des Verdachts der Weitergabe von Polizeiinterna an die mutmaßlich rechtsterroristische »Gruppe Freital«. Der werden fünf fremdenfeindliche oder politisch motivierte Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte oder politische Gegner zur Last gelegt. Gegen sieben Mitglieder der Gruppe hat der Generalbundesanwalt Anklage erhoben - unter anderem wegen versuchten Mordes.
René Heilig
Das Polizeipräsidium Oberbayern Süd hat Ende der vergangenen Woche einen sogenannten Reichsbürger ausgemacht - in den eigenen Reihen. Es blieb nicht der einzige Fall. Nun ist Bayern keine Ausnahme. Es gibt grund zur Sorge.
Polizei, Rechtsextremismus
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1035061.rechtsstaat-n-rechte-polizei.html
Wien im Zeichen des Ukraine-Kriegs
Die österreichische Hauptstadt Wien ist am Donnerstag und Freitag Schauplatz eines Treffens aller Teilorganisationen der Vereinten Nationen. »Die Weltgemeinschaft ist zu Gast in Wien, und darüber freuen wir uns«, sagte Außenminister Alexander Schallenberg auf der Pressekonferenz, welche er mit Bundeskanzler Karl Nehammer und UN-Generalsekretär António Guterres gab. Schallenberg würdigte Wien als »den östlichsten Sitz der Vereinten Nationen«, darin sehe er anlässlich des aktuellen Krieges ein »starkes Signal«. Man dürfe jedoch nicht in eine »europäische Nabelschau verfallen«, sondern müsse auch »die Auswirkungen des Krieges in anderen Teilen der Welt sehen«. Im Rahmen der Konsultationen verwiesen die Teilnehmer auch auf die verheerenden Folgen für die Ernährungssicherheit in zahlreichen Ländern, vor allem aber in Afrika. António Guterres, der schon am Mittwoch in Wien eingetroffen war, wies darauf hin, dass sich die Vereinten Nationen in der Ukraine zur Stunde auf die Evakuierung von Zivilistinnen und Zivilisten sowie die Einrichtung humanitärer Korridore konzentrieren. Die Chance auf erfolgreiche Friedensverhandlungen schätzte Guterres zur Stunde als gering ein, betonte aber, dieser Krieg werde »nicht ewig dauern«. Wenn der Moment für Friedensverhandlungen komme, dann müsse man ihn nützen – und sein Büro werde dafür bereitstehen: »Wir dürfen nie die Hoffnung verlieren und müssen alles tun, um diesen sinnlosen Krieg zu beenden.« In Zeiten der Krise und des Krieges steht natürlich der Sicherheitsrat der UN im Brennpunkt des Interesses. Die völkerrechtlich bindenden Resolutionen des UN-Sicherheitsrates sind ein mächtiges Instrument in der internationalen Politik, welches auch den Einsatz militärischer Gewalt legitimieren kann. Kritiker weisen allerdings schon seit geraumer Zeit darauf hin, dass der Sicherheitsrat häufig »zahnlos« agiert, vor allem aufgrund der Tatsache, dass seine fünf ständigen Mitglieder – die USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien – jegliche Beschlüsse mit ihrem Vetorecht blockieren können. Die genannten fünf Staaten konzentrieren damit eine Machtfülle, die wesentlich stärker ist als jene der zehn nichtständigen Mitglieder, welche auf zwei Jahre gewählt werden, ohne über ein Vetorecht zu verfügen. Davon einmal abgesehen, dass die fünf ständigen Mitglieder nur noch sehr bedingt die demographischen und sozioökonomischen Realitäten der heutigen Welt reflektieren. Was die völkerrechtswidrige Relevanz der Resolutionen des UN-Sicherheitsrates angeht, so sind die natürlich zwangsläufig höchst umstritten. Der Genfer Völkerrechtsprofessor Marco Sassòli untersuchte Rechtsbrüche in der Ukraine in den ersten Kriegswochen. Sassòlis Fazit lautet, dass manches nicht so eindeutig ist, wie es im Westen dargestellt wird. In einem Interview mit der schweizer Publikation »Republik« äußerte der Völkerrechtler: »Die westlichen Staaten haben sich jetzt auf Russland fixiert – und waren weit weniger kritisch gegenüber Verletzungen des humanitären Völkerrechts an anderen Orten.« Das hängt wiederum damit zusammen, dass in der Ukraine eine Kombination von Dingen vorliegt, die rechtlich getrennt werden müssen: das Gewaltverbot und das humanitäre Völkerrecht. Sassòli wurde unmittelbar nach Kriegsbeginn in der Ukraine Mitglied eines dreiköpfigen Gremiums der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), um Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechte vor Ort zu untersuchen. Der 108-seitige Bericht umfasst den Zeitraum vom 24. Februar bis zum 1. April 2022 und liegt vor. Der Sicherheitsrat der UN hat diesen Bericht zur Kenntnis genommen. Mit Interesse wurde in diesem Zusammenhang registriert, dass der Sicherheitsrat sich erstmals in dem Konflikt auf eine gemeinsame Stellungnahme einigen konnte. In dieser Stellungnahme heißt es, der Sicherheitsrat zeigte sich »besorgt« über die Lage in der Ukraine, begrüße die Vermittlungsbemühungen von UN-Generalsekretär António Guterres und erinnerte daran, dass sich alle Mitgliedsstaaten verpflichtet haben, Streitigkeiten mit friedlichen Mitteln beizulegen.
Ramon Schack
Der Fokus der Vereinten Nationen liegt angesichts des Krieges in der Ukraine derzeit auf der Sicherstellung der globalen Lebensmittelversorgung. Das machte UN-Generalsekretär António Guterres in Wien klar.
Österreich, UNO
Politik & Ökonomie
Politik Völkerrecht
2022-05-12T18:03:42+0200
2022-05-12T18:03:42+0200
2023-01-20T18:30:23+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1163741.voelkerrecht-wien-im-zeichen-des-ukraine-kriegs.html
Hacker wollen Guantanamo schließen
Berlin (nd). Cyberkrieg oder Realitätsverlust? Anonymous hat angekündigt, Guantanamo schließen zu wollen. Am 100. Tag des Hungerstreikes von Inhaftierten in dem amerikanischen Gefangenlager will die Hacker-Gruppe „massive Aktionen“ starten. Einer im Internet veröffentlichten Erklärung zufolge, sollen zwischen dem 17. und 19. Mai dauerhaft Hacker-Angriffe auf Einrichtungen des Gefangenenlagers durchgeführt werden: „Guantanamo ist ein dauerhaftes Kriegsverbrechen. Anonymous wird dieses Verbrechen nicht länger tolerieren.“ Zu den genauen Zielen und Arten der Angriffe schwieg sich die Gruppe größtenteils aus. Lediglich von „Twitterstürmen, E-Mail- und Faxbomben“ ist in der Erklärung die Rede. Die Netzaktivisten, die zuletzt mit der Lahmlegung von Webseiten israelischer Regierungsministerien und Geheimdienste auf sich aufmerksam machten, kritisieren vor allem den Umgang mit hungerstreikenden Inhaftierten: “Guantanamo muss sofort geschlossen werden. Die Gefangenen müssen frei gelassen oder in einem fairen Prozess vor ein Bundesgericht gestellt werden“. Seit dem 6. Februar dieses Jahres verweigern in dem auf Kuba gelegenen amerikanischen Gefängnis bis zu einhundert Männer die Nahrungsaufnahme, um gegen Haftbedingungen und Misshandlungen zu protestieren. Die Zwangsernährung der Gefangenen bezeichneten die Vereinten Nationen erst kürlich als Folter.
Redaktion nd-aktuell.de
Cyberkrieg oder Realitätsverlust? Das Hacker-Kollektiv "Anonymous" hat angekündigt, Guantanamo schließen zu wollen. Am 100. Tag des Hungerstreikes von Inhaftierten in dem amerikanischen Gefangenlager, wollen die Netz-Aktivisten „massive Aktionen“ starten.
Guantanamo, Hacker
Feuilleton
Kultur
https://www.nd-aktuell.de//artikel/820987.hacker-wollen-guantanamo-schliessen.html
General Electric beendet Alstom-Poker als Sieger
Nach wochenlangem Tauziehen um den Verkauf der Energiesparte des französischen Alstom-Konzerns sind am Wochenende die Würfel gefallen. Der US-Konzern General Electric (GE) hat seinen Mitbewerber Siemens samt dessen japanischem Partner Mitsubishi aus dem Feld geschlagen. Doch zur von Alstom-Chef Patrick Kron geplanten Totalübernahme der Energiesparte und damit von 70 Prozent der Alstom-Aktivitäten wird es nicht kommen, weil Frankreich sich mit 20 Prozent beteiligen wird. Als Hauptaktionär kann er dann bei strategischen Entscheidungen mitreden. Die Anteile kauft der Staat dem Bouygues-Konzern ab, der 29 Prozent an Alstom hält. Noch laufen die Verhandlungen, denn Frankreich will nur den Marktwert der Aktie (28 Euro) zahlen, Bouygues besteht auf 34 Euro. Fällt die Entscheidung nicht bis Montag 9 Uhr zur Öffnung der Pariser Börse, platzt das Alstom-Geschäft noch. Anfangs war GE für Paris kein Wunschpartner, weil man eine Abwanderun... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Ralf Klingsieck, Paris
Im Übernahmepoker um den französischen Industriekonzern Alstom hatte der US-Konzern GE bessere Karten als Siemens.
Siemens
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt
https://www.nd-aktuell.de//artikel/936724.general-electric-beendet-alstom-poker-als-sieger.html
Wutrede im Kreml
In einer Wutrede hat sich der russische Vizeregierungschef Witali Mutko über andauernde Dopinganschuldigungen gegen sein Land empört und massive Ungleichbehandlung beklagt. »Ich bin bereit, in jedes Gericht zu kommen, um zu sagen, dass Russland kein Doping betreibt«, sagte der Multifunktionär kurz vor der Gruppenauslosung für die Fußball-WM 2018 am Freitag in Moskau - und wenige Tage vor der Entscheidung des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) über einen möglichen Olympiabann russischer Athleten für die Winterspiele 2018. Mutko bekräftigte dabei abermals, es gebe kein staatlich organisiertes Doping in Russland. »Wir werden unsere Athleten bis zum Letzten verteidigen«, betonte der ehemalige Sportminister auf einer Pressekonferenz. »Seit 2009 sind unsere Grenzen für Dopingkontrollen offen. Wir sind ein offenes Land, kein geschlossenes.« Internationale Kontrolleure beklagen jedoch seit Jahren, dass ihnen der Eintritt in sogenannte geschlossene Städte weiterhin verwehrt werde. In langen Monologen antwortete der Cheforganisator der Fußball-WM energisch auf die Fragen der internationalen Presse. »In Russland ist immer alles schlecht, und im Rest der Welt ist alles gut«, sagte der 58-Jährige. Auch in anderen Ländern gebe es Vorwürfe, doch werde mit zweierlei Maß gemessen, behauptete Mutko. So würden Anschuldigungen im britischen Fußball nicht verfolgt und hinterfragt werden. Und in den USA gebe es in den großen Profiligen wie NBA und NHL keine Kontrollen durch die Welt-Antidoping-Agentur. Über den Ausgang des IOC-Verfahrens in Lausanne wollte Mutko nicht spekulieren. »Wir versuchen, in jeder Hinsicht bei der Aufklärung zu helfen.« Mutko selbst bemühe sich aktiv, den Komplettausschluss für die Sportnation zu verhindern. »Ich habe mich mit der IOC-Kommission getroffen und ich bin bereit, noch einmal Erklärungen abzugeben. Wir wissen nicht, wie die Entscheidung ausfallen wird, aber wir hoffen auf den gesunden Menschenverstand.« Das IOC hat inzwischen 25 russische Athleten in fünf Sportarten wegen Dopingvergehen lebenslang gesperrt und deren Resultate der Spiele 2014 in Sotschi annulliert. Am Freitag waren die Skilangläuferinnen Julia Tschekalowa und Anastasia Dozenko sowie die Biathletin Olga Saizewa dazugekommen. In Sotschi sollen massenhaft Dopingproben vertauscht worden sein - und Mutko soll von der Operation gewusst haben. Russlands Fußball jedenfalls sei frei von Doping, entgegnete Mutko jüngsten Äußerungen des Anwalts vom Dopingkronzeugen Grigori Rodschenkow, dieser habe auch belastendes Material über Fußballer des Landes. »In der Sbornaja gab es nie Manipulation und wird es nie Manipulation geben«, so Mutko, der auch nationaler Fußballverbandschef ist. »Aber das heißt nicht, dass morgen nicht irgendein Sportler gegen Antidoping-Regeln verstößt. Und wenn jemand verstoßen hat, wird er dafür haften, wenn es bewiesen ist.« Die Wutrede überschattete die danach stattfindende Auslosungszeremonie der WM-Vorrundengruppen. Die deutschen Fußballer erwischten dabei ein eher leichtes Los. Sie werden als Kopf der Gruppe F zunächst in Moskau gegen Mexiko, dann in Sotschi gegen Schweden und schließlich in Kasan gegen Südkorea spielen. Die beiden nach der Weltrangliste schwächsten Teams der WM, Russland und Saudi-Arabien, bestreiten das Eröffnungsspiel. dpa/nd
Thomas Körbel, Jens Mende und Arne Richter, Moskau
Eigentlich will Witali Mutko dvor der Gruppenauslosung die Fußball-WM 2018 in Russland preisen. Doch der Auftritt wird ein emotionaler Ausbruch: Sein Land fühlt sich ungerecht behandelt.
Doping, Fußball, IOC, Russland
Sport
Sport Doping in Russland
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1072030.doping-in-russland-wutrede-im-kreml.html
Sterben kostet mehr als das Leben
Deutschland nähert sich der Millionengrenze, indes in einem eher untröstlichen Bereich - bei den Sterbefällen. 2018 segneten 950 000 bis 970 000 Menschen das Zeitliche und damit noch einmal spürbar mehr als 2017, als es 932 000 waren. Dabei wächst bereits seit 2014, als knapp 869 000 Mitbürger von uns gingen, diese Zahl deutlich. Die Ursachen sind mehrschichtig. Dazu zählt etwa die weiter steigende Bevölkerungszahl in der Bundesrepublik mit nunmehr 83 Millionen Menschen, was auch einen prozentual höheren Anteil an Todesfällen nach sich zieht, aber auch die latent älter werdende Bevölkerung oder die steigende Zahl Verkehrstoter - gerade bei Rad- und Motorradfahrern. Hinzu kommen eine wachsende Zahl von Todesfällen durch Krebs und bereits seit 2018 immer mehr Hitzetote. Auch hier schlägt der Klimawandel zu. Nutznießer dieser traurigen Bilanz, so sollte man meinen, sind Berufe, die vom Sterben leben. Doch das ist zumindest nicht in adäquat... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Harald Lachmann
Die Zahl der Todesfälle und damit der Beisetzungen steigt. Immer mehr Hinterbliebene verzichten dabei auf kirchlichen Beistand. Zunehmend im Trend liegen Feuerbestattungen, aber auch die sind teuer.
Christentum
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1128984.sterben-kostet-mehr-als-das-leben.html
Fakten zum Bonusprogramm
 Der Senat stellt seit 2014 für Schulen in sozialen Brennpunkten zusätzliche Fördergelder bereit, jährlich insgesamt 18 Millionen Euro.  Das Programm ist auf eine Laufzeit von sechs Jahren angelegt.  Im laufenden Schuljahr werden 265 Schulen gefördert, darunter 253 öffentliche Schulen und zwölf Schulen in freier Trägerschaft.  Die Förderung ist danach gestuft, wie viele Schüler von der Zuzahlung zu Lernmitteln befreit sind: 50 Prozent, 75 Prozent oder 100 Prozent.  2015 wurden die Mittel zu 32 Prozent zur Unterstützung des Lernprozesses eingesetzt, zu 31 Prozent in zusätzliche Lernangebote, zu 26 Prozent in die Sozialarbeit und zu zehn Prozent in die Unterrichtsentwicklung. ek
Redaktion nd-aktuell.de
Schule
Hauptstadtregion
Brandenburg
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1013060.fakten-zum-bonusprogramm.html
Nicht gerecht
Führungsproblem, kein Führungsproblem? Wieder die Schlagzeilen über die LINKE, die nicht nur mancher Leser schon als Zumutung empfindet: Streit im Anmarsch. Auch wenn das ungerecht sein mag. Gesine Lötzsch wolle wieder Vorsitzende werden, heißt ja nicht von vornherein, sie wolle jemandem vorbeugen, jemanden verhindern. Oder? Es sind die Regeln des Politikbetriebs selbst, die dazu zwingen, jeden erhellenden Satz auf seine dunkle Seite zu überprüfen. Lötzschs Ansage fällt in ein Labyrinth von Orientierungsfähnchen, die dort geflissentlich deponiert wurden. Zwei Zentristen oder je ein Vertreter der zwei Pole, hatte Gregor Gysi in Erfurt für die neue Doppelspitze gefordert. Beiläufig, ohne Rücksprache mit den Vorsitzenden über ihre Pläne. Für Sahra Wagenknecht ist der Weg in die Parteiführung nach Lötzschs Ankündigung verstellt, wenn es keinen Kampf geben soll. Der interne Druck, sie als Ko-Vorsitzende der Fraktion zuzulassen, der aus dem erkennbaren Zuspruch aus weiten Teilen der Partei entsteht, wächst damit. Zufall oder eingefädelt? Es ist Lötzschs gutes Recht, in die Offensive zu gehen. Auch Trotz ist ihr Recht. Aber wird es ihr gerecht? Und der Partei? Das würde es, wenn sich außer ihr auch Kontrahenten einer Urabstimmung stellten. Aber war der entsprechende Vorschlag von Klaus Ernst wirklich so gemeint? Kommunikationsprobleme, aber kein Führungsproblem? Ein solches gibt es irgendwann allein deshalb, weil es genügend viele eigene Genossen genügend laut behaupten. Nein, gerecht ist das nicht.
Redaktion nd-aktuell.de
Standpunkt von Uwe Kalbe
Gesine Lötzsch, Gregor Gysi, LINKE, Linksfraktion
Meinung
Kommentare
https://www.nd-aktuell.de//artikel/209777.nicht-gerecht.html
Das Gesetz der Straße
War das schon der Wahlkampf oder schlichtweg Unkenntnis? Nachdem das Verwaltungsgericht Berlin am Dienstag die Sperrung der Friedrichstraße für rechtswidrig erklärte, hatte Franziska Giffey (SPD) Oberwasser. Es sei nun deutlich geworden, »dass das so nicht mehr weitergeht«. »Es ist ein Urteil gefallen und ich erwarte, dass dieses Urteil zügig durchgesetzt wird«, lautete der Appell der Regierenden Bürgermeisterin an Mobilitätssenatorin Bettina Jarasch (Grüne). Jarasch wiederum sagte dann in der »Abendschau« des RBB-Fernsehens: »Ich bin mir nicht sicher, ob Franziska Giffey genau verstanden hat, worum’s bei diesem Urteil ging.« Das Gericht hatte nämlich nicht über den Verkehrsversuch entschieden, mit dem die Friedrichstraße von Mitte 2020 bis Ende Oktober 2021 autofrei wurde. Auch eine zukünftige Teileinziehung der Straße, mit der die Nutzung der Straße auf bestimmte Fortbewegungsarten beschränkt werden kann und die die Mobilitätsverwaltung beim Bezirksamt Mitte beantragt hat, wurde mit dem Urteil nicht beerdigt. Das Verwaltungsgericht bezog sich auf eine verkehrsrechtliche Anordnung, die seit fast einem Jahr bis zu einer möglichen Teileinziehung den Abschnitt der Straße in der Zwischenzeit weiter für Autos sperrt. Das Problem ist aber, dass die Straßenverkehrsordnung (StVO) so etwas nur erlaubt, wenn eine konkrete Gefahr für die Sicherheit und Ordnung des Straßenverkehrs besteht und die Einschränkungen darüber hinaus »zwingend geboten« sind. Allein aufgrund »verkehrsordnungspolitischer Konzeptionen« wie die einer »Flaniermeile« ist es nicht möglich, Autos mithilfe der StVO auszusperren. Die StVO verlangt, dass Verkehrssicherheit mit Blut erkauft wird», sagt Inge Lechner von der aus dem Fahrradvolksentscheid hervorgegangenen Initiative Changing Cities. Es sei kaum zu glauben, dass noch immer Behörden den öffentlichen Raum erst dann den Menschen ohne Benutzung von Autos zur Verfügung stellen dürfen, «wenn zuvor jemand verletzt oder gar getötet wurde». Die StVO regelt aber lediglich das «Wie» der Straßennutzung, schrieb 2020 schon die damalige Richterin am Verwaltungsgericht Berlin und heutige Verkehrsstadträtin von Mitte, Almut Neumann (Grüne), in einem Beitrag für das Online-Rechtsmagazin «lto». «Es ist jedoch nur die eine Seite der Medaille, wenn es um die rechtlichen Fragen des Verkehrs auf Straßen geht. Denn die andere Seite der Medaille – das »Ob« dieser Nutzung – wird vom Straßenrecht geregelt», so Neumann. Über dieses wiederum ist es auch ohne das Vorliegen einer konkreten Gefahr möglich, die Benutzung von Straßen aus «überwiegenden Gründen des öffentlichen Wohls» auf bestimmte Fortbewegungsarten zu beschränken. Über die straßenrechtliche Umwidmung gäbe es deshalb «die große Chance, die Verkehrswende unabhängig von der restriktiven StVO aktiv und zudem rechtssicher zu gestalten und den öffentlichen Raum so neu aufzuteilen», zeigte sich Neumann schon damals überzeugt. Darauf zielt das aktuell noch laufende Teileinziehungsverfahren ab, das die Friedrichstraße dann dauerhaft zur Flaniermeile machen soll. Die Widmung als öffentliche Straße, frei für die Benutzung durch Autos, soll damit geändert werden. Anders als von der Regierenden Bürgermeisterin gefordert, könnte es gut sein, dass die Friedrichstraße bis dahin auch weiter gesperrt bleibt für den Autoverkehr, falls die Senatsverwaltung Beschwerde beim Oberverwaltungsgericht einlegt und das Urteil nicht rechtskräftig wird. Eine Beschwerde wird aktuell geprüft, hieß es aus dem Haus von Senatorin Jarasch, die wiederum in der «Abendschau» klarmachte: «Für die Verkehrswende bin ich in diesem Senat zuständig.» Die Verkehrspolitiker der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus Kristian Ronneburg und Niklas Schenker wiederum fordern die Senatsmitglieder auf, «konstruktiv an einer ressortübergreifenden Lösung» zu arbeiten. «Ein Zurück zum Autoverkehr in der Friedrichstraße ist keine Option und wird keines der strukturellen Probleme lösen», teilen sie am Mittwoch mit. Gleichzeitig betonen sie, dass der Verkehrsversuch und das Agieren der Verwaltung «nicht frei von Fehlern waren». «Zudem muss die Verlagerung des Verkehrs immer mitbetrachtet werden», so die Linke-Politiker. Vor dem Verwaltungsgericht hatte eine Gewerbetreibende aus der parallel verlaufenden Charlottenstraße geklagt. In der Charlottenstraße kommt es durch die Durchfahrtssperre in der Friedrichstraße zu einem erhöhten Verkehrsaufkommen. Mittlerweile ist deshalb angedacht, die Charlottenstraße zu einer Fahrradstraße zu machen und die Friedrichstraße dann auch für den Radverkehr zu sperren.
Yannic Walther
Das Urteil zur Friedrichstraße führt zum offenen Streit zwischen der Regierenden Bürgermeisterin und der Mobilitätssenatorin. Linke-Verkehrspolitiker mahnen zur konstruktiven Zusammenarbeit.
Verkehrspolitik
Hauptstadtregion
Berlin Friedrichstraße
2022-10-26T16:37:12+0200
2022-10-26T16:37:12+0200
2023-01-20T17:08:28+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1168017.friedrichstrasse-das-gesetz-der-strasse.html
»Wir waren nicht besser, aber stärker im Kopf«
Der Leipziger Rudi Schumann erinnert sich gut an den Höhepunkt seiner Karriere: »Das Erlebnis ist lebendig geblieben, nicht mehr so emotional wie im Moment des Erfolgs. Doch auch mit dem Abstand von 50 Jahren sucht man immer noch nach einer rationalen Erklärung für diesen nicht zu erklärenden Spielverlauf.« Schumann war 1970 der Star der DDR-Volleyballer, wurde später Hochschullehrer an der DHfK in Leipzig; heute ist der 73-Jährige Rentner. Den Fünf-Satz-Krimi von Sofia hat er in all der Zeit nie vergessen, denn so etwas erlebte er nie wieder. Im letzten Spiel der acht Mannschaften umfassenden WM-Finalrunde entrissen die DDR-Männer den von 6000 Heimfans angefeuerten Bulgaren mit einem 3:2-Sieg noch den sicher geglaubten Weltmeistertitel. Nach 15:11, 13:15, 15:7 und 4:15 lag die DDR-Mannschaft im entscheidenden Satz schier aussichtslos mit 5:13 zurück. Zwei Punkte, die nach den damals geltenden Regeln nur bei eigenem Aufschlag erzielt werden konnten, fehlten den Bulgaren. Rudi Schumann, mit 23 damals der Drittjüngste im DDR-Team und später als bester Spieler der WM geehrt, erzählt im nd-Gespräch, dass »beide Mannschaften am physischen Limit spielten. Besser oder schlechter waren keine Kategorien mehr.« Schon mit Beginn des vierten Satzes habe sich alles nur noch im Kopf der Akteure abgespielt. Nach dem verlorenen Satz seien er und seine Mitspieler frustriert über die vertane Chance so dicht vorm Titel gewesen. Beim Stand von 5:13 im letzten Satz nahm Trainer Herbert Jenter eine Auszeit und mahnte: »Jungs, reißt euch noch mal zusammen - wenn wir schon verlieren, dann mit Anstand«, soll er Schumann zufolge gesagt haben. »Ehrlich gesagt, an den Sieg glaubte aber keiner mehr«, meint Schumann heute. Doch das Spiel kippte tatsächlich ein letztes Mal, »weil sich die Bulgaren zu früh als Weltmeister fühlten und nur auf die letzten beiden Fehler von uns warteten«, wie Schumann weiter erzählt. »Mit ihrem abwartenden Spiel konnten sie uns nicht mehr unter Druck setzen. Wir spürten, hier geht noch was, und punkteten zehnmal in Folge.« Mit jedem Ballwechsel seien die technische Sicherheit und der Glaube an den Sieg zurückgekehrt, während sich beim Gegner lähmendes Entsetzen breitmachte. Den Matchball zum 15:13 verwandelten Kapitän Siegfried Schneider und Schumann dann mit einem erfolgreichen Doppelblock gegen Bulgariens besten Angreifer Zlatanov. »Wenn du nur auf Fehler des Gegners wartest, kannst du kein Spiel gewinnen«, weiß Schumann seitdem. »Wir waren nicht die Besseren, aber wir waren stärker im Kopf.« Mit dem kaum für möglich gehaltenen 3:2-Sieg wurde der WM-Titel den bis dahin ungeschlagenen Gastgebern doch noch entrissen. Über die Endplatzierung in dieser Finalrunde, die kein echtes Endspiel hatte, entschied zwischen den beiden punktgleichen Mannschaften an der Spitze ein einziger Satz. Die DDR, die tags zuvor Bronzemedaillengewinner Japan unterlegen gewesen war, siegte mit einem Satzverhältnis von 20:6, die Bulgaren hatten eins von 20:7. Das 50-jährige Jubiläum des »Wunders von Sofia« wird heute kaum gefeiert. In der Vergangenheit, erzählt Schumann, habe sich die zwölfköpfige Mannschaft, der neun Spieler von DDR-Rekordmeister SC Leipzig angehörten, immer mal wieder zusammengefunden, doch wurden diese Begegnungen irgendwann seltener. Mit Jürgen Freiwald (2014) und Wolfgang Webner (2020) sind zwei Spieler inzwischen verstorben. Auch Erfolgstrainer Jenter, der die DDR zwei Jahre später in München noch zur olympischen Silbermedaille führte und mit Leipzig 14-mal in Folge DDR-Meister wurde, zog sich später ins Private zurück und starb 2012 mit 82 Jahren in seiner Heimatstadt Leipzig. Die Spieler erhielten 1970 für den WM-Titel je nach Einsatzzeit maximal 10 000 DDR-Mark. Die meisten von ihnen gingen nach der Wende in den vorzeitigen Ruhestand, entweder weil sie in ihrem Beruf nicht mehr gefragt waren oder im neuen Job nicht richtig Fuß fassen konnten. »Es gibt heute noch einen kleinen Stammtisch, der sich so alle zwei Monate im Bayrischen Bahnhof in Leipzig trifft - zuletzt im Februar. Da waren aber nur noch vier Weltmeister dabei. Das war natürlich der Corona-Pandemie geschuldet«, erzählt Rudi Schumann. Mit ein bisschen Wehmut berichtet er von einer anderen Feieridee, aus der ebenfalls nichts wurde: »Die Berlin Volleys hatten die Absicht, uns Weltmeister zu einem Bundesligaspiel einzuladen. Vorgesehen war der Saisonstart am 17. Oktober gegen Düren.« Doch die strengen Hygienebestimmungen verhinderten den Besuch beim deutschen Meister. Nun werden sich die »Helden von Sofia« in aller Stille erinnern. An ein Ereignis, von dem der Deutsche Volleyball-Verband auch 30 Jahre nach der Wende kaum Notiz nimmt.
Jürgen Holz
Dieses Ereignis fand auch 50 Jahre danach noch keine Wiederholung. Am 2. Oktober 1970 wurden die DDR-Volleyballer Weltmeister. Das entscheidende Spiel gegen Gastgeber Bulgarien ging in die Geschichte ein, weil in dem Krimi Unglaubliches passierte.
Bulgarien, DDR, Leipzig, Sachsen
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1142586.wir-waren-nicht-besser-aber-staerker-im-kopf.html
Reanimation für die Pflege
Vor der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales in der Oranienstraße liegt eine Reanimationspuppe auf dem Bürgersteig. Sie trägt OP-Kittel und Haarnetz, auf dem Namensschild steht »Schwester Sonnenschein«. Ein zotteliger Bär beugt sich schließlich über die vermeintlich tote Krankenschwester und beginnt mit einer Herz-Lungen-Wiederbelebung. Was nach einer schrägen Theateraufführung klingt, ist in Wahrheit eine Kundgebung des Bündnisses für mehr Krankenhauspersonal. In dem Bärenkostüm steckt Kalle Kunkel, zuständiger Gewerkschaftssekretär bei ver.di und einer der Ansprechpartner*innen für den Volksentscheid Gesunde Krankenhäuser. »Der Berliner Bär soll die Pflege reanimieren«, erklärt er sein Kostüm. Die Hauptstadt müsse das Signal senden, das gute Pflege möglich sei. Das Bündnis hatte erst im Juni mehr als 40 000 gültige Unterschriften von Unterstützer*innen des Volksentscheids an die Senatsinnenverwaltung überreicht. Das sind mehr als doppelt so viele Unterschriften als die für das Quorum notwendigen 20 000. Jetzt muss sich das Abgeordnetenhaus mit dem Gesetzesentwurf befassen. Noch warten die Initiator*innen aber auf das juristische Gutachten des Senats - wie lange dies noch auf sich warten lässt, ist laut Gewerkschafter Kunkel jedoch unklar. »Wir wollen natürlich so schnell wie möglich ins Gespräch kommen«, so Kunkel. Während Rot-Rot-Grün auf sich warten lässt, gibt es auf Bundesebene inzwischen Bewegung beim Thema Pflege. Bundsgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) plant eine Reform gegen den Pflegenotstand, die zum einen die Finanzierung von zusätzlichen Pflegestellen und zum anderen die Einführung von Personaluntergrenzen beinhaltet. Das sogenannte Pflegepersonalstärkungsgesetz soll bereits 2019 in Kraft treten. Trotzdem demonstrieren am Dienstagvormittag Unterstützer*innen des Volksentscheids, zu denen viele Pflegekräfte, aber auch Patient*innen gehören, vor der Senatsverwaltung. »Wir wollen heute deutlich machen, dass das, was auf Bundesebene passiert, nicht zu einer Verbesserung der Situation führt«, sagt Steffen Hagemann vom Bündnis für mehr Krankenhauspersonal. »Unser Gesetzesentwurf kann sofort auf Landesebene übernommen werden. So wie er ist. Man muss nicht auf die Bundesebene warten.« Hauptkritikpunkt an der Pflegereform von Gesundheitsminister Spahn sind die geplanten Personaluntergrenzen. Diese beruhen laut ver.di jedoch nicht auf einer individuellen Personalbemessung, sondern auf einer statistischen Auswertung des - schlechten - Status quo. Laut Gewerkschaft würden diese Untergrenzen dazu führen, dass nur die 25 Prozent der Krankenhäuser mit der schlechtesten personellen Besetzung Personal aufbauen müssten. Die anderen 75 Prozent der Kliniken müssten danach gar kein Personal aufstocken. Ein breites Bündnis aus Gewerkschaften, Sozial- und Pflegeverbänden sowie Patient*innenorganisationen lehnt die Regelung ab und fordert in einem gemeinsamen Papier, dass »ein am individuellen Pflegebedarf ausgerichtetes und pflegewissenschaftlich fundiertes Personalbemessungstool entwickelt wird«. Die Befürchtung ist, dass die im Gesetz vorgesehenen Untergrenzen eine unzureichende Personalausstattung zum Normalzustand werden lässt - und manche Kliniken dadurch sogar noch Pflegestellen abbauen könnten. »Das Gesetz greift nur in den prekärsten Krankenhäusern«, kritisiert auch Anja Voigt, die als Pflegekraft im Neuköllner Vivantes-Klinikum arbeitet. Für die Bemessung der Personaluntergrenze fehle jede Grundlage. »Da werden Daten erhoben, die mit meiner Arbeitsrealität nichts zu tun haben«, sagt Voigt. Statt einer pauschalen Festlegung für starre Untergrenzen fordert sie deshalb eine Bedarfsbemessung des Personals aufgeteilt nach Bereichen und für jede Schicht. Vor der Senatsverwaltung für Gesundheit erwacht »Schwester Sonnenschein« schließlich wieder zum Leben. »Der Berliner Bär hat der Pflege neuen Atem eingehaucht«, heißt es. Sollte das Abgeordnetenhaus den Gesetzesentwurf annehmen und wird der Volksentscheid durchgesetzt, könnte Berlin mit einer eigenen Pflegereform tatsächlich bundesweiter Vorreiter für gute Pflege im Krankenhaus werden.
Maria Jordan
Die Reformvorschläge von Bundesgesundheitsminister Spahn reichen den Initiator*innen vom Volksentscheid für Gesunde Krankenhäuser nicht. Berlin könnte aus ihrer Sicht Vorreiter in Sachen Pflege werden.
Basisdemokratie, Berlin, Jens Spahn, Krankenhaus
Hauptstadtregion
Berlin
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Verbeugung vor dem Denkmal
Wenn es um »seinen« Müggelturm geht, dann lässt Siegfried Wagner nicht mit sich spaßen. Als der heutige Eigentümer des berühmten Köpenicker Wahrzeichens, der Unternehmer Matthias Große, im Frühjahr ankündigte, er wolle einen Zwillingsturm neben das Original bauen, muss der 87-Jährige sich regelrecht veräppelt gefühlt haben. Wagner hat dieses Bauwerk mitentworfen, er wollte wenigstens gefragt werden, denn hier ging es um Fragen des Urheber- und Denkmalrechts. Für Siegfried Wagner markiert der Müggelturm den Beginn seines erfolgreichen Berufslebens als Architekt in der DDR. Den Entwurf hat er 1959 gemeinsam mit Jörg Streitparth und Klaus Weißhaupt, damals Mitstudenten an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee, als Beitrag zu einem Ideenwettbewerb eingereicht. Damals ging es darum, den hölzernen Müggelturm zu ersetzen, der 1958 abgebrannt war. 35 Mitbewerber hatte die Kommilitonen ausgestochen. Seine beiden Kollegen und Freunde sind verstorben, er fühlt sich ihrem Andenken verpflichtet. »Als letzter Autor muss ich darauf bestehen, dass der Turm als Denkmal bestehen bleibt«, sagte er dem »nd«. Der Siegerentwurf des »Müggelturmkollektivs der Bauunion Berlin« hatte die Fachjury und auch die Berliner begeistert. Nur passte dessen ovaler Grundriss nicht zur offiziellen Vorstellung von moderner Architektur. »Die damals zur Begründung vorgebrachten bautechnischen und Kostengründe jedenfalls waren nur vorgeschoben«, so Wagner. Als Folge erhielt der überarbeitete Entwurf rechte Winkel und glatte Flächen. Doch selbst mit dieser »Kastenform«, wie er das nennt, gilt der 29,61 Meter hohe Stahlbeton-Turm als Frühwerk der sozialistischen Moderne in der DDR-Architektur, steht seit 1995 unter Denkmalschutz. Matthias Große hat das fast 20 Jahre lang vernachlässigte Müggelturm-Ensemble vor Verfall und drohendem Abriss bewahrt, es mit persönlichen Engagement und hohem Finanzaufwand wiederhergestellt. Nach der Wiedereröffnung 2018 will er nun sicherstellen, dass die gesamte Anlage künftig für jedermann uneingeschränkt zugänglich ist. Auch für die vielen Älteren und Gebrechlichen, die ohne Hilfe die Aussichtsetage nicht erreichen können. Doch ausgerechnet beim Turm, der nur über einen Treppenaufgang mit 126 Stufen begehbar ist, legte die Untere Denkmalbehörde ihr Veto ein: Kein Ein- oder Anbau eines Aufzugs. Große blieb die Antwort nicht schuldig: »Zur Schaffung eines barrierefreien Zugangs zum Müggelturm planen wir die Umsetzung eines Zwillingsturms mit integriertem Fahrstuhl«, heißt es auf der Homepage seiner Betreibergesellschaft UMG. Er will die Berliner zu seinem Projekt befragen, bevor er seine Pläne im Bezirksamt Treptow-Köpenick einreicht. Laut UMG-Sprecherin Kerstin Jennes haben bisher 5000 Unterstützer eine entsprechende Petition unterschrieben. Mit seiner harschen Kritik hatte Siegfried Wagner bei Matthias Große auf Granit gebissen. So war er schließlich selbst bei einem Informationsabend der UMG in der »Müggelturm-Baude« erschienen und hatte dort hitzig mit Große gestritten. Am Ende fanden beide Kontrahenten, dass nach heutigen Maßstäben die Forderung nach Barrierefreiheit berechtigt ist, der Charakter des Denkmals aber gewahrt werden muss. Eigentümer und Architekt reichten sich die Hände. Wagner sagte einen Gegenentwurf zu. Anfang März schrieb er an Matthias Große: »Nach der stürmischen aber auch sachlichen Diskussion am 28.2.2019 im Müggelturm möchte ich Ihnen mitteilen, dass ich Ihrem Vorschlag, den ovalen Turm (1. Preis von 1961) mit integriertem Aufzug und Fluchtweg zu bauen, zustimme.« Eine beigefügte Skizze zeigt statt des identischen Zwillingsturms, wie ihn der UMG-Entwurf vorsieht, einen gläsernen Aufzug neben dem Müggelturm. Wichtig sei ihm bei der Gestaltung dessen kontrastierende Form und Materialität. In der DDR war Siegfried Wagner, der als Student bei Hermann Henselmann und Selman Selmanagić lernte, ein anerkannter Stadtentwickler. In den 1960er als Stadtarchitekt die sozialistische Umgestaltung von Hoyerswerda. In Berlin tragen das Haus des Lehrers und die Kongresshalle am Alexanderplatz auch seine Handschrift, er wirkte am Palast der Republik und am Charité-Neubau mit. Jetzt, mit 87 Jahren, will er es auch beim Müggelturm noch einmal wissen: Gemeinsam mit seinem Sohn Thomas (56), einem Produktdesigner, und seinem Enkel Brian (34), der an der Beuth-Hochschule seinen Master of Science macht, entwickelte er sein Projekt weiter. Nun stellt er sich mit einer professionellen Computersimulation dem Urteil der »nd«-Leser, ja aller Berliner. Wie sich zeigt, soll künftig ein schlanker, gläserner Aufzug Müggelturm-Besucher zur Aussichtsplattform bringen. Die technische Machbarkeit hat er sich von namhaften Lift-Herstellern zusichern lassen, selbst die Kosten sollen sich im Rahmen halten. »Mir ist vor allem die ovale Form wichtig, die unseren ursprünglichen Siegerentwurf aufgreift«, betont er. Im zuständigen Bauamt liege kein Antrag von Matthias Große vor, den man prüfen könnte. »Jegliche Information über diese Überlegung des Eigentümers konnte das Bezirksamt nur aus der Presse entnehmen«, teilte eine Sprecherin dem »nd« mit.
Tomas Morgenstern
Die Absicht des Müggelturm-Eigentümers, dem berühmten Köpenicker Wahrzeichen einen »Zwilling« zur Seite zu stellen, hat zu Streit mit einem der am ursprünglichen Entwurf beteiligten Architekten geführt. Der stellt nun einen Gegenentwurf zur Debatte.
Barrierefreiheit, Berlin, Müggelsee
Hauptstadtregion
Berlin Müggelturm
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Widerstand gegen »ausländische Mächte«
Nach dem Medienrummel um die deutsche Söldnerfirma »Asgaard – German Security Group« kann das Unternehmen neue Aufträge und Bewerbungen vorweisen. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gehen weiter. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Münster gegen die Söldnerfirma »Asgaard – German Security Group« halten an. Das Unternehmen mit Sitz im westfälischen Telgte möchte deutsche Söldner nach Somalia schicken und verstößt nach Ansicht der Staatsanwaltschaft gegen Paragraf 109h des Strafgesetzbuchs. Das Gesetz sieht eine Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren für denjenigen vor, der »zugunsten einer ausländischen Macht einen Deutschen zum Wehrdienst in einer militärischen oder militärähnlichen Einrichtung« verlockt. Da der somalische Auftraggeber, der in den USA lebende Politiker Galadid Abdinur Ahmad Darman, jedoch über kaum Einfluss in dem afrikanischen Land verfügen soll, ist zweifelhaft, ob er überhaupt als »ausländische Macht« angesehen werden kann. Falls sich der Straftatbestand jedoch erhärtet, droht von der zuständige Kreisbehörde Warendorf eine Gewerbeuntersagung. Und das ist nicht das einzige Problem des Unternehmens. So beteuert Geschäftsführer Thomas Kaltegärtner zwar immerzu, nicht gegen deutsche Interessen handeln zu wollen, im Auswärtigen Amt und im Verteidigungsministerium hat man von »Asgaard – German Security Group« bisher aber nichts gewusst. Die Links zur Bundeswehr und zum Auswärtigen Amt verschwanden nach dem Medienrummel Ende Mai vorsorglich von der Website. Die Söldnerfirma wollte sich gegenüber dem ND nicht zu den Vorwürfen der Staatsanwaltschaft und den anderen Ungereimtheiten äußern und beantwortete auch keine weiteren Fragen. Dem Söldnerunternehmen scheint das Aufsehen aber auch Vorteile gebracht zu haben: So sollen bei Asgaard hunderte neue Bewerbungen eingegangen sein. Auch zwei neue Aufträge für Personenschutz soll das Unternehmen gewonnen haben. Bald wolle man den Geschäftssitz in die nordrhein-westfälische Landeshauptstadt verlegen und in Düsseldorf ein repräsentatives Büro einrichten. Der jetzige Geschäftssitz in der Stadt Telgte mit 18 000 Einwohnern ist ein Einfamilienhaus mitten in einem Wohngebiet. Dutzende Söldner soll das Unternehmen bereits heute in kurzer Zeit für Aufträge mobilisieren können. Die Ausbildung finde in ehemaligen Bundeswehr-Kasernen, unter anderem am Möhnesee im Kreis Soest statt. Schwere Waffen würden in den Einsatzländern besorgt. Bestätigen wollte Asgaard die Informationen allerdings nicht. In Telgte geht indes der Widerstand gegen die Söldnerfirma weiter. Für die kommende Woche ist eine Vortragsveranstaltung über die Privatisierung von Krieg geplant, auch eine Aktion auf dem Marktplatz soll es geben. Die Stadt will gegen Geschäftsführer Kaltegärtner ein Ordnungsgeld verhängen, da dieser bisher kein Gewerbe angemeldet habe.
Redaktion nd-aktuell.de
Von Michael Schulze von Glaßer, Telgte
Nordrhein-Westfalen, Söldner, Staatsanwaltschaft
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Politik
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Amnesty International: Demonstrationsfreiheit in Gefahr
In zahlreichen europäischen Staaten schränken Regierungen das Recht, sich friedlich zu versammeln, ein und greifen zu immer repressiveren Mitteln, um abweichende Meinungen zu unterdrücken. Das geht aus einem neuen Bericht von Amnesty International hervor, der am Dienstag veröffentlicht wurde. Auch Deutschland findet in dem Papier vielfach Erwähnung – insbesondere im Kontext der pro-palästinensischen Proteste und der Klimabewegung kommt es demnach vermehrt zu Repression. »Die Versammlungsfreiheit ist ein wichtiges Minderheitenrecht. Protest darf und soll stören«, mahnt Julia Duchrow, Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland mit Blick auf das Papier. Anstatt politisch unliebsame Proteste einzuschränken und diejenigen zu bestrafen, die auf die Straße gehen,müssten die Staaten in ganz Europa ihr Vorgehen überdenken, so Duchrow. »Die Versammlungsfreiheit ist ein wichtiges Minderheitenrecht. Protest darf und soll stören.« »Auch in Deutschland sehen wir besorgniserregende Entwicklungen in den letzten Jahren«, sagt Paula Zimmermann, Amnesty-Fachreferentin für Meinungs- und Versammlungsfreiheit, gegenüber »nd«. Hier seien neben Gesetzesverschärfungen der Polizei- und Versammlungsgesetze auf Landesebene vor allem die Verfahren wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung gegen die Letzte Generation sowie die Anwendung sogenannter Schmerzgriffe zu nennen. »Außerdem ist in Deutschland eine Verlagerung von Maßnahmen ins Vorfeld – also zur Verhinderung von Protest – zu beobachten«, so Duchrow. Sie nannte Vorabverbote, Präventivhaft oder allgemeine Kontroll- und Überwachungspraktiken. Dem Bericht zufolge zeugt das von einer zunehmenden Kriminalisierung von zivilem Ungehorsam, also dem gewaltfreien Überschreiten von Gesetzen, um seine Meinung kundzutun. Obwohl laut UN-Menschenrechtsausschuss auch gesetzeswidriger Protest von der Versammlungsfreiheit gedeckt sein kann – wenn dieser friedlich stattfindet. Mit Blick auf die Palästina-solidarische Bewegung identifiziert der Bericht »ein beunruhigendes Muster in ganz Europa« – darunter in Österreich, Belgien,Deutschland, Frankreich, Griechenland, und Italien: Versammlungen in Solidarität mit dem palästinensischen Volk, bestimmte Gesänge, palästinensische Flaggen und andere Symbole wurden demnach verboten. Friedliche Proteste wurden aufgelöst, auch wenn von ihnen keine ernsthaften Störungen ausgingen. Zudem hätten Demonstranten von übermäßiger Gewaltanwendung und willkürlichen Verhaftungen berichtet. Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen. Der größte Teil des Berichtes zu Repression gegen palästina-solidarischen Protest ist Deutschland gewidmet. Genannt werden etwa das pauschale Verbot von Protesten nach dem 7. Oktober und unverhältnismäßige Polizeigewalt bei Demonstrationen: »In den Fällen, in denen die Proteste rechtmäßig stattfinden konnten, gab es anschließend zahlreiche Berichte über unnötige und übermäßige Gewaltanwendung durch die Polizei, Hunderte von willkürlichen Verhaftungen und zunehmendes Racial Profiling von Menschen, die als Araber oder Muslime gelesen wurden.« Auch das Verbot des umstrittenen Slogans »From the River to the Sea, Palestine will be free« durch Innenministerin Nancy Faeser (SPD) findet im Amnesty-Bericht Erwähnung. Dieses sei im November 2023 trotz eines Urteils eines Berliner Gerichts vom August 2023 erfolgt, wonach der Slogan als solcher nicht zu Gewalt oder Diskriminierung aufrufe, wird in dem Papier moniert. Ein Gericht in Münster habe die Parole später ähnlich beurteilt. »Solidaritätsdemonstrationen zu verbieten oder stark einzuschränken, entspricht nicht den Grundsätzen der Rechtmäßigkeit, Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit, sondern verfestigt rassistische Vorurteile und Stereotype«, heißt es im Bericht. Das Versagen europäischer Länder bei der Bekämpfung und Aufdeckung von Rassismus gegenüber Arabern und Muslimen gebe Anlass zu ernster Besorgnis.
Pauline Jäckels
In ganz Europa finden Angriffe auf die Meinungs- und Versammlungsfreiheit statt, moniert Amnesty in einem neuen Bericht. In Deutschland seien Klimaaktivisten und gegen den Gaza-Krieg Protestierende besonders betroffen.
Amnesty International, Kriminalität, Menschenrechte, Nahost, Palästina
Politik & Ökonomie
Politik Protest
2024-07-09T15:45:12+0200
2024-07-09T15:45:12+0200
2024-07-10T14:03:25+0200
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1183585.protest-amnesty-international-demonstrationsfreiheit-in-gefahr.html
Deutliche Niederlage
New York. Die Vereinigten Staaten haben im UN-Sicherheitsrat eine ungewöhnlich deutliche Abstimmungsniederlage erlebt. Sie betraf Israel und den Konflikt mit den Palästinensern. Als einziges Land stimmten die USA am Freitagabend für ihren eigenen Resolutionsentwurf zum Nahostkonflikt. Ein Gegenentwurf scheiterte am Veto der USA, die als einzige dagegen stimmten. Der US-Resolutionsentwurf hatte die Gewalt aus dem Gaza-Streifen verurteilt, wobei die Verantwortung dafür nicht beim US-Verbündeten Israel, sondern ausschließlich bei der in Gaza herrschenden Hamas gesehen wurde. Drei der 15 Ratmitglieder stimmten gegen den Entwurf, elf Staaten enthielten sich. Zuvor hatten die USA ihr Veto gegen einen von Kuwait eingebrachten Resolutionsentwurf eingebracht, der zu einem Ende der israelischen Gewalt aufrief, Maßnahmen zum Schutz der palästinensischen Zivilisten anregte und das Abfeuern von Raketen aus dem Gaza-Streifen bedauerte. Zehn Länder stimmten dafür, vier enthielten sich, doch das Nein der Vetomacht USA reichte zur Ablehnung. Der unerklärte Kleinkrieg rund um Gaza ging derweil am Wochenende weiter. So bombardierte die israelische Luftwaffe am Sonntag 15 Einrichtungen im Gaza-Streifen, die der Hamas-Organisation gehören sollen. Zuvor waren Kleinraketen von Gaza in Richtung Israel abgefeuert worden, ohne Schaden anzurichten. Über Opfer des neuen Schlagabtausches wurde nichts bekannt. dpa/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Zwei Nahostresolutionen wurden am Wochenende im UN-Sicherheitsrat abgelehnt. Der Entwurf der USA erhielt nur eine Stimme - die Washingtons.
Gaza, Hamas, Israel, Nahost, Palästina, UNO, USA
Politik & Ökonomie
Politik
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Exklusive nd-Touren: Tschingis Aitmatow und Kommissar Bruno
Was haben Kirgistan und das Perigord in Frankreich gemeinsam? Keine Ahnung, werden die meisten wohl sagen und ratlos mit den Schultern zucken. Und damit haben sie zweifelsohne recht – zumindest auf den ersten Blick. Und doch möchte ich Ihnen beide Länder in einem Zusammenhang ans Herz legen: Denn in beide führen exklusive nd-Reisen, die man so nirgendwo anders buchen und erleben kann. Beide wurden von nd-Autorinnen konzipiert, aus ihrer jeweiligen Leidenschaft für das Thema der Reise. Und für beide Touren nähert sich der Zeitraum, bei dem sich entscheidet, ob sie tatsächlich stattfinden können oder nicht. Das einzige Kriterium für Top oder Flop ist die Anzahl der Reisenden. Denn eine Mindestzahl an Teilnehmern muss zusammenkommen, um aus der geplanten Traumtour Wirklichkeit werden zu lassen. Die erste gehört zu den Herzensprojekten von nd-Autorin Irmtraud Gutschke und führt Ende Mai nach Kirgistan in die Heimat Tschingis Aitmatows. Wohl kaum jemand kennt sich so mit seinen Werken aus wie sie, nur wenige können von sich behaupten, den Schriftsteller, dessen weltberühmte Novelle »Djamila« jedes Kind aus der DDR in der Schule gelesen hat, persönlich zu kennen. Auch Irmtraut Gutschke las die Geschichte des kirgisischen Mädchens, doch was für die meisten nur Schulstoff war, beeinflusste sie für ihr Leben: Sie promovierte über Aitmatows Schaffen, besuchte 1977 als erste Ausländerin überhaupt Scheker, den Geburtsort des Schriftstellers, traf ihn oftmals persönlich. Kirgistan hat sie nie wieder losgelassen, mehrere ihrer Bücher erzählen von dieser weit entfernten Zauberwelt. Seit 2019 ist Irmtraud Gutschke sogar Mitglied der »Nationalen Akademie Manas und Aitmatow« in Bischkek. Irmtraud Gutschke möchte Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, dieses wunderschöne, märchenhafte Land näherbringen und Ihnen all die Orte zeigen, die eng mit dem Leben Aitmatows verbunden sind: seinen Geburtsort Scheker, Bischkek, die Hauptstadt Kirgistans, den See Yssykköl, der als heiliger See der Kirgisen gilt. Insgesamt elf Tage lang werden Sie tief in die Seele eines Landes eintauchen, dass für die meisten bisher nichts weiter ist, als eine Erinnerung an eine längst vergangene Pflichtliteratur in der Schulzeit. Die andere Reise führt Sie ins Perigord, jene Landschaft, die auch als die »Wiege der Menschheit« bezeichnet wird, weil man dort in zahlreichen Höhlen die weltweit ältesten Nachweise der Cro-Magnon-Menschen und Neandertaler gefunden hat. Es ist auch die Heimat von Kommissar Bruno und die Wahlheimat von Brunos geistigem Vater, dem Schriftsteller Martin Walker. In wenigen Wochen erscheint »Im Chateau«, der 16. Fall den der smarte Kommissar zu lösen hat.Nachdem ich vor vielen Jahren mehr oder weniger zufällig den ersten Fall von Bruno in die Finger bekam, wusste ich, dass ich unbedingt ins Perigord reisen muss, um alles mit eigenen Augen zu sehen, zu erleben und zu genießen. Denn neben den Morden, die Bruno aufzuklären hat, geht es dem Autor Martin Walker vor allem darum, Land und Leute, deren Geschicht, Lebens- und Genusskultur vorzustellen. Das ist ihm mit der Bruno-Serie so gut gelungen, dass inzwischen alljährlich zig tausende ins Perigord reisen, um es mit eigenen Augen zu sehen und zu erleben. Wer die nd-Reise Anfang Juli bucht, hat nicht nur dazu Gelegenheit, sondern wird auch Martin Walker und viele seiner Freunde persönlich kennenlernen. Der Schriftsteller zeigt uns Brunos Lieblingsorte und lädt anschließend alle zu sich nach Hause zu einem Picknick unter der Pergola in seinem Garten ein. Alle, die das schon einmal erlebten, schwärmen von der Gastfreundschaft Walkers, von den vielen Spezialitäten des Perigords, unter deren Last der stabile Tisch ächzt. Ein bisschen fühlt man sich, als ob man für ein paar Stunden in einen der Romane gebeamt wurde und mit Bruno und seinen Freunden eine wunderschönen Zeit verbringt. In den acht Tagen der Reise werden wir ganz tief in Brunos Welt eintauchen – garantiert ohne Zeuge eines Mordes zu werden. Und ich garantiere Ihnen: Am Ende werden Sie, so wie ich, süchtig nach dieser Landschaft und deren gastfreundlichen Menschen sein. Für beide Reisen naht der Anmeldeschluss. Ob Aitmatow- oder Bruno-Fan, ob Sie schon immer mal die märchenhafte„Exotik“ Kirgistans kennenlernen oder wissen wollten, wie »Gott in Frankreich« lebt: Jetzt haben Sie dazu eine einmalige Gelegenheit. Weitere Infos zu beiden Reisen und Buchung:nd.Leserreisen, Frank DiekertTelefon: (030)29781620E-Mail: [email protected]
Heidi Diehl
Die nd.Autorinnen Irmtraud Gutschke und Heidi Diehl laden zu spannenden Reisen ein. Es geht in entgegengesetzte Richtungen. Mit Gutschke reisen Sie nach Kirgistan, mit Diehl zur Krimi-Reise nach Frankreich.
Aitmatow, Bildungspolitik, Frankreich, Kirgistan, Literatur, Martin Walker, Perigor, Reise
nd-Commune Reisen
2024-03-11T15:56:17+0100
2024-03-11T15:56:17+0100
2024-03-11T15:57:05+0100
https://www.nd-aktuell.de//leserbrief/?id=1189843
Kinder öfter ganztags in der Schule
Gütersloh. Einen Rechtsanspruch auf einen Platz in der Ganztagsschule zumindest für Grundschulkinder: Im Bundestagswahlkampf hatten mehrere Parteien das gefordert - darunter Union, SPD und Grüne. Nach den aktuellsten Zahlen für das Schuljahr 2015/2016 nehmen bundesweit rund vier von zehn Schülern (39,3 Prozent) eine Ganztagsschule in Anspruch. Das geht aus einer neuen Studie der Bertelsmann-Stiftung hervor, die am Dienstag veröffentlicht wurde. Um bis 2025 für 80 Prozent der Schüler einen Ganztagsschulplatz anbieten zu können, müsste die Politik weitere 3,3 Millionen Ganztagsplätze schaffen, was rund 15 Milliarden Euro kosten würde. Dazu müssten zusätzlich rund 47 300 Pädagogen eingestellt werden. An Personalkosten würden laut Studie 2,6 Milliarden Euro jährlich anfallen. Kritiker halten das kaum für machbar. In den vergangenen Jahren hat der ganztätige Schulbesuch deutlich zugenommen. Im Schuljahr 2002/2003 ging jeder Zehnte (9,8 Prozent) dorthin. Deutliche Unterschiede gibt es je nach Bundesland. Im Schuljahr 2015/2016 hatten beim Spitzenreiter Hamburg rund neun von zehn Kindern einen Platz in einer Ganztagsschule (91,5 Prozent) - beim Schlusslicht Bayern sind es mit 16,0 Prozent deutlich weniger. Thomas Rauschenbach vom Deutschen Jugendinstitut (DJI) in München hält das in der Studie angenommene Ausbautempo kaum zu schaffen. Er sieht die Annahmen für die Modellrechnung der Bertelsmann-Studie noch aus einem anderen Grund kritisch: »Es wird immer einen Teil der Eltern geben, die ihre Kinder nicht in die Ganztagsschule geben wollen«, sagt er. Für jedes Kind einen Ganztagsschulplatz zu schaffen - wie in dem Modell für 2030 vorgesehen - sei zu viel und gehe am Bedarf der Eltern vorbei. dpa/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Starke Unterschiede in den Bundesländern
Bayern, Bertelsmann-Stiftung, Bildungspolitik, Ganztagsschule
Politik & Ökonomie
Politik
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Tanz der Kulturen
Es ist ein Kampf der Kulturen, der zurzeit in Mitte ausgetragen wird. Genauer gesagt: ein Kampf um die Kultur und was darunter eigentlich zu verstehen ist. Dass der Bezirk die lange geplante »Pornceptual«-Party im Strandbad Plötzensee plötzlich verbietet und auch sonst keine Tanzveranstaltungen in dem beliebten, aber kaum einträglichen Weddinger Strandbad haben will, klingt zunächst einmal nach Prüderie. Die grüne Stadträtin will offenbar keine Fetisch-Partys in ihrem Bezirk und überhaupt generell keine »Tanzlustbarkeiten«. Begründet wird das strikte Feierverbot in der »Plötze« damit, dass dadurch angeblich Familien abgeschreckt würden. Nun wirft dies zum einen die Frage auf, was für ein verengtes Familienbild hier eigentlich zugrunde gelegt wird. Als könnten Menschen, die auf Leder und nackte Haut stehen oder einfach mal gern das Tanzbein schwingen, nicht auch Familien haben. Und als ob der öffentliche Raum nicht für alle da ist: Tagsüber planschen, abends tanzen - wo ist das Problem? Doch es geht um mehr als das. Es geht auch darum, was in dieser Gesellschaft als Kultur anerkannt wird und was nicht. Ein Theater im Strandbad ist für den Bezirk nämlich kein Problem - doch geht es um Raves oder, schlimmer noch, Fetisch-Partys, hört das Verständnis offenbar auf. Aber Kultur besteht nicht nur aus Theater, klassischer Musik und Lesungen. Auch Techno-Partys, Hip-Hop-Konzerte, ja sogar Punkmusik gehören dazu. Das muss man nicht mögen, aber es ist ein untrennbarer Teil dieser vielfältigen und bunten Stadt. Alle Kulturbranchen haben in der Pandemie gelitten - und sie alle haben das Recht, im öffentlichen Raum ihre Kultur ausleben zu können, solange die Inzidenzen das zulassen. Hier Tanzverbote auszusprechen, ist nicht nur engstirnig, sondern auch freiheitsfeindlich.
Marie Frank
Marie Frank über das Tanzverbot des Bezirks im Strandbad Plötzensee
Musik, Tanz, Theater
Meinung
Kommentare Strandbad Plötzensee
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In Nordirland knallt es
In der Nacht auf Donnerstag kam es zu gewaltsamen Ausschreitungen in der nordirischen Hauptstadt Belfast. Am späten Nachmittag versammelten sich Hunderte Jugendliche entlang der Mauer im Westen der Stadt, die die irisch-katholischen von den loyalistisch-protestantischen Wohnvierteln trennt. Molotowcocktails, Brandsätze und andere Wurfgeschosse wurden von der loyalistischen Seite der Shankill Road über die meterhohe Betonmauer auf die katholische Seite geworfen. Der Lanark Way führt von der loyalistischen Shankill Road durch die »Friedensmauer« in die Springfield Road nahe der katholischen Falls Road. Die paramilitärische Ulster Defence Association (UDA) besitzt hier großen Einfluss. Sie stachelte die Jugendlichen an, Mülltonen in Brand zu setzen und Katholiken auf der anderen Seite der Mauer und die nordirische Polizei PSNI mit Brandsätzen anzugreifen. An der Kreuzung Shankill Road/Lanark Way wurde ein Doppeldeckerbus der Verkehrsbetriebe angezündet. Die Passagiere und der Fahrer konnten sich retten und blieben unverletzt. Die nordirische Regierungschefin Arlene Foster von der protestantischen und pro-britischen DUP bezeichnete den Angriff als »versuchten Mord«. In den Nachtstunden rammten Loyalisten zudem das Eisentor am Lanark Way mit einem Fahrzeug und konnten es so durchbrechen. Auf der anderen Seite hatten sich Hunderte zumeist jugendliche Katholiken versammelt, die, ebenfalls mit Brandsätzen und Wurfgeschossen, das Eindringen der Loyalisten in ihren Stadtteil verhinderten. Die Polizei hatte sich bereits früh zurückgezogen und beobachtete das Geschehen aus sicherer Entfernung. Am Rande der Ausschreitungen wurde der Fotograf des »Belfast Telegraph« Kevin Scott tätlich angegriffen und seine Kamera beschädigt. Er berichtete, dass er von zwei Vermummten am Cupar Way überfallen wurde, die ihn als »Fenian cunt« - ein sektiererisches Schimpfwort für irische Katholiken - bezeichneten, der sich »in seine Gegend verabschieden« solle. Auch im Norden Belfasts kam es zu Unruhen. In der North Queen Street wurde die Polizei von Loyalisten angegriffen, am Henry Place wurden mit brennenden Reifen Straßensperren errichtet. In den vergangenen Tagen hatte es bereits in mehreren Gegenden ähnliche Straßenschlachten gegeben, so in Derry, in der loyalistischen Sandy Row in Südbelfast, in Ballymena und Newtownabbey. Etwa 50 Polizisten wurden verletzt. Anfang März hatte das Loyalist Community Council (LCC), das die loyalistischen Paramilitärs vertritt, einen Brief an den britischen Premier Boris Johnson gesandt. Darin wurde die loyalistische Unterstützung für das Karfreitagsabkommen von 1998 aufgekündigt und vor Ausschreitungen gewarnt, falls nicht das Nordirland-Protokoll aus dem Brexit-Vertrag gestrichen werde, wonach aus Großbritannien nach Nordirland eingeführte Waren kontrolliert werden müssen. Der Brexit ist aber nur ein Katalysator für die jetzigen Proteste. Die Proteste sind ein Ausdruck allgemeinen Unmuts unter den protestantischen Arbeitern und Jugendlichen über die Wirtschaftskrise und den Verlust ihrer dominierenden Stellung durch den Friedensprozess. Die loyalistischen Paramilitärs versuchen, mit den Aktionen ihre Kontrolle über die Arbeitergebiete zu festigen. In den letzten Jahren kommt es in Nordirland regelmäßig zu Gewaltausbrüchen. Als der Belfaster Stadtsenat im Dezember 2012 beschloss, den britischen Union Jack nicht mehr täglich zu hissen, gab es wochenlange Unruhen, da Loyalisten den Verlust der britischen Identität Nordirlands befürchteten. Die heißeste Phase ist traditionell im Sommer, wenn Loyalisten am 12. Juli in Aufmärschen der Schlacht an der Boyne im Jahr 1690 gedenken. Dieses Jahr gab es bereits über Ostern illegale Aufmärsche loyalistischer Musikkapellen, die den Paramilitärs nahestehen. Die aktuellen Krawalle werden von allen nordirischen Politikern verurteilt. Am Donnerstag tagte das Lokalparlament in Stormont in einer Sondersitzung. Das LCC schweigt bisher zu den Ereignissen. Für das Wochenende sind weitere Proteste und illegale Paraden angekündigt. Es wird mit erneuten Ausschreitungen gerechnet. Während in Deutschland mancherorts noch Schnee fällt, hat im verregneten Nordirland politisch bereits im April ein langer, heißer Sommer begonnen.
Dieter Reinisch
Immer neue Gewaltausbrüche gefährden den fragilen Frieden in Nordirland. Kräfte aus dem protestantischen Lager stellen den im Brexit-Abkommen festgelegten Sonderstatus des Gebiets infrage.
Brexit, Großbritannien, Irland, Nordirland
Politik & Ökonomie
Politik Folgen des Brexit
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1150540.folgen-des-brexit-in-nordirland-knallt-es.html
Zwei Elfer vergeigt
Seinen Rekord-Abend in Basel wird Sergio Ramos wohl schnell vergessen wollen. Mit gleich zwei Elfmeter-Fehlschüssen verdarb sich der bärtige Routinier sein 177. Länderspiel für Spaniens Fußball-Nationalmannschaft, mit dem er Italiens Gianluigi Buffon die europäische Bestmarke abnahm. Durch die Patzer von Ramos beim 1:1 gegen die Schweiz verloren die Iberer die Gruppenspitze in der Nations League und müssen nun gegen die deutsche Mannschaft am Dienstag in Sevilla unbedingt gewinnen, um noch in die Endrunde zu kommen. »Zeit für einen Neustart«, twitterte Ramos. Der kantige Abwehrrecke ließ die Enttäuschung im St.-Jakob-Park eilig hinter sich. »Es sind nicht unsere Fehler, die uns ausmachen, sondern die Art, wie wir uns auf die nächsten Tore konzentrieren«, schrieb der Kapitän von Real Madrid. Vorwürfe gab es von Nationaltrainer Luis Enrique nicht - im Gegenteil. »Es wäre ungerecht, wenn wir jetzt Sergio Ramos kritisieren würden. Wenn es drei oder vier Elfmeter gegeben hätte, dann hätte er die auch geschossen«, versicherte der Coach und verwies darauf, dass der Innenverteidiger zuvor 25 Strafstöße nacheinander verwandelt hatte. Diesmal aber bekam es Ramos mit Yann Sommer zu tun. Der Keeper von Borussia Mönchengladbach durchschaute den Andalusier und gewann beide Duelle in der 58. und 80. Minute. »Dass ich zwei Penaltys von Ramos halte, ist ein tolles Gefühl. Da wir in der Champions League mit Mönchengladbach auch gegen ihn mit Real Madrid spielen, habe ich mich mit seinen Penaltys schon befasst«, verriet Sommer nach der Partie. Dabei hätte es der Abend des Sergio Ramos sein sollen. Der 34-Jährige zog in den Rekordlisten am legendären italienischen Torwart Buffon vorbei, nur noch sieben Spiele fehlen zur weltweiten Bestmarke des Ägypters Ahmed Hassan. Stattdessen verwiesen Statistiker nach dem Schlusspfiff auf einen anderen Rekord: Das erste Mal in 100 Jahren vergaben die Spanier in einem Spiel zwei Elfer, wie das staatliche Fernsehen RTVE berichtete. Beim ersten Strafstoß ahnte Sommer rechtzeitig, wohin der Schuss von Ramos gehen würde, und ließ sich in die linke Ecke fallen. Auch der zweite Elfer ging ins linke Eck, allerdings war es ein verunglückter Panenka-Schuss. Sommer konnte den Ball sogar mit den Händen fangen, so als ob man ihm ein Stofftier zugeworfen hätte, schrieb die Zeitung »El País«. Ramos stapfte mit gequältem Gesichtsausdruck davon. Kaum Trost war ihm wohl, dass er mit einer spektakulären Aktion auf der Torlinie in der 55. Minute das drohende 0:2 verhindert hatte. Immerhin rettete der kurz zuvor eingewechselte Gerard Moreno den Gästen mit seinem Treffer in der 89. Minute zumindest einen Punkt, nachdem Remo Freuler für die Eidgenossen (26. Minute) getroffen hatte. Dennoch sind die Spanier nun vor dem Gruppenfinale unter Druck geraten. Das 0:1 in der Ukraine und das 1:1 in der Schweiz haben Luis Enriques Elf die komfortable Ausgangsposition gekostet, nachdem man zuvor die Gruppe auf Platz eins angeführt hatte. Torschütze Moreno aber gab sich unbesorgt: »Wir verlassen uns weiter auf uns selbst. Wenn wir gut spielen, werden wir es gegen Deutschland schaffen.« dpa
Jan-Uwe Ronneburger
Es hätte das Spiel des Sergio Ramos werden können. Doch Schweiz-Keeper Yann Sommer vermasselt ihm die Show.
Schweiz, Spanien
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Zwergenaufstand bei den Sozialdemokraten
Der SPD-Landesverband Sachsen-Anhalt ist klein. Doch diese Entscheidung hat Gewicht: Nur einen Tag, nachdem die SPD-Spitze sich in Berlin für Koalitionsverhandlungen mit der Union ausgesprochen hat, wandte sich der Landesverband beim Parteitag in Wernigerode gegen die Große Koalition. Mit der hauchdünnen Mehrheit von einer Stimme beschlossen die Delegierten einen Antrag, der ein Bündnis mit der Union ablehnt. Das Papier war von den Jusos initiiert worden, wurde aber auch von Gruppen wie der »Arbeitsgemeinschaft 60 plus« und der »Arbeitsgemeinschaft für Bildungsfragen« mit eingebracht. »Verlässliches Regieren ist mit der Union aktuell nicht möglich«, heißt es in der Begründung des Antrags. Die Ergebnisse der Sondierungen in Berlin zeigten, dass sich die Ziele der SPD so nicht durchsetzen ließen. Der Antrag nennt vor allem die Bürgerversicherung als Kernforderung der SPD. Die Sozialdemokraten werden bei einem Bundesparteitag in Bonn am kommenden Wochenende entscheiden, ob sie Koalitionsverhandlungen mit der Union aufnehmen. Sachsen-Anhalt stellt sieben der 600 Delegierten. An das Votum des Parteitags müssen sie sich aber nicht halten. Der beim Landesparteitag im Amt bestätigte SPD-Landesvorsitzende von Sachsen-Anhalt, Burkhardt Lischka, ärgerte sich über den Antrag. Er machte sich dafür stark, zunächst einen Koalitionsvertrag auszuhandeln. Für die Diskussion innerhalb der Partei sei der Entschluss nicht förderlich. »Es wäre töricht, wenn wir die Verhandlungen jetzt abbrechen.« Er habe großes Vertrauen in die Entscheidung der Mitglieder, die am Ende über einen Koalitionsvertrag abstimmen. Allerdings äußern inzwischen auch führende SPD-Politiker Zweifel an den Sondierungsergebnissen. Berlins Bürgermeister Michael Müller positionierte sich zu einer Neuauflage von Schwarz-Rot »sehr kritisch«, wie er im »Tagesspiegel« sagte. Er finde im Papier von Union und SPD zwar »gute Ansätze« in der Bildungspolitik und für bessere Arbeit und Ausbildung, erklärte das SPD-Präsidiumsmitglied. Aber: »Bei Wohnen, Zuwanderung und Integration geht es so nicht.« Außerdem fehle die Bürgerversicherung. Eine Fortsetzung der bisherigen Koalition ohne entscheidende Veränderungen überzeuge ihn nicht. Als Bedingung für den Eintritt in eine Koalition nannte der SPD-Vizevorsitzende Ralf Stegner das Verbot von Job-Befristungen ohne sachlichen Grund. »Ich bin für Koalitionsverhandlungen«, sagte er der »Welt«. Jedoch solle die SPD eine Koalition nur bilden, »wenn auch die sachgrundlose Befristung fällt«. Der designierte bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) nannte die Ergebnisse der Sondierung indes nicht mehr verhandelbar. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt sagte, SPD-Chef Martin Schulz müsse jetzt zeigen, »dass die SPD ein verlässlicher Koalitionspartner sein kann und er den Zwergenaufstand in Griff bekommt«. Die SPD-Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles wertete das Sondierungsergebnis als fairen Kompromiss. »Ich persönlich sehe das als ein Geben und Nehmen bei Verhandlungen.« Für die Abstimmung auf dem Parteitag am 21. Januar sei sie »sehr zuversichtlich«. Auch die stellvertretende SPD-Chefin Malu Dreyer glaubt, die Kritiker einer Großen Koalition in ihrer Partei umstimmen zu können. Das Sondierungspapier sei eine gute Grundlage, um Verhandlungen zu einer Koalition zu führen. Die Jusos sprechen sich geschlossen gegen die Große Koalition aus. Ihr Vorsitzender Kevin Kühnert kritisierte die Beschlüsse zur Rente als zu vage, weil das Rentenniveau nur bis zum Jahr 2025 stabilisiert würde. Auch würden Bezieher großer Einkommen bei der Steuer nicht stärker herangezogen. Die SPD sei bereits mit der sehr moderaten Forderung nach einem um drei Prozentpunkte höheren Spitzensteuersatz in die Verhandlungen hineingegangen. »Dass nicht mal das drin war, das finde ich schon eine wirklich schwache Leistung«, sagte Kühnert. Die bayerische Juso-Vorsitzende Stefanie Krammer sagte, das Ergebnis der Sondierungen komme einer Bankrotterklärung gleich. Auch das SPD-Präsidiumsmitglied Johanna Uekermann - bis November 2017 Juso-Vorsitzende - sprach sich gegen eine Neuauflage der Großen Koalition aus. »Trotz einiger SPD-Erfolge überzeugt mich das Sondierungsergebnis nicht«, sagte die 30-jährige. Die Parteitagsdelegierten der Jusos wird SPD-Chef Martin Schulz voraussichtlich nicht überzeugen können. Den mächtigen Landesverband Nordrhein-Westfalen vielleicht schon. Am Montag und Dienstag reist Schulz nach Dortmund und Düsseldorf, um dort die 144 NRW-Delegierten des Bundesparteitags zu überzeugen. Die NRW-SPD gilt bislang als besonders kritische Gegnerin einer Neuauflage der Großen Koalition. Der Landes-SPD-Chef Michael Groschek sieht bei seinen Parteifreunden noch »viel Skepsis«. »Man kann nicht sagen, dass jetzt Begeisterungsstürme da waren«, sagte er am Samstag nach parteiinternen Beratungen in Duisburg. »Es gab positive wie negative Stimmen.« Es sei deshalb möglich, die Parteibasis noch zu überzeugen. »Das wird eine große Aufgabe. Aber es ist nicht so, als ob die Delegierten alle auf Nein verortet wären.« Außenminister Sigmar Gabriel äußerte am Samstag Kritik an dem geplanten Parteitag in Bonn. Das Verfahren sei nicht nur ein Misstrauensbeweis gegenüber dem Parteivorstand. »Das ist auch ein Misstrauen gegenüber der eigenen Basis«, sagte Gabriel. SPD-Chef Schulz hatte der Basis zugesichert, in einem Votum über einen möglichen Koalitionsvertrag entscheiden zu können. Mit Agenturen
Florian Haenes
Die Union ist mit der Sondierung zufrieden. Teile der SPD werfen ihrem Verhandlungsteam hingegen eine zu große Kompromissbereitschaft vor. Die SPD Sachsen-Anhalt wagt den Zwergenaufstand und stimmt mit knapper Mehrheit gegen die Sondierungen zur GroKo.
Bildungspolitik, Jusos, Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt, SPD
Politik & Ökonomie
Politik SPD
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Gabriel hat »aus Schröder nichts gelernt«
München. Der frühere Bundesaußenminister und Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) soll in den Verwaltungsrat der geplanten deutsch-französischen Zug-Allianz Siemens Alstom einziehen. Gabriel wurde von Siemens als Mitglied des Gremiums vorgeschlagen, wie beide Unternehmen am Dienstagabend mitteilten. Er wurde demnach als unabhängiges Mitglied nominiert. Die Aktionäre müssen der Nominierung der einzelnen Mitglieder noch zustimmen. Pikant: Als früherer Bundeswirtschaftsminister hatte sich Gabriel für ein Geschäft zwischen Siemens und Alstom stark gemacht. Dies biete »große Chancen« für Deutschland und Frankreich, hieß es 2014 aus dem damals von Gabriel geführten Bundeswirtschaftsministerium. Die geplante Fusion der Bahnsparte von Siemens mit dem französischen Zughersteller Alstom war im September bekannt gegeben worden. Der Zusammenschluss soll bis Ende des Jahres unter Dach und Fach sein. Die Wettbewerbsbehörden müssen noch zustimmen. Der neue Konzern Siemens Alstom wäre nach Volumen der zweitgrößte Bahnbauer weltweit und der größte Hersteller von Signaltechnik. Gabriel selbst sieht seinen geplanten Einzug in den Verwaltungsrat von Siemens Alstom im Einklang mit den gesetzlichen Vorschriften. Er sagte den Zeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschland (RND), er werde seine Arbeit voraussichtlich zum Jahresende oder zum Beginn des kommenden Jahres aufnehmen. »Für die dann beginnende Tätigkeit eines neuen Aufsichtsrates würde ich nach Ablauf eines Jahres nach dem Ausscheiden aus der Bundesregierung zur Verfügung stehen.« Er halte sich selbstverständlich strikt an die gesetzlichen Vorgaben für ehemalige Mitglieder der Bundesregierung, sagte der frühere Chefdiplomat. Er habe »rechtzeitig« für die Information und Beantragung bei dem Karenzzeitgremium nach dem Bundesministergesetz gesorgt und »umfassend über das Vorhaben der Siemens AG informiert«. Nach dem derzeit geltenden Karenzzeitgesetz müssen Minister und Staatssekretäre des Bundes die Regierung informieren, wenn sie innerhalb von 18 Monaten nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt in die Wirtschaft wechseln wollen. Die Personalie sorgt in der Politik indes auch für Kritik. »Aus Schröder nichts gelernt. Sigmar Gabriel geht in den Verwaltungsrat von Siemens und Alstom - und hatte den Deal selbst miteingefädelt. Kein Wunder, dass viele Menschen Politiker für korrumpiert halten«, kritisiert etwa LINKEN-Chef Bernd Riexinger die Entscheidung Gabriels. Ähnlich sieht es sein Parteikollege, der LINKEN-Bundestagsabgeordnete Michel Brandt: »Was für eine Karriere von Herrn Gabriel. Glaubwürdigkeit der SPD mitzerstört und jetzt arbeitet er an der Politikverdossenheit aller.« Agenturen/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Eine Personalie mit Gschmäckle: Der SPD-Politiker Sigmar Gabriel soll in den Verwaltungsrat der geplanten deutsch-französischen Zug-Allianz Siemens Alstom einziehen. Pikant: Einst hat er sich für eine Deal zwischen beiden Konzernen stark gemacht.
Lobbyismus, Siemens, Sigmar Gabriel
Politik & Ökonomie
Politik Verwaltungsrat bei Siemens Alstom
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1088319.verwaltungsrat-bei-siemens-alstom-gabriel-hat-aus-schroeder-nichts-gelernt.html
Vom Weggehen, Kommen und Bleiben
«Die Zeit deckt alles zu und es wächst Gras drüber. Und bevor du es bemerkst, ist alles verschwunden», sagt ein Australier in die Kamera. Der Mann mit Cowboyhut steht mit einem Spaten vor freigelegtem Stein. Er gräbt in der Geschichte seines Wohnortes und hat herausgefunden, dass der Komponist Frédéric Chopin mit dem Dorf verbunden war. Dort, wo Polen, Deutschland und Tschechien einander treffen, hat die Familie aus «down under» ein neues Zuhause gefunden. Es sind Geschichten von Menschen an Oder und Neiße, die Dokumentarfilmer Andreas Voigt festhält. Fast 30 Jahre nach seinem Film «Grenzland - eine Reise» kehrt der Regisseur und Chronist noch einmal in die weite, flache Flusslandschaft zurück. Sein Film «Grenzland» (2020) startete in der vergangenen Woche in den deutschen Kinos. Offizielle Premiere in Anwesenheit des Regisseurs hatte der Film am Freitag im Berliner Kino Babylon. «Ja, ich war überrascht, dass es auf einmal eine Landschaft ist, in der sich so ein Pioniergeist entwickelt», erzählt der 67-Jährige der Deutschen Presse-Agentur über seine Rückkehr. Den Australier etwa filmt er, wie der mit seiner Tochter Polnisch übt, seine Frau schwärmt von der Freiheit, die die Familie in Polen genießt. Interessant ist für den Dokumentarfilmer, wie weit Geschichte «ins Heute» reicht. So findet eine griechisch-polnische Musikerin in der Landschaft am Fluss ihre Wurzeln. Ihr Großvater war vor dem Bürgerkrieg aus Griechenland in die Gegend geflohen, hatte eine Deutsche geheiratet und blieb. Voigt begleitet sie mit seiner Kamera zum Grabstein. In einem Dorf baut sich ein Syrer, der 2015 vor dem Krieg nach Deutschland flüchtete, ein kleines Haus aus. Er erlebt Wohlwollen, aber auch alltäglichen Rassismus auf beiden Seiten der Oder. Die Begegnungen handeln vom Weggehen und Wiederkommen, vom Bleiben und der Suche nach einem besseren Leben. Voigt ist ein Meister des Beobachtens. Jede Regung im Gesicht der Erzählenden, jeder Zug von Wehmut oder Bitternis und auch manche Wortlosigkeit fängt er ein. «Es reizt mich immer schon, Geschichten zu erzählen, ohne dass ich da in irgendeiner Form mit meiner eigenen verbalen Erzählung noch erscheinen muss», sagt Voigt. Aber wie schafft er es, dass die Menschen sich ihm öffnen? «Neugier ist eine wichtige Voraussetzung und Offenheit, keine vorgefasste Meinung zu haben und das auch nicht auszustrahlen», sagt der Regisseur. «Und dann muss es eine Spannung geben zwischen den Menschen, die vor der Kamera stehen und mir dahinter.» Die Protagonisten spielten sich selbst, die müsse man finden. «Ein Schauspieler vor der Spielfilmkamera muss wiederholen können (...). Beim Dokumentarfilm aber hat man nur dieses eine Mal.» «Wissen Sie, was mir fehlt? (...) Etwas, worauf man sich freuen kann», sagt ein Mann in Hoyerswerda (Sachsen), der gerade dem Abriss eines Wohnblocks in seiner Stadt zusieht. Voigt spricht ihn auf einer Parkbank an und der Arbeitslose breitet für einen Moment sein Leben aus. Der alte Fischer auf der Oder schaut stumm über das Wasser. Ursprünglich auf der jetzt polnischen Seite geboren lebt er dort seit 1945 nicht mehr. Etwas verschlossen wirkt er, aber Voigt zeichnet mit der Kamera das Bild eines Mannes, der sein ganzes Leben auf dem Fluss zwischen Deutschland und Polen verbracht hat. Der verlegen wird über die Herzlichkeit eines polnischen Schiffers, der sich spontan ins Bild gesellt. Diese Szene bleibt ungeschnitten. Vieles sei bei den Dreharbeiten nicht vorherzusehen, es komme einfach, weiß Voigt. Der Regisseur war oft in Polen. Als er jung war, studierte er in Kraków, wie er berichtet. Polen sei in den 70er Jahren das pluralistischste Land des Ostblocks gewesen. Liberal, katholisch und gleichzeitig pseudokommunistisch - diese Melange habe ihn geprägt. Nach der Wende 1989 schauten alle nach Westen, er habe nach Osten schauen wollen. «Ich wollte sehen, was da mit Menschen passiert, wie sich Lebensgeschichten oder Schicksale entwickeln.» Gefunden hat er auch 30 Jahre später Geschichten vom Rand, aber mittlerweile doch aus der Mitte Europas. «Grenzregionen sind immer spannend, die Spannung kommt aus der Geschichte und den Menschen, die dort leben, sagt Voigt. »Die Information bekommt erst dann eine Qualität, wenn sie sich mit einem Gefühl verbindet.« dpa
Silke Nauschütz
Langsame, intensive Bilder mit Geschichten von Menschen, die im «Grenzland» leben - der gleichnamige neue Dokumentarfilm ist eine Hommage an die Bewohner hinter den Deichen von Oder und Neiße.
Film, Polen
Hauptstadtregion
Brandenburg »Grenzland«
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1154240.vom-weggehen-kommen-und-bleiben.html
Treibhaus Bundestag
Die Debatte über die deutlichen Worte der EKD-Ratsvorsitzenden Margot Käßmann zum Krieg in Afghanistan dauert an. Dabei hat sie nichts Besonderes getan – sie hat nur der in Deutschland weit verbreiteten Skepsis gegenüber dem Afghanistan-Krieg und dem Bundeswehreinsatz Ausdruck verliehen. »Nichts ist gut in Afghanistan. Waffen schufen offensichtlich keinen Frieden im La... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Wolfgang Hübner
Afghanistan, Krieg, Margot Käßmann
Meinung
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/162522.treibhaus-bundestag.html
Regionalkrimis, aus der Nische verkauft
Ratgeber fürs Älterwerden, kindgerechte Literaturklassiker, dicke Wälzer für die Wissenschaft, Wohnmobil-Reiseführer, Schamanismus-Lehrbücher und, und, und: Ein Blick auf die Thüringer Verlagsliste des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels zeigt eine Vielfalt, die nicht jeder dem kleinen Bundesland zutrauen würde. »Von den rund 100 gelisteten Verlagen sind aber wohl nur etwa 80 tatsächlich aktiv«, räumt der Landesverbandsvorsitzende Helmut Stadeler ein. Immerhin sei die Zahl der aktiven Häuser in den vergangenen Jahren stabil gewesen. Und Stabilität - selbst bei den kleinsten Verlagen mit einer Handvoll Titeln und Autoren - komme vor allem durch Spezialisierung. »Man muss sich als Verlag eine Nische suchen, der Markt ist sehr voll.« Ein auch deutschlandweit sehr spezielles Profil hat sich beispielsweise der Cass Verlag zugelegt. Von Bad Berka bei Weimar aus steuern Katja Cassing und ihr Ehemann den im Jahr 2000 in Nordrhein-Westfalen gegründeten Verlag. Mit ihm bringen sie überwiegend japanische Literatur einem deutschsprachigem Publikum näher - für zwei Japanologen eine naheliegende Wahl. Dennoch bemerkt Cassing zur Arbeit und Lage von Kleinverlagen: »Ohne Leidenschaft, könnte man das gleich ganz vergessen.« Dann schwärmt sie von dem Gefühl, wenn ein neues Buch ausgeliefert wird und sie es zum ersten Mal aus der Kiste holt. »Es dauert wirklich seine Zeit, bis man im Buchhandel wahrgenommen wird, man braucht einen langen Atem«, berichtet Cassing. Die Konkurrenz sei auf dem allgemeinen Buchmarkt groß. Reich werde man als Verleger nicht. »Es sei denn, man landet doch einen Bestseller.« Dieser lässt beim Cass-Verlag noch auf sich warten. Aber immerhin habe man es mit einigen Titeln auf Bestenlisten geschafft. Und auch das Feuilleton habe bereits ein Auge auf das kleine Haus geworfen. Cassing ist derweil nicht die einzige, die in Thüringen auf Literatur der Ferne setzt. Mit Clandestino Publikationen erscheinen in Jena etwa brasilianische Romane auf Deutsch. Nach Ansicht von Börsenverein-Chef Stadeler muss die Nische aber nicht auf anderen Kontinenten gesucht werden. Ein Spezialinteresse, das außerhalb Thüringens sonst kaum bedient werde, sei nun mal das am Freistaat selbst. »Egal ob Geschichtsbücher, Romane, Stadt- oder Reiseführer: Der Schwerpunkt heißt Nähe zum Leser, also zur Region.« So führten viele Häuser mindestens einen Regionalkrimi im Programm. Nicht immer gelinge es aber, das richtige Gefühl fürs Lokale einzufangen. »Da muss die Bratwurst stimmen: In Nord-Ostthüringen darf sie nach Kümmel schmecken, aber nach Knoblauch nur dann, wenn der Krimi im Süden spielt«, erklärt Stadeler. Fast ausschließlich Thüringer Themen und Autoren hat sich der Quartus-Verlag in Bucha bei Jena verschrieben. »Nach der Wende musste man einen Neuanfang machen, als Germanist sah ich da eine Verlagsgründung als meine Aufgabe«, sagt Inhaber Detlef Ignasiak. Nach dem Ende der DDR habe er auf die Regionalliteratur setzen wollen, die zuvor seiner Ansicht nach kaum existierte. Obwohl er Quartus schon 1995 gründete, könne er immer noch nicht davon leben. Ignasiak bietet zusätzlich Literaturreisen an. »Der Verlag macht viel Arbeit, aber wir können vielen Autoren und Themen eine Chance geben«, sagt der Kulturhistoriker. Die besten seiner Titel bringen es zu einer Auflage von 5000 Stück, die meisten erreichen aber noch nicht einmal die Tausendermarke. Jeder Gewinn fließe in ein neues Buch, sagt Ignasiak. Man müsse Realist bleiben, räumt auch Stadeler ein. Einige Verleger könnten von den Büchern leben. »Eine goldene Nase verdient man sich damit aber nicht. Immerhin ist man als Verleger oft der erste Leser, erfährt von ganz neuen Themen.« Auch die Japanologin Cassing macht sich keine Illusionen. Dennoch möchte sie 2018 Vollzeit-Verlegerin werden. Sie wolle dem »Schleudersitz der Wissenschaft« mit befristeten Verträgen an der Universität entkommen. Der Verlag biete inzwischen mehr Sicherheit. dpa/nd
Marie Frech, Erfurt
Thüringens Verlagslandschaft hat keine riesigen Häuser. Dafür bedienen die kleinen Unternehmen spezielle Interessen. Doch nur einige Verleger leben ausschließlich von den Büchern.
Japan, Literatur, Thüringen
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1074715.regionalkrimis-aus-der-nische-verkauft.html
Sozialpolitische Bruchrechnung
Von einer »Dauerblockade von Zukunftsinvestitionen« durch Bundesfinanzminister Christian Lindner spricht Jochiam Rock, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtverbands gegenüber »nd«. Diese sei durch seine Entlassung überwunden. Ist nun die Zeit für die Fortschreibung der Renten, für die Bekämpfung der Kinderarmut und soziale Gestaltung der Energiewende gekommen? Unklar, denn zugleich mache sich »dramatische Unsicherheit« breit. Auch der Präsident der Arbeiterwohlfahrt, Michael Groß fürchtet »in einer Zeit, die von Unsicherheiten geprägt ist, noch mehr Verunsicherungen«. Bei der Diakonie sorgt man sich, so teilt es eine Sprecherin »nd« mit, insbesondere um die Zukunftsfestigkeit der Pflege. Erleichtert zeigt sich dagegen Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbands VdK. Die Entlassung Lindners stelle »eine wichtige Weiche für eine sozial gerechte Zukunft«. Sie erinnert an Kindergrundsicherung, Rentenpaket und das Behindertengleichstellungsgesetz, die »allesamt durch den Finanzminister ausgebremst wurden«. Lindner sprach sich wiederholt gegen die Bekämpfung von Kinderarmut durch Umverteilung aus und kürzte den Etat der Kindergrundsicherung. Von den von Familienministerin Lisa Paus (Grüne) ursprünglich veranschlagten 12 Milliarden Euro pro Jahr blieben 2,4 Milliarden ab 2025 übrig. Umgesetzt ist die Reform bis heute nicht. Selbiges gilt für die große Sozialreform der SPD, das Rentenpaket II. Jetzt sei deswegen die konstruktive Zusammenarbeit der Regierung gefordert, so Bentele: »Dabei darf der Blick nicht nur auf Verteidigung und Wirtschaft liegen, sondern auch die soziale Gerechtigkeit gehört zu dem Dreiklang, der Deutschland stabilisiert.« Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen. Der Deutsche Mieterbund (DMB) sieht ebenfalls eine Chance in der neuen Konstellation, fürchtet aber zugleich eine Vernachlässigung der Mietpreisbremse. Diese soll den Anstieg der Wohnraummieten in den Ballungsräumen verlangsamen. Über ihre Verlängerung – bis 2028 statt wie im Koalitionsvertrag vereinbart bis 2029 – erzielte die Ampel erst Mitte Oktober eine Einigung. Die Abgeordneten sollten die Zeit jetzt nutzen, »die verbliebenen Koalitionspartner in ihrem bis dato durch die FDP blockierten Bestreben nach verbessertem Mieterschutz zu unterstützen«. Die Wirtschaftsverbände fordern dagegen unisono rasche Neuwahlen und kritisieren Bundeskanzler Olaf Scholz’ Plan, die Vertrauensfrage am 15. Januar zu stellen. Siegfried Russwurm, Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), begründet die Forderung mit der weltpolitischen Lage und der schlechten wirtschaftlichen Entwicklung des Standorts Deutschland. Auch Jörg Dittrich, Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks, fürchtet, die Regierungskrise könnte zum aktuellen Zeitpunkt »zum Standortrisiko« werden. Gemeint ist damit die andauernde Haushaltsdebatte sowie auf internationaler Ebene der neu gewählte Präsident der USA. Donald Trump, bekannt für seine protektionistische Politik, setzt auf höhere Importzölle und stärkere Beschränkungen des internationalen Handels. Für deutsche Exporteure sind die USA der größte Absatzmarkt außerhalb der EU. Sollte Trump die angekündigten Basiszölle von 20 Prozent auf US-Importe aus der EU umsetzen, würde allein das für Deutschland laut arbeitgebernahem ifo-Institut einen wirtschaftlichen Schaden von 33 Milliarden Euro bedeuten. Die Industrie erhofft sich hierbei von der Bundesregierung klare Kante. Konkret wünscht sich Russwurm eine Regierung, die eine »entschlossene Wachstumspolitik« aufsetze. Die Vorschläge der Industrie lägen dafür auf dem Tisch. Zuletzt hatte der BDI auf weniger Bürokratie und »international konkurrenzfähige Unternehmensteuern« gepocht. Für Serap Altinisik, Vorstand der Hilfsorganisation Oxfam, ist der Regierungsbruch dagegen symbolisch für das Scheitern der Schuldenbremse. Das Aus der Ampel habe gezeigt: »Ohne zusätzliche Finanzmittel lassen sich die anstehenden Probleme nicht lösen.« In ein ähnliches Horn bläst Verdi-Vorsitzender Frank Werneke: »Deutschland darf nicht kaputtgespart werden.« Was es jetzt brauche, sei ein finanzielles Sofortprogramm für Pflege, Gesundheit, Bildung und Infrastruktur. Generell begrüßen die Gewerkschaften die Entlassung Lindners. Als »richtig« bezeichnet sie Werneke, als »nur konsequent« Christiane Benner, Vorsitzende der IG Metall. Die FDP hätte nicht genug Regierungsverantwortung übernommen und, so Werneke, mit ihrer »Klientelpolitik für Reiche« bewusst das Ende der Koalition vorbereitet. Gemeint ist damit der Forderungskatalog Lindners von vergangener Woche, in dem er unter anderem existenzbedrohende Kürzungen für Bügergeldempfänger und Steuererleichterungen für Reiche forderte. Der Katalog verursachte die letzte Eskalation im Ampel-Streit.
Sarah Yolanda Koss
Werden Versprechen des Koalitionsvertrags ohne die Bremse der FDP umgesetzt – oder gehen sie in der Regierungskrise unter? Gewerkschaften, Sozial- und Wirtschaftsverbände bangen und hoffen.
Kinderarmut
Politik & Ökonomie
Politik Ende der Ampel
2024-11-07T17:33:49+0100
2024-11-07T17:33:49+0100
2024-11-10T16:47:28+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1186609.ende-der-ampel-sozialpolitische-bruchrechnung.html
Eine gute Karikatur kritisiert scharf, agitiert aber nicht
Das Gute an Kalauern ist, sie sind gemeinhin ungefährlich - sowohl für die Adressaten des Spotts als auch für die Verfasser des simplen Witzes. Von Satire kann man das nicht sagen. Trifft sie, verletzt sie gar die Gefühle der oder des Adressaten, dann wird sie nicht nur für den Satiriker zum ernsthaften Problem. Als 2013 die Akademie der Künste (AdK) in ihrer beschaulichen Zweitresidenz im Berliner Stadtteil Tiergarten zum Akademiegespräch über die Grenzen des politischen Witzes lud und eine spannende Debatte u.a. mit dem Kabarettisten Dieter Hildebrandt und dem österreichischen Zeichner Gerhard Haderer (»Stern«) versprach, musste die Veranstaltung gesichert werden wie für einen Staatsbesuch. Der Grund dafür hieß Kurt Westergaard - der dänische Zeichner, der 2005 mit seiner Mohammed-Karikatur den Zorn fundamentalistischer Muslime auf sich gezogen hatte und seitdem um sein Leben fürchten musste. Die hohen Sicherheitsvorkehrungen wurden damals jedoch just in dem Moment hinfällig, als bekannt wurde, dass Westergaard aus gesundheitlichen Gründen nicht leibhaftig anwesend sein konnte. Stattdessen gab es eine Videobotschaft Westergaards. Das war einerseits für das Publikum beruhigend und entspannend, andererseits aber auch schade, denn man hätte schon gerne gewusst, wie Westergaards Replik auf die Kritik von Hildebrandt ausgefallen wäre. Der hatte zwar den Zeichner gegen die Angriffe in Schutz genommen, brachte allerdings ästhetische Einwände gegen seine Zeichnung vor. Eine gute Karikatur könne man daran erkennen, dass man auf den ersten Blick wisse, um wen es sich bei der gezeichneten Person handele. Die Zeichnung des Dänen Westergaard gehöre nicht in diese Kategorie: »Die Bombe auf dem Kopf war gut, der Mohammed nicht.« Noch schärfer äußerte sich dieser Tage der Cartoonist Til Mette gegenüber dem Radiosender »Deutschlandfunk«. Er verteidigte zwar die Zeichnung, sagte aber auch, dass er selbst »so etwas« nie zu Papier bringen würde. »Ich bin deshalb Zeichner geworden, weil ich genau gegen diese Generation von Zeichnern antreten wollte.« Den »Turban als Bombe« bezeichnete Mette als »völlig brutale Agitprop-Zeichnung«, die »keinerlei Sensibilität« besitze und nur »Hau-drauf-Fantasien beflügelt«. Müssen Karikaturisten sensibler gegenüber den Adressaten ihres Spotts sein, brauchen Satiriker mehr Verantwortungsbewusstsein? Einerseits ja. Vielfach wird vom säkularisierten Teil der Gesellschaft unterstellt, Muslime (bzw. generell religiöse Menschen) würden sich durch Karikaturen wie die von Knut Westergaard (oder Christen durch bestimmte Motive etwa im deutschen Satiremagazin »Titanic«) beleidigt fühlen. Verletzung meint jedoch etwas anderes. Viele Muslime hätten in Westergaards Zeichnung die Absicht gespürt, »die hinter diesen Kränkungen, Angriffen steckt«, sagt die Berliner Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer im »Deutschlandfunk«. Andererseits muss diese Frage verneint werden. Auf der eingangs erwähnten AdK-Veranstaltung beschrieb der damalige AdK-Präsident Klaus Staeck Satire als Störung des Normalbetriebs von Politik (er vergaß, hinzuzufügen: von Kirche bzw. Religion) und Herrschaft. Satire ist also der Kampf gegen das Unheil der Intoleranz, das nicht nur in der Religion anzutreffen ist, sondern überall dort beginnt, wo der Wunsch, alle mögen das Gleiche denken, das Denken vergiftet. Auch Gudrun Krämer zieht übrigens aus ihrer Kritik an den Mohammed-Karikaturen nicht die Schlussfolgerung, dass Muslime und deren Religion (bzw. Religionen an sich) von Satire verschont werden sollten. »Das kann überhaupt nicht die Folgerung sein. Die Muslime und ihre Werte dürfen selbstverständlich nicht ausgenommen sein. Es ist die Frage, ob man die Kritik, die vollkommen legitim und notwendig ist, fest macht oder übersetzt in eine Karikatur des Propheten Mohammed. Manchmal muss man auch ein bisschen strategisch denken.« Strategisches Denken ist allerdings eine Charaktereigenschaft, die Karikaturisten und Satirikern naturgemäß nicht eigen ist, denn sie wittern instinktiv dahinter die Aufforderung, man möge doch das Denken einhegen. Satire wird daher immer gefährlich bleiben.
Jürgen Amendt
Hat die Mohammed-Karikatur von Kurt Westergaard islamischen Fundamentalismus kritisiert oder war der »Turban als Bombe« schlechte Agitprop?
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Vertrauensaufbau im Schnee
Biathlonfans sind in Oberhof so einiges gewöhnt. Schnee gehört nicht unbedingt dazu. Umso erstaunter waren die knapp 10 000 Zuschauer bei ihrer Anreise am Donnerstag zum Weltcuport am Grenzadler, denn wo sich sonst Anfang Januar nur ein weißes Band aus mühsam zusammengetragenem sulzigem Kunstschnee durch den braun-grünen Thüringer Wald schlängelt, war plötzlich alles weiß. Tief »Axel« sei Dank, sieht es endlich auch in Oberhof mal nach Wintersport aus, wenn sich die besten Skijäger der Welt in den kommenden Tagen hier messen. Da wäre es zu schade gewesen, wenn die Sportler trotzdem nicht angetreten wären, was angeblich diskutiert worden war. Viele Biathleten sind weiterhin unzufrieden darüber, wie ihr Weltverband IBU mit der russischen Dopingkrise um manipulierte Proben bei Olympia in Sotschi und im Labor von Moskau umgeht. Solche Fälle hatte der Sonderermittler Richard McLaren auch bei mehr als 30 Biathleten aufgedeckt, doch außer zwei... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Oliver Kern, Oberhof
Oberhof präsentiert sich zum Biathlonweltcup endlich mal winterlich weiß und kalt, doch hinter den Kulissen wird heiß diskutiert. Streitthema bleibt der Umgang mit Dopingvorwürfen gegen Russland.
Biathlon, Boykott, Doping, Russland
Sport
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1037674.vertrauensaufbau-im-schnee.html
Glatte Fehlbesetzung
Strich drunter. Erledigt der Fall. Kaum jemand interessiert sich noch für solche Zahlen. Dass der Osten weiter an Einwohnern verliert, dass der mittlerweile erfreut registrierte Bevölkerungszuwachs in Deutschland allein im Westen zählbar ist, das ist nun keine Überschrift mehr, die irgendwo zu lesen sein wird. Auch wenn die Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung doch vor allem eins zeigt: dass die Leute im Osten alle tollen Sprüche über den Osten als Lüge entlarven. Die Bevölkerungsentwicklung ist Gradmesser. Seltsam, wie alle immer wieder überrascht tun über blühende Landsmannschaften, die eine Folge davon sind. Zwar ist der Zug nach Westen nunmehr zum Stehen gekommen. Doch der Schaden ist längst angerichtet, Landstriche dünnen weiter aus, wenn der Nachwuchs ausbleibt. Und dass Migranten die Lücke füllen könnten, ist eine waghalsige Vorstellung. Was die westlich dominierte Bundespolitik nicht davon abhält, ihren Haken hinter dem Thema zu machen, den Solidarpakt zu beenden, und wenn vom Solidarzuschlag noch die Rede ist, dann nur als Ungerechtigkeit gegenüber den Reichen, die ihn noch ein Weilchen zahlen sollen. Bald enden 16 Jahre Kanzlerschaft Angela Merkels. Was ihren Nutzen für den Osten angeht, war sie eine glatte Fehlbesetzung.
Uwe Kalbe
Uwe Kalbe über die jüngste Studie zum Bevölkerungsdefizit Ost
Bevölkerung, Demografie, Ostdeutschland
Meinung
Kommentare Bevölkerungsentwicklung
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1141641.bevoelkerungsentwicklung-glatte-fehlbesetzung.html
»Alle haben Angst vor den Soldaten«
Es herrscht Ruhe vor dem Sturm. Eine unheimliche Ruhe. Außer vereinzelten Militärfahrzeugen auf den Straßen und ungezählten Graffitis der Widerstandsbewegung an den Häuserwänden scheint nichts darauf hinzuweisen, dass das Land einen Militärcoup hinter sich hat. Nur ab und an meldet sich Roberto Micheletti, der von den Putschisten als Präsident eingesetzt wurde, über alle Fernseh- und Radiokanäle zu Wort und betont mit eindringlicher Stimme den demokratischen Wert der bevorstehenden Wahlen: »Jeder, der nicht wählen geht, gibt seine Stimme Hugo Chávez.« Auf den putschloyalen Fernsehkanälen laufen dieser Tage fröhliche Wahlwerbespots. Porfirio »Pepe« Lobo von der Nationalen Partei (PNH) und Elvin Santos Lozano von der Liberalen Partei (PLH) mitsamt ihren Gattinnen besuchen eines der marginalisierten Viertel, aus denen die Hauptstadt Tegucigalpa zu einem Großteil besteht. Hinter ihnen füllt eine fahnenschwenkende Menge die Straße. Die Kandidaten schütteln alten Menschen die Hände und streichen kleinen Kindern über den Kopf. »Mit uns kommt der Wechsel!« und »Gemeinsam gegen die Armut!« heißen die Parolen. »Die Werbespots sind eine Farce; sie machen sich über das honduranische Volk lustig und sind eine Beleidigung für jeden kritisch denkenden Menschen«, empört sich Tania Espinal, aktives Mitglied der sozialdemokratischen Partei PINU. »Schließlich handelt es sich nicht einfach um absurde Erklärungen. Zu freien Wahlen in einer Diktatur aufzurufen, ist an und für sich abartig.« Mit ihren Freunden trifft sie sich wie so oft im alternativen Café Cinefilia im Viertel Palmiras. Die brasilianische Botschaft, in der sich der rechtmäßige Präsident Manuel »Mel« Zelaya nach wie vor aufhält, ist keine 100 Meter Luftlinie entfernt, doch die Straßen, die dorthin führen, sind mittlerweile abgeriegelt. »Hier kann ich mal entspannen«, erzählt die junge Frau mit den glatten braunen Haaren seufzend. »Meine Chefin ist wie fast alle Führungskräfte auf Seiten der Putschisten. Oft kann ich nicht an Demonstrationen teilnehmen, weil sie mir absichtlich nicht frei gibt.« Im Armenviertel Centroamerica, dessen Häuser gleichsam überein-ander an einen Hang gebaut wurden, braucht niemand einen Treffpunkt, um sich gegen die Putschregierung zu empören. Hier zählen sich die meisten zur Widerstandsbewegung, und der Boykott der Wahlen ist stets Thema an den Straßenständen, wo die traditionellen Baleadas, mit Bohnen und Käse gefüllte Weizenfladen, verkauft werden. »Dein Cousin ist Putschanhänger? Ja, was denkt der sich denn; er ist doch kein Reicher!«, ruft ein hagerer Mann in löchrigem T-Shirt aus. »Früher haben wir die gewählt, die das meiste Geld auf dem Konto hatten und die größten Lügen erzählt haben, aber das zieht doch heute nicht mehr«, bestätigt sein Gegenüber. »Nur die Putschisten haben Interesse an dieser Wahl, denn es ist ihre Chance, sich an der Macht zu halten«, sagt Ana Robles, die als Grundschullehrerin jeden Morgen in ein kleines Dorf an der Überlandstraße nach Comayagua hinausfährt. »Hier in der Hauptstadt wohnen die Reichen und viele unterstützen den Putsch. Aber auf dem Land gibt es keinen Strom und kein fließendes Wasser, die Kinder in meiner Klasse tragen keine Schuhe. Dort sind alle Anhänger von Mel«, berichtet sie. »Am liebsten würden die Dorfbewohner die Urnen abfackeln, die jetzt in den Schulen aufgestellt werden, aber alle haben Angst vor den Soldaten. Die können schließlich machen, was sie wollen«, schließt sie deprimiert. Da in Honduras schon Schulferien sind, geht Ana jeden Morgen zur Versammlung der Widerstandsbewegung vor dem Kongress im Zentrum der Hauptstadt. Die Eingänge zum Parlament sind von Polizeiketten versperrt, der Platz davor ist von Menschen gefüllt. Viele kennen sich und grüßen einander; immerhin ist man seit fünf Monaten gemeinsam auf der Straße. »An Feiertagen und Sonntagen gibt es große Demonstrationen, aber während der Woche versammeln wir uns lieber hier, das ist sicherer«, erklärt Victoria, die als Aushilfe an einer Universität arbeitet. »In den Straßen schlagen die Soldaten wie Tiere auf uns ein. Sie machen selbst vor schwangeren Frauen nicht halt. Und immer wieder erschießen sie willkürlich einen Demonstranten, um Angst zu schüren.« Auf dem Platz vor dem Kongress stehen auch ältere Menschen in der Menge. »Ich habe so lange unter Militärdiktaturen gelebt, ich will so etwas nicht erneut haben«, sagt ein Mann mit schlohweißen Haaren und sonnengegerbter Haut. Viele der Demonstranten recken ihre Hände in die Höhe. Sie haben sich mit Filzstift »No« auf die Handfläche gemalt und eine Fingerspitze geschwärzt; so wie üblicherweise jemand gekennzeichnet ist, der gewählt hat. »Nein zu den Wahlen!«, das ist auch hier der Konsens. »Kongress, wenn du keine Zeit hast, das Land aus der Krise zu führen, haben wir auch keine Zeit, dich zu wählen«, steht auf der Rückseite einer zerschnittenen Cornflakes-Packung, die ein Mann mit Schnurrbart hochhält. Die Widerstandsbewegung hat keine ausgearbeiteten Transparente, aber die Leute tragen ihre Meinung auf die Straße, wie sie können. »Das hier sind die Putschisten« steht in Handschrift über einem Plakat, das jemand am Eisenzaun vor der Kirche La Merced aufgehängt hat. Darauf sind Fotos von Unternehmern und Politikern geklebt, fein säuberlich aus den Gesellschaftsseiten der Zeitungen ausgeschnitten. »Korrupt« und »Vaterlandsverkäufer« steht daneben. Ein Mann erklärt einem Freund anhand des Plakats, welcher Unternehmer in welcher Partei kandidiert und welcher Politiker welche Tageszeitung besitzt. Eines der wenigen Medien, das nicht Eigentum der politischen Kaste ist und nur putschloyale Nachrichten verbreitet, ist Radio Globo. Von der Prachtstraße Tegucigalpas aus, dem Boulevard Francisco Morazán, sendet es zwischen McDonald's, Burger King und exquisiten Einrichtungshäusern alternative Informationen und gibt dem Widerstand eine Stimme. Heute leitete die Präsidentin des Zentralamerikanischen Parlaments (Parlacen), Gloria Guadalupe Oquelí, die Sendung ein. »Honduras, halte durch! 145 Tage befinden wir uns nun schon im Widerstand gegen die Putschisten!« Danach sprechen ein paar Compañeros aus Olancho, die angereist sind, um von zwei politischen Morden des Vortags zu berichten. Auch die Redakteure von Radio Globo sind von Repressalien betroffen. »Am Tag des Putsches stürmte das Militär unser Studio. Einige Mitarbeiter wagten den Sprung in den Hinterhof hinab und konnten fliehen. Alle anderen wurden geschlagen und abgeführt. Der Chefredakteur lebt seitdem im Untergrund«, erzählt Radioreporter Juan Fernando Gonzalez. Doch sie haben weitergemacht. Manchmal wird ihre Frequenz blockiert, aber immer wieder sind sie auf Sendung. »Pressefreiheit? Nein, die existiert in Honduras nicht mehr. Wir verlassen stets mit einem mulmigen Gefühl das Gebäude und hoffen, heil nach Hause zu kommen.« Nach der Sendung wird diskutiert. Die meisten ordnen sich als ehemalige Liberale ein, doch der Putsch hat sie radikalisiert. Em-pört sind die Journalisten über ehemalige internationale Verbündete. »Christian Lüth von der deutschen Friedrich-Naumann-Stiftung hat diese Woche bei einem Fernsehauftritt den Putsch als ›politische Transition‹ verbrämt und bekräftigt, dass diese Wahlen freiheitlich stattfinden würden. Das ist eine unglaubliche Einmischung in die inneren Angelegenheiten von Honduras.« Vor dem Kongress leert sich langsam der Platz. »Morgen kommen wir wieder«, sagt die Universitätsangestellte Victoria und streicht sich müde durchs Haar. »Von einem Tag auf den anderen gibt es nun mal keinen politischen Umschwung«, lächelt sie. »Natürlich geht es nach den Wahlen weiter, dies ist erst der Anfang«, bestätigt auch die Lehrerin Ana. Was am Tag der Wahlen passieren wird, wollen sie sich lieber nicht ausmalen. »Letzte Woche hat das Militär angeblich Bomben entdeckt und sie dem Widerstand zugeschoben. Damit wollen sie wohl vorab Repressalien rechtfertigen. Vielleicht wird die Polizei angesichts der Anwesenheit internationaler Wahlbeobachter nicht schießen, aber mit Sicherheit werden Todesschwadronen unterwegs sein.« Tania Espinal ist wieder auf dem Weg ins Café Cinefilia. Sie schließt einen Wahlbetrug nicht aus. »Die Putschisten haben den gesamten Staatsapparat zur Verfügung, um zu manipulieren. Niemand inszeniert einen Staatsstreich, um fünf Monate später die Macht wieder abzugeben«, sagt sie. »Die Menschenrechtsverletzungen des Militärs und der Bruch der demokratischen Ordnung werden ungeahndet bleiben. All die Demonstranten, denen Militärs willkürlich die Arme gebrochen haben, Frauen aus der Widerstandsbewegung, die vergewaltigt wurden, Männer, denen man in Gefangenschaft am ganzen Körper Zigaretten ausgedrückt hat, die Belagerung des diplomatischen Sitzes von Brasilien, die Ausgangssperren, all das wird nach den sogenannten Wahlen kein Thema mehr sein.«
Kathrin Zeiske, Tegucigalpa
Der Wahltermin 29. November wurde schon lange vor dem Putsch in Honduras Ende Juni festgelegt. Die Putschregierung hält daran fest, vereitelte jedoch die Rückkehr des rechtmäßigen Präsidenten Manuel »Mel« Zelaya ins Amt. Die Repression im Lande ist ungebrochen; aber auch die Widerstandsbewegung zeigt sich entschlossen. Ein Stimmungsbild aus der Hauptstadt von Honduras.
Boykott, Honduras, Putsch
Politik & Ökonomie
Politik
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Trotz Klimapaket: Nahverkehr wird in vielen Städten teurer
Berlin. Mit Beginn des neuen Jahres müssen Fahrgäste von Stadtbussen, Straßenbahnen und U-Bahnen für Tickets vielerorts wieder tiefer in die Tasche greifen. Von den großen Verkehrsverbünden erhöhen zum Jahreswechsel die meisten die Preise. Nach einer Auswertung durch die Deutsche Presse-Agentur betrifft das etwa Kunden im Ruhrgebiet, im Rheinland, in Berlin und Brandenburg, in den Großräumen Hamburg und Bremen sowie im Rhein-Main-Gebiet. Hinzu kommen alle, die in Regionalzügen außerhalb von Verkehrsverbünden unterwegs sind. Zwischen 1,3 und 3,3 Prozent mehr verlangen die Verkehrsunternehmen von ihren Kunden. Damit sollen etwa höhere Gehälter der Mitarbeiter und gestiegene Kraftstoffpreise ausgeglichen werden. Mehr Menschen sollen Bus und Bahn fahren statt Auto und so klimaschädliches Kohlendioxid vermeiden. Das ist eines der Ziele des Klimaprogramms, das Bundestag und Bundesrat kurz vor Weihnachten beschlossen haben. Der Bund steckt dazu auch zusätzliches Geld in den Nahverkehr. Da waren die Fahrpreiserhöhungen aber schon beschlossen. Höhere Gehälter, Diesel- und Strompreise sowie Materialkosten machten dies unumgänglich, argumentierte etwa der Verkehrsverbund Rhein-Sieg. In den ICE und Intercitys der Deutschen Bahn fallen zum Jahreswechsel die Preise erstmals seit 17 Jahren. Für Kunden wird es zehn Prozent günstiger. Möglich macht das die Mehrwertsteuersenkung für Fernzugfahrkarten. Wer aber mit der Deutschen Bahn oder einem ihrer Konkurrenten im Regionalverkehr unterwegs ist, zahlt im neuen Jahr unter Umständen mehr. Fahrten außerhalb von Verkehrsverbünden werden nach Angaben des Tarifverbands der Bundeseigenen und Nichtbundeseigenen Eisenbahnen in Deutschland 1,7 Prozent teurer. Das betrifft immerhin jeden fünften Kunden. Als erstes Land der Welt schafft dahingegen Luxemburg ab dem 1. März 2020 Tickets für Bahn und Bus ganz ab: Genau 61 Tage nach dem Jahreswechsel wird der öffentliche Personennahverkehr im gesamten Großherzogtum kostenlos. Nur die 1. Klasse der Bahn bleibt kostenpflichtig. dpa/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Mehr Menschen sollen laut Klimaprogramm der Bundesregierung Bus und Bahn fahren statt Auto und so klimaschädliches Kohlendioxid vermeiden. In den meisten Städten werden die Tickets für den Nahverkehr im nächsten Jahr dennoch teurer.
Auto, BVG, Klima, Klimaabkommen, ÖPNV, U-Bahn, Verkehrswende
Politik & Ökonomie
Politik Verkehrswende
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1130675.trotz-klimapaket-nahverkehr-wird-in-vielen-staedten-teurer.html
Politische Forderungen am Thema vorbei
Vier Tage nach dem rechtsextremistischen Anschlag in Halle sind Tausende Menschen in Deutschland auf die Straße gegangen, um gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus zu demonstrieren. In Berlin liefen die Protestierenden am Sonntagnachmittag von Unter den Linden zur Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße. 8000 waren es, sagte die Polizei, von 16 000 Teilnehmer*innen gingen die Veranstalter aus. Menschen jeden Alters waren dabei, einige trugen Kippa, viel Presse war da. Das unteilbar-Bündnis und das Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus hatten die Demonstration angemeldet. Eine der Rednerinnen war Lala Süßkind. Die Vorsitzende des Jüdischen Forums kritisierte dem »nd« gegenüber die Arbeit der Hallenser Polizei vor und nach dem Anschlag. Der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Halle, Max Privorozki, hatte mehrmals mehr Polizeischutz für die Synagoge gewünscht und sie nicht bekommen, wie er in einem Interview des Jüdischen Forums sagte. Als Privorozki während des Anschlags die Polizei anrief, habe die mit Fragen, die mit der Sache gar nichts zu tun gehabt hätten, wertvolle Zeit verstreichen lassen. »Das finde ich beschämend für die Polizei«, sagte Süßkind dazu. »Liebe Justiz, rührt euch ein wenig mehr, dass Täter, egal woher sie kommen, härter angegangen und bestraft werden«, so Süßkind. Dietmar Bartsch (Fraktionsvorsitzender der LINKEN), der auch zur Demonstration gekommen war, sagte dem »nd«: »Jede Demonstration, die sich klar gegen Antisemitismus ausspricht, ist wichtig«. Felix Müller, Sprecher des unteilbar-Bündnisses, sagte, die Demonstration gebe es, damit Menschen einen Ort hätten und nicht alleine seien. »Wir stehen in Solidarität und in Gedenken mit den Angehörigen der Opfer, mit allen Betroffenen, mit der jüdischen Gemeinde und mit allen Menschen, die sich in Deutschland schon lange nicht mehr sicher fühlen können.« Auch in Halle gingen Menschen auf die Straße. Dort hatte das Bündnis »Halle gegen Rechts« gemeinsam mit den Betroffenen aus dem beschossenen Dönerladen zu einer Demonstration aufgerufen. Am Samstag demonstrierten in Hamburg unter anderem die »Omas gegen rechts« gegen Rechtsextremismus. Während die Zivilgesellschaft auf die Straße geht, gibt es aus der Politik mehrere Vorstöße, die auf Kritik stoßen. Bundesinnenminister Horst Seehofer stürzt sich auf die Spieler von Computerspielen und sagte im ARD-Magazin »Bericht aus Berlin«, viele der potenziellen Täter kämen aus der Gamer-Szene, also der Szene der Spieler von Computerspielen. »Man muss genau hinschauen, ob es noch ein Computerspiel ist, eine Simulation oder eine verdeckte Planung für einen Anschlag.« Dafür gab es viel Kritik auf der sozialen Plattform Twitter. Dort war »Gamerszene« am Sonntagnachmittag einer der weltweit meistbenutzten Hashtags, also Referenzen. Seehofer hatte außerdem vorgeschlagen, den Verfassungsschutz zu stärken. Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) will antisemitische Straftaten nun strenger verfolgen lassen. Stimmen aus der jüdischen Community in Deutschland wie der Autor Max Czollek dagegen betonen, dass Judenfeindlichkeit schon lange vor dem Anschlag ein Problem in Deutschland war. Zudem unterstreichen sie ihre Forderungen, die sie schon länger stellten. So etwa nach mehr Polizeischutz vor Gebäuden sowie mehr Hinsehen der Polizei und Justiz bei antisemitischen Taten. Der Zentralrat der Juden in Deutschland kritisierte die Aussage des sachsen-anhaltischen Innenministers Holger Stahlknecht (CDU), dass die Polizei immer Bitten nachgekommen sei, Veranstaltungen zu schützen, als »unzutreffend«. Es »verkehrt die Realität in der Vergangenheit«, so der Zentralrat.
Marion Bergermann
Während in deutschen Städten Menschen gegen rechten Terror und Antisemitismus demonstrieren, gibt es viele Vorschläge, wie es nun weitergehen soll.
Antisemitismus, CSU, Horst Seehofer, Juden, Rechtsradikalismus
Politik & Ökonomie
Politik Halle
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1127106.politische-forderungen-am-thema-vorbei.html
Castoren auch künftig nach Gorleben
Mit seinem Vorschlag, künftige Castor-Transporte nicht mehr nach Niedersachsen rollen zu lassen, hat sich Landesumweltminister Stefan Birkner (FDP) auch bei der Atomwirtschaft eine Abfuhr geholt. Für die noch ausstehenden Transporte aus dem Ausland mit hoch radioaktivem Atommüll gebe es derzeit keinen anderen Zielort als das Zwischenlager in Gorleben, sagte der Sprecher der Gesellschaft für Nuklear-Service (GNS), Michael Köbl. Dieses Lager sei die einzige Einrichtung in Deutschland mit einer Genehmigung zur Aufnahme verglaster radioaktiver Abfälle aus den Wiederaufarbeitungsanlagen in La Hague (Frankreich) und Sellafield (Großbritannien). Umweltminister Birkner hatte Ende vergangener Woche vorgeschlagen, die 26 noch ausstehenden Castor-Behälter aus diesen beiden Atomfabriken könnten nach Süddeutschland oder Schleswig-Holstein gebracht werden. Niedersachsen habe in der Ve... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Reimar Paul, Göttingen
Die letzten Castor-Fuhren aus den Wiederaufbereitungsanlagen in Frankreich und Großbritannien werden nach Gorleben gehen. Die Atomwirtschaft wies einen Vorstoß aus Niedersachsen zurück.
Castor-Transport, Gorleben, Niedersachsen, Wendland
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt
https://www.nd-aktuell.de//artikel/238150.castoren-auch-kuenftig-nach-gorleben.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
Paukenschläge
Für gleich zwei Paukenschläge hat Griechenland am Wochenende gesorgt: Mit dem unerwarteten 1:0 über Russland geht Hellas in die nächste Runde der Fußball-EM - und mit Alexis Tsipras stand der erste tatsächlich Linke unmittelbar vor der Regierungsübernahme in einem EU-Land. Selbst wenn das künftige griechische Kabinett aus Konservativen und Sozialdemokraten gebildet werden sollte - am Linksbündnis SYRIZA und dessen Positionen kommt kein Premier in Athen ... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Standpunkt von Uwe Sattler
Griechenland, Parlamentswahl, SYRIZA
Meinung
Kommentare
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Wohnen auf dem Schweizer Käse
Vor 14 Jahren hat Familie Gubenko in Mendig in der Osteifel (Rheinland-Pfalz) ein Haus gebaut. »Wir haben gewusst, dass es hier viele unterirdische Hohlräume vom historischen Bergbau gibt«, sagt Oleg Gubenko. »Aber es wurde ein Bodengutachten gemacht und wir waren uns sicher, dass alles gut ist.« Von wegen. Im Frühling 2018 erlebte Familie Gubenko - sie lebt in einem neueren Wohngebiet - einen Schock: Weil unter ihrem Anwesen und drei Häusern in der Nähe Hohlräume aus Sicherheitsgründen mit einem Spezialbeton verfüllt werden sollen, müssen sie und ihre Nachbarn während der Arbeiten bald vorübergehend ihre vier Wände verlassen. Niemand in dem 9000-Einwohner-Ort soll ein Unglück erleben. Familie Gubenkos Nachbar Andreas Kiefer sagt: »Ich bin sprachlos. Wir wissen nicht, was in fernerer Zukunft mit unserem Haus sein wird.« Seine Mutter Nadja Kiefer ergänzt: »Wir wissen auch nicht, wo wir jetzt hinkommen.« Eine weitere Nachbarin, Elena Knaup, ergänzt: »Vier bis sechs Wochen lang müssen wir wohl raus. Im Oktober soll es losgehen. Wir können wohl in irgendein Ferienhaus gehen.« Die Kosten begleichen nach Behördenangaben die Stadt und die Verbandsgemeinde Mendig. Die Lavakeller in Mendig wurden einst in einen erkalteten Lavastrom des vor 200 000 Jahre ausgebrochenen Wingertsbergvulkan bis in eine Tiefe von 32 Metern gegraben, um Basalt für Mühlsteine abzubauen. Die Lava ist von einer etwa 30 Meter dicken Schicht aus Löss und Bimstuffen vom Ausbruch des Laacher-See-Vulkans vor etwa 13 000 Jahren überlagert, weshalb sie unterirdisch abgebaut werden musste. Basalt ist als Material für Mühlsteine besonders geeignet: Die Steine müssen gleichmäßig hart und scharf porös sein. Das ist gewährleistet, wenn mineralisch möglichst scharfkantig brechen; eine Art Selbstschärfung, die Mahlfläche muss rau bleiben. nd Knaup deutet auf ihre Häuserzeile: »Nur wir sind betroffen. Die Häuser auf der anderen Straßenseite nicht.« Oleg Gubenko ist immerhin froh, »dass das Land Rheinland-Pfalz die Kosten der Bodensicherung übernimmt und nicht wir darauf sitzen bleiben«. Mendig hat ein halbes Jahrtausend Basaltbergbau in dem erkalteten Lavastrom eines vor 200 000 Jahren ausgebrochenen Vulkans erlebt. Helmut Koll, Leiter des Museums Lava-Dome und des Besucherbergwerks der Stadt Mendig, sagt: »Von hier aus sind Mühlsteine als Exportschlager in die ganze Welt geliefert worden. Das ursprüngliche, unterirdische Abbaugebiet war 390 Fußballfelder groß.« Im 19. Jahrhundert nutzten bis zu 28 Brauereien die Felsenkeller mit ihrer konstanten niedrigen Temperatur zur Lagerung ihrer Bierfässer. Etwa die Hälfte der Unterwelt ist laut Koll noch heute erhalten. Manchmal erlebten die Bürger von Mendig Überraschungen, beispielsweise vor 30 Jahren, als auf dem Sportplatz unverhofft ein Loch klaffte. So etwas sorgt für Unruhe. Seit 2011 hat das Land laut der zuständigen Struktur- und Genehmigungskommission (SGD) Nord fachliche Erkundungen durch Experten des Landesamts für Geologie und Bergbaus mit rund 1,5 Millionen Euro finanziert. Hohlräume mit einer Gesamtfläche von 200 000 Quadratmetern wurden flächendeckend vermessen, kartiert und ihre Standsicherheit detailliert festgehalten. Mit Bohrungen wiesen die Experten acht unzugängliche Hohlräume nach. Für die betretbaren Felsenkeller wurden Eingänge zum Teil erneuert. Das Netz von Messpunkten zur Kontrolle der Stabilität erweiterten die Fachleute erheblich. Bei verschlossenen Hohlräumen können die Fachleute die Standsicherheit nicht genau beurteilen. Deshalb entschieden sie laut SGD Nord, für die Erschließung eines größeren Hohlraums einen neuen Schacht zu bauen sowie die zwei kleineren Hohlräume unter jenen Häusern zu verfüllen, deren Bewohner deshalb bald kurzzeitig umziehen müssen. Die Kosten betragen nach den Angaben voraussichtlich rund 2,5 Millionen Euro und sollen ebenfalls vom Land übernommen werden. Verbandsgemeinde-Bürgermeister Jörg Lempertz spricht von einzigartigen und atemberaubenden Felsenkellern. Es gehe um den »Schutz dieses weltweit bedeutenden Kulturgutes« bei gleichzeitig verbessertem Schutz für gefährdete Anwohner. In dieser Woche informierten Experten auf einer Bürgerversammlung ausführlich über die Probleme der Unterwelt des Osteifel-Städtchens. dpa/nd
Jens Albes, Mendig
Der 9000-Einwohner-Ort Mendig in der Osteifel steht über einem riesigen Höhlensystem. Aus Angst vor Einstürzen sichern Experten zahlreiche Hohlräume, die vom früheren Basaltabbau herrühren.
Rheinland-Pfalz
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Wie Pegida und AfD Köln missbrauchen
Rechtspopulistische und rechtsradikale Gruppen versuchen aus den Ereignissen der Silvesternacht in Köln zunehmend Kapital zu schlagen. Nachdem bereits am Mittwoch die rassistische Kleinstpartei »Pro NRW« vor dem Hauptbahnhof der Rheinmetropole eine Kundgebung abhielt, hat für kommenden Samstag die Pegida-Bewegung an gleicher Stelle eine Demonstration angemeldet. Beide Gruppierungen arbeiten für die geplante Veranstaltung, zu der die Anmelder 1000 Teilnehmer erwarten, eng zusammen. Auch der nordrhein-westfälische Landesverband der neonazistischen NPD erklärte inzwischen, für die Veranstaltung mobilisieren zu wollen, und sagte deshalb angeblich extra sein Neujahrstreffen ab. Inhaltliche Differenzen müssten für die gemeinsame Sache überwunden werden. Wie der »Kölner Stadt-Anzeiger« berichtet, befürchtet die Polizei ein ähnliches Szenario wie während des eskalierten »Hooligans gegen Salafisten«-Aufzugs. Das Aktionsbündnis »Köln gegen Rechts... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Robert D. Meyer
Die Geschehnisse der Kölner Silvesternacht forcieren die Hetze gegen Flüchtlinge im Internet und bald auch auf der Straße.
AfD, Köln, Nordrhein-Westfalen, Rassismus
Politik & Ökonomie
Politik
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Wie die Malerei in die Fotografie kam
Der Gedanke, dass Ästhetik den technischen Möglichkeiten ihrer Zeit folgt, scheint fast banal. Umso erstaunlicher ist es dann, wenn man sich einer konkreten, sich ganz auf ästhetische Erfahrung konzentrierenden Technik widmet. Möglicherweise sogar einer, die man für eine längst vergangene modische Laune halten könnte - etwa die Sofortbildkameras des US-amerikanischen Herstellers Polaroid. Geschichte und Einfluss dieser Fototechnik lassen sich derzeit in einer umfangreichen Ausstellung des Hamburger Museums für Kunst und Gewerbe nachverfolgen. Die Schau handelt sowohl von der Entwicklung einer fotografischen Technik als auch dem Erscheinungsbild eines weltweit agierenden Unternehmens. Nicht zuletzt geht es also um Image und Produktdesign. Man bekommt Prototypen der Kamera aus Holz, ältere und professionelle Modelle zu sehen. Man lernt, dass sich die Geschichte der Polaroid keinesfalls auf das handliche Modell SX.70 von 1973 beschränkt, also jenes bekannte Verbrauchermodell. Vor allem aber werden Bilder gezeigt - scheinbar alltägliche, experimentelle und künstlerische. Polaroid unterstützte die Arbeit zahlreicher Künstlerinnen und Künstler und stattete sie großzügig mit Kameras und jeder Menge selbstentwickelndem Filmmaterial aus. Das Unternehmen profitierte von der Zusammenarbeit in mehrfacher Weise. Zentral mag sein, dass derart eine kreative Elite ganz nebenbei und kostenarm ästhetische Paradigmen entwickelte und obendrein das Unternehmen Polaroid mit Feedback zu seinen Produkten versorgte. Polaroid-Bilder sind besonders - sie haben satte Farben und ein spezielles Format, nahezu quadratisch, eingefasst in einen weißen Rahmen. Wichtiger jedoch muss die Erfahrung des schnellen Bildes gewesen sein: einer größeren Autonomie des Fotografen und der gewachsenen Nähe von Ereignis und Bild. Der französische Modefotograf Guy Bourdin hat dies 1978 in seiner Serie »Charles Jourdan« anschaulich gemacht, indem er eine Frau auf der Straße nebst dem Bild von ihr auf der Straße fotografierte. Die Affinität von Künstlern der Pop Art zu Polaroid ist nicht überraschend. Für Andy Warhols Konsum- und Modebilder war das schnelle Bild natürlich ideal: zwischen kurzem Ruhm und der Gefahr eines atomaren Krieges. Bei Richard Hamilton, der für die Übermalungen seiner Selbstporträts bekannt ist, erfüllt das Polaroid eine ganz andere Funktion - während das belichtete Negativ sich selbsttätig entwickelt, kann man durch Wärme und Druck auf das Ergebnis Einfluss nehmen. So kommt die Malerei in die Fotografie. Dankenswerterweise zeigt die Hamburger Schau auch weniger populäre, experimentelle Positionen. Der Spanier Pere Formiguera oder der Italiener Franco Fontana wären hier zu nennen. Ihre Fotos scheinen sich kaum noch auf die äußere Welt zu beziehen, auch wenn sie entfernt an Architektur oder Landschaft erinnern. Farben und Formen sind hier abstrakt angeordnet, als handele es sich hier ganz um Malerei. Eine der interessantesten Subgeschichten der Ausstellung spielt in der DDR. Dort gab es im regulären Handel keine Polaroidkameras, sie waren jedoch kein reines Westphänomen. Modezeitschriften wie »Sibylle« oder die Staatssicherheit verwendeten durchaus Sofortbildkameras aus dem Hause Polaroid. Mitte der 1970er Jahre besorgte sich der Ostberliner Fotograf Arno Fischer bei einem Besuch in Hamburg eine solche Kamera und Filmkassetten. Gemeinsam mit seiner späteren Frau, der Fotografin Sibylle Bergemann, experimentierte er in der Abgeschiedenheit der eigenen Datscha. Er fotografierte farbige Blätter und Blüten im Garten, sie inszenierte Porzellanfiguren. Interessant ist die Reichweite der Polaroidästhetik in die Jetztzeit. Dabei ist zu vernachlässigen, dass ein polnisches Startup-Unternehmen eine digitale Neuauflage der Kamera auf den Markt gebracht hat und dafür die Sängerin Lady Gaga als Werbefigur gewinnen konnte. Ihre Aktualität zeigt sich etwa bei der bildbasierten Onlineplattform Instagram. Nicht nur, dass die dort veröffentlichten Bilder sich, was Format und Farbfilter betrifft, am alten Polaroid orientieren - viel wichtiger erscheint hier die Gleichzeitigkeit von wirklichem Geschehen und medialer Repräsentation. Es könnte schließlich etwas dazwischen kommen, ein Absturz oder gar ein Krieg. Die Ausstellung »The Polaroid Project« ist bis zum 17. Juni im Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg zu sehen.
Radek Krolczyk
Satte Farben, weißer Rahmen: Eine Ausstellung in Hamburg widmet sich der Geschichte und Ästhetik des Polaroidfotos
Fotografie, Hamburg, Kunstausstellung, Malerei
Feuilleton
Kultur
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Wohnungsnot auf der landespolitischen Agenda
Mit großem Engagement wurden landesweit über 35.000 Unterschriften gesammelt und damit die erforderliche Marke von 20.000 deutlich übertroffen. Trotz des erfolgreichen Schrittes ist die Volksinitiative, die vom Mieterbund und vom Sozialverband getragen wird, noch weit vom angestrebten Ziel entfernt. Im Kieler Landtag wurde die Legitimation der Initiative am Mittwochabend einstimmig bestätigt. Nun hat der Landtag vier Monate Zeit, sich inhaltlich zu positionieren. Dementsprechend rutscht das Thema auf eine der nächsten Sitzungen des Innen- und Rechtsausschusses. Bei einer Aussprache dazu im Landesparlament überwog zunächst allerdings Skepsis. Die Initiatoren der Volksinitiative hatten unter anderem auf Bayern verwiesen, wo der Wohnpassus in der Landesverfassung verankert ist. Genau das Beispiel führten aber auch die Kritiker von CDU, Grünen und FDP an, die zwar unisono selbstkritisch einräumten, dass in den vergangenen Jahren der soziale Wohnungsbau sträflich vernachlässigt wurde. Sie wiesen aber auch darauf hin, dass trotz Verfassungsrangs kein individueller Wohnraum einklagbar sei. Mit der Volksinitiative ist das dringliche Thema Wohnungsnot zumindest auf die landespolitische Agenda gehoben worden. Seit dem 31. Dezember 2018 unterliegen in Schleswig-Holstein wieder 20.000 öffentlich geförderte und preiswerte Wohnungen nicht mehr der Mietpreisbindung. Das basiert auf einer 2009 getroffenen Entscheidung, als in Kiel die CDU regierte. Laut dem Mieterbund hat das Land aktuell nur noch etwa 47.000 Sozialwohnungen in seinem Bestand, es fehlen hingegen 120.000. Die SPD spricht davon, dass allein in Kiel und Lübeck etwa 24.000 bezahlbare Wohnungen fehlen. Um so unverständlicher ist, dass die aktuelle CDU/Grüne/FDP-geführte Regierung in punkto Mieterschutz gerade erst die Mietpreisbremse aufgehoben hat. Bereits 2013 hatte die damalige Piratenfraktion ein Zweckentfremdungsverbot zur Sicherung bezahlbaren Wohnraums gefordert, fand aber in einer SPD-geführten Regierung ebenso keine Mehrheit wie 2018 der Südschleswigsche Wählerverband, der mit einem Antrag auf ein Wohnraumschutzgesetz am Jamaika-Bündnis scheiterte. Wohnungsbauminister Hans-Joachim Grote (CDU) setzt unterdessen auf den Faktor Geld statt auf Regulierungsvorschriften. Er sagte, dass aus dem Landeshaushalt innerhalb von vier Jahren 788 Millionen Euro für die Ankurbelung von Wohnungsbau im preisgünstigen Segment zur Verfügung gestellt würden. Zustimmung in der Debatte bekam die Volksinitiative ausgerechnet von einer Seite, auf die sie gerne verzichten möchte: Von der AfD. Diese fiel zuletzt in Kiel schon mehrmals damit auf, mit sozialpolitischen Themen eine angebliche Bürgernähe und -freundlichkeit zu suggerieren.
Dieter Hanisch, Kiel
Eine Volksinitiative will die Aufnahme eines Rechts auf angemessenen und bezahlbaren Wohnraum in die Landesverfassung von Schleswig-Holstein. Das Vorhaben hat eine weitere Hürde genommen.
CDU, Kiel, Mieten, Schleswig-Holstein, Wohnen
Politik & Ökonomie
Politik
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Endzeit auf dem Ziegenberg
Der Ausblick ist traumhaft: schwarzgrüne Wälder und leuchtende Bergwiesen, das Gebirge in Wellen ansteigend, am Kamm der Rennsteig, keine zehn Kilometer vor der Haustür. Die Straßen hier in Suhl-Nord sind meist nach Thüringer Bergen benannt, und wer etwa in der Finsterbergstraße Nr. 5 ans Zimmerfenster tritt, schaut auf ein Panorama, wie es sich Immobilienmakler für ihr Werbematerial nicht besser wünschen können. Doch in der Finsterbergstraße Nr. 5 gibt es niemanden mehr, der ans Fenster treten könnte: der Sechsgeschosser steht leer, und auch am Aufgang nebenan werden die Scheiben langsam blind. 13 000 Menschen lebten einst hier auf dem Ziegenberg, heute sind es kaum 3500. Die ersten Wohnblocks sind aus den 70ern, bis in die Wendezeit wurde gebaut, noch später entstand der heute vernagelte Einkaufstempel »Rennsteig-Center«. Kürzlich machte das Stadtparlament unten im Tal Schlagzeilen mit einem radikalen Beschluss: Suhl-Nord wird ab... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Roland Heine
Der Ausblick ist traumhaft: schwarzgrüne Wälder und leuchtende Bergwiesen, das Gebirge in Wellen ansteigend, am Kamm der Rennsteig, keine zehn Kilometer vor der Haustür. Die Straßen hier in Suhl-Nord sind meist nach Thüringer Bergen benannt, und wer etwa in der Finsterbergstraße Nr. 5 ans Zimmerfenster tritt, schaut auf ein Panorama, wie es sich Immobilienmakler für ihr Werbematerial nicht besser wünschen können. Doch in der Finsterbergstraße Nr. 5 gibt es niemanden mehr, der ans Fenster treten...
Bevölkerung, Stadtentwicklung, Thüringen
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/197340.endzeit-auf-dem-ziegenberg.html
Die Vermeidung von Tageslicht
Kann sich noch jemand an Bands wie Mittagspause, Die Tödliche Doris, S.Y.P.H., Der Moderne Man oder Kosmonautentraum erinnern? Oder an Neros Tanzende Elektropäpste? Wie erklärt man jemandem, der den Namen Alfred Hilsberg noch nie in seinem Leben gehört hat, wer diese Person ist? Vielleicht geht es ja so: Hätte es Alfred Hilsberg nie gegeben, wäre der Punk, zumindest das, was von dessen Nachlass erhaltenswert ist, möglicherweise nie in die Bundesrepublik Deutschland gekommen. Die Einstürzenden Neubauten wären heute dann vielleicht nicht die Hauskapelle der deutschen Suhrkamp-, Staatstheater- und Hochkulturblase, und auch Blumfelds linker Krachrock aus den frühen 90ern wäre möglicherweise nie so erfolgreich geworden. Es hätte vielleicht auch nie das gegeben, was Anfang der 80er Jahre als »Neue Deutsche Welle« sein Unwesen trieb und einen kurzzeitigen Triumphzug durch die Hitparaden antrat. Vielleicht erklärt man Alfred Hilsberg... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Thomas Blum
Das Buch "Das ZickZack-Prinzip" handelt nicht nur vom Leben des legendären Kulturimpresarios Alfred Hilsberg. Es ist auch eine Anekdotensammlung und eine Chronik der musikhistorisch aufregendsten Phase der BRD.
Feuilleton
Kultur
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1009834.die-vermeidung-von-tageslicht.html?sstr=hilsberg
Über den Dächern von Belgien
Heist-Movies, diese Glamrock-Versionen profaner Bandenkrimis, glänzen seit der Zeit der Schwarz-Weiß-Filme gerade dank des eleganten Personals am hellsten. Cary Grant, Frank Sinatra, Harvey Keitel, George Clooney: wenn Schauspieler wie diese Spiel- oder echte Banken um ihre Rücklagen erleichtern, sind sie zumeist lässig, souverän und sagenhaft sorgsam frisiert - also das genaue Gegenteil des zotteligen Programmierers Jeremy. Dafür bringt dieser in der Serie »The Bank Hacker« Einzigartiges zustande: den größten Raubzug aller Zeiten. Rund 300 Millionen Euro, das verraten uns gleich zu Beginn erregte Nachrichtensprecher in aller Welt, haben Jeremy und seine Spießgesellen erbeutet. Allerdings musste er dafür wie frühere Kollegen in »Über den Dächern von Nizza« keine analogen Tresorwände überwinden. Im Jahr 2021 knacken Bankräuber digitale Codes. Die Zukunft des todsicheren Dings, ist also binär; todsicherer wird sie deshalb mitnichten. Nach den Breaking News nämlich sonnt sich Jeremy nicht auf einer Karibikinsel und genießt seinen Beuteanteil; er sitzt im dunklen Büro der Antwerpener Staatsanwaltschaft und erzählt ihr alles über seine Komplizen. Ist der Cybercoup also gescheitert? Das könnte man nach den ersten zwei Minuten des belgischen Achtteilers, der die folgenden sechs Stunden vorwiegend mit Rückblicken auf die drei Jahre zuvor verbringt, durchaus denken. Doch der Reihe nach. Jeremy (Tijmen Govaerts) ist ein junger Informatikstudent aus Antwerpen, der zwar jeden Sicherheitsschlüssel knackt, aber kein Glück in Partnerschaften hat. Als er jedoch einen europaweiten Hackerwettbewerb fast im Alleingang gewinnt, rekrutiert ihn der Gauner Alidor (Gene Bervoets) für seine Gang unterschiedlich qualifizierter Ganoven. Ziel: ausgerechnet jene Bank auszurauben, die Jeremys Vater mit dubiosen Aktiendeals in den Suizid getrieben hat. Rache plus Kohle plus Abenteuer plus Sex mit der Tochter des Bandenchefs - eine Win-Win-Win-Situation für den kontaktscheuen Jeremy. Bis sie mit jeder Serienminute mehr und mehr zu einer Lose-Lose-Lose-Katastrophe eskaliert. Warum das an dieser Stelle gespoilert werden darf? Weil »The Bank Hacker« nur am Rande ein klassisches Heist-Format ist. Wichtiger ist den Regisseuren Frank Van Mechelen und Joost Wynant nach Büchern von Kristof Hoefkens und Maarten Goffin die schleichende Selbstermächtigung der psychosozial komplizierten Hauptfigur. Um sich und seine Liebsten vor dem Untergang zu bewahren, treibt Jeremy ein doppeltes, ja dreifaches Spiel. Der Tod seines Vaters hat nicht nur Schwester Lilly traumatisiert; auch das Blumengeschäft von Mutter Anouk (An Miller) steht vor dem Ruin. Und da bietet der Cyberangriff auf das schuldige Bankhaus gleich mehrfach Chancen zur ausgleichenden Gerechtigkeit. Der ebenso weise wie gerissene Alidor erklärt diese am Beispiel jener Holzfiguren, die er seit seiner Haftzeit dauernd schnitzt: »Schach ist wie das Leben«, wird Jeremy belehrt. »Alle sind scharf auf die Könige und Damen, die hohen Türme und schnellen Läufer, aber kleine Bauern wie wir, interessieren niemand.« Bis sie es auf die andere Seite schaffen. »Dann verwandeln sie sich in Damen und drehen das Spiel um.« Klingt küchenphilosophisch, erhöht aber den Sympathiepunktestand der Täter, die im Heist-Movie prinzipiell beliebter sind als ihre Opfer. Aber auch sonst agieren »The Bank Hacker« auf historisch planiertem Terrain: Wie Danny Oceans Kasinoplünderer der 1960er bis 2000er Jahre, bestehen sie aus Actionfiguren für jeden Zuschauergeschmack - vom peniblen Zahlenfresser Bart (Koen De Graeve) übers hitzköpfige Kraftpaket Prince (Manuel Broekmann) bis zum Schwarzen Alleskönner Souleymane (Claude Musungayi) ist alles dabei. Lesen Sie auch: Angriff auf Konzernprivilegien - EU-Kommission macht neuen Vorstoß für Reform der Unternehmensbesteuerung Echt originell wird die Boybandbesetzung somit erst, weil sie eher selten an schwer bewaffneter Security vorbeimuss, dafür häufiger an binären Sicherheitschiffren, die Jeremy bisweilen knackt wie Diebe Zahlenschlösser am Kinderfahrrad. Ratterndae Zahlenkolonnen am Bildschirm, gepaart mit physischer Action, hoher Spannung und Wendungen im Dutzend: da kann nicht mal die ignorante Synchronisation des Studio Hamburg verhindern, dass alle acht Teile zu jeder Zeit kurzweilig sind. »The Bank Hacker«, ab 21. Mai um 20.15 Uhr auf ZDF Neo.
Jan Freitag
Das digitale Zeitalter verändert auch die Darstellung vom Bankraub: Für ihren Millionencoup knackt die Gang in der Serie »The Bank Hacker« daher keinen Tresor, sondern Codes
Belgien, Digitalisierung
Feuilleton
Kultur The Bank Hacker
2021-05-20T14:54:30+0200
2021-05-20T14:54:30+0200
2023-01-20T22:33:08+0100
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1152245.the-bank-hacker-ueber-den-daechern-von-belgien.html
Der Erinnerung entgegen - von Mecklenburg nach Windhoek
Einen Film in Zusammenarbeit mit namibischen Frauen, die in der DDR aufgewachsen sind, verknüpft mit namibischer Geschichte und deutschem Kolonialismus, hat die Künstlerin Katrin Winkler gedreht. Der Film »towards memory« - übersetzt etwa »Der Erinnerung entgegen/zugewandt« - lief kürzlich auf der Berlinale. Darin geht es auch um die Wichtigkeit, die eigene Geschichte zu kennen und Geschichte(n) zu visualisieren. Der Film beschäftigt sich mit den deutschen Kolonialverbrechen und einer kolonialen Gegenwart im heutigen Namibia (einst Deutsch-Südwestafrika), mit einem Fokus auf den Genozid an den Herero und Nama durch das deutsche Kaiserreich. Das Konzept zum Film entwickelte Katrin Winkler bereits 2014. Während zweier Recherche- und Drehaufenthalte in Windhoek und anderen Städten in Namibia entstand dann 2015 eine Fülle an Material, das sie 2016 als Videoinstallation »towards memory« fertigstellte. »Meist zog ich ohne großes Filmteam, nur... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Heidrun Böger, Leipzig
Wie sehen namibische Frauen, die als Kinder in die DDR kamen, ihr Leben? Was machen sie heute? Und was hat das alles mit deutscher und namibischer Geschichte zu tun? Ein Filmprojekt versucht eine Antwort.
Bayern, Berlin, DDR, Kino, Namibia
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1047448.der-erinnerung-entgegen-von-mecklenburg-nach-windhoek.html
Bis zu 30 Gramm zum Eigenbedarf, aber strengste Regeln
Folgt man den Umfragen, so gibt es in der deutschen Bevölkerung eine große Mehrheit von 66 Prozent, die die Legalisierung von Cannabis zu Genusszwecken befürwortet. Die Zustimmung ist besonders bei den Jüngeren zwischen 18 und 39 Jahren mit 34 Prozent hoch. 56,4 Prozent der 18- bis 29-Jährigen und 46,9 Prozent der 30- bis 39-Jährigen bewerten die Entkriminalisierung positiv. Bei den 40- bis 49-Jährigen sind es 38,8 Prozent. Negativ beurteilen das Vorhaben die über 60-Jährigen mit 47,3 Prozent. Interessant: Im Osten wird die Freigabe grundsätzlich kritischer gesehen (45,1 Prozent) als im Westen (35,7 Prozent). Ob die Legalisierung in Deutschland überhaupt umgesetzt werden kann, ist völlig offen und wird davon abhängen, ob sie einer europa- und völkerrechtlichen Prüfung standhält. Deshalb geht das Papier zunächst nach Brüssel. Ein konkretes Gesetz soll jedenfalls erst auf den Weg gebracht werden, wenn »grünes Licht« von der EU kommt. Dem Bundesgesundheitsminister zufolge verbieten es EU-Verträge eigentlich, Cannabis in Verkehr zu bringen. Nun will die Bundesregierung die EU davon überzeugen, dass mit einer Legalisierung und strengen Regulierung des Cannabismarktes dem Anliegen der EU-Verträge zum Gesundheits- sowie Kinder- und Jugendschutz besser Rechnung getragen werden kann. Mit dem Cannabisverbot habe Deutschland »keine vorzeigbaren Erfolge« erzielt, vielmehr sei der Konsum gestiegen. Niederlande: Seit 1976 sind Besitz, Konsum und Verkauf bis zu 5 Gramm in "Coffee Shops" erlaubt, aber Anbau und Verkauf großen Stils verboten. Die Niederlande waren 2003 das erste EU-Land, das die medizinische Verwendung von Cannabis erlaubte.Spanien: Der Anbau für den Eigenbedarf in privaten Räumen wird toleriert, Handel und Konsum in der Öffentlichkeit sind verboten.Portugal: Konsum und Besitz von Drogen sind seit 2001 entkriminalisiert.Luxemburg: Geplant ist, den Cannabis-Gebrauch zu legalisieren. Ein im Juni vorgelegtes Gesetz, das noch nicht in Kraft ist, erlaubt den Anbau von bis zu vier Cannabispflanzen zu Hause.Malta: Seit Dezember sind der Besitz von bis zu 7 Gramm und der Anbau von bis zu vier Cannabispflanzen für ab 18-Jährige erlaubt. Ab 7 bis 28 Gramm droht eine Strafe von 100 Euro. Der Konsum in der Öffentlichkeit und von Minderjährigen ist verboten.Uruguay: Als erstes Land der Welt wurde 2001 der Anbau zu Hause für den Eigenbedarf sowie für Vertrieb und Konsum legalisiert. Cannabis ist in Apotheken erhältlich.Mexiko: Der oberste Gerichtshof gab im Juni 2021 den Freizeitgebrauch von Marihuana frei und lockerte im Mai 2022 die Kriterien für den Besitz auch anderer Drogen.USA: Ein Bundesgesetz verbietet Anbau, Verkauf und Verwendung von Marihuana. Der Freizeitgebrauch wurde jedoch in 19 Bundesstaaten gestattet.Kanada: Als zweites Land der Welt wurde im Oktober 2018 Cannabis für den Freizeitgebrauch freigegeben. Per Gesetz ist der persönliche Besitz auf 30 Gramm und vier Pflanzen pro Haushalt beschränkt. Die Provinzen können den Verkauf in zugelassenen staatlichen oder privaten Geschäften erlauben.Südafrika: Das höchste Gericht erklärte 2018 ein Gesetz für verfassungswidrig, das Konsum und Abbau von Marihuana zu Hause verboten hatte.  Agenturen/nd Cannabis und der Wirkstoff Tetrahydrocannabinol (THC) sollen künftig rechtlich nicht mehr als Betäubungsmittel eingestuft werden. Der Erwerb und der Besitz von bis zu 30 Gramm von »Genusscannabis« sollen straffrei, privater Eigenanbau in begrenztem Umfang erlaubt und ein Verkauf an Erwachsene in »lizenzierten Fachgeschäften« und möglicherweise auch Apotheken ermöglicht werden. Der Anbau der Pflanzen soll staatlich reguliert stattfinden. Das Eckpunktepapier sieht vor: – Cannabis und der Wirkstoff Tetrahydrocannabinol (THC) sollen künftig rechtlich nicht mehr als Betäubungsmittel eingestuft werden. – Der Erwerb und Besitz von maximal 20 bis 30 Gramm »Genusscannabis« zum Eigenkonsum sollen straffrei sein unabhängig vom konkreten THC-Gehalt. Auf eine THC-Grenze soll wegen zu großen Prüfaufwands bei möglicher Strafverfolgung verzichtet werden. – Privater Eigenanbau wird in begrenztem Umfang von »drei weiblichen blühenden Pflanzen pro volljähriger Person« erlaubt, aber geschützt vor Kindern und Jugendlichen. – Der Verkauf soll in »lizenzierten Fachgeschäften« erst ab 18 Jahren ermöglicht werden. Werbung für Cannabis-Produkte wird untersagt. Die Menge pro Kunde wird begrenzt. Einen Versandhandel soll es zunächst nicht geben. Der Handel ohne Lizenz bleibt strafbar. – Wegen des erhöhten Risikos für cannabisbedingte Gehirnschädigungen in der Adoleszenz soll geprüft werden, ob es für unter 21-jährige Käufer eine THC-Obergrenze geben soll. – Neben der Umsatzsteuer ist eine »Cannabissteuer« geplant, die sich nach dem THC-Gehalt richtet. Der Endverbraucherpreis soll dem Schwarzmarktpreis – derzeit ein Gramm 10 Euro – nahe kommen. – Cannabis-Produkte zum Rauchen oder in Form von Kapseln, Sprays oder Tropfen sollen zugelassen werden, aber sogenannte Edibles, also Kekse oder Süßigkeiten mit Cannabis, nicht. – Aufklärung, Prävention, Beratung und Behandlungsangebote sollen ausgebaut werden. In der Verpackungsbeilage soll es Aufklärung über die Risiken des Konsums sowie Hinweise auf Beratungs- und Behandlungsstellen geben. – Ob ein Online- oder Versandhandel an Privatpersonen durch zugelassene Geschäfte erlaubt wird, soll im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung des Gesetzes geklärt werden. – Wer ohne Lizenz Cannabis verkauft oder mehr besitzt als erlaubt, kann mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren bestraft werden. Verurteilungen, die künftig nicht mehr strafbar sind, sollen aus dem Bundeszentralregister getilgt werden. – Nach vier Jahren sollen die Regelungen bewertet und gegebenenfalls angepasst werden. Die Oppositionsparteien im Bundestag kritisieren die Pläne, auch Ärztevertreter sind keine ausgesprochenen Befürworter, und das Bundeskriminalamt warnt vor einer Zunahme des Rauschgifthandels in Deutschland. Der hauptsächliche Einwand: Die Legalisierung sei eine »offene Verharmlosung des Drogenkonsums«. Vor allem jungen Menschen würde der Eindruck einer »harmlosen Droge« vermittelt. Der frühe Konsum habe jedoch erheblich negativen Einfluss auf das Wachstum und die Entwicklung des Gehirns. Der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen, äußerte erhebliche Zweifel, »ob die geplante Legalisierung dazu nützt, die Drogenkriminalität einzudämmen und die Umstiege auf härtere Drogen zu verhindern«. Die Bundesärztekammer erhebt den Vorwurf: Die Bundesregierung bagatellisiere die gesundheitlichen Gefahren des Cannabis-Konsums und konterkariere die präventiven Bemühungen im Suchtbereich. Vor allem die Kinder- und Jugendärzte drängen auf einen besseren Jugendschutz. Das menschliche Hirn sei bis zum 25. Lebensjahr noch nicht vollständig ausgereift, erklärt der Chef des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte, Thomas Fischbach. Regelmäßiger Cannabiskonsum verursache bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen irreparable Hirnschäden bis hin zu einer dauerhaften Einschränkung der intellektuellen Leistungsfähigkeit und der sozialen Kompetenz. Von daher müssen die Schutzmaßnahmen für unter 21-Jährige deutlich strenger sein. Fischbach mahnte auch eine Regelung an, um die Weitergabe von legal erworbenem Cannabis an Jugendliche unter 18 zu unterbinden. »Uns Kinder- und Jugendärzten wäre es lieber, wenn die Cannabis-Legalisierung nicht kommt«, appelliert er an die Politik. Der Bundesgesundheitsminister verteidigte seine Pläne mit dem Hinweis: 25 Prozent in der Altersgruppe der 18- bis 25-Jährigen hätten im letzten Jahr gekifft. Somit sei eine Legalisierung von Cannabis mit einer niedrigen THC-Dosierung der bessere Weg im Vergleich zu einem vollständig unkontrollierten Handel wie gegenwärtig. Das Bundeskriminalamt (BKA) steht den Legalisierungsplänen deutlich warnend gegenüber und verweist darauf, dass der Drogenhandel und die organisierte Kriminalität in Deutschland mehr und mehr zunehmen. Die BKA-Vizepräsidentin Martina Link beruft sich auf alarmierende Zahlen: Von den 361 000 Rauschgiftdelikten im Jahr 2021 entfielen rund 56 000 auf den Drogenhandel, darunter fast 60 Prozent der Rauschgiftdelikte mit Cannabis. 1826 Menschen starben 2021 an den Folgen ihrer Drogensucht – 15,5 Prozent mehr als 2020. Noch ein Wort zu Cannabis als medizinisches Mittel, das immerhin in über 30 Ländern üblich ist und worauf die Befürworter in der Legalisierung-Debatte wiederholt Bezug nehmen. Der Einsatz von Cannabis ist bei »schwerwiegenden Erkrankungen« grundsätzlich seit März 2017 möglich, wenn dies nachweisbar zur Linderung chronischer Schmerzen führt. Voraussetzung für eine Verordnung ist laut Gesetz jedoch, dass es keine anderen alternativen Therapien gibt oder diese im konkreten Fall nicht angewendet werden können. Genau hier liegt der juristische Streitpunkt, wie unlängst das Bundessozialgericht (Az. B 1 KR 21/21 R und weitere) in vier Fällen verdeutlichte und klarstellte: Die Verordnung von Cannabis auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung hängt maßgeblich davon ab, ob sich die Krankheit »deutlich von durchschnittlichen Erkrankungen« abhebe und ob die Cannabis-Behandlung alternativlos sei. In den drei abgewiesenen Klagen konnten die Ärzte andere Therapiemöglichkeiten nur unzureichend belegen. Lediglich der Fall eines ADHS-Kranken wurde an das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen in Celle zurück verwiesen.
Jürgen Holz
Ab 2024 könnte in Deutschland Cannabis ganz legal gekauft, geraucht und angebaut werden – so jedenfalls sieht es das Eckpunktepapier der Ampel-Koalition vor. Umstritten bleibt das Vorhaben.
Cannabis, Drogen, Europäische Union
Feuilleton
Wissen Legalisierung von Cannabis
2022-12-12T12:42:56+0100
2022-12-12T12:42:56+0100
2023-01-20T16:45:34+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1169271.bis-zu-gramm-zum-eigenbedarf-aber-strengste-regeln.html
Die Politik hat es der AfD leicht gemacht
Bundestag und Bundesregierung haben der AfD einen juristischen wie gleichsam politischen (Teil-)Sieg auf dem Silbertablett serviert: Das Bundesverfassungsgericht konnte gar nicht anders urteilen, als die bisherige Praxis zur staatlichen Förderung für parteinahe Stiftungen zu kippen. Es war naiv anzunehmen, die seit Jahrzehnten eingeübte Praktik, jährlich hunderte Millionen Euro zu verteilen und sich dabei lediglich auf Vereinbarungen statt auf ein handfestes Gesetz zu stützen, würde dem Gesetzgeber nicht eines Tages auf die Füße fallen. Das musste allen Beteiligten spätestens klar gewesen sein, als die AfD 2017 erstmals in den Bundestag einzog. Damals betrat ein Akteur die politische Bühne, der jede Schwäche des parlamentarischen Systems für seinen Vorteil ausnutzt, bei dem Absprachen unter Demokrat*innen nicht ausreichen. Auch ohne die AfD hätte die Politik darauf kommen müssen, dass ein Stiftungsgesetz allein deshalb notwendig ist, um der Kritik entgegenzuwirken, Parteien könnten ihnen nahestehende Institutionen bevorzugt behandeln. Auch Karlsruhe sagt, es sei »realitätsfern anzunehmen«, die finanzielle Förderung der Stiftungen habe keinen Einfluss auf den politischen Wettbewerb. Jetzt muss ein Gesetz her, das am Ende bedeuten kann, dass sich die Klage der AfD für die Desiderius-Erasmus-Stiftung (DES) finanziell nicht auszahlt. Ausdrücklich erwähnt Karlsruhe, die Achtung der Kerninhalte des Grundgesetzes könne ein zentrales Kriterium sein, um staatliche Förderung zu verweigern. Die Herausforderung besteht nun darin, ein Regelwerk zu schaffen, das weder politisch missbraucht werden kann noch auf Einschätzungen politisch fragwürdiger Institutionen wie des Verfassungschutzes angewiesen ist.
Robert D. Meyer
Bundestag und Bundesregierung haben der AfD einen juristischen wie gleichsam politischen (Teil-)Sieg auf dem Silbertablett serviert: Karlsruhe musste mit seinem Urteil einfach ein Stiftungsgesetz einfordern.
AfD, Baden-Württemberg
Meinung
Kommentare Stiftungsgesetz
2023-02-22T17:16:32+0100
2023-02-22T17:16:32+0100
2023-02-22T17:49:05+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1171196.die-politik-hat-es-der-afd-leicht-gemacht.html
Wowereit verkündet Rücktritt
Berlin. Schon länger galt Klaus Wowereit als amtsmüde. Seine Popularität sinkt. Nun will Berlins Regierender Bürgermeister die Reißleine ziehen. »Ich habe diese Entscheidung für mich getroffen und sie ist über Monate hinweg gereift«, sagte Wowereit am Dienstagmittag vor Journalisten. Der SPD-Politiker will zum Jahresende, zum 11. Dezember, zurücktreten. Die rot-schwarze Koalition sei aus seiner Sicht nicht gefährdet. Die Frage nach seiner Nachfolge wollte Wowereit nicht beantworten. Da werde »sicherlich viel Dynamik« rein kommen, sagte er auf die Frage, ob er sich an der Diskussion um den Nachfolger beteiligen will. Während seines Statements bedankte sich Klaus Wowereit explizit beim Fraktionsvorsitzenden Raed Saleh für dessen Loyalität. Ohne ihn wäre eine verbünftige Regerungsarbeit nicht möglich gewesen. »Das hier ist nicht der Punkt, eine Bilanz zu ziehen«, sagte Wowereit auf der Pressekonferenz. »Der BER ist jedoch die grö... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Es lief nicht mehr ganz so gut für den Berliner Bürgermeister. Der vormals so beliebte Politiker stand vor immer mehr Baustellen, die er nicht geschlossen bekam. Nun scheint er Konsequenzen ziehen zu wollen.
Berlin, Bürgermeister, Rücktritt
Hauptstadtregion
Berlin
https://www.nd-aktuell.de//artikel/943666.wowereit-verkuendet-ruecktritt.html
Zwei zu eins
Frauen sind im deutschen Film und Fernsehen nach einer neuen Analyse deutlich unterrepräsentiert. Zu diesem Ergebnis kommt die am Mittwoch in Berlin vorgestellte Studie »Audiovisuelle Diversität?« der Universität Rostock. Demnach sei das Verhältnis männliche/weibliche Darsteller über fast alle Fernsehprogramme hinweg zwei zu eins. Die Studie basiert den Angaben zufolge auf repräsentativen Stichproben aus dem Jahr 2016. So seien zwei Wochen lang 25 Sender mit insgesamt mehr als 17 000 ProtagonistInnen sowie alle deutschen Kinofilme und Filme mit deutscher Beteiligung analysiert worden. Untersucht wurden alle Formate von Filmen über Unterhaltung bis zu Nachrichten und Informationsprogrammen. Bei der Präsenz von Frauen bilden laut Studie lediglich Telenovelas und Daily Soaps eine Ausnahme. epd/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Frauen im Fernsehen
Kino
Feuilleton
Kultur
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1057146.zwei-zu-eins.html
Wo Klein-Berthold sein Puppentheater führte
Es ist 20 Uhr, und es ist kalt in Augsburg. Oben, ganz oben im Perlachturm neben dem Rathaus steht Bertolt Brecht im Wind. Er trägt eine Lederjacke und eine Schiebermütze, raucht eine Zigarre, neben sich eine zerschlissene Ledertasche - und singt zur Gitarre eine geswingte Version der Moritat von Mackie Messer, dem berühmten Stück aus seiner Dreigroschenoper. Um ihn herum und auf der Treppe zu dieser Plattform, über der direkt die Glocken hängen, stehen an die 60 Leute und hören zu. Es ist der Beginn einer Stadtführung, die ein bisschen was zu Augsburg vermittelt, einiges über das Leben Bertolt Brechts, vor allem aber über Brechts Zeit in dieser seiner Geburtsstadt. Der Turm spielt die Hauptrolle im ersten Text, den Eugen Berthold Brecht, wie sein bürgerlicher Name lautete, mit 16 Jahren veröffentlichte. Nachdem der Schauspieler diesen Zeitungsartikel und einen weiteren hier vorgelesen hat, geht es die 150 Stufen wieder ... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Ralf Hutter
Das Brecht Festival in Augsburg ist vorbei, Brecht-Führungen wird es dort auch weiterhin geben. Ein neu konzipierter Rundgang führt durch die Gegend, in der Brecht seine Kindheit und Jugend verbrachte.
Bertolt Brecht, Theater
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/923900.wo-klein-berthold-sein-puppentheater-fuehrte.html
Zu spät für Anstand
So systematisch, wie Hitlers Generäle ihre Überfälle auf fremde Länder planten, planten sie auch den Massenmord an den sowjetischen Kriegsgefangenen. Man wollte das »Problem« vor Ort oder im besetzten Polen »erledigen«. Lediglich 14 Kriegsgefangenenlager, sogenannte STALAGs für je 30 000 gefangene Rotarmisten waren auf dem Territorium des Deutschen Reiches vorgesehen. Beispiel Zeithain in Sachsen. Bereits im April 1941, zwei Monate vor dem Überfall auf die Sowjetunion, waren die Pläne für das dort geplante Mannschaftsstammlager STALAG 304 fertig - ohne Unterkünfte und Versorgungseinrichtungen. Dennoch traf im Juli 1941 der erste Transport mit etwa 2000 sowjetischen Kriegsgefangenen ein. Die Wehrmacht setzte Hunger und Wassermangel als Waffen ein. Die Gefangenen, ausgezehrt von Kämpfen und dem Transport, waren leichte Opfer für Ruhr- und Typhusepidemien. Fleckfieber kam hinzu. Von 10 677 Gefangenen lebten Ende im April 1942 nur noch 3729. Zugleich suchte man nach politischen Funktionären unter den Gefangenen. Sie wurden von der Gestapo aussortiert. Mindestens eintausend Männer schaffte man ins Konzentrationslager Buchenwald - zur Erschießung. Als die deutsche Kriegsindustrie immer dringender Arbeitskräfte suchte, wechselte man die Strategie der Vernichtung. Überall im Reich entstanden »Russenlager«. Im September 1943 verfrachtete man vom Lager in Zeithain zehntausend Insassen nach Westen. Sie musste in belgischen und französischen Steinkohlengruben schuften - für den deutschen »Endsieg« Allein bis zur Kriegswende 1943 in Stalingrad waren 5,7 Millionen Rotarmisten in deutsche Gefangenschaft geraten. Bis zum Kriegsende im Mai 1945 kamen 3,3 Millionen um. Sie wurden von der deutschen Geschichtsschreibung über Jahrzehnte weitgehend »vergessen«. Erst 60 Jahre nach dem Ende des Nazireiches beschäftigte sich der Bundestag auf Antrag der Links- und der Grünen-Fraktion mit dem Thema. Man beschloss: Zwischen dem 30. September 2015 und dem 30. September 2017 können ehemalige Angehörige der sowjetischen Streitkräfte, die in deutscher Kriegsgefangenschaft waren, eine »Anerkennungsleistung« in Höhe von 2500 Euro erhalten. Doch für die meisten ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen kam diese »Geste« zu spät. Von den nur 2092 Anträgen, die bis zum 20. März 2019 eingegangen waren, wurden 1197 bearbeitet. 511 hat man abgelehnt. Für die »Anerkennungsleistungen« waren zehn Millionen Euro bereitgestellt worden. Gerade einmal 2,9 Millionen Euro fanden noch einen »Anspruchsberechtigten«.
René Heilig
Mehrere Millionen Rotarmisten waren Kriegsgefangene während des 2.Weltkrieges in Deutschland. Entschädigt wurden gerade einmal 686. Für die meisten von ihnen kam die »Geste« zu spät
Entschädigung, Kriegsgefangene, Sowjetarmee
Politik & Ökonomie
Politik Sowjetische Kriegsgefangene
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1118180.sowjetische-kriegsgefangene-zu-spaet-fuer-anstand.html
Schalkes letzte Titelchance
In der Bundesliga ist Schalke 04 abgeschlagen, im DFB-Pokal voll auf Kurs: Der Vizemeister will heute (20.30 Uhr, ZDF) im Duell der Altmeister gegen Ligakonkurrent 1. FC Nürnberg den Einzug ins Halbfinale des DFB-Pokals perfekt und damit einen wichtigen Schritt ins internationale Geschäft machen. »Gegen Nürnberg geht es um die Wurst, aber wir haben ein Heimspiel und wollen ins Halbfinale«, sagt Trainer Felix Magath selbstbewusst. Bereits vor dem Saisonstart hatte er den Pokalgewinn als Ziel ausgeben, so dass für ihn die 18. Teilnahme der Schalker am Halbfinale Pflicht ist. Die besondere Bedeutung des Spiels hebt auch der frühere Nürnberger Peer Kluge hervor, der im vergangenen Jahr zu Schalke gewechselt ist: »Wir sind nur noch zwei Schritte von Berlin entfernt. Das ist für uns eine Chance, einen Titel zu gewinnen.« So sieht es auch Magath, für den deshalb die Fan-Freundschaft der beiden Vereine keine Rolle spielt. »Es kann nur einer ins Halbfinale einziehen, und das wollen wir sein«, sagt der frühere Nürnberger Trainer, der in der Bundesliga-Hinrunde mit seinem Team 1:2 bei den Franken unterlag. Doch der katastrophale Saisonstart ist bei Schalke längst abgehakt, auch wenn der Abstand zu den Europacup-Plätzen noch satte acht Punkte beträgt. »Wir gehen gestärkt in die Partie gegen Nürnberg«, sagte Abwehrspieler Benedikt Höwedes nach dem 1:0 beim Tabellendritten Hannover 96 und stellte damit das neue Selbstbewusstsein zur Schau. Derweil träumt man in Nürnberg von einer Überraschung und einer Wiederholung des Pokalcoups von 1997, als Nürnberg im Finale mit 3:2 nach Verlängerung gegen den VfB Stuttgart die Oberhand behielt. »Gerade bei den Älteren wie Wolf, Schäfer oder Pinola ist die Erinnerung noch frisch. Die Jungs kriegen leuchtende Augen, wenn sie von damals erzählen«, berichtet FCN-Trainer Dieter Hecking, dem trotz des missglückten Rückrundenstarts mit nur einem Zähler aus zwei Spielen vor dem Auftritt in der Schalker Arena nicht bange ist. »Wir fahren als Außenseiter nach Schalke, aber der Unterschied zwischen beiden Mannschaften ist nicht so groß wie vor der Saison angenommen. Wer nach Berlin will, muss auch zu einer Überraschung fähig sein. Wenn nicht jetzt, wann dann«, sagte Hecking, der sogar noch weiter in die Annalen zurückblickt. Das bislang einzige Pokalduell der beiden Mannschaften liegt schon 75 Jahre zurück. Am 8. Dezember 1935 feierte Nürnberg den ersten Pokalsieg seiner Vereinsgeschichte. Es war die erste Austragung des deutschen Vereinspokals, der damals noch »Tschammer-Pokal« genannt wurde. Im Finale im Düsseldorfer Rheinstadion setzte sich Nürnberg gegen den damals amtierenden deutschen Meister und haushohen Favoriten 2:0 durch. An der Favoritenrolle der Gelsenkirchener hat sich auch im Jahr 2011 nicht viel geändert, auch wenn die Gegenwart auf Schalke im Moment alles andere als rosig aussieht. Glaubt man allerdings der Statistik, könnte sich Nürnberg, das bislang zwölfmal im Halbfinale stand, die Reisekosten sparen. Der letzte Auswärtserfolg des FCN auf Schalke datiert bereits vom 18. September 1993 (2:1).
Jürgen Zelustek, SID
Im Viertelfinale des DFB-Pokals soll Nürnberg nur Zwischenstation auf dem Weg nach Europa sein
1. Fußballbundesliga, FC Schalke 04
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Rettet die Heirat!
Es sollte einer der ganz großen Höhepunkte im Leben eines jeden Menschen sein: Wenn die Liebe im eigenen Herzen so groß geworden ist, dass man den Staat mit in die Beziehung holen möchte, dann ist es normalerweise Zeit zu heiraten. In der Folge hat man es endlich schwarz auf weiß, dass man den Rest des Lebens mit den Fingernägeln des Ehepartners verbringen möchte, die man in regelmäßigen Abständen aus dem Sieb des Waschbeckens fischt. Und man hat es urkundlich verbrieft, dass man niemand anderen auf dem gesamten Planeten lieber auf die kleinen Aufkleber aufmerksam machen möchte, die man ab und an von den Bananenschalen aus dem Biomüll pulen muss. (Gerade die eigene Frau oder den eigenen Mann sollte man für das Thema Mikroplastik und seine Vermeidung frühestmöglich sensibilisieren!) Leider hat Corona die Kälte in unsere Herzen gebracht. Kein Wunder, denn der Merkel-Maulkorb erschwerte jeden Zungenkuss enorm. Noch nie haben in der Bundesrepublik so wenige Menschen geheiratet wie im Jahr 2021. Das muss sich natürlich ändern. Unser Land muss wieder ein gutes Stück hochzeitsfreudiger werden. Da müssen wir alle gemeinsam gegensteuern. Gerhard Schröder allein wird es jedenfalls nicht richten können. Aber wie können Hochzeiten wieder populärer gemacht werden? Dafür muss sich vor allem auf der Angebotsseite etwas ändern. Potenzielle Partner müssen wieder attraktiver werden. Wenn man heutzutage durch die Straßen läuft, dann sieht man leider viel »Kroppzeug« und wenig heiratbares Material. Das Aufkommen romantischer Gefühle wird in nicht unerheblichen Ausmaß erschwert, wenn – wie man leider immer öfter sehen muss – ein Bierbauch unter dem T-Shirt hervorquillt, der so käsig glänzt, dass man sicher sein kann, dass er die letzten drei Tage nicht gewaschen wurde. Kreisrunder Haarausfall, unreine Haut und zu lange Nasenhaare – das Bild ist oft erschreckend und passt nicht zu einer wirtschaftlich erfolgreichen Industrienation wie Deutschland. Im internationalem Vergleich sind Deutsche optisch nicht mal mehr gehobenes Mittelmaß! Viel zu lange wurde das Problem ignoriert. Jetzt muss die Politik endlich handeln. Vor allem aber sollte sie mit gutem Beispiel vorangehen. Was sich da in den ersten Reihen in Parlament und Regierung lümmelt, ist auch nicht gerade das Gelbe vom Ei, um es vorsichtig auszudrücken. Wann hatten Sie, liebe Leserin und lieber Leser, das letzte Mal einen erotischen Tagtraum, in dem Olaf Scholz die Hauptrolle spielte? Schlimm genug, dass bei einigen solche Erlebnisse wohl bereits mehrere Jahre zurück liegen dürften … Wir haben uns gehen lassen. Sollte sich der Trend fortsetzen, dann wird es ab 2035 keine attraktiven Menschen mehr in unserem Land geben, das standesamtliche Geschehen könnte also vollständig zum Erliegen kommen. Für die jetzt beginnende Sommersaison brauchen wir deshalb ein paar Sofortmaßnahmen. Flipflops sollten nur von jenen Personen getragen werden dürfen, die einen Pediküren-Nachweis vorweisen können, der nicht älter als zwei Monate sein darf. Schnurrbärte sollten unverzüglich unter Strafe gestellt werden und beißender Schweißgeruch unter den Achseln wird künftig genauso strafrechtlich verfolgt wie das Tragen des selben Schlüpfers über mehrere Tage. Diese Sofortmaßnahmen wären nicht nur etwas für Unverheiratete. Auch meine Frau würde sich sehr darüber freuen. Aber das wichtigste wäre, dass man so wahrscheinlich schon wieder im Herbst öfter das Hochzeitsglockengeläut und die Stimmen der Steuerberater, die das Ehegattensplitting erklären, hören würde. Es wäre zu schön, denn die Ehe ist eine wunderbare Sache. Ich könnte hier an dieser Stelle noch stundenlang erklären, warum das so ist, aber ich muss noch ein paar Bananenaufkleber aus dem Biomüll fischen.
Andreas Koristka
Pediküren-Nachweis, Schnurrbartverbot und gestutzte Nasenhaare - dann könnten die Hochzeitsglocken wieder häufiger klingen. Doch international gesehen sind Deutsche optisch nicht mal mehr gehobenes Mittelmaß.
Deutschland, Hochzeit, koristka
Meinung
Kommentare Hochzeitsboom
2022-05-20T13:39:03+0200
2022-05-20T13:39:03+0200
2023-01-20T18:26:28+0100
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Unwort toxisch: Bücher für den Giftschrank
Es gab mal eine Zeit, da war das Wort »toxisch« noch originell. Es war kreativ, es war lyrisch, es war Britney. Mittlerweile ist es überall – im Internet, im Alltag und natürlich auch auf Buchtiteln. Da vor allem auf Lebensratgebern, in denen es darum geht, wie man, quasi in der Tradition von Marie Kondo, Überflüssiges aus seinem Leben entfernt. Statt um Dinge geht es aber nun um Menschen. Man muss sein Gegenüber immer wieder prüfen, um es als schlecht und gefährlich zu enttarnen. Im Feminismus hat das Wort schon längst Einzug gehalten – vor allem in Form von »toxischer Männlichkeit«. Gemeint ist die Form von Männlichkeit, bei der Männer sich selbst und anderen schaden – als ob es eine gute Form von Männlichkeit gäbe. Mittlerweile kann aber sowieso alles toxisch sein. Freundschaften, Familienmitglieder, Chefs, Regeln, Reaktionen und Angewohnheiten. All das hat das Potenzial, uns an Selbstliebe, am Funktionieren und am Fortkommen zu hindern. Deshalb muss man Toxisches aus seinem Leben entfernen – da hilft keine Therapie und kein Entgegenkommen, kein Stoppen, sondern nur Reinigung. Die beiden aktuellen Buchtitel, die das esoterische Wort aus der Ratgeberbubble rausholen, profitieren von seinem Siegeszug. »Toxisch« tritt an, Begriffe wie Macht, Gewalt und Missbrauch zu ersetzen – wie zuvor das Wort »problematisch« schon die Wörter rechts, rassistisch oder faschistisch verdrängt hat –, um es schließlich als Zuschreibung auf alles, was man doof findet, ausweiten zu können. Es darf eben alles nicht mehr so dolle sein. Sophia Fritz hat ein Sachbuch mit biografischen Anleihen geschrieben (»Toxische Weiblichkeit«), Frédéric Schwilden einen Poproman (»Toxic Man«). Hätten beide andere Titel gewählt, wären sie den Inhalten ihrer Bücher eher gerecht geworden, beide haben sich aber offensichtlich für die kommerziell sicherere Bank entschieden – fair enough. Für Schwilden scheint der Begriff als eine Art roter Faden zu funktionieren: Jeder Mann im Roman ist auf irgendeine Weise beschädigt vom Patriarchat, jede Frau hat irgendwie darunter gelitten. Ein bisschen will er wohl auch provozieren – schließlich lässt er seinen Protagonisten immer wieder dumme Vorurteile über junge Linke abfeuern, die darauf schließen lassen, dass der Autor keine persönlich kennt, sondern nur ab und an auf seltsamen Instagram-Seiten rumhängt. Schwildens Protagonist findet, den Leuten ginge es generell zu gut heutzutage. Armut gibt es im Roman nur in Form von Obdachlosen und Bettlern, die einem ab und an über den Weg laufen. Diese armen Randfiguren benutzt er, um seinen Bürgi-Roman, in dem es zwischen Ausstellungen und Partys um den Verlust des Vaters und eigenes Vaterwerden geht, eine Portion Street zu verpassen, er will sich nicht vorwerfen lassen, komplett blind zu sein, schon klar. Ansonsten ist er komplett blind für und unberührt von realen Verhältnissen. Fritz hingegen will sich den Ausdruck »Toxische Weiblichkeit«, den sie bei Antifeministen gelesen hat, feministisch aneignen, ohne jedoch zu definieren, was toxisch überhaupt bedeutet – und darüber vielleicht darauf zu kommen, dass sich der Begriff nicht eignet, um Verhältnisse zu erklären, sondern nur vage Zuschreibungen liefern kann. Fritz geht den Weg der meisten aktuellen Feminismus-Bücher, sie versucht – ausgehend von ihrer eigenen Sozialisierung – größere Zusammenhänge zu erklären und bleibt dabei meist bei Individualisierungen, auch wenn sie manchmal auf Strukturen, das System oder den Kapitalismus hinweist – aber eher so, als würde es um den Himmel gehen, unter dem wir nun mal leben müssen. Dass es etwas jenseits des Kapitalismus geben könnte, ist nicht vorstellbar, der Appell besteht darin, an sich selbst und seinem Umfeld zu arbeiten. Auch in diesem Buch befinden wir uns in bürgerlichen Verhältnissen, indem man natürlich unter sexistischer Sozialisierung gelitten hat, unter popkulturellen Bildern, die das Selbstbild negativ beeinflusst haben, aber von ausbeuterischen Verhältnissen ist man wenig berührt – man kann der eigenen Zurichtung mit Gesprächen, Kursen, Massagen, Therapie und Coaching beikommen. In beiden Büchern erfährt man etwas über Geschlecht, über Liebe, Sexualität und die Komplexität von Betroffenheit und Tätersein, und beide Bücher sind sprachlich gelungen und versammeln kluge Gedanken. Radikal sind sie aber an keiner Stelle. Die Autor*innen leben in Bubbles, in denen man sich erzählt, dass jede*r seines Glückes Schmied sein kann. Frauen und Männer – das ist bei beiden einfach so passiert, es ist kaum mehr als »die Bilder«, die wir gesehen haben und die uns vorgelebt wurden. Das Thema Klasse denken beide natürlich irgendwie mit, aber eine Rolle spielt es nicht. Ein Roman hat natürlich auch nicht die Aufgabe, auf eine solche Spurensuche zu gehen, im Sachbuch findet sie aber leider auch nicht statt. Hinter den Forderungen von Fritz, die richtig sind – Ehrlichkeit, nicht so hart zu sich sein, Grenzen setzen, andere Frauen und sich selbst in die Verantwortung nehmen – steckt kein größeres Ziel, keine Utopie. Das liegt auch an diesem ungeeigneten Wort »toxisch«, das nahelegt, dass es immer nur um Verhalten, aber nie um Verhältnisse gehen kann. Fritz mag sich den Begriff angeeignet haben, ein Gewinn ist das aber nicht. Wenn man nicht von kapitalistischer Macht und Gewalt sprechen will, wird man aber nicht erklären können, wieso es diese Zurichtungen in Bezug auf Geschlecht und Klasse gibt und wieso wir da nicht einfach so rauskommen. In der toxischen Bubble ist Klasse ein Nebenschauplatz. Probleme, die sich aber genau daraus ergeben, werden individualisiert und die Adressaten letztlich zu Egoismus bestärkt, auf dass unser einziges Ziel das Weiterkommen als Einzelne ist – natürlich auch mittels Konsum. Der Romanautor weiß wenigstens, dass er auf dieser Spur unterwegs ist. Als Feministin sollte man sich aber überlegen, in welchem System Frauen wirklich frei von eigener und der Zurichtung anderer Frauen sein können. Dafür muss man sich nicht mehr mit sich selbst beschäftigen, sondern mehr mit allen anderen, gemeinsam, organisiert, politisch und radikal. Sophia Fritz: »Toxische Weiblichkeit«, Hanser, geb., 192 S., 22 €.Frédéric Schwilden: »Toxic Man«, Piper, geb., 288 S., 22 €.
Paula Irmschler
Eigentlich war das Wort toxisch geeignet, um gefährliche gesellschaftliche Entwicklungen zu beschreiben. Mittlerweile ist alles toxisch: Chefs, Freunde, Mütter. Zwei Bücher versuchen, auf den Zug aufzuspringen.
activista, Feminismus, Kunst und Kultur, Roma
Feuilleton
Kultur Kultur
2024-05-13T15:09:33+0200
2024-05-13T15:09:33+0200
2024-05-15T14:27:08+0200
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Arbeitskämpfe und Arbeitslose
Kurz vor dem Ziel schert die Trommlergruppe der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft nach links aus und lässt die Demonstranten vorbeiziehen. Denn vor dem Roten Rathaus trommeln schon Kollegen der IG Metall. 11 000 Menschen sind am 1. Mai in Berlin vom Strausberger Platz zum Rathaus gelaufen. Selbst als die stellvertretende DGB-Bezirkschefin Nele Techen ihre Rede schon beendet und an Andrea Kocsis von der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi übergibt, strömen noch mehr Menschen vors Rathaus. »Das ist ein super tolles Bild«, freut sich Kocsis bei diesem Anblick. Sie ist Verdi-Vizebundeschefin. Kocsis erinnert an den 2. Mai 1933. Die Nazis stürmten damals die Gewerkschaftshäuser. Und heute? »Die AfD gewinnt bei jeder Wahl Sitze hinzu. Ihr strategisches Ziel ist ohne Zweifel, die parlamentarische Demokratie auszuhöhlen«, sagt Kocsis. Die AfD versuche, in Betrieben Fuß zu fassen und Belegschaften zu spalten. »Das dürfen wir nicht zulassen. Keine Handbreit den Faschisten.« Koscis beklagt, dass Arbeitgeber die Gewerkschaften zunehmend mit einstweiligen Verfügungen überziehen und Eingriffe ins Streikrecht fordern. Ein Arbeitgeberverband habe dazu sogar schon einen Gesetzentwurf fertig ausformuliert. Kocsis fordert: »Finger weg vom Streikrecht!« An der Spitze der Demonstration sind die Landesspitzen der einzelnen DGB-Gewerkschaften gelaufen. Zwei Reihen dahinter lief der Bundestagsabgeordnete Pascal Meiser (Linke). Er gehört gleich zwei Einzelgewerkschaften an: Der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, für die er sich einst schon als Student engagierte, und der IG Metall, für die später als Gewerkschaftssekretär tätig war. Berlins Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey (SPD) ist von Beginn an bei der Demonstration, reiht sich aber erst kurz vor dem Roten Rathaus ganz vorn mit ein. Die Linke bildet einen eigenen, recht großen Marschblock. Mit dabei die Landesvorsitzende Franziska Brychcy, Abgeordnetenhausfraktionschef Tobias Schulze und die Ex-Bundestagsabgeordnete Gesine Lötzsch. Gesine Lötzsch verteilt bei der Gelegenheit Handzettel, die auf das traditionelle Lesen gegen das Vergessen hinweisen. Es soll am 10. Mai von 15 bis 17 Uhr auf dem Bebelplatz wie jedes Jahr an die Bücherverbrennung von 1933 erinnert werden. Schauspieler wie Carolin Haupt und Schriftsteller wie Ingo Schulze werden aus Texten lesen, die 1933 von den Nazis in die Flammen geworfen wurden. Dieses Jahr organisiert Lötzsch das Lesen gegen das Vergessen noch ein letztes Mal. Nächstes Jahr soll eine andere Genossin das übernehmen. Der Kleine Buchladen aus dem Karl-Liebknecht-Haus werde am 10. Mai auf dem Bebelplatz noch einmal einen Stand haben, kündigt Lötzsch an. Es wird ein Abschied. Nach 35 Jahren muss dieser Buchladen aufgeben und von Inhaber Wanja Nitzsche abgewickelt werden. Das bedauert Lötzsch, die zu den Stammkunden gehörte. Die Ende Mai bevorstehende Schließung macht sie traurig. Fröhlich geht es derweil hinter dem Lautsprecherwagen der DGB-Jugend zu. Dröhnende Techno-Rythmen, als »megageile Mucke« bezeichnet, sorgen für ausgelassene Stimmung. Vom Lautsprecherwagen ruft eine Frauenstimme: »Heute ist kein Arbeitstag, heute ist ...« Die Menge vervollständigt im Chor: »Streiktag.« Oder die Frau gibt als Losung vor: »Alle Leute wissen schon.« Die DGB-Jugend skandiert: »Ohne Kampf kein höherer Lohn!« Zu kämpfen haben insbesondere auch die 3500 Beschäftigten der Charité Facility Management (CFM), einer Tochterfirma der Universitätsklinik Chartité. »Wir bewegen tagtäglich Tonnen. Wir bringen das Essen auf die Stationen, die Blutkonserven in den Operationssaal«, berichtet einer, der dort als Dispatcher arbeitet. »Was bekommen wir dafür? Einen Hungerlohn!« Berufsanfänger würden mit 1400 Euro netto im Monat abgespeist. Seit drei Jahren verspreche der Berliner Senat, die ausgegliederte CFM in die Charité zurückzuführen. Damit würden die Leute wieder nach dem Tarif für den öffentlichen Dienst (TVÖD) bezahlt werden. Doch nichts sei geschehen. Dieses gebrochene Wahlversprechen würden sich die 3500 Beschäftigten und ihre Angehörigen für die Abgeordnetenhauswahl im kommenden Jahr merken. Nicht von ungefähr wird dann am Roten Rathaus gerufen: »TVÖD für alle an der Spree!« Anders als im vergangenen Jahr gibt es diesmal keine Konflikte wegen palästinensischer Fahnen. Man hat sich im Vorfeld darauf verständigt, dass überhaupt keine Nationalflaggen mitgebracht werden sollen. Eine einsame chilenische Fahne stört niemanden. Solidarität mit den Palästinensern wird mit um den Hals geschlungenen Tüchern bekundet oder durch Losungen auf Transparenten. Die Kommunistische Organisation (KO) fordert neben Frieden für Gaza auch Frieden mit Russland. »Verteidigungsfähig ja, aber nicht gegen Russland, sondern gegen den Kriegskurs der Nato!« So heißt es von der KO. Wer glaube, sich gleichzeitig gegen Nato und Russland stellen zu können, helfe damit nur der Nato, argumentiert ein Mitstreiter. Wenige Schritte weiter tut genau das die Zeitschrift »Sozialismus von unten«. An ihrem Infotisch ist ein kleines Plakat befestigt, auf dem steht: »Weder Putin noch Nato! Butter statt Kanonen!« Verteilt werden verschiedene Zeitungen, auch das »nd«. Gewerkschaftssekretärin Dorothea Katharina Ritter nimmt sich ein Exemplar und außerdem eine Pfeife mit dem nd-Logo. Beim ersten Ausprobieren stellt sich heraus, dass ihr roter Lippenstift nicht kussecht ist und auf die Pfeife abfärbt. Sie nimmt es mit Humor und schlägt lachend vor, die linke Tageszeitung müsste einen Lippenstift entwickeln, bei dem das nicht passiere – einen »Red stick«, vielleicht verbunden mit dem Werbeslogan »Rot muss bleiben«. In Berlin und Brandenburg gibt es am 1. Mai verschiedene Veranstaltungen der Gewerkschaften mit zusammen fast 33 000 Teilnehmern. Bei einem Straßenfest in Strausberg tritt der Linke-Landesvorsitzende Sebastian Walter auf. Bereits im Vorfeld hat er erklärt: »Am 1. Mai und an jedem anderen Tag zeigen wir als Linke an der Seite der Gewerkschaften Flagge für jahrezehntelang hart erkämpfte Arbeitnehmer*innenrechte. Wir werden nicht zulassen, dass diese von der neuen Bundesregierung geschleift werden. Der Acht-Stunden-Tag bleibt. Der Mindestlohn muss auf 16 Euro steigen.« Derweil bleibt in der Hauptstadtregion die übliche Frühjahrsbelegung auf dem Arbeitsmarkt aus und die Zahl der Arbeitslosen fast unverändert. Eigentlich hätten die Zahlen im April sinken müssen. Stattdessen waren 217 508 Berliner erwerbslos registriert und damit 17 195 mehr als vor einem Jahr. In Brandenburg stieg die Zahl der Arbeitslosen im Vergleich zu April 2024 um 4344 auf 86 402. In Berlin beträgt die Arbeitslosenquote jetzt 10,3 Prozent, in Brandenburg 6,4 Prozent. »300 000 Arbeitslose in der Region geben Anlass zur Sorge«, weiß Ramona Schröder, Regionaldirektionschefin der Arbeitsagentur. »300 000 Arbeitslose in der Region geben Anlass zur Sorge.«
Andreas Fritsche
»Alle Leute wissen schon, ohne Kampf kein höherer Lohn!« Das war eine von vielen Losungen der Gewerkschaften an diesem 1. Mai in Berlin.
Arbeitslosigkeit, Berlin, Brandenburg, Streik
Politik & Ökonomie
Politik Gewerkschaften
2025-05-01T17:04:04+0200
2025-05-01T17:04:04+0200
2025-05-06T09:21:18+0200
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Ein Wanderer
Die Berufung des Chefs des Deutschen Historischen Museums in Berlin kommt einem Staatsakt gleich. Das DHM gilt - ähnlich wie dessen Vorgänger, das Museum für Deutsche Geschichte, für die DDR - als Leitmuseum der Bundesrepublik. Und ein solches muss ordentlich geleitet werden. Warum dies unter dem im Frühjahr verabschiedeten Direktor nicht gewährleistet gewesen sein soll, weiß man nicht. Das Haus schweigt. Den Neuen empfahl eine Findungskommission, der Vertreter der Bundesregierung, des Bundestages und der Bundesländer angehörten. Raphael Gross hat sich gegen 30 Mitbewerber und Mitbewerberinnen durchgesetzt. Der 1966 in Zürich Geborene war in den 1990er Jahren an der Hebräischen Universität in Jerusalem, an der FU Berlin, der Ruhr-Universität Bochum und an der University of Sussex tätig. Im folgenden Jahrzehnt bekleidete er den Direktorposten des Leo Baeck Instituts in London, des Jüdischen Museums in Frankfurt am Main sowie des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur in Leipzig. Ein Historiker auf stetiger Wanderschaft. Vielleicht wird er in Berlin sesshaft. Gewiss wird jüdische Geschichte im Zeughaus unter seiner Ägide eine stärkere Beachtung finden. Und zu hoffen bleibt, dass er an die positive Tendenz seines Vorgängers anknüpft, historische Wahrheiten nicht dem Mainstream, erst recht nicht dem medialen, zu unterwerfen. Es war wohltuend zu erleben, wie in jüngsten Sonderausstellungen Leben in der DDR nicht mehr dumm-dreist diffamiert und der Beitrag der Kommunisten Europas sowie vor allem der Sowjetunion an der Befreiung vom Faschismus nicht unterschlagen wurde. Die Kritik konservativer Blätter an der momentanen Kolonialismusschau scheint der Tatsache geschuldet, dass hier die mit Südafrikas Apartheidregime kungelnde Bundesrepublik im Vergleich zur antiimperialistische Solidarität übenden DDR schlecht abschneidet. Bleibt die Frage, ob Gross Mut beweist und die bereits angekündigte Exposition über das Echo der Russischen Revolution von 1917 in Europa realisiert.
Karlen Vesper
Personalie: Mit Raphael Gross leitet erstmals ein Import aus dem Ausland das DHM.
Berlin, Geschichte, Museum
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Kulturkampf ums Asylrecht
Das Asylrecht hat einen noblen Zweck, der direkt an die Verabschiedung der Menschenrechte gebunden ist – und diese fußen auf einer konkreten, finsteren Erfahrung: Es waren die Wirren der Zwischenkriegszeit, die viele Flüchtlinge produzierte, die auf den Völkerbund und zwischenstaatliche Abkommen angewiesen waren. Jüdische Flüchtlinge in der Zeit des Nationalsozialismus wurden abgewiesen oder nur sehr spärlich aufgenommen. Internationale Konferenzen, die eine Verteilung der Menschen aushandeln wollten, scheiterten. Währenddessen wurden in Deutschland Holocaust und Shoah geplant und vorbereitet. Ein besonderes bitteres Beispiel ist die Irrfahrt der St. Louis. Über 900 jüdische Flüchtlinge aus Deutschland, darunter viele Frauen und Kinder, wagten auf diesem Passagierschiff die Fahrt über den Atlantik, um den Nazi-Schergen zu entkommen. Sie wurden weder in Kuba noch in den USA oder Kanada aufgenommen. Die Menschen wurden zurück nach Europa gebracht. Die meisten überlebten den Zweiten Weltkrieg nicht. Natascha Strobl ist Politikwissenschaftlerin und Autorin aus Wien. Auf Twitter schreibt sie Ad Hoc-Analysen zu rechtsextremer Sprache und faschistischen Ideologien, für »nd« schreibt sie die monatliche Kolumne »Rechte Umtriebe«. Darin widmet sie sich der Neuen und Alten Rechten und allem, was sich rechts der sogenannten Mitte rumtreibt. Alle Texte auf dasnd.de/umtriebe. Auch die Schweiz spielte keine rühmlich Rolle und wies Flüchtlinge aus Österreich und Deutschland ab. Es waren Helden wie der Polizeihauptmann Paul Grüningenaus der Schweiz, die sich den Anweisungen widersetzten und die Grenze öffneten. Grüninger musste Karriere und Ruf aufgeben und wurde erst in den 1990ern (20 Jahre nach seinem Tod) rehabilitiert. Er ist in Israel ein sogenannter Gerechter unter den Völkern. Es waren aber auch Diplomaten wie der Schwede Raoul Wallenberg oder der Chinese Ho Feng Shan, die eigenständig hunderte Visa für Juden und Jüdinnen in Budapest und Wien ausstellten, um deren Ausreise zu ermöglichen. Grüninger, Wallenberg und Shan handelten gegen die Gesetze ihrer Länder und gegen zwischenstaatliche Abmachungen. Sie handelten, weil sie das Leid und die damit verbundene Dringlichkeit direkt vor Augen hatten und aus Menschlichkeit nicht anders handeln konnten. Die Irrfahrt der St. Louis zeigt, was passiert, wenn die Menschlichkeit versagt. Diese Erfahrungen bilden die Grundlage für die Menschenrechte und die Genfer Flüchtlingskonvention. Lesen Sie auch zum Thema: Appell gegen rassistischen Zeitgeist – 30 Jahre nach Beschluss des Asylbewerberleistungsgesetzes erneuern Organisationen Kritik Es ist also kein Wunder, dass die extreme Rechte diese Prinzipien vergessen machen möchte. Sie verpflichten nämlich den Staat zu Solidarität mit Menschen, die oft nicht mehr als die Schuhe an ihren Füßen haben. Sie verpflichten dazu, nicht wegzuschauen, wenn Menschen an Grenzen um Aufnahme bitten und damit um ihr Leben flehen. In den vergangenen Jahren waren es aber zunehmend auch Stimmen abseits der extremen Rechten, die diese Prinzipien aufweichen wollten. Das ist aktuell nicht anders. Geflüchtete Menschen sind die Projektionsfläche, auf der das Unbehagen mit der Gegenwart ausgetragen wird. Österreichs Ex-Kanzler Sebastian Kurz rühmte sich beispielsweise, die »Balkanroute« geschlossen zu haben. Die konservative britische Innenministerin Suella Braverman möchte gleich ganz aus der Flüchtlingskonvention aussteigen. Mit solchen Aussagen erhofft man sich ein paar Prozent mehr Zustimmung in der Bevölkerung. Es ist, als hätte man eine Gruppe von Menschen aufgegeben, an der sich nun alle einmal abarbeiten dürfen. Mehr zum Thema: Abschieben um fast jeden Preis – Bundesminister beschließen trotz scharfer Kritik von Flüchtlingsräten und Verbänden den Entwurf für ein »Rückführungsverbesserungsgesetz« Und die extreme Rechte triumphiert: Schaut, wir haben es immer schon gesagt, wir haben recht, ihr dürft uns auch beim Rest glauben. So spielt man das Spiel der extremen Rechten mit. Zumal man sich dann mit den wirklich kniffligen Fragen nicht auseinandersetzen muss: Warum radikalisieren sich etwa Menschen, die in zweiter oder dritter Generation da sind? Welche Ähnlichkeiten gibt es in der Radikalisierung zwischen der extremen Rechten und islamistischen Milieus? Welche Rolle spielen Soziale Medien wie TikTok? Wer hat wo welche Vorfeldorganisationen? Und welche Geschäfte macht man eigentlich mit Staaten, die diese Radikalisierung fördern? Das sind alles Fragen, auf die »Abschieben!« schlicht keine Antwort ist. Im Gegenteil: Hier werden gesellschaftliche Fragen verdeckt, auf die es auch solidarische Antworten gibt. Kinder und Jugendliche, die Teil dieser Gesellschaft sind, sind es auch, wenn sie sich daneben benehmen oder straffällig werden. Ihnen sofort klar zu machen, dass sie sowieso nie dazu gehören, befeuert eine Radikalisierung. Das bedeutet aber eben auch, sich mit ihrer Lebenswelt auseinanderzusetzen, sie als gesellschaftliche Realität anzuerkennen, aber nicht als unveränderbar zu akzeptieren. Ja, das ist Arbeit. Ja, das geht nicht so locker flockig von den Lippen wie »Alle abschieben!« zu johlen. Aber es ist der Weg, wie eine demokratische und solidarische Gesellschaft funktionieren sollte. Die Flüchtlingskonvention und damit die Menschenrechte als Spielball in einer politischen Auseinandersetzung ins Feld zu führen, bedeutet, sich von den Lehren des Zweiten Weltkriegs zu verabschieden.
Natascha Strobl
Die Politik fordert es, Kommentator*innen in den Medien wollen es auch: Das Asylrecht soll in Deutschland und Österreich verschärft werden. Doch verbale Kraftmeierei hilft nur den Rechten, kommentiert Natascha Strobl.
Asylpolitik, Flucht und Migration, Flüchtlinge, Juden, Umtriebe
Meinung
Kommentare Migration
2023-11-05T11:54:39+0100
2023-11-05T11:54:39+0100
2024-07-31T10:01:00+0200
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Pager-Explosionen treffen auch Irans Botschafter
Während in den Krankenhäusern im Libanon hunderte Verletzte versorgt wurden, die Hisbollah Vergeltung ankündigte, gingen die Analysten in Medien und sozialen Netzwerken an die Arbeit. Im Libanon sind mehrere tausend Beeper oder Pager explodiert, so viel ist klar. Einigermaßen sicher ist auch, dass es eine Geheimdienstoperation gewesen sein dürfte, die möglicherweise über Jahre sorgsam vorbereitet wurde. Aber warum wurde ihr zerstörerisches Finale ausgerechnet jetzt gestartet? Seit Oktober ist der Gaza-Krieg in vollem Gange. An der libanesisch-israelischen Grenze liefern sich Israels Militär und die Hisbollah Gefechte; immer wieder werden auch Raketen vom Libanon aus abgeschossen. Die Gefahr, dass daraus ein voller Krieg wird, ist enorm hoch, auch wenn beide Seiten der weiteren Eskalation bislang aus dem Weg zu gehen schienen. Denn in Israel sind die Ressourcen des Militärs schon jetzt fast aufgebraucht. Im Libanon herrscht eine tiefe soziale und wirtschaftliche Krise. Die Unterstützung für einen Krieg mit Israel, der alles noch viel schlimmer machen würde, scheint gering. Und der Angriff auf das Kommunikationsnetzwerk der Hisbollah wirkt nun wie der Auftakt zu einer israelischen Offensive gegen die Strukturen der Organisation im Süd-Libanon: Ihre Kommunikation ist gestört, es dürfte Verwirrung herrschen. Doch bis Mittwochnachmittag passierte: nichts. Es wäre auch ein eigenartiger Zeitpunkt für einen israelischen Einmarsch in den Libanon. Gerade erst hatten Berichte die Runde gemacht, Regierungschef Benjamin Netanjahu wolle Verteidigungsminister Joaw Galant feuern, ihn durch Gideon Saar ersetzen, einen langjährigen Rivalen Netanjahus, der allerdings auch vier Stimmen im Parlament mitbringen würde. Stimmen, die der Premier gut brauchen könnte, um seinen Machterhalt zu sichern. Saar ist aber auch vor allem Karriere-Politiker, hat nur begrenzte militärische Erfahrung. Lesen Sie auch: Fake-News-Vorwurf an »Bild«-Zeitung – Israelisches Militär untersucht Veröffentlichung geleakter Dokumente Das Nachrichtenportal »Al-Monitor« berichtete am Dienstagabend, Israels Auslandsgeheimdienst Mossad habe den Angriff gestartet, nachdem mindestens zwei Hisbollah-Funktionäre Verdacht geschöpft hätten. Und in der Online-Ausgabe der britischen Zeitung »The Guardian« weist der israelische Geheimdienstexperte Yossi Melman darauf hin, dass der Angriff zwar »die außerordentliche Fähigkeit« zeige, die Hisbollah ins Herz zu treffen. Aber der Angriff sei weder gezielt gewesen, noch verändere er die strategischen Rahmenbedingungen langfristig. Auf den Krieg im Gazastreifen haben die Explosionen im Libanon derweil zunächst keine erkennbaren Auswirkungen gehabt. Aber die Explosionen haben auch ein Schlaglicht auf den Iran geworfen. Denn einer der manipulierten Beeper detonierte in der Nähe von Modschtaba Amani, dem iranischen Botschafter im Libanon. Iranische Medienberichte lassen darauf schließen, dass auch zwei seiner Sicherheitsleute solche Geräte am Körper trugen. Die Einbindung eines Botschafters in das Kommunikationsnetzwerk der Hisbollah ist ein deutliches Zeichen dafür, dass die Kontakte zwischen der iranischen Führung und der Hisbollah viel enger sind, als bisher angenommen. Und dass es sich zumindest beim Botschafterposten im Libanon um kein rein diplomatisches Amt handelt. Das könnte auch die ohnehin schon stark angespannte Stimmung im Iran weiter gegen die Führung anfachen. Nach Ansicht des US-Außenministeriums wird jährlich mehr als eine Milliarde Dollar für die Unterstützung von militanten Gruppen im Nahen Osten ausgegeben, der größte Teil des Geldes soll an die Hisbollah fließen. In der islamischen Republik, wo eine tiefe wirtschaftliche und soziale Krise herrscht, wird das sehr kritisch gesehen: Das Geld werde dringender zu Hause gebraucht. Aber vor allem werden die Ereignisse jenen in Israel und den USA Argumente liefern, die strikt gegen weitere Abkommen oder eine Lockerung der Sanktionen gegen den Iran sind. Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen. Auf den Krieg im Gazastreifen haben die Explosionen im Libanon derweil zunächst keine erkennbaren Auswirkungen gehabt. Die Versuche, einen Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas auszuhandeln, gehen weiter. Am Mittwoch traf sich US-Außenminister Anthony Blinken in Kairo mit Vertretern der ägyptischen Regierung. Zusammen mit den Unterhändlern aus Ägypten und Katar arbeitet man derzeit an einem neuen Vorschlag für eine Waffenruhe. Die Ereignisse im Libanon waren bei den Gesprächen nur ein Nebenthema: Man werde sehen müssen, ob sie sich auf die Verhandlungen auswirken werden, sagte Blinkens Sprecher Matthew Miller.
Oliver Eberhardt
Der Angriff auf das Kommunikationsnetzwerk der libanesischen Hisbollah hat die Kriegsgefahr weiter gesteigert. Doch auch anderswo könnten die Folgen gravierend sein.
Gaza, Hisbollah, Iran, Israel, Libanon, Nahost
Politik & Ökonomie
Politik Nahost
2024-09-18T16:19:50+0200
2024-09-18T16:19:50+0200
2024-09-18T16:20:55+0200
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Jüdischsein in der DDR
Die DDR und die Jüd*innen, die Jüd*innen und die DDR. Wenn über dieses Themenfeld gesprochen wird, lässt sich das Gespräch grob in drei Assoziationsstränge gliedern. Da wäre zum einen die Welt der sogenannten Intelligenzija, der kommunistisch-jüdischen Elite, der Remigrant*innen, die nach dem Zivilisationsbruch der Schoa in das Land der Täter*innen zurückkamen, weil sie fest an ein anderes Deutschland glaubten. Da sind zum anderen die Gemeinden in den großen Städten wie Berlin, Leipzig und Dresden, die im Laufe der Jahre bis zum Ende der DDR immer weiter schrumpften. Und da ist die Frage, inwieweit organisiertes jüdisch-religiöses Gemeindeleben im realsozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat möglich war. Da ist die von der DDR-Führung nie erfolgte Anerkennung des Staates Israel, da sind schließlich Neonazis, die es auch im Land mit seiner schwarz-rot-goldenen Flagge mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz gibt. Im Berliner Osten, genauer: im heutigen Großbezirk Pankow, kamen dabei unterschiedliche jüdische Erfahrungswelten so geballt zusammen wie sonst wohl nirgendwo in der DDR. Während im damaligen Stadtbezirk Pankow kulturpolitische Größen wie Hanns Eisler, Anna Seghers, Arnold Zweig und Walther Victor - um nur einige zu nennen - gleichzeitig sozialistisch und jüdisch waren, war der Stadtbezirk Prenzlauer Berg Ort religiösen Lebens mit der aktiven Synagogengemeinde an der Rykestraße, und bei Weißensee denkt man insbesondere an den größten erhaltenen jüdischen Friedhof Europas - Ort der Erinnerung, Ort antisemitischer Grabsteinschändungen. Stella Leder kennt das realsozialistische Pankow und die verschiedenen jüdischen Erfahrungswelten in der ehemaligen DDR zwar nur aus Erzählungen, aus ihrer Familiengeschichte. Die hat es aber in sich. Leder, 1982 in Westberlin zur Welt gekommen, ist die Enkelin des Schriftstellers Stephan Hermlin. Ihr Großvater, 1915 als Rudolf Leder in Chemnitz geboren, war 1936 vor den Nazis in das damalige britische Mandatsgebiet Palästina geflüchtet, kämpfte in Frankreich im Widerstand und kehrte 1945 nach Deutschland zurück, um den neuen sozialistischen Staat mit aufzubauen. Seine Tochter Bettina, Stella Leders Mutter, war 1977 aus der DDR in die Bundesrepublik übergesiedelt. Vorausgegangen waren Proteste gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns, die Bettina Leder insbesondere auch deshalb erschüttert hatte, weil der Liedermacher Sohn eines in Auschwitz ermordeten Juden war - und Ausbürgerungen ein Instrument der Nationalsozialisten gewesen waren. Am Ende wurde sie selbst ausgebürgert. Stella Leder hat Kultur- und Literaturwissenschaften studiert und arbeitet für Nichtregierungsorganisationen zu Antisemitismus, Gender und Rechtsextremismus. Sie sagt: »Jüdischsein in der DDR war eine eigene, sehr spezielle Erfahrung, die für mich in dem intellektuellen Kosmos Pankow, der mit dem Staat zusammen untergegangen ist, zusammenfließt.« Ihre Familie habe einen starken Bezug zu dem Bezirk - ihr Großvater hat dort lange gelebt, ihre Mutter wohnt heute wieder dort, ist aber Gemeindemitglied in einem anderen Bezirk. »Meine Mutter ist nicht jüdisch erzogen worden, hat sich aber schon als Kind gefragt, was es bedeutet, jüdisch zu sein. Erst Jahre nach der Wende hat sie nach und nach begonnen, ihren eigenen Bezug zum religiösen Judentum zu entdecken.« Ihr berühmter Großvater hatte mit dem Judentum als Religion nichts am Hut. »Er war Kommunist.« Zeitlebens sei er zwischen allen Stühlen hin und hergerissen gewesen, sagt Stella Leder. »Auf der einen Seite war er nah an den Mächtigen dran, er war ein anerkannter Schriftsteller in der DDR. Auf der anderen Seite litt er unter der intellektuellen Enge, setzte sich für die Freiheit der Literatur ein.« Dass Hermlins Ehefrau Gudrun ihn und die gemeinsame Tochter Bettina bei der Staatssicherheit denunziert hatte, wurde erst nach Öffnung der Geheimdienstakten bekannt. Über ihre deutsch-jüdische Ostberliner Familie hat Stella Leder gerade das spannende Buch »Meine Mutter, der Mann im Garten und die Rechten« geschrieben. Auch für Benjamin Steinitz, 1983 in Pankow geboren, ist das Thema präsent. Sein Urgroßvater, der Volkskundler Wolfgang Steinitz, floh 1934 mit seiner jüdischen Familie aus Deutschland, zunächst in die Sowjetunion, dann nach Schweden, wo er dank der Unterstützung einer jüdischen Stiftung seine Studien an der Stockholmer Universität fortsetzen konnte. Gleichzeitig war der Urgroßvater im schwedischen Exil - wie schon vor seiner Flucht aus Deutschland - für die KPD aktiv. Nach Kriegsende machte er in der DDR Karriere, als Institutsleiter an der Berliner Humboldt-Universität, als Mitglied des Zentralkomitees der SED, als Vizepräsident der Akademie der Wissenschaften. Auch sein Sohn, der Wirtschaftswissenschaftler Klaus Steinitz, Benjamin Steinitz’ Großvater, gehörte zur DDR-Nomenklatura, arbeitete in der Staatlichen Plankommission und war in den 80er Jahren stellvertretender Direktor des Zentralinstituts für Wirtschaftswissenschaften der Akademie der Wissenschaften der DDR. Anfang 1990 wurde er Mitglied im Parteivorstand der PDS, für die er auch in der Volkskammer und kurz sogar im Bundestag saß. Benjamin Steinitz selbst ist Gründer und Leiter der Berliner Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus, kurz: RIAS Berlin. Er sagt: »Das Judentum hat in meiner Kindheit in Ostberlin praktisch keinerlei Rolle gespielt. Die Menora im Haus meiner Großeltern war für mich ein schmuckvoller Kerzenständer, und ich denke auch nicht, dass die genaue religiöse Bedeutung meinen Großeltern und Eltern geläufig war.« Bis heute spiele die jüdische Tradition in seiner Berliner Familie keine große Rolle - und das, obwohl seit den 30er Jahren in Israel, den USA und Italien immer enge Verwandte seines Großvaters gelebt haben, die jüdische Haushalte geführt haben. Zugleich waren die Exilerfahrungen seiner Vorfahren in der Familie vorwiegend im Kontext der Verfolgung als Kommunist*innen, weniger als Jüd*innen präsent. »Während Antifaschismus Teil der Familienkultur war und ist, sind seine Konnotationen und spezifischen Bedeutungen für das Verhältnis zu Israel zwischen den Generationen der Familie umstritten«, reflektiert Steinitz. Seinen Großvater hat die antizionistische Staatsdoktrin der DDR auch noch nach der Wende eine Zeit lang geprägt. Heute könne er damalige Fehleinschätzungen benennen und das Existenzrecht Israels anerkennen. »Im Gespräch mit ihm bin ich dennoch häufig ›der Zionist‹ im Raum«, sagt Benjamin Steinitz.
Maximilian Breitensträter
Stella Leder und Benjamin Steinitz, deren Großväter vor den Nazis fliehen mussten und dann in der DDR Karriere gemacht haben, erinnern sich an jüdische Identitäten im Ostberlin der 80er Jahre und wie ihre Familien damit umgingen.
Antizionismus, Berlin, DDR, Israel, Juden, Stephan Hermlin
Hauptstadtregion
Berlin Judentum
2021-12-30T14:25:46+0100
2021-12-30T14:25:46+0100
2023-01-20T19:43:02+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1160034.juedischsein-in-der-ddr.html
Puppen für die Mondmission
Das Leben auf der Erde konnte sich nur deshalb so lange entwickeln, weil unser Planet gleich zwei Schutzschirme gegen Strahlung aus dem Weltraum besitzt: die Atmosphäre und ein Magnetfeld. Während die Atmosphäre vor allem hochenergetische elektromagnetische Strahlung absorbiert - vom Ultraviolettlicht der Sonne bis zur Gammastrahlung aus der Tiefe des Alls -, fängt das Magnetfeld einen großen Teil der elektrisch geladenen Teilchen ein. Diese Teilchen - hauptsächlich Elektronen, Protonen, Alphateilchen - erreichen die Erde zum größten Teil nach Sonneneruptionen. In geringerem Umfang stammen sie von außerhalb des Sonnensystems. Die Strahlung von dort, die galaktisch kosmische Strahlung, erreicht zwar nicht die Dosis der von der Sonne kommenden, übertrifft deren Energie aber bei Weitem. Wenn Menschen beim Flug zum Mond oder noch weiter die Atmosphäre verlassen, brauchen sie also zusätzlichen Schutz. Zumal einer der natürlichen Schutzschir... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Steffen Schmidt
Die »Apollo«-Astronauten hatten Glück, dass sie nicht in einen Sonnensturm gerieten. Bei künftigen Flügen will man weniger Risiko eingehen. Beim unbemannten Flug der NASA-Kapsel »Orion« fliegen zwei mit Strahlenmessgeräten gespickte Puppen mit.
Flugverkehr, ISS, NASA, Raumfahrt
Feuilleton
Wissen NASA
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1131922.puppen-fuer-die-mondmission.html
Fidschi fischt Milliardäre
Viele Pazifikstaaten verdanken ihren Erfolg beim Kampf gegen die Pandemie der frühen Schließung der Grenzen und erfolgreichen Quarantäneprogrammen für Rückkehrer. Auch Fidschi hat schnell und effektiv reagiert. Ganze 27 Infizierte wurden in dem 900 000-Einwohner-Staat bis heute regis-triert und das bei immerhin knapp 7000 Tests; eine Person starb bisher an Covid-19. Die Wirtschaft des Inselstaates leidet dagegen stark unter den Folgen der Coronakrise. Bisher machte nämlich der Tourismussektor 40 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus. Rund 150 000 Menschen sind in der Branche tätig, die durch die Pandemie fast völlig zum Erliegen gekommen ist und sich nur sehr langsam erholt. Der Großteil der Urlauber kam bisher aus Australien und Neuseeland. Eine angedachte Reisezone dieser Länder, die unter Umständen Fidschi eingeschlossen hätte, kam bisher nicht zustande. Zu groß ist die Angst dieser großen Staaten, die die Pandemie ebenfalls gut unter Kon-trolle bekommen haben, sich erneut Infektionen in großer Zahl ins Land zu holen. Der Premierminister von Fidschi, Frank Bainimarama, preist derweil bei jeder Gelegenheit die Erfolge bei der Pandemiebekämpfung an, will diese aber auch nicht in Gefahr bringen. Nach Monaten strenger Ausgangssperren und geschlossener Grenzen hat sich Fidschi wieder geöffnet - allerdings erst einmal nur für die Reichsten der Reichen: »Nehmen wir an, Sie sind ein Milliardär, der seinen eigenen Jet fliegt, seine eigene Insel mieten und dabei Millionen von Dollar in Fidschi investieren möchte«, schrieb er kürzlich auf Twitter. »Wenn Sie alle notwendigen gesundheitlichen Vorsichtsmaßnahmen getroffen und alle damit verbundenen Kosten getragen haben, haben Sie möglicherweise ein neues Zuhause, um der Pandemie im Paradies zu entkommen.« Da die überschaubare Zahl der Superreichen nicht ausreichen wird, Fidschis gelähmte Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen, schrieb er kurz darauf, dass das Land auch Reisende willkommen heiße, die mit dem eigenen Segelboot anreisen, vor ihrer Abreise einen Covid-19-Test bestanden und dann mindestens zwei Wochen auf See verbracht haben, bevor sie in Fidschi an Land gehen. In weiteren Tweets verkündete er, dass auch Filmproduktionen im »Hollywood des Pazifik« wieder willkommen seien, solange sie die gesundheitlichen Sicherheitsvorschriften einhalten würden. Jetzt verkündete der Generalstaatsanwalt und Wirtschaftsminister des Landes, Aiyaz Sayed-Khaiyum, bei einem Briefing zum aktuellen Staatshaushalt, dass die erste Flugzeugladung mit »30 vermögenden Privatpersonen von einem sehr bekannten Unternehmen« eingebucht sei. Die Gäste würden in einem Privatjet anreisen und dann in ein Wasserflugzeug umsteigen, das sie zu einer Insel bringen werde, auf der sie die kommenden drei Monate verbringen würden. »Aus unserer Sicht ist dies ein Gleichgewicht zwischen dem Management unseres Gesundheitsrisikos und der Öffnung der Wirtschaft«, teilte der Minister laut dem lokalen Nachrichtenportal »Fiji Village« mit. Aus welchem Land und von welchem Unternehmen die Gäste kommen, wurde allerdings nicht verraten. Wohlhabende, die sich ihre Domizile weltweit aussuchen können, schätzen nun mal vor allem eines: Diskretion.
Barbara Barkhausen
Fidschi leidet wie andere Pazifikstaaten vor allem wirtschaftlich unter der Coronakrise. Da es kaum Krankheitsfälle gibt, bietet der Premierminister sein Land als »Paradies für Milliardäre« an.
Reichtum
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1140119.fidschi-fischt-milliardaere.html
Mit dem Alter wird es nicht leichter
nd: War es notwendig, ein Buch zum Thema Female Empowerment zu schreiben? von Nessen: Vor ein paar Jahren hätte ich gesagt, dass so ein Buch unnötig ist. Ich dachte, dass wir Frauen heute vollkommen gleichberechtigt sind zu Männern. Doch so ist es nicht. Als Vorständin in einem IT-Unternehmen bin ich eine absolute Ausnahme. Das hat mich zum Nachdenken gebracht und zu der Frage: Wie gleichberechtigt sind wir wirklich - bei Gehalt, Karrierechancen, in unseren Beziehungen? Ich selbst bin in einer Männerwelt aufgewachsen und habe mich darin immer sehr selbstverständlich bewegt. Sabrina von Nessen ist Vorstandsmitglied eines IT-Unternehmens in München. Nachdem sie früher gegen explizite Frauenförderung war, setzt sie sich nun für mehr weibliche Führungskräfte in der Technologiebranche ein und sagt: Für mehr Frauen in MINT-Berufen muss sich in Erziehung und Schule einiges ändern. Ihr Buch »Female Empowerment - Women in Tech. Frauen helfen Frauen mit Tipps zu Karriere, Mindset & Führung für mehr Gleichberechtigung in Tech-Berufen« erschien 2020 im Verlag »tredition«. Dafür interviewten sie und ihre Co-Autorin Sandrine de Vries 25 Frauen, die in der Technologiebranche erfolgreich sind. Was hat diese Männerwelt ausgemacht? In der Finanz- und IT-Welt habe ich von Beginn an beinahe ausschließlich mit Männern gearbeitet, die oftmals deutlich älter waren als ich. Geschätzt habe ich dabei immer deren Zielorientierung und Direktheit - die Tendenz zum offenen Wort bis hin zum klärenden Gewitter. Auch wenn sich das sehr klischeehaft anhört, mit diesem Modus kann ich gut umgehen. Ich hatte das Gefühl, mich dadurch auf die fachlichen Herausforderungen konzentrieren zu können. Rückblickend habe ich wohl die unterschwelligen Gängeleien und Rangeleien nicht wahrgenommen oder unterbewusst ignoriert. Für Ihr Buch haben Sie 25 Frauen in unterschiedlichen Technologieberufen interviewt. Welches Fazit ziehen Sie? Mein Anliegen war es, die Vielfalt der Karrierewege und auch der Herausforderungen zu porträtieren. Jedes Interview gibt einen individuellen Einblick in eine Lebensgeschichte und motiviert zur Selbstreflexion. Erfreut war ich über den positiven Grundtenor, den alle Frauen hatten. Unser gemeinsames Ziel ist es, jungen Frauen Mut zu machen für eine individuelle Lebens- und Karriereplanung, besonders in technischen Berufen. Wir waren uns einig: Netzwerke, Vorbilder und die Arbeit am eigenen Mindset sind zentrale Erfolgsfaktoren. Laut Bundesagentur für Arbeit liegt der Frauenanteil in den MINT-Berufen (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik) in Deutschland bei gerade mal 16 Prozent. Haben die von Ihnen befragten Frauen von ähnlichen Herausforderungen berichtet, denen sie begegnet sind? Frauen sind in allen Positionen und auf allen Hierarchielevels benachteiligt. Das haben auch viele meiner Gespräche ergeben. Das darf nicht so bleiben. Rahmenbedingungen, aber auch unser eigenes Mindset müssen sich ändern. Ich bin, anders als noch vor ein paar Jahren, für eine Frauenquote, da es anders offenbar nicht funktioniert. Das im Januar novellierte Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen ist leider nur ein erster Minischritt. Es gilt nur für börsennotierte Unternehmen und darin gibt es so viele Wenn und Aber, dass es am Ende nur eine Minderheit der Unternehmen in Deutschland überhaupt betrifft. Wo muss angesetzt werden, um das zu ändern? Es gibt leider nicht genügend qualifizierte Frauen. Wir dürfen nicht erst im Studium damit anfangen, Frauen zu bestärken, in diese Bereiche zu gehen, sondern viel früher ansetzen: In der Erziehung unserer Kinder müssen wir von Anfang an Gleichberechtigung schaffen, in den Schulen muss Persönlichkeitsentwicklung stattfinden dürfen. Auch Lehrpläne müssen sich ändern: Aktuell ist der Informatikunterricht ja lächerlich! Im internationalen Vergleich ist Deutschland dramatisch weit abgeschlagen beim Thema Digitalisierung. Ich glaube aber auch, dass wir in uns selbst eine viel größere Kraft haben, als wir uns das vorstellen können. Wenn wir es schaffen, unsere Stärken zu erkennen, dann werden wir unsere Ziele erreichen. Am Ende muss die Veränderung aus uns selbst heraus kommen. Wir haben das Potenzial, wir haben die Ausbildung, wir sind die Hälfte der Gesellschaft - es fehlen uns nur die Sichtbarkeit und das Netzwerk. Welche Erfahrungen haben Sie selbst in Ihrer Karriere gemacht? Mit Mitte 20 war ich in einem Unternehmen die jüngste Führungskraft unter sehr vielen älteren Männern. Ich war erfolgreich und wollte den nächsten Karriereschritt machen, doch ein Vorstand sagte mir, ich sei jung und eine Frau, wir könnten ja in zehn Jahren noch mal drüber reden. Erst viel später ist mir klar geworden, was er damit eigentlich gesagt hat: Für junge Frauen ist hier kein Platz, das war seine tiefe Überzeugung. Das hat mich natürlich enttäuscht und letztendlich habe ich Konsequenzen daraus gezogen und das Unternehmen irgendwann gewechselt. So ergeht es vielen Frauen, die ich spreche. Was bringen Netzwerke? Ob kleines privates Netzwerk oder großes, professionell organisiertes - ich glaube, es ist wichtig, gleichgesinnte Menschen zu finden, denen man vertraut und die einen an einem schlechten Tag stärken und manchmal auch antreiben. Männer pflegen seit Jahrhunderten ihre Seilschaften. Wir Frauen fangen gerade erst damit an. Aber mittlerweile ist es einfach, sich zu vernetzen, real und online. Wichtig ist, sich nicht an die sogenannten »Queen Bees« zu halten - im Bienenstock sind die Königinnen als einzige fruchtbar und lassen sich zuarbeiten. In der Wirtschaft sind das dominierende Frauen in Führungspositionen, die andere Frauen kleinhalten. Was hält Frauen davon ab, Gleichberechtigung einzufordern und auch tatsächlich zu leben? Was hält Menschen davon ab, ihre Ziele zu erreichen? Diese Frage stelle ich mir jeden Tag. Vieles hat mit der eigenen Prägung zu tun, mit einem geringen Selbstwertgefühl. Ein Muster, das ich oft erlebe, ist, dass viele Frauen glauben, dass sie es gar nicht verdient haben, glücklich und erfolgreich zu sein. Sie können tausend Dinge nennen, worin sie schlecht sind. Doch wenn es darum geht, Stärken und Erfolge zu benennen, werden sie still. Wenn ich aber meinen eigenen Selbstwert nicht kenne - wie soll ich dann den Glauben daran haben, ein Ziel erreichen zu können? Und wie soll ich dann andere davon überzeugen, dass ich es kann? Rahmenbedingungen lassen sich ändern, doch die eigenen Glaubenssätze sind sehr viel schwieriger zu überwinden. Was ich in den Lebenswegen immer wieder sehe, ist das Motto: »Change it or leave it.« Wir können versuchen, unser Umfeld zu ändern. Wenn das nicht funktioniert: Keine Angst vor Veränderung, dann versuchen wir es in einem anderen Unternehmen, an einem anderen Ort! In Ihrem Buch sagt die Geschäftsführerin der Business Kollektiv GmbH, Anna Rossi: »Der zentrale Mythos ist: Fleiß wird belohnt, daran glauben nach wie vor sehr viele Frauen.« Was kann jede Einzelne also tun, um herauszustechen und eigene Erfolge sichtbar zu machen? Sichtbarkeit und ein Personal Branding sind für jede Frau wichtig: Wer bin ich und wie möchte ich wahrgenommen werden? Wer etwas zu geben hat, sollte damit werben. Das fällt vielen Frauen unglaublich schwer. Männer werden immer über uns Frauen sprechen, leider oft über unser Äußeres. Lasst uns unsere inneren Werte nach außen kehren! Unsere Geschichten der ganzen Welt erzählen! Es wird auch dann noch Kritiker und Bremser geben, aber wer eine Community hat, die wertschätzt und unterstützt, ist stark. Dafür ist Selbstwirksamkeit-Überzeugung wichtig: Ich muss mich selbst verstanden haben und mich gut finden, auf mich selbst vertrauen und das nach außen zeigen. Dann vertrauen uns auch andere Menschen und wollen sich mit uns verbinden. Und zusammen sind wir stärker. Eine Protagonistin berichtet in Ihrem Buch davon, wie sie »sehr häufig in Schubladen gesteckt wurde, bedingt durch das Aussehen, bedingt durch die Weiblichkeit«. Kennen Sie solche Erfahrungen selbst? Ich fürchte, solche Erfahrungen hat jede Frau schon gemacht. Auch diejenigen in Top-Positionen haben alle davon berichtet. Der Weg ist mitunter hart, aber wir müssen ihn gehen. Es werden uns Steine in den Weg gelegt werden - wir müssen über sie hinüberlaufen. Wir können nicht davon ausgehen, dass uns Frauen der rote Teppich ausgerollt wird. Wege entstehen, indem wir sie gehen. Ihr Tipp, den jede Frau beherzigen kann, um erfolgreicher in der Tech-Branche zu sein? Erfolge entstehen selten isoliert, sondern meist im gemeinsamen Lernen und im Austausch mit anderen. Mein Tipp ist daher, besser früher als später mit einem Mentor oder einer Mastermind aus Gleichgesinnten zu arbeiten. Durch die unterschiedlichen Blickwinkel entstehen Ideen und Lösungsansätze, die im stillen Kämmerlein selten oder mit deutlich mehr Aufwand entstehen. Buch im nd-Shop: »Female Empowerment - Women in Tech. Frauen helfen Frauen mit Tipps zu Karriere, Mindset & Führung für mehr Gleichberechtigung in Tech-Berufen«
Anne Klesse
In der Finanz- und IT-Welt arbeiten beinahe ausschließlich Männer. Sabrina von Nessen hat mit Frauen gesprochen, die wie sie in Technologiefirmen arbeiten. Und sie hat darüber ein Buch geschrieben.
Frauen, Gleichberechtigung, Internet, Internetkonzerne
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt Frauen in der IT
2021-11-12T12:33:59+0100
2021-11-12T12:33:59+0100
2023-01-20T20:13:03+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1158539.mit-dem-alter-wird-es-nicht-leichter.html
Die Arbeit mit Eis und Schnee
Verletzt sich ein Fußgänger beim Sturz auf eisglattem Gehsteig, weil nicht ausreichend Geräumt und/oder gestreut wurde, so können erhebliche Kosten entstehen. Gegen mögliche Schadenersatzforderungen hilft Besitzern von selbst genutzten Eigenheimen, eigentums- oder Ferienwohnungen eine private Haftpflichtversicherung. Besitzer von Mehrfamilienhäusern oder von vermieteten Einfamilienhäusern benötigen dagegen eine Haus- und Grundbesitzerhaftpflichtverscherung. Versäumen sie es zu kontrollieren, ob Mieter beziehungsweise Winterdienste den Schnee räumen und streuen , können auf die Eigentümer im Schadenfall finanzielle Forderungen zukommen. Wie oft die Anlieger die Gehwege räumen müssen, ist in der Satzung der jew... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
In der kalten Jahreszeit können Gehwege schnell zur gefährlichen Rutschbahn werden. Wer haftet bei Stürzen? Wer muss Schadenersatz leisten?
Schneeräumung, Winter
Ratgeber
https://www.nd-aktuell.de//artikel/213240.die-arbeit-mit-eis-und-schnee.html
Kritik an der Digitalen Agenda 2014
Eine schnelle Internet-Infrastruktur ist einer der wesentlichen Grundpfeiler für die digitale Zukunft. Doch die flächendeckende Versorgung mit Breitband-Netzverbindungen besonders im Osten steht schon lange in der Kritik. Fragen und Antworten dazu im nd-ratgeber. Soziales: Rund um die Pflege - Was schreibt man ins Pflegeprotokoll? Wer den Antrag auf einen Pflegegrad gestellt hat, bekommt einige Tage später den Anruf eines Pflegegutachters. Bei gesetzlich Versicherten meldet er sich im Auftrag des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung, bei privat Versicherten im Auftrag von Medicproof, um das Maß der Pflegebedürftigkeit festzustellen. Darauf sollte sich der Betreffende vorbereiten. Auf was es noch alles ankommt, wird im nd-ratgeber aufgelistet. Arbeit: Mindestlohn - Welche Zuschläge werden angerechnet? Der Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn muss durch die monatlichen Zahlungen des Arbeitgebers erfüllt werden. Dabei regelt das Gesetz nicht ausdrücklich, welche Entgeltzahlungen des Arbeitgebers auf die Verpflichtung zur Zahlung des Mindestlohns angerechnet werden. Über die Einzelheiten informiert der nd-ratgeber. Wohnen: Mietrechtsurteile - Zahlt der Mieter seine Miete nicht, ist dies ein offensichtlicher und leicht nachzuweisender Verstoß gegen den Mietvertrag. Wie kann ein Vermieter darauf reagieren? Bezahlen für grünes Dach? Der Mieter muss nicht für die Pflegekosten für einen Dachgarten aufkommen. Reden ist ratsam. Ein Mieter sollte eine Einladung zum Krisengespräch nicht einfach schwänzen. Die entsprechenden Gerichtsurteile werden im nd-ratgeber erläutert. Grund und Haus: Finanzielle Unterstützung für Energieberatung vor Ort. Als Eigentümer eines Ein- und Zweifamilienhauses erhalten Sie bis zu 800 Euro Zuschuss vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, wenn Sie sich von einem Gebäudeenergieberater einen individuellen Sanierungsfahrplan erstellen lassen. Darüber informiert der Verbraucherschutzverband Wohnen im Eigentum im nd-ratgeber. Familie und Steuern: Elterngeld - Den Antrag frühzeitig stellen. Junge Paare, die sich mit Familienplanung befassen, denken an alles Mögliche. Meist jedoch nicht an die steuerlichen Aspekte. Hier wird oft viel Geld verschenkt. Was müssen angehende Eltern in Berlin beachten, wenn sie zum Beispiel alle Vorteile des Elterngeldes richtig nutzen wollen? Ein Steuerexperte gibt im nd-ratgeber wichtige Ratschläge. Geld und Versicherungen: Untersuchung der Marktwächter zum Online-Bezahlen - Dienstleister greifen nach einer Vielzahl von Daten. Elektronische Bezahlverfahren werden bei Verbrauchern immer beliebter. Beim digitalen Bezahlen machen sich die Nutzer aber häufig Sorgen um ihre Daten. Nicht zu Unrecht, wie eine Untersuchung des Marktwächters Digitale Welt der Verbraucherzentrale Brandenburg im nd-ratgeber aufzeigt. Verbraucherschutz: Fluggastrechte - Nach BGH-Urteil verbesserter Haftungsschutz bei Flugreisen. Einer Flugreise sind auch das Ein- und das Aussteigen zuzurechnen. Somit haftet eine Fluggesellschaft auch bei einem unverschuldeten Sturz auf Passagierbrücke. Über ein entsprechendes Urteil des Bundesgerichtshofs informiert der nd-ratgeber.
Redaktion nd-aktuell.de
Die flächendeckende Versorgung mit Breitband-Netzverbindungen besonders im Osten steht schon lange in der Kritik. Fragen und Antworten dazu im nd-ratgeber. Weitere Themen: Mindestlohn, Mietrechtsurteile, Energieberatung...
Energieeffizienz, Internet, Mietrecht, Mindestlohn, Pflege
Ratgeber
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Senioren statt Nachwuchs
München. Ihre erste Bewerbung schrieb Helga Schleinitz mit 63 Jahren. Als ihr Mann starb und das Geld knapp wurde, suchte sie nach Jahrzehnten als Hausfrau einen Job – und fand ihn bei McDonald's. »Die Stelle ist das Glück meines Lebens«, sagt die heute 68-Jährige nun sogar in einem Werbespot der Fast-Food-Kette. Helga Schleinitz gehört zur wachsenden Gruppe derer, die jenseits des Rentenalters arbeiten und ihre Stellen auch deshalb bekommen, weil es den Firmen zunehmend an Nachwuchs mangelt: Der demografische Wandel zwingt die Unternehmen zum Umdenken – und lässt jetzt die ersten sogar aktiv um ältere Mitarbeiter werben. Ein einziger Kurzfilm machte Helga Schleinitz bundesweit bekannt und McDonald's als Arbeitgeber bei Senioren präsenter. »Zwangsläufig wird die Zahl der älteren Mitarbeiter durch die demografische Entwicklung in den Unternehmen zunehmen, auch bei uns«, sagt McDonald's-Sprecherin Christiane Wörle. Branchenübergreifend ist der Anteil von Erwerbstätigen im Rentenalter bereits in der Vergangenheit stark gestiegen. 7,6 Prozent der 65- bis 69-Jährigen hatten laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2008 bundesweit einen Job. Das sind zwei Prozent mehr als sieben Jahre zuvor. »Die Gründe sind vielfältig«, sagt Johann Fuchs vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg. »Geldknappheit durch die kleiner werdenden Renten spielt natürlich eine Rolle, aber bei einigen Menschen ist es auch einfach die Langeweile, die sie weiterarbeiten lässt.« In Zeiten, in denen Deutschlands Bevölkerung immer kleiner wird, die Zahl der Älteren aber umso mehr ansteigt, werden Senioren für den Arbeitsmarkt attraktiver. »Die Zukunft gehört den Alten, weil es in Zukunft immer wenige junge Arbeitnehmer geben wird«, sagt die Bremer Altersforscherin Ursula Staudinger. Sie sieht das kalendarische Alter nur als »grobe Richtschnur« für die Leistungsfähigkeit. Auch Helga Schleinitz fühlt sich nach wie vor innovativ und belastbar – jung geblieben, trotz ihrer 68 Jahre. »Die typische Dreiteilung der Lebensabfolge in Bildung, Arbeit und Ruhestand ist nicht mehr zeitgemäß«, meint Staudinger. »Wenn einer heute 65 geworden ist, lebt er in der Regel noch 20 Jahre. Das ist ein zu langer Zeitraum, um alles einfach ausklingen zu lassen.« Trotzdem ist Helga Schleinitz bisher noch eine unter wenigen Älteren beim Fast-Food-Riesen McDonald's. Von 60 000 Mitarbeitern sind nach Angaben des Unternehmens bundesweit nur knapp 50 über 65 Jahre alt. Andere Firmen haben schon mehr Erfahrungen mit Senioren gesammelt. Der Stuttgarter Technologiekonzern Bosch gründete schon vor elf Jahren eine Tochtergesellschaft für ehemalige Mitarbeiter aus allen Bereichen. Rund 900 Ruheständler im Alter zwischen 60 und 75 Jahre sind inzwischen registriert. Sie springen immer dann ein, wenn Bedarf ist – auch im Ausland. Für Bosch ist das vor allem billiger, als sich über ausgelagerte Firmen Ersatz zu holen. Eine Menge Flexibilität ist da gefragt angesichts der im Schnitt 40-tägigen Einsätze. »Es gibt viele, die mit um die 60 noch nicht komplett in den Ruhestand gehen wollen. Bei uns können sie nicht nur weiter mitarbeiten, sondern werden nach wie vor gebraucht«, sagt eine Bosch-Sprecherin. Von weniger positiven Erfahrungen spricht der Autovermieter Sixt. Er wollte vor gut vier Jahren verstärkt ältere Mitarbeiter einstellen. Die ernüchternde Bilanz von Konzernchef Erich Sixt war eindeutig: »Sie haben nicht die Flexibilität mitgebracht, die wir brauchen«, sagte er damals. Sixt ist inzwischen 65 Jahre alt – und denkt immer noch nicht an die Rente.
Michael Brehme, dpa
Branchenübergreifend ist der Anteil von Erwerbstätigen im Rentenalter bereits in der Vergangenheit stark gestiegen. 7,6 Prozent der 65- bis 69-Jährigen hatten laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2008 bundesweit einen Job. Auch in Bayern hat sich der Anteil stark erhöht.
Personal, Rentner, Unternehmen
Politik & Ökonomie
Politik
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US-Visa für Russen werden knapp
Die »Schließung Amerikas« beklagte der »Moskowski Komsomolez« schon vor dem für Mittwoch angekündigten zehntägigen Stopp der Vergabe von US-Visa an russische Bürger, die als Touristen, zu Studienzwecken oder für eine Arbeit in die Vereinigten Staaten reisen wollen. Russlands Außenminister Sergej Lawrow beschwor sogar eine »Logik der Organisation bunter Revolutionen«. Washington würde versuchen, bei russischen Bürgern »Unzufriedenheit« mit ihrer Regierung auszulösen. Um auch gar keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, illustrierte das für das Ausland konzipierte russische Webportal sputniknews.com das harsche Ministerwort gleich mit einer farbigen Grafik zum Thema »Methoden der ›Bunten Revolutionen‹. Politische Umstürze vom Ende des 20. - Anfang des 21. Jh.: Von der Kundgebung bis zum Krieg«. Andrej Klimow, Vizechef des Auswärtigen Ausschusses des Föderationsrates, beeilte sich mit der Androhung »spiegelbildlicher« russischer Gegenmaßnahmen. Die sollen allerdings nicht die amerikanischen Bürger treffen, versicherte der Chef des Außenministeriums. Erst einmal wolle sich Moskau mit den Entscheidungen vertraut machen. Zu Wochenbeginn war von der US-Botschaft in Moskau mitgeteilt worden, dass von Mittwoch an in ganz Russland keine »Nicht-Immigrationsvisa« mehr ausgegeben werden. Ab 1. September werde deren Vergabe nur noch in der Moskauer Botschaft und nicht mehr in den Konsulaten in St. Petersburg, dem sibirischen Jekaterinburg und dem fernöstlichen Wladiwostok erfolgen. Im größten Flächenstaat der Erde aber ist die Hauptstadt nicht nur sprichwörtlich weit und sind die Wege lang. Hinzu dürften zwei Monate Wartezeit auf einen Gesprächstermin kommen. Visa werden knapp. Ein »politischer Schritt«, sagt der Analyst Michail Tatura. Im Vorjahr habe Griechenland mit einem diplomatischen Personal von 40 Personen 600 000 Visa ausgestellt, die USA aber mit weit größerer Besatzung nur 130 000 bis 180 000 geschafft. Wenn die US-Botschaft wolle, könne sie das weiterhin schaffen. Es gehe aber wohl um eine »Praxis gegenseitiger Gemeinheiten«. Schon Mitte Juli hatte die Sprecherin des russischen Außenamtes, Maria Sacharowa, auf ihrem turnusmäßigen Briefing kritisiert, Washington habe im Dezember nicht nur 35 Diplomaten als Sanktion wegen angeblicher russischer Einmischung in die US-Wahlen als Spione ausgewiesen, sondern verweigere zudem ihren Ablösungen die Einreisepapiere. Seit Anfang August beklagen die US-Diplomaten ihrerseits den Verlust ihrer Datscha im »Silberwäldchen« bei Moskau und eines Lagerhauses. Das war die späte »spiegelbildliche« Antwort auf eine noch von Präsident Barack Obama im Dezember verfügte Sperrung solcher Einrichtungen in den USA, die von Moskau als »russisches diplomatisches Eigentum« verteidigt werden. Zu einer vom Kreml mit dem Amtsantritt von Donald Trump erhofften Entspannung im bilateralen Verhältnis und einer Lösung kam es nicht. Erst konnte der neue Mann im Weißen Haus gegen eine massive antirussische Kampagne nicht ankommen, inzwischen hat er das Vorhaben wohl auch aufgegeben. Die Geste des russischen Präsidenten Wladimir Putin, auf den Washingtoner Affront souverän mit einer Einladung für US-Diplomatenkinder zum Jolkafest in den Kreml zu antworten, ist ferne Vergangenheit. Moskau beschloss Ende Juli eine Begrenzung der US-Vertretungen. »Wir schlagen der US-amerikanischen Seite vor, die zahlenmäßige Stärke des diplomatischen und technischen Personals der US-Botschaft in Moskau und der Generalkonsulate in Sankt Petersburg, Jekaterinburg und Wladiwostok in Übereinstimmung mit der zahlenmäßigen Stärke der russischen Diplomaten und technischen Mitarbeiter in den USA zu bringen«, lautete die wenig spektakuläre Aufforderung. Danach müssen die USA bis 1. September jedoch ihre Vertretungen auf 455 Personen reduzieren. Moskau weist zwar damit keine Diplomaten als Spione aus, doch erzwingt den Abbau eines »Überhanges« von rund 750 Diplomaten und Angestellten.
Klaus Joachim Herrmann
Für zehn Tage wird ab Mittwoch von diplomatischen US-Einrichtungen in Russland die Erteilung der meisten Visa für die Einreise in die Vereinigten Staaten gestoppt. Danach ist mit viel Ärger und Warteschlangen zu rechnen.
Russland, USA, Visum
Politik & Ökonomie
Politik
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Klimawandel weckt Begehrlichkeiten
US-Präsident Donald Trump erhebt Anspruch auf Grönland. Doch auch die Europäische Union und selbst das ferne China zeigen Interesse zumindest an den Rohstoffen des zu Dänemark gehörenden größten Eilands auf der Erde. Der Grund: Der arktische Eisschild schmilzt rasant. Und dies wird in wenigen Jahren den Zugriff auf bislang unzugängliche Rohstoffvorkommen in Grönland und in dessen »ausschließlicher Wirtschaftszone« im Atlantik und Nordpolarmeer erleichtern. Bergbau wurde auf der einst grünen Insel bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts in kleinerem Umfang betrieben. Grönland verfügt jedoch weiterhin über ein erhebliches ungenutztes Potenzial: Es gibt Vorkommen von 27 der 34 von der EU als »kritisch« eingestuften Mineralien, darunter seltene Erden, Graphit, Platingruppenmetalle und Niob. Auch Gold und Diamanten, Öl und Erdgas lagern in erheblichem Umfang in der Erde. Dies geht aus einer ausführlichen Expertise Grönlands und Dänemarks über die Vorkommen und ihre Lage aus dem Jahr 2023 hervor, die dem »nd« vorliegt. Doch der größte Teil der Landfläche der Insel – sechs Mal so groß wie die Bundesrepublik – ist eisbedeckt. Und die meisten Einwohner leben an der eisfreien, von Fjorden gesäumten Küste im Südwesten. Dadurch ist die Wirtschaft bisher auf Fischerei angewiesen, die über 95 Prozent der Exporte ausmacht. Zudem fließen aus Dänemark jährlich Subventionen in Höhe von etwa einer Milliarde Euro. Im November 2023 hatten die Europäische Union und Grönland eine strategische Partnerschaft gegründet, um eines Tages nachhaltige Wertschöpfungsketten zu schaffen. Da das autonome Territorium des Königreichs Dänemark seit einer Volksabstimmung in den 80er Jahren nicht mehr Teil der EU ist, fällt die Partnerschaft formal unter die »externe Strategie« zu kritischen Rohstoffen der EU. Entwickelt werden sollen gemeinsame Projekte entlang hoher internationaler Umwelt-, Sozial- und Governance-Standards. So will die EU sicherstellen, dass der grönländische Rohstoffsektor zu einem »Hebel für nachhaltiges und integratives Wirtschaftswachstum« wird, heißt es in dem Partnerschaftspapier. Bis in Grönland Rohstoffe in größerem Umfang gefördert werden, könnten allerdings noch Jahrzehnte vergehen. Die lokale Industrie gilt als unterentwickelt und erfordert hohe Anlaufkosten für die Infrastruktur unter extrem rauen Wetterbedingungen. Zudem werden Aktivitäten von Umweltaktivisten von den Rohstoffunternehmen als weitere Hürde empfunden. Auch die geringe Bevölkerungszahl von etwa 56 000 Einwohnern stellt Grönland mit Blick auf qualifizierte Arbeitskräfte vor große Herausforderungen. Darüber hinaus gibt es derzeit keine wettbewerbsfähige Gesetzgebung für ausländische Direktinvestitionen. Auch die Deutsche Rohstoffagentur weist darauf hin, dass Bergbaufirmen außerdem erst die weltweit geltenden lagerstättenspezifischen Mindestanforderungen an neue Förderprojekte in ihren Investitionsentscheidungen berücksichtigen müssten. Hinzu kommen die extrem hohen Genehmigungsauflagen aufgrund der ökologischen Sensibilität des arktischen Lebensraums. Die Gewinnung von Rohstoffen in der Arktis dürfte daher auch in Zukunft die Ausnahme und nicht die Regel sein. Als Hemmnis für wirtschaftliche Interessen gilt außerdem die Sicherheitspolitik, die von der dänischen Regierung bestimmt wird. Für die USA ist die riesige Insel in der Arktis von hoher strategischer Bedeutung. Sie unterhalten dort den Luftwaffenstützpunkt Pituffik Space Base mit einem Frühwarnsystem für ballistische Raketen, da der kürzeste Weg von Europa nach Nordamerika über Grönland führt. Geologisch ist die Insel Teil des nordamerikanischen Kontinents, die Hauptstadt Nuuk liegt näher an New York als an Kopenhagen. Anfang Januar hatte Präsidentensohn Donald Trump Jr. die Insel besucht – offiziell handelte es sich dabei um eine private Reise. Am selben Tag schloss Trump Senior bei einer Pressekonferenz in seinem Anwesen in Florida militärische oder wirtschaftliche Schritte nicht aus, um die Kontrolle über Grönland zu erlangen. »Das ist ein Deal, der zustande kommen muss«, so Präsident Trump, der auch auf den Panamakanal und die Rohstoffvorkommen der Ukraine ein Auge geworfen hat. 2019, in seiner ersten Amtszeit, hatte Trump für einen Kaufvorschlag eine klare Absage aus Dänemark und Grönland erhalten.
Hermannus Pfeiffer
Das strategisch wichtige Territorium Grönland im Nordatlantik gehört seit über 600 Jahren zu Dänemark. Der Rohstoffreichtum lockt auch andere an.
Arktis, Dänemark, Donald Trump, Europäische Union
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt Arktis
2025-03-12T16:47:56+0100
2025-03-12T16:47:56+0100
2025-03-14T12:32:45+0100
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Berlin will Solo-Selbstständigen mit 300-Millionen-Euro-Programm helfen
Die von der Coronakrise akut besonders betroffenen sogenannten Solo-Selbständigen will das Land Berlin gesondert unterstützen. Das kündigte Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) gegenüber »neues deutschland« an. Die Solo-Selbstständigen, die in eigener Regie arbeiten und keine Angestellten haben, sollen Hilfen von bis zu 15 000 Euro einmalig pro Person erhalten können. Insgesamt 20 000 solcher Anträge für Solo-Selbstständige will das Land Berlin genehmigen. Der rot-rot-grüne Senat stellt also Finanzhilfen in Höhe von bis zu 300 Millionen Euro in Aussicht. »Das gilt für alle, die quasi durch andere Maßnahmen fallen beziehungsweise ausschließlich steuerliche Begünstigungen bekommen«, sagte die Sprecherin des Senats, Melanie Reinsch, am Mittwoch zu »nd«. Mit dem Landeszuschuss soll vor allem die für Berlin besonders wichtige Kreativwirtschaft unterstützt werden, die in den vergangenen Jahren stark zum überdurchschnittlichen Wirtschaftswachstum in der Hauptstadt beigetragen haben. Dieses Wirtschaftssegment steht in der aktuellen Krise durch die Ausbreitung des Coronavirus aber besonders ungeschützt dar, weil die Betroffenen beispielsweise keinen Anspruch auf Kurzarbeitergeld haben.
Martin Kröger
Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) will der Kreativwirtschaft in der Hauptstadt, die von der Coronakrise schwer getroffen wird, unter die Arme greifen. 300 Millionen Euro stellt das Land zur Vefügung.
Berlin, Corona, Coronavirus, Kreativwirtschaft, Regierender Bürgermeister, Soloselbständige
Hauptstadtregion
Berlin Coronavirus
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20 Jahre nach dem Mord
Eberswalde (epd/ND). Zum 20. Todestag des von Nazis getöteten Angolaners Amadeu Antonio Kiowa sind ab heute im brandenburgischen Eberswalde mehrere Gedenkveranstaltungen geplant. Den Auftakt macht eine Podiumsdiskussion mit dem Titel »20 Jahre nach der Hetzjagd« über Rassismus damals und heute, unter anderem mit der ehemaligen brandenburgischen Ausländerbeauftragten Almuth Berger, teilte der Verein Opferperspektive in Potsdam mit. Amadeu Antonio Kiowa war eines der ersten Todesopfer rassistischer Gewalt nach der deutschen Wiedervereinigung. Die Vorsitzende der 1998 gegründeten Amadeu-Antonio-Stiftung, Anetta Kahane, erklärte, auch 20 Jahre nach der Gewalttat könne keine Entwarnung gegeben werden. Mehr als 150 Menschen seien seit der Wende in rechten Gewaltexzessen ums Leben gekommen. »Die NPD spukt weiter in den Landtagen von Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen.« Kameradschaften vergifteten noch immer vielerorts das Klima und... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
In der Nacht vom 24. auf den 25. November 1990 wurde der Angolaner Amadeu Antonio Kiowa von Nazis verprügelt – zwei Wochen später starb er an seinen Verletzungen.
Amadeu-Antonio-Stiftung
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Hamas: »Historische Katastrophe«
Ramallah (dpa/ND). Der arabische Fernsehsender Al-Dschasira und die britische Tageszeitung »Guardian« veröffentlichten am Dienstag weitere der rund 1600 Geheimdokumente. Sie zeigen eine Bereitschaft der palästinensischen Unterhändler zu weitreichenden Zugeständnissen und vermitteln den Eindruck, dass sich die palästinensischen Unterhändler damit abgefunden hatten, dass nur 10 000 der rund 4,8 Millionen offiziell registrierten palästinensischen Flüchtlinge und Vertriebenen nach Israel zurückkehren dürfen. Israels damaliger Ministerpräsident Ehud Olmert soll ein entsprechendes Angebot unterbreitet haben. Der palästinensische Chefunterhändler Saeb Erekat bezeichnete Berichte über die Bereitschaft zu Zugeständnissen in der Flüchtlingsfrage als falsch. Erekat warf Al-Dschasira vor, der Sender hetze gegen die Autonomiebehörde mit dem Ziel, sie zu zerstören. »Die Veröffentlichung schwächt die Autonomiebehörde und schadet ihrer Glaubwürdigkeit«, sagte der palästinensische Kommentator Hani Masri. Die im Gaza-Streifen herrschende radikalislamische Hamas bezeichnete die veröffentlichten »Palästina-Dokumente« am Dienstag als »historische Katastrophe«. Die Unterhändler seien bereit, das Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge aufzugeben, sagte Hamas-Sprecher Fausi Barhum. Die US-Regierung sieht kurzfristigen Schaden für den Friedensprozess. »Wir leugnen nicht, dass diese Veröffentlichung zumindest eine Zeit lang die Situation nur noch schwieriger machen wird, als sie schon war«, sagte Außenamtssprecher Philip Crowley. Die USA arbeiteten weiter daran, Israelis und Palästinenser zur Wiederaufnahme der seit September auf Eis gelegten Gespräche zu bringen. Israelische Medien berichteten am Dienstag ausführlich über Kompromissvorschläge beider Seiten während der Nahost-Verhandlungen 2008. Der damalige Generaldirektor des israelischen Außenministeriums, Aharon Abramowitsch, sagte dem israelischen Rundfunk, die Verhandlungen während Olmerts seien tiefschürfend und ernsthaft gewesen. Sie hätten kurz vor dem Abschluss gestanden.
Redaktion nd-aktuell.de
Die Palästinenserführung gerät wegen brisanter Einzelheiten über ihre Kompromissbereitschaft bei den Nahost-Friedensverhandlungen immer weiter unter Rechtfertigungszwang.
Hamas, Mahmud Abbas, Palästina
Politik & Ökonomie
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Blaupause Schule: Berlin blockiert Entlastung der Kitas
Berlins Kindertagesstätten ächzen unter der Personallücke. Erzieher*innen berichten davon, dass sie die Kinder zuweilen weder bilden noch erziehen, sondern lediglich betreuen können. Gruppen, teilweise ganze Einrichtungen, werden geschlossen. Eltern berichten, dass sich seit der Corona-Pandemie, als die Kitas zeitweise komplett geschlossen hatten, kaum etwas geändert habe. Um dieser Notlage an den landeseigenen Kitas zu begegnen, hatte erst letzte Woche die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi ein Tarifvorhaben für personelle Entlastung und pädagogische Qualität gestartet. Demnach sollen, wenn neu definierte und regelmäßig gemessene Personalschlüssel überschritten werden, die Beschäftigten freie Tage als Ausgleich bekommen. Die Forderungen samt Terminvorschlägen, um noch im Mai zu Verhandlungen zu kommen, habe man bereits am 19. April an den Senat übergeben. Bisher sei aber bei der Gewerkschaft noch keine Antwort eingegangen, teilte Verdi-Sprecher Kalle Kunkel »nd« mit. Gegenüber dem RBB ließ die zuständige Senatsverwaltung für Finanzen jedoch verlauten, dass man das Ziel der Gewerkschaft zwar teile, die Forderungen jedoch auf Bundesebene gegenüber der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) erhoben werden müssten, in der das Land Berlin Mitglied ist. Ohne deren Zustimmung dürfe Berlin keine Verhandlungen aufnehmen. »Die Mitglieder sind verpflichtet, Tarifverhandlungen nur mit Zustimmung der Mitglieder aufzunehmen«, heißt es in der Satzung der TdL. nd.Muckefuck ist unser Newsletter für Berlin am Morgen. Wir gehen wach durch die Stadt, sind vor Ort bei Entscheidungen zu Stadtpolitik – aber immer auch bei den Menschen, die diese betreffen. Muckefuck ist eine Kaffeelänge Berlin – ungefiltert und links. Jetzt anmelden und immer wissen, worum gestritten werden muss. Bei Verdi sieht man das anders. »Es gibt für das Land Berlin keine rechtlichen Zwänge, die einem Abschluss entgegenstehen«, sagt Sprecher Kunkel. Es wäre unverantwortlich vom Land, jetzt Zeit zu verschwenden, indem sie auf die TdL verweisen. Die Möglichkeit, dass Berlin selbst abschließen könne, ergebe sich daraus, dass es »im Rahmen der TdL keine Regelungen für die Personalbemessung an den Kitas« gebe. Man könne jetzt verhandeln und müsse kein grünes Licht der TdL abwarten, sagt Kunkel. Nicht einmal zwei Wochen alt, erinnert die Situation an den Konflikt, den die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) seit 2021 mit dem Land Berlin austrägt. An den Schulen will die GEW einen Tarifvertrag Gesundheitsschutz abschließen, um kleinere Klassengrößen zu erreichen. Laut RBB-Bericht hält der Finanzsenat einen Entlastungstarif für die Kitas auch deswegen für unwahrscheinlich, weil die TdL ähnliche Forderungen für die Schulen abgelehnt habe. »Der Senat kann die Verantwortung für die Berliner Kitas und Schulen nicht an seinen Arbeitgeberverband schieben«, erklärt Anne Albers von der GEW Berlin »nd«. Die GEW ruft das Lehrpersonal für den 22. Mai erneut zum Streik auf. Mitglieder der GEW finden sich auch unter den Beschäftigten der landeseigenen Kitas. Auf die Frage, inwiefern die GEW Berlin das Vorhaben von Verdi unterstützt, sagt Albers: »Auch wir sehen dringenden Handlungsbedarf und sind mit unseren Mitgliedern in den landeseigenen Kitas im Austausch darüber, wie wir personell Entlastungen erreichen können.« Das Thema brenne allgemein im öffentlichen Dienst. Die Senatsverwaltung für Finanzen ließ eine Anfrage bis Redaktionsschluss unbeantwortet.
Christian Lelek
Verdi strebt an den landeseigenen Kitas einen Tarifvertrag für personelle Entlastung und pädagogische Qualität an. Die Reaktion des Senats erinnert an seine Blockade von kleineren Schulklassen.
Berlin, Bildungspolitik, Familienpolitik, GEW, Kindertagesstätte
Hauptstadtregion
Berlin Gewerkschaften
2024-05-02T17:38:36+0200
2024-05-02T17:38:36+0200
2024-05-03T18:06:26+0200
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Orban: Migration bedroht Sicherheit der EU
Sofia. Ungarns Regierungschef Viktor Orban sieht im Andrang von Flüchtlingen nach Europa eine Gefahr für die Sicherheit der Europäischen Union. »Die Terrorgefahr steigt; die öffentliche Ordnung verschlechtert sich«, warnte Orban am Freitag in Sofia nach einem Treffen mit seinem bulgarischen Kollegen Boiko Borissow. Orban lobte den Schutz an den bulgarischen EU-Außengrenzen: »Bei dieser Flüchtlingskrise hat Bulgarien die besten Ergebnisse.«Auch Bulgarien will schnelle Schritte zur Bewältigung der Flüchtlingskrise. »Die EU-Außengrenzen sollen unverzüglich geschlossen werden«, erklärte Borissow. Bulgarien verlängert gegenwärtig einen 30 Kilometer langen Grenzzaun zur Türkei, um die Migranten zu den Grenzübergängen zu schleusen, damit sie dort registriert werden. dpa/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Asylpolitik, Bulgarien, Einwanderung, EU, Flüchtlinge
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Sigmar Gabriel verteidigt Besuch von Erdogan
Berlin. Ex-Außenminister Sigmar Gabriel hat die Debatte über den Staatsbesuch des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan als »fast schon albern« kritisiert. Es sei richtig, Erdogan am 28. September mit militärischen Ehren und Staatsbankett zu empfangen, »weil sich das so gehört, weil er die Türkei repräsentiert«, sagte der SPD-Politiker am Dienstag bei einer Buchvorstellung in Berlin. Deutschland drohe an seinem »moralischen Rigorismus zu ersticken«, fügte er hinzu. Politiker von Grünen und LINKEN kritisieren, dass Erdogan von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier als Staatsgast empfangen wird, während in der Türkei immer noch sieben deutsche Staatsangehörige aus politischen Gründen inhaftiert sind. Vor dem Staatsbesuch sind Treffen der Wirtschafts-, Finanz- und Außenminister geplant. Gabriel stellte am Dienstag zusammen mit dem Chef der Münchner NATO-Konferenz, Wolfgang Ischinger, ein Buch des »Tagesspiegel«-Journalisten Christoph von Marschall vor. Es trägt den Titel: »Wir verstehen die Welt nicht mehr: Deutschlands Entfremdung von seinen Freunden«. dpa/nd
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Bundespräsident, Frank-Walter Steinmeier, Sigmar Gabriel, SPD, Türkei
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9-Euro-Ticket der Zivilgesellschaft
Weite Teile der Bevölkerung und Verkehrsverbünde sprechen sich dagegen aus, das Monatsticket für neun Euro einfach auslaufen zu lassen – »eher geht die FDP«, verkündet die neue Kampagne 9-Euro-Fonds auf ihrer Homepage. »Wir fordern die Verlängerung des 9-Euro-Tickets, weil wir einen günstigen und sozialverträglichen Nahverkehr brauchen. Das ist auch für den Klimaschutz wichtig«, sagte Leo Maurer, Sprecher des 9-Euro-Fonds, am Mittwoch zu »nd«. Außerdem solle der ÖPNV ausgebaut und barrierefrei werden, es brauche faire Löhne und Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten, mehr Personal und ein Ende klimaschädlicher Subventionen wie das Dienstwagenprivileg. Bis dahin macht der 9-Euro-Fonds das Ticket kurzerhand selbst: Ab heute kann jede*r für neun Euro im Monat Mitglied einer »solidarischen Ticketversicherung« werden. Sollte man dann beim Schwarzfahren erwischt werden, bezahlt der Fonds das erhöhte Beförderungsentgelt. Jedes Mitglied bekommt einen Sticker mit der Aufschrift »Ich fahre ohne Fahrschein« zugesandt, den man in Bussen und Bahnen tragen kann, um den Vorwurf des »Erschleichens von Leistungen« zu umgehen. Strafrechtlich relevant wäre das Fahren ohne Ticket natürlich trotzdem, und der 9-Euro-Fonds ruft explizit nicht zum Schwarzfahren auf. Es gehe einerseits um eine Notfallhilfe vor allem für Menschen, die sich bei steigenden Preisen einfach kein Ticket mehr leisten könnten. »Wenn die Politik versagt, muss die Zivilgesellschaft einspringen«, sagt Maurer. Andererseits soll die Aktion Druck auf die Politik ausüben, um zu zeigen: »Die Gesellschaft nimmt das nicht mehr hin.« Dafür findet am 1. September um 17 Uhr eine Aktion an der U-Bahnstation Bundestag statt. Dass sich die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) zuletzt für eine Nachfolge des 9-Euro-Tickets ausgesprochen hat, findet Maurer »super«. Trotzdem sei noch lange nicht klar, was am Ende dabei herauskomme. »Deshalb dürfen wir nicht locker lassen«, erklärt Maurer. Er verweist auf das Vorbild Spanien, wo viele Zugverbindungen von September bis Dezember gratis sind, um die Bevölkerung von der Inflation zu entlasten. Auch wer nicht ohne gültiges Ticket Bus oder Bahn fahren wolle, könne den 9-Euro-Fonds mit Spenden unterstützen oder den Sticker öffentlich tragen, um die Kontrolle anderer Mitglieder zu erschweren. Währenddessen haben die Klimaaktivist*innen der »Letzten Generation« angekündigt, ab dem 1. September ohne Ticket zu fahren und dabei mit Vorträgen, Schildern und Werbematerial auf die Klimakrise und die Teuerungen im Nah- und Fernverkehr aufmerksam zu machen. Den Preis für die jeweiligen Fahrten wollen sie an einen Klimafond spenden. »Es ist an der Zeit, finanziell benachteiligten Menschen die Teilhabe an Mobilität zu ermöglichen und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass Mobilität nachhaltig möglich ist«, erklärte dazu Lea Bonasera, Mitinitiatorin der »Letzten Generation«.
Louisa Theresa Braun
Für neun Euro im Monat zahlt ein neu gegründeter Fonds seinen Mitgliedern die Strafe, wenn sie beim Schwarzfahren erwischt werden. Es geht um Solidarität – und um Druck auf die Politik.
Verkehrspolitik
Hauptstadtregion
Berlin Nahverkehr
2022-08-31T16:30:36+0200
2022-08-31T16:30:36+0200
2023-01-20T17:36:35+0100
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1166539.nahverkehr-euro-ticket-der-zivilgesellschaft.html
Volksbegehren Tegel hat begonnen
Die zweite Phase des Volksbegehrens über den Weiterbetrieb des Flughafen Tegels hat am Montag begonnen. Bis zum 20. März kommenden Jahres besteht die Möglichkeit, zu unterschreiben. Beteiligen können sich alle, die zum Abgeordnetenhaus wahlberechtigt sind. Die Landesabstimmungsleiterin Petra Michaelis-Merzbach wies am Montag in einer Pressemitteilung darauf hin, dass das Volksbegehren zustande kommt... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
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Abgeordnetenhaus, Basisdemokratie, Berlin, Flugverkehr
Hauptstadtregion
Berlin
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Hungern gegen Trump
Wenn Ted Glick über seinen Vorgarten auf den Gehweg tritt, dann bewegt er sich wie in Zeitlupe. Mit langsamen Schritten tastet er den Boden ab und begibt sich, die Augen geradeaus, einigermaßen aufrecht auf den Besucher zu. »Du musst Geduld mit mir haben«, hatte er bei der Verabredung am Telefon gebeten. »Ich werde eine Maske tragen, und Du bitte auch.« Vor zehn Tagen spürte er, wie seine Kräfte »ziemlich nachließen«, hatte er erläutert. Er werde sich so viel Zeit wie möglich nehmen und Fragen beantworten. Jede Woche analysieren Max Böhnel und Moritz Wichmann im Gespräch mit Oliver Kern den US-Wahlkampf. Am 2. November um 18 Uhr schauen "Max und Moritz" in einem Live-Podcast auf die letzten Umfragen und erläutern aus der linken Perspektive, worauf man in der Wahlnacht und in den Tagen danach achten sollte. Am 3. Oktober hatte Glick sein »Fasten für die Niederlage von Trump« angekündigt. In den ersten beiden Wochen nahm er nur Wasser und Vitamine zu sich, seit Beginn der vierten Woche auch wieder Früchte und Gemüse in verflüssigter Form. Denn seine Gesundheit riskieren will er auf keinen Fall. Hungerstreiks sind für ihn nichts Neues. Sein erster dauerte 40 Tage. Das war »damals, vor langer Zeit«, sagt er, und seine Augen funkeln dabei, »im Sommer 1972 gegen den Vietnamkrieg«. Zwei Jahrzehnte später nahm er 42 Tage lang nur Wasser zu sich, um gegen die 500-Jahre-Christopher-Columbus-Feierlichkeiten der Regierung zu protestieren. Mit seinem dritten Hungerstreik - 25 Tage lang - verlieh er seiner Forderung nach einer Klimaschutzpolitik Nachdruck. Das war im Jahr 2007, als die Warnung vor einer Klimakatastrophe vom Mainstream noch als Spinnerei grüner Freaks abgetan wurde. Glicks Hungerstreik gegen Trump ist sein vierter. »Mit 71 geht ein Hungerfasten nicht mehr so einfach«, sagt Glick. Deshalb lässt er sich seit Beginn der dritten Woche alle paar Tage von einem Arzt untersuchen. »Aufmerksam machen und politisches Bewusstsein herstellen« will Glick mit seiner Aktion. Das macht er über Interviews, die er interessierten Journalisten gibt, sowie über sein Hungerstreik-Tagebuch (https://tedglick.com/fasting-to-defeat-trump). Darüber hinaus verbringt er täglich vier Stunden damit, unsichere und Wechselwähler in denjenigen Staaten anzurufen, in denen es zwischen Trump und Biden Kopf an Kopf steht. Wie Tausende andere Freiwillige versucht er, Nicht-Wähler zum aktiven Wählen gegen Trump und für das Biden-Harris-Team zu motivieren. Das erfolgt über deren Wahlkampf-Webseite. Ted Glick ist über seinen Wohnort Bloomfield in New Jersey hinaus als linker Unruhestifter bekannt. 25 Mal wurde er bisher festgenommen, davon elf Mal in den vergangenen Jahren bei Protesten und zivilem Ungehorsam in Sachen Klimaschutz. Bei den Demokraten, die den Bundesstaat dominieren, gilt er als Kauz - auch wegen seines Beharrens auf einer »ökosozialistischen Wende«, von der er schon vor 15 Jahren sprach. Er kandidierte 2002 auch gegen die Demokraten - und die Republikaner - für einen aussichtslosen Sitz als Senator auf der Wahlliste der Green Party. Der Drittpartei war Glick im Jahr 2000 beigetreten, als der Verbraucheranwalt Ralf Nader als deren Präsidentschaftskandidat antrat und große Resonanz hatte. Dessen Kundgebungen zogen Zehntausende von Interessierten an. Umfragen prognostizierten für Nader damals bis zu neun Prozent der Stimmen. Doch das Engagement vieler Linker in der Green Party endete katastrophal. Nader kam insgesamt nur auf 2,8 Prozent der Stimmen, und statt des Demokraten Al Gore wurde der rechte George Bush Präsident. »Das hat viele von uns zum Überdenken der Option Drittparteikandidat gezwungen«, sagt Glick heute. Er engagierte sich nach seiner Senatskandidatur auf regionaler Ebene für eine regulatorische Klima- und Umweltpolitik. Begeistert war Glick, als wenige Jahre später der demokratische Sozialist Bernie Sanders das Thema aufgriff und damit die Demokratische Partei herausforderte, indem er den Laden von innen heraus aufzumischen versuchte. Die Präsidentschaftskandidatin der Green Party, Jill Stein, beleidigte das Sanders-Lager damals als »Schäferhunde für das Parteien-Duopol« und bezeichnete Demokraten wie Republikaner, Trump wie Clinton, als »gleichermaßen übel«. Damit war für Glick Schluss - »vergleichbar mit dem Fehler, den die KPD in der Weimarer Republik machte, als sie die Sozialdemokraten mit den Nazis gleichsetzte, als ›Sozialfaschisten‹«. Wenn er heute Wahlkampf macht, dann »als Teil eines Bündnisses«, erklärt Glick. Priorität sei, Trump und möglichst viele Republikaner im Kongress abzuwählen. »Trumps Wiederwahl wäre eine riesige Gefahr für die bereits schwer beschädigten Ökosysteme, für People of Color und Niedrigverdiener, für unsere angeschlagene Demokratie«. Eine Biden-Regierung eröffne dagegen wieder politische Spielräume. Bis Montag hatte Ted Glick 31 Pfund verloren. Am Wahltag wird er seinen Hungerstreik beenden und langsam wieder zur regulären Ernährung zurückkehren.
Max Böhnel, New York
Für den US-Amerikaner Ted Glick sind Hungerstreiks nichts Neues. Seit dem 3. Oktober nimmt er keine Nahrung zu sich, um gegen die Wiederwahl von Trump zu mobilisieren.
Donald Trump, Joe Biden, linke Bewegung, US-Präsidentschaftswahl, USA
Politik & Ökonomie
Politik US-Präsidentschaftswahl
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Gebremste Windkraft
Am Schiffbauerdamm 40 in Berlin pfeift oft der Wind die Spree entlang. Aber am Dienstagmorgen zieht es nicht nur, es stürmt. Die Wipfel der Bäume biegen sich, ein am Zaun abgestelltes Fahrrad rollt rückwärts und droht umzustürzen. Zwei Passanten stemmen sich angestrengt gegen den Wind. Was den Leuten draußen lästig ist, kann drin im Haus der Bundespressekonferenz die Männer vom Berlin-Brandenburger Landesverband Windenergie freuen. Schließlich verdient ihre Branche Geld mit der Urgewalt. Die Windkraftanlagen liefern Strom - und falls die Netze überlastet sind, könnte die Energie künftig direkt am Windrad zur Produktion von Wasserstoff verwendet werden. Damit könnten Autos betankt werden. Doch im notwendigen industriellen Maßstab gebe es dies noch nicht, bedauert Landesverbandschef Jan Hinrich Glahr. Nur im Norden Brandenburgs ist ihm ein Fall bekannt, wo Züge mit dem von der Windenergiefirma Enertrag bereitgestellten Kraftstoff fahren. 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Andreas Fritsche
Die Windenergiebranche traut sich zu, die durch den Kohleausstieg entstehende Stromlücke zu schließen. Man müsse sie nur machen lassen.
Brandenburg, erneuerbare Energie, Windenergie
Hauptstadtregion
Brandenburg Energiewende
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Ministerwechsel in Thüringen
Erfurt. Im Ringen um eine Gebietsreform ist in Thüringen ein neuer Innenminister vereidigt worden. Nach der Entlassung des bisherigen Amtsinhabers Holger Poppenhäger versicherte der neue Minister Georg Maier (beide SPD): »Ich bin davon überzeugt, dass diese Reform im Kern fachlich, inhaltlich gut gemacht ist.« Er wolle deshalb am bisherigen Zeitplan dafür festhalten. Poppenhäger stand heftig in der Kritik, weil die umstrittene Gebietsreform sich deutlich verzögert. Die LINKE hatte in der Koalition durchgesetzt, dass ihm zur Umsetzung des Projekts ein neuer Staatssekretär zur Seite gestellt werden soll. Dies war vor allem von der Opposition als teilweise Entmachtung gewertet worden. Maier betonte aufgrund der Themenviefalt im Innenressort hingegen die Notwendigkeit des Postens: »Ich brauche diese Stelle.« SPD-Landesvorsitzender Andreas Bausewein begründete den Wechsel mit einem »glaubwürdigen Neustart« bei der umstrittenen Gebietsreform. Agenturen/nd Seite 5
Redaktion nd-aktuell.de
Ressortchef für Inneres wegen Gebietsreform ausgetauscht
Sozialdemokratie, SPD, Thüringen
Politik & Ökonomie
Politik
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Hybride zwischen Mensch und Maschine
Ein Hybride zwischen Mensch und Maschine, das ist die beste Definition der Persönlichkeit von Ottó Titusz Bláthy (Ungarn; 1860 - 1939). Die Kopfrechnenfähigkeiten dieses ungarischen Maschinenbau-Ingenieurs waren sensationell, und schon als junger Mann war er ein exzellenter Blindschach-Spieler. Wenn er sich nur dem Schach gewidmet hätte, wäre er wahrscheinlich ein renommierter Schachspieler geworden, aber sein Geist war zu ruhelos dafür. Seine Kreativität brauchte immer neue Herausforderungen. Er ließ in seinem Leben mehr al... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Carlos García Hernández, Schachlehrer
Schach mit Carlos García Hernández
Schach, Schachspiel
Feuilleton
Kultur
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Firma errichtet Terminal für Staatsgäste
Es bleibt auch nach der BER-Aufsichtsratssitzung in Tegel bei der offiziellen Version: Ende 2017 sei eine Inbetriebnahme des BER in Schönefeld noch immer möglich, heißt es bei den Verantwortlichen des Großprojekts. Flughafenchef Karsten Mühlenfeld hatte bereits zu Wochenbeginn erklärt, dass er noch immer keinen genauen Termin für die Inbetriebnahme des BER nennen könne. Auf der Tagesordnung des Treffens unter Vorsitz von Berlins Regierendem Bürgermeister Michael Müller (SPD) standen unter anderem Übergangslösungen für den künftigen Regierungsflughafen, der Bau neuer Rollwege in Schönefeld und der Zeitplan bis zur Inbetriebnahme. »Wir ... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Tomas Morgenstern
Der Aufsichtsrat der Flughafengesellschaft Berlin-Brandenburg traf sich am Freitag in Tegel. Wann der BER eröffnet, ist auch nach der Sitzung unklar.
Flugverkehr
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Berlin
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Nur das obere Drittel kann sich das leisten
nd: Berlin zieht gerne um. Und immer häufiger müssen Menschen in Berlin umziehen. Da müsste ihr Geschäft ja brummen ...Neuner: Ein Umzugsunternehmen lebt nicht von den Leuten, die umziehen müssen, sondern von denen, die umziehen wollen. Bis vor sechs, sieben Jahren gab es einen Mietermarkt, wo die Leute auch für kleinere Verbesserungen den Wohnort gewechselt haben. Das war eine freiwillige Geschichte. Davon lebt ein Umzugsunternehmen. Leute, die umziehen müssen, weil sie ökonomisch an die Wand gedrückt werden, machen es selber. Sie werden weniger für Studentenumzüge als für Umzüge von ökonomisch Stabilerer angefragt?Ja. Eigentlich möchte ich das Drittelmodell nicht benutzen, aber, es ist etwas, was das obere Drittel sich leisten kann. Das mittlere diskutiert und das untere muss den Umzug selber machen. Wer Umzugszuschüsse bekommt, schlägt bei Ihnen nicht auf?Hin und wieder schon. Wir schikken niemanden weg. Die klassischen Sozialamtsumzüge, bei denen das Amt gesagt hat »Du gehst jetzt los und holst dir drei Kostenvoranschläge von drei Umzugsunternehmen, und dann zahlen wir dir einen davon«, gibt es nicht mehr. Jetzt gibt es kleine Pauschalen, von denen kein Unternehmer leben kann. Die Betroffenen mieten sich also ein Auto. Diese Klientel ist tatsächlich aus der Umzugsbranche herausgerutscht. Auch da ist die Verelendung angekommen, wenn Sie so wollen. Apropos »herausrutschen«. Beobachten Sie in Berlin eine Bewegung von der Innenstadt in die Randgebiete?Aus unseren Daten können wir das nicht bestätigen. Wir sind zwar mit Tausenden Umzügen im Jahr der größte Player am Ort, aber wir können das nicht darauf herunterbrechen, wer aus dem Reuterkiez Neukölln in angrenzende Gebiete wie die Gropiusstadt zieht. Uns fehlt der Zugang zu denen, die da verdrängt werden. Das ist nicht unsere Klientel. Sie wollen, dass die Leute freiwillig umziehen. Sehen Sie die Mietentwicklung problematisch?Vor zehn Jahren hatten wir eine Umzugsquote von 12 Prozent und einen relativ freundlichen Mietermarkt, da sind viele Leute einfach mal so umgezogen. Nach einem deutlichen Rückgang ist die Umzugsquote jetzt wieder auf zehn Prozent gestiegen, es gibt einen verstärkten Zuzug von außen. Im Kreuzberger Gräfekiez oder Bergmannkiez sind die Mieten in den letzten zwei Jahrzehnten durch die Decke gegangen. Die Neumieter kommen aus München oder Stuttgart. Aber diese kontinuierliche Binnenbewegung einer mobilen Mittelschicht hat nachgelassen.Fragen: Sonja Vogel
Redaktion nd-aktuell.de
Michael Neuner macht Öffentlichkeitsarbeit für Zapf Umzüge, Berlins größtes Umzugsunternehmen
Hartz IV, Mieter, Mieterhöhung, Vermieter, Zwangsumzug
Hauptstadtregion
Brandenburg
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Doppelte Macht für nur noch sechs Landräte
Die Nervosität hatte man in Schwerin zuletzt gut versteckt, doch heimlich dürften Erwin Sellering (SPD) und sein Innenminister und Wahlkonkurrent Lorenz Caffier von der CDU vor diesem Donnerstag gezittert haben. Hätte das Landesverfassungsgericht in Greifswald nach 2007 zum zweiten Mal die Kreisreform zurückgewiesen, wäre dies für die Landesregierung eine herbe Niederlage und für den federführenden Innenminister eine Blamage gewesen – nur wenige Wochen vor der Landtagswahl. Ganz auszuschließen war ein Stopp für die Neuordnung des Landes nicht gewesen. Den ersten Versuch der damaligen rot-roten Regierung, die nur fünf Kreise und keine freien Städte übrig lassen wollte, hatten die Verfassungsrichter aus grundsätzlichen Bedenken gestoppt: Der Zuschnitt von Verwaltungseinheiten dürfe sich nicht nur an landesplanerischen und finanzpolitischen Erfordernissen orientieren, sondern müsse vom Bürger und seinen Bedürfnissen aus gedacht werden. Deshalb hatte das Gericht vor vier Jahren vor allem die Art, wie die Reform geplant worden sei – nämlich an den Kreisen und Kommunen vorbei –, für nicht statthaft erklärt. Es kritisierte aber auch die Entstehung langer Wege. Auch diesmal hatte fast die Hälfte der kreisfreien Städte und Landkreise gegen die Reform geklagt; die Kläger sahen sich in ihrem Recht auf Selbstverwaltung beschnitten. Doch das Landesverfassungsgericht wies gestern Vormittag die Klagen zurück. Damit tritt die Kreisreform unmittelbar nach der Landtagswahl in Kraft, und es bleibt auch dabei, dass am 4. September nicht nur das Landesparlament, sondern auch die Kreisparlamente und die Landräte der neuen Großkreise gewählt werden – über deren Namen zudem noch abgestimmt werden muss. In Mecklenburg-Vorpommern wird es nach dem »Sechs plus zwei«-Beschluss des Landtages vom Juli künftig nur noch Rostock und Schwerin als kreisfreie Städte geben, von den sechs neuen Großkreisen werden fünf größer sein als das Saarland. Da zugleich die Macht im Land und in den neuen »Fürstentümern« neu verteilt wird, ist der 4. September von besonderer Bedeutung. Es bleibt abzuwarten, ob die nun mächtigeren Landräte gegenüber der Landesregierung größeres politisches Gewicht in die Waagschale bringen. Die Linkspartei-Landrätinnen von Rügen und Ostvorpommern, Kerstin Kassner und Barbara Syrbe, kandidieren in ihren jeweiligen neuen Großkreisen. Kassner tritt unter anderen gegen Ralf Drescher (CDU) an, den amtierenden Landrat im jetzigen Kreis Nordvorpommern, mit dem Rügen fusioniert wird. Syrbe konkurriert mit Uta-Maria Kuder (CDU), die noch Justizministerin ist. Bislang stellte die CDU den Landrat in Uecker-Randow, das mit Ostvorpommern fusioniert wird. SPD-Bewerber im neuen Südvorpommern ist Ralf Dembski. Der Demminer LINKE-Landrat Siegfried Koniecny bewirbt sich um das Landratsamt im neuen Großkreis Mecklenburgische Seenplatte. Seine Mitbewerber sind Heiko Kärger (CDU), der jetzige Landrat in Mecklenburg-Strelitz, und der SPD-Kommunalpolitiker Michael Löffler. Umfragen zufolge lehnt die Mehrheit der Menschen im Land die Kreisreform ab, besonders unbeliebt ist sie bei Wählern der LINKEN und der SPD. In den letzten Jahren wurden auch in Sachsen und Sachsen-Anhalt radikale Kreisreformen durchgeführt. In Schleswig-Holstein ließ Schwarz-Gelb das Vorhaben 2009 fallen. Es hatte sich großer Widerstand abgezeichnet.
Velten Schäfer
Nur noch sechs große Landkreise, das Ende der Kreisfreiheit für Wismar, Stralsund, Greifswald und Neubrandenburg: Im Nordosten ist Schluss mit Klein-Klein, die schwarz-rote Kreisreform darf in Kraft treten.
Kommunalpolitik, Mecklenburg-Vorpommern
Politik & Ökonomie
Politik
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Die erste Morgengabe
Die Deutsche Bahn hat verstanden: Mit dem formalistischen Beharren auf absolvierten Verfahren, erstrittenen Rechtstiteln und unterzeichneten Verträgen kann man im Südwesten im Augenblick nicht kommen. Nicht solange die Schwaben und Badener noch ganz aufgeregt sind ob der Kühnheit ihrer Wahlentscheidung. Selbst die Direktmandate in und um Stuttgart sind an die Grünen gegangen. Nun einfach weiterzumachen, hieß... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Velten Schäfer
Baden-Württemberg, Deutsche Bahn
Meinung
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Mehrlingsgeld und prominenter Pate in NRW
Düsseldorf. Eltern von Drillingen oder mehr gemeinsam geborenen Kindern bekommen finanzielle Unterstützung vom Land Nordrhein-Westfalen. Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) führe per Erlass zum 1. Januar 2019 mit Inkrafttreten des Landesetats das Mehrlingsgeld wieder ein, teilte die Staatskanzlei am Sonntag in Düsseldorf mit. In Nordrhein-Westfalen gemeldete Eltern, die ab 1. Januar gleichzeitig drei oder mehr Kinder bekommen, erhalten eine einmalige Hilfe in Höhe von 1000 Euro pro Kind. Laschet übernehme zugleich die Ehrenpatenschaft für die Kinder. Bereits im September 2018 hatte er die Ehrenpatenschaft für Vierlinge aus Köln übernommen. epd/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Armin Laschet, Nordrhein-Westfalen
Politik & Ökonomie
Politik
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Auch Ukrainer machen Urlaub – Begegnungen auf der Messe
Ihr Lächeln ist ansteckend – man erkennt es sogar durch die medizinische Maske hindurch, die Marlene Moras D’souza aus Maskat heute trägt. Die zierliche junge Frau mit den dunklen Augen ist eine strahlende Botschafterin Omans: Von einem beigefarbenen Sofa aus verteilt sie Visitenkarten der Hotelkette »Sama Resorts and Spa«. Bleistiftrock und Uniformjäckchen in Dunkelblau – so fügt sie sich perfekt ein in die Szenerie des 800 Quadratmeter umfassenden Standes, mit dem das arabische Sultanat bei der diesjährigen Internationalen Tourismusbörse (ITB) seinen großen Auftritt als offizielles Gastland feiert. Zufrieden sitzt die Frau aus Oman auf ihrer Couch: »Ich liebe meinen Spot, mein kleines Eck-Büro«, scherzt sie. Es laufe viel besser als im Vorjahr. »Die Lage ist strategisch perfekt.« Ein guter Spot auf der weltweit größten Tourismus-Fachmesse kann einen Unterschied machen: Immerhin 5500 Aussteller aus 170 Ländern buhlten auf der ITB 2024 von Dienstag bis Donnerstag um die Aufmerksamkeit der 24 000 Besucher. Zum zweiten Mal nach Corona konnte die Messe wieder vor Ort veranstaltet werden; wie im Vorjahr waren nur Fachbesucher zugelassen. Die Berliner, die vor Corona ebenfalls zu Tausenden in die Messehallen unter dem Funkturm strömten, blieben auch 2024 außen vor. Dennoch: Die Welt war zu Gast in Berlin, zumindest die Welt des Reisens. Die Zahl internationaler Auslandsreisen weltweit liegt nur noch zwölf Prozent unter dem Niveau des Referenzjahres vor der Pandemie, 2019. Die Branche erholt sich. In Berlin präsentierten sich nun alle touristischen Großmächte in gewohnter Stärke: Die USA mit fast allen Bundesstaaten, Australien, Kanada, Italien, Spanien, Frankreich, Mexiko, Thailand, neuerdings aber auch die Golfstaaten, die mit immer mehr touristischen Superlativen auf sich aufmerksam machen wollen. Katar und Dubai setzen schon lange auf Besucher aus aller Welt, nun will sich auch Saudi-Arabien neuerdings für die Welt öffnen: Auf dem gigantischen ITB-Stand mit Formel-1-Auto und Augmented-Reality-Spielereien feierte man die stolze Zahl von 100 Millionen Touristen, ohne zu verraten, in welchem Zeitraum. Das Königreich investiert mehr als 800 Milliarden US-Dollar in den wachsenden Tourismussektor. Im Konzert der Großen vom Golf versucht auch das ITB-Gastland Oman mitzuspielen: Der Sultan entsandte seinen Tourismusminister und eine vielköpfige Delegation, darunter reichlich Touristiker wie Marlene Moras D’souza. Das Royale Sinfonieorchester spielte in der Berliner Philharmonie auf. Allesamt traten sie als Botschafter des idyllischen Sultanats mit den weißen Stränden auf: Der Tourismus ist auch dort als eine Einnahmequelle für die Zeit nach dem Öl ausgemacht worden. Was für ein Durcheinander! In Halle 21 drängen sich am ITB-Eröffnungstag die Journalisten um die letzten freien Plätze bei der Pressekonferenz des israelischen Tourismusministeriums. Die Kopfhörer für die Simultan-Übersetzung sind im Nullkommanichts vergriffen. Der schreckliche Krieg in Gaza, das Töten, das seit dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober noch einmal neue Dimensionen angenommen hat: Wie meistert das Reiseland Israel die Ausnahmesituation? Israels Tourismusminister Haim Katz hat auf dem ITB-Podium Platz genommen und versucht sich an einer Antwort: Ja, die Touristenzahlen seien zurückgegangen, deutlich. Vor dem Krieg habe Israel bis zu 13 000 Besucher aus aller Welt verzeichnet – pro Tag. Nur noch 700 Besucher täglich seien es nun, »nach dem 7. Oktober 2023«. Üblicherweise mache der Tourismus vier Prozent des israelischen Bruttoinlandsprodukts aus. Davon sei man weit entfernt. Umso mehr hält der Minister die Reisewarnung des Auswärtigen Amtes für unnötig. Israel sei nach wie vor ein sicheres Reiseziel. »Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, dass diese Warnung aufgehoben wird«, kündigt Katz an. In Halle 11.2, am silbernen Imbisswagen neben dem Stand der Republik Moldau – übrigens Europas Schlusslicht in Sachen Besucherzahlen – hält derweil Estefano Labudda seine Mittagspause ab. Der 30-Jährige aus Hamburg hat sich auf einer Bierbank niedergelassen. Nun beißt er genüsslich in seinen Pulled-Pork-Burger (10 Euro). Auf ein Mineralwasser für 4,50 Euro hat Labudda verzichtet, auch wenn die Geschäfte heute gut angehen, wie er erzählt.  Der Jungunternehmer im Kapuzenpullover betreibt auf der ITB Kalt-Akquise – Erstkontakt mit potenziellen Kunden: Mit einem Lächeln unter dem fröhlich gezwirbelten Schnauzbart tritt er an die Stände und klappt sein iPad auf, um den Ausstellern Novamag.de vorzuführen. So heißen sowohl das Produkt als auch die dazugehörige Firma, bei der Labudda zugleich Teilhaber und Chefverkäufer ist. Novamag ist ein »Digital Publishing Tool«, wie Labudda erklärt: »Eine Software, mit der man bequem Kataloge, Kundenmagazine oder Geschäftsberichte erstellen kann, digital und gedruckt.«  Das Programm sei kinderleicht zu bedienen. Großkonzerne wie FTI oder Edeka zählten schon zu den Kunden des Programms, für das je nach Umfang zwischen 1800 Euro und 10 000 Euro pro Jahr gezahlt werden müsse. Eine Erfolgsgeschichte. Labudda ist zum zweiten Mal auf der ITB unterwegs, 2023 hatte er am Ende einen festen Kunden gewonnen, für 2024 hofft er auf mehr. Wie findet er die ITB? »Alle sind super offen, entspannt und sehr interessiert«, freut er sich: »Ganz freundlich, obwohl ich ihnen doch etwas verkaufen will.« Sein Guerilla-Marketing funktioniere erstaunlich gut, sagt er: Allein im »hub27«, der Halle mit den deutschsprachigen Anbietern, hat er heute mehr als einen halben Tag verbracht. Er ist nur heute auf der ITB – schade, findet Labudda: »Es läuft so gut, ich müsste eigentlich morgen auch noch hier herumrennen.« Für Mashed Ishaq in Halle 6.2 hingegen ist die ITB 2024 ein Trauerspiel. Der Generaldirektor der Marketingabteilung im palästinensischen Tourismusministerium hat außer schrecklichen Nachrichten aus der Heimat in diesem Jahr nichts anzubieten, höchstens noch die Datteln aus Jericho, die er an den Stand mitgebracht hat: »Bitte, nehmen Sie!«, sagt er und lässt sich seufzend am Besprechungstisch nieder. Wie läuft die ITB für ihn? »Schlecht natürlich. Sehr schlecht.« Der Krieg mit seinen unzähligen Opfern habe auch für die Palästinenser außerhalb von Gaza drastische Konsequenzen. Jeder habe Familienmitglieder verloren im Krieg, er selbst sei Christ und habe mit Hamas nichts am Hut. Allein sechs Menschen aus seiner Familie seien bei einem israelischen Bombardement gestorben, erzählt er. Sie hätten sich in einer Kirche verstecken wollen. Dann schlugen die Raketen ein.   Neben der Trauer hätten die Menschen in den Autonomiegebieten noch viel drängendere Sorgen. Wer einen Job in Israel habe, dürfe nicht an seinen Arbeitsplatz. Den Leuten gehe langsam das Geld aus. »Wir haben null Tourismus in Bethlehem«, klagt der glatzköpfige Mann. Er wird lauter: »Zero! Und 70 Prozent aller Einnahmen werden im Gastgewerbe erzielt.« Auch das Kunsthandwerk, Taxifahrer, alle lebten von Touristen. Die Leute seien verzweifelt: »Manche verkaufen ihr Hab und Gut, ihre Autos, um zu überleben!« Mashed Ishaq beziffert die Verluste in Bethlehem, Ost-Jerusalem, Jericho, Nablus, Hebron, Ramallah und Jenin auf eine Million US-Dollar pro Tag. Er schüttelt den Kopf: »Es ist ein Elend.«  Eigentlich habe das in Bethlehem ansässige Ministerium gar keine Delegation zur ITB entsenden wollen, sagt Ishaq. »Aber am Ende haben wir uns spontan doch dafür entschieden.« Auch, weil sich letztlich noch Sponsoren fanden. Sechs Anbieter sind nun immerhin mit nach Berlin gekommen, 2023 waren es noch 15. Man wolle vor allem all den Partnern signalisieren, dass man bereit sei für eine Zeit nach dem Krieg, sagt Ishaq. »Viele Aussteller waren hier bei uns, gerade auch arabische. Sie haben uns gesagt, sie wollen gleich nach Kriegsende ins Heilige Land reisen. Um sich solidarisch mit uns zu zeigen.« In Halle 18 zeigen viele ihre Solidarität schon im Vorbeigehen – am Stand der Ukraine, die auch auf der ITB 2024 vertreten ist. »Slava Ukraijini!«, ruft ein Messebesucher den Frauen am Stand der Staatlichen Agentur für Tourismusentwicklung (SATD) im Vorbeigehen zu: Ehre der Ukraine! Mit »Slava Ukrainji!« antwortet eine der Standbetreuerinnen und winkt dem Passanten hinterher. »Das hören wir hier öfter«, lächelt Mariana Oleskiv. Die Tourismus-Managerin stammt aus dem westukrainischen Lwiw, als Ende 2019 die Staatliche Agentur gegründet wurde, wurde sie zur ersten Leiterin. Sie ist dafür in die Hauptstadt Kyjiw gezogen. Doch seither ist sie Krisenmanagerin statt Projektentwicklerin: Ihre Ideen, wie man beispielsweise den deutschen Reisemarkt erobern könnte, konnte sie nie umsetzen. Erst kam Corona, dann die Streitkräfte Russlands. Seit Februar 2022 bestimmt der Angriff des Nachbarstaates ihre Arbeit. Es ist Krieg. Welche Rolle spielt da das Reisen? Eine wichtige, sagt Mariana Oleskiv und nippt an ihrem Kaffeebecher, im Gegenteil: »Die Menschen brauchen gerade in diesen Zeiten auch Erholung. Wir wollen uns das normale Leben nicht nehmen lassen.« Gerade hat sie auf der Lighthouse Stage am anderen Ende des Messegeländes einen Vortrag über das Reiseverhalten der Ukrainer gehalten und dabei sarkastisch eingeleitet: »Hier ist viel von Nachhaltigkeit die Rede. Für uns ist es nachhaltig, am Leben zu bleiben.« Tatsächlich allerdings reisen die Ukrainer auch im Kriegszustand, vor allem in westliche und zentrale Regionen, die vom Krieg weitestgehend verschont blieben. Nach einem Einbruch im Jahr 2022 erreichten die Steuereinnahmen aus dem Tourismus 2023 beinahe wieder das Niveau des Vorkriegsjahres 2021. Allerdings sind die Verheerungen des Krieges gewaltig: Die Unesco beziffert die Schäden an Tourismus- und Kultureinrichtungen auf 3,5 Milliarden Euro. Wie hoch ist eigentlich das Budget der Staatlichen Agentur für Tourismus? In Kriegszeiten? »Null«, sagt Mariana Oleskiv leise. »Nur die Gehälter der 36 Angestellten werden weiter bezahlt.« Umso dankbarer sei sie der ITB und einigen Sponsoren, dass ihre Agentur in Berlin dabei sei. Nicht in der Halle der postsowjetischen Länder, sondern neben Irland und Norwegen: »Europa, da gehören wir hin!«
Jirka Grahl und Lilly Augustin
Bei der ITB, die 24 000 Menschen aus 170 Ländern besuchten, lässt sich die Weltlage nicht wegdiskutieren. Dennoch steigt weltweit die Zahl der internationalen Reisen.
Berlin, Israel, Nahost, Ukraine
Reise Internationale Tourismusbörse Berlin
2024-03-08T13:35:05+0100
2024-03-08T13:35:05+0100
2024-03-20T16:01:47+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1180566.auch-ukrainer-machen-urlaub-n-begegnungen-auf-der-messe.html
AfD-Abgeordneter will öffentliche Burka-Verbrennungen
Berlin. Ein Abgeordneter der Rechtsaußen-Partei AfD aus Berlin fordert öffentliche Verbrennungen von Burkas. Wie die »Bild am Sonntag« berichtet, soll das Mitglied des Abgeordnetenhauses, Andreas Wild, auf einer Bezirksveranstaltung der Partei das öffentliche Verbrennen der umstrittenen Gewänder für Frauen verlangt haben. Er blieb auch auf Nachfrage des Blattes dabei und sagte,... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Wohin führt die auch von der Union angefeuerte Debatte über ein Burka-Verbot? Ein Abgeordneter der Rechtsaußen-Partei AfD aus Berlin fordert öffentliche Verbrennungen der umstrittenen Gewänder.
AfD, Berlin, Burka, Islam, Muslime
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Berlin
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1029672.afd-abgeordneter-will-oeffentliche-burka-verbrennungen.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
Die Linke muss konkreter werden
Nach den jüngsten Umfragen bezweifelt eine Mehrheit der BundesbürgerInnen, dass Deutschland die aktuelle Flüchtlingsproblematik bewältigen kann. 44% unterstützen auch nach den Ereignissen der Silvesternacht in Köln weiter Kanzlerin Angela Merkels Einschätzung, dass Deutschland die Probleme lösen kann. Im Oktober 2015 waren noch 49 Prozent der Meinung, dass Deutschland die Flüchtlingskrise lösen wird, 48 Prozent waren damals skeptisch. In der sich verschärfenden Flüchtlingsdebatte sinkt die Union einer Umfrage zufolge in der Wählergunst. Im aktuellen Trend rutschen CDU und CSU klar unter 40 Prozent ab; die SPD bleibt in ihrem bekannten Korridor um die 25 Prozent. Zulegen kann die rechtspopulistische AfD auf 9-10 Prozent und die FDP schwankt um 5 Prozent. Die Grünen bleiben bei ihrem Wert um 10 Prozent, DIE LINKE verliert leicht und liegt in den Umfragen zwischen 8 und 10 Prozent. Bei aller Unsicherheit bei Meinungsfragen, Fakt ist: Der Rechtspopulismus wird in der »Berliner Republik« zu einem politischen Faktor. Mit dem wahrscheinlichen Einzug der Alternative für Deutschland in die Landtage von Baden-Württemberg, Rheinland Pfalz und Sachsen-Anhalt wird die Bildung von Mehrheitsverhältnissen komplizierter. Bei den Landtagswahlen am 13. März droht der SPD ein weiteres Debakel. Spätestens seit der Einzug der rechtspopulistischen AfD in die drei Landtage absehbar ist, gilt die Abwahl von Rot-Grün in Rheinland-Pfalz als kaum abwendbar: Nach 25 Jahren als Regierungspartei müsste die SPD die Staatskanzlei in Mainz räumen. In Baden-Württemberg wäre es schon ein großer Erfolg, wenn die SPD Juniorpartner der Grünen bleiben könnte, doch ist das keinesfalls sicher. Und in Sachsen-Anhalt wird sich die SPD bestenfalls erneut als kleiner Partner der CDU wiederfinden. Schlussfolgerung: Die SPD kann nach Ansicht von Parteivize Ralf Stegner bei den kommenden Landtagswahlen erfolgreich sein, wenn sie ihre AnhängerInnen im Kampf gegen Rechts mobilisiert. »Wir schreiben die Wahlen keineswegs ab. Wir kämpfen dafür, damit die politische Rechte sich nicht in den Parlamenten breitmacht.« Als Anwalt besorgter BürgerInnen und zugleich einem Kurs gegen Rechts wollen die Sozialdemokraten bis zu den Wahlen Mitte März punkten. »Wir müssen dafür sorgen, dass das Land beieinander bleibt«, sagt SPD-Chef Sigmar Gabriel. Dem Koalitionspartner Union warf der Vizekanzler vor, mit ständigen Ablenkungsmanövern die Menschen zu verunsichern. »Wir müssen einfach mal einhalten, was wir versprochen haben, statt jeden Tag eine neue Idee durchs Land zu schicken.« Zentraler Punkt: Die Bundeskanzlerin habe – so Gabriel und andere SPD-Führungspolitiker –noch wenige Monate Zeit für eine EU-Lösung der Flüchtlingskrise. Die SPD müsse Antworten liefern, wie verhindert werden könne, »dass wir in eine gespaltene Gesellschaft geraten, in der der eine Teil Flüchtlinge begrüßt und der andere Teil Angst davor hat«. Die SPD fordert neben 12.000 neuen PolizistInnen bis 2019 auch fünf Mrd. Euro zusätzlich für ein großes Integrationspaket. Aber die entscheidende Frage, wie der nach wie vor große Zustrom von Zufluchtsuchenden reduziert werden kann, bleibt völlig unklar. Es fehlt jedwede Positionsbestimmung zur internationalen Flüchtlingshilfe. Auf die Unterstützung der Sozialdemokraten kann sich die Kanzlerin nicht mehr verlassen. Zwei Monate vor den Landtagswahlen geht die SPD-Führung auf größtmögliche Distanz und schiebt der Regierungschefin die Verantwortung für die weiterhin hohen Flüchtlingszahlen zu. Dabei liegt ein Handlungsparameter nahe: Das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) beruft für Ende März einen Sondergipfel zur Umsiedlung syrischer Flüchtlinge ein. Da Europa bisher nur ein Zehntel der weltweit 60 Mio. Flüchtlinge aufnimmt, wird eine Verschärfung der Abweisung oder gar Grenzschließung katastrophale Folgen haben. Die Hilfe für Flüchtlinge muss über die Notversorgung hinausgehen. Dem UNHCR hat aber mehr und mehr das Geld für humanitäre Aktionen gefehlt. Im 2015 Jahr habe die UN-Organisation von Gebern nur die Hälfte der benötigten sieben Mrd. US-Dollar erhalten. Und für 2016 zeichnet sich keine Trendwende ab. Neben der Erhöhung des Drucks auf eine Lösung der Flüchtlingsfrage will SPD-Chef Gabriel ein verstärktes Angebot für die arbeitende Mitte der Gesellschaft verdeutlichen. »Die SPD muss auf die arbeitende Mitte der Gesellschaft zielen. Politik für Minderheiten muss die SPD auch immer machen. Aber die Solidarität und der Schutz von Minderheiten werden erst mehrheitsfähig, wenn die arbeitende Mehrheit des Landes weiß, dass sie bei uns gut aufgehoben ist. Dass wir uns um Arbeit und Einkommen kümmern, um Bildung und um faire Teilhabe am Haben und am Sagen im Land. Ich glaube, dass wir den Kurs jetzt konsequent bis 2017 und danach fortsetzen werden.« Noch hoffen SPD-Linke, dass die Parteiführung mit sich reden lässt und ihren »Mitte-Kurs« sozial verträglicher gestaltet. »Die SPD ist eine sehr diskussionsfreudige Partei. Basta-Politik passt da nicht rein«, sagte die Juso-Chefin Johanna Uekermann. Aber leider bleibt auch die kritische innerparteiliche Opposition in ihrer Gegenposition blass. Worum müsste es gehen? Seit Mitte der 1990er Jahre hat in Deutschland die Einkommensungleichheit stärker als in vielen anderen europäischen Ländern zugenommen. Der Anteil der Haushalte mit einem mittleren Markteinkommen ist zurückgegangen. Der Sozialstaat hat die wachsende Ungleichheit der Markteinkommen nur zum Teil auffangen können. Immer weniger Haushalte der Unterschicht und der unteren Mittelschicht können von ihren Erwerbseinkünften leben. Zentrales Ziel der Beschäftigungs- und Wirtschaftspolitik muss daher die Verringerung der Ungleichheit bei den Markteinkommen sein, unter anderem durch den neuen Mindestlohn, aber auch durch die Verbesserung der Erwerbschancen der Haushaltsmitglieder aus den unteren Einkommensschichten und die Ausweitung ihrer Arbeitszeiten. Aber die SPD beschwört nur die Symbolik für die arbeitende Mitte und übersieht, dass gerade die untere Mittelschicht unter starkem ökonomisch-sozialem Druck steht und daher auch anfällig ist für eine rechtspopulistische Argumentation. Passend zur vorherrschenden Stimmung von Zukunftsangst, Missmut und Unlust ist eine zunehmende Zahl von WählerInnen bereit, Rechtspopulisten eine Chance zu geben. Da ist es auch kein ernsthafter Gegenentwurf, wenn SPD-Vize Ralf Stegner zwar deutliche Kritik an den Vorschlägen aus der Union zur Lösung der Flüchtlingskrise übt (»CSU-Generalsekretär Scheuer will, dass die Flüchtlinge schon an der Grenze zurückgewiesen werden – also nicht mehr den Rechtsstaat, sondern kurzen Prozess. Er klingt wie Björn Höcke von der AfD.«). Solange die SPD die arbeitende Mitte nur beschwört und zugleich die Enttäuschung und Frustrationen der unteren Mitte nicht ernst nimmt, solange wird die Glaubwürdigkeitslücke fortbestehen. Mit bloßer Rhetorik lässt sich der Aufwärtstrend für die Rechtspopulisten nicht stoppen. Es geht um Reformperspektiven für die Mittelschichten, darum wie sich deren Lebenssituation verbessern lässt, ohne sie gegen die unteren sozialen Schichten und ein Integrationsangebot für Zufluchtsuchenden auszuspielen. Leider zögert auch die Linkspartei, einen strategischen Gegenentwurf mit konkreten Schritten vorzulegen. Die Forderung nach einer Linkswende müsste konkretisiert werden. Bernd Riexinger, neben Katja Kipping einer der Vorsitzenden der Partei, weist zu Recht darauf hin, dass DIE LINKE zum »Motor eines Politikwechsels« werden muss, der mehr ist als ein Regierungswechsel. »Im Zentrum eines linken Reformprogramms steht der Kampf um ein ›neues Normalarbeitsverhältnis‹: Arbeitszeit muss gerechter verteilt werden und jeder muss von seinem Lohn gut leben können. Das ist kein Verzichtsprojekt, in dem die Beschäftigten mit ›weniger‹ auskommen sollen, sondern ein Projekt der Umverteilung – von Zeit und von Profiten. Prekäre Arbeitsverhältnisse müssen zurückgedrängt, Sozialsysteme gesichert und ausgebaut werden. Wir brauchen Renten, die den Lebensstandard garantieren und Menschen vor der Armutsfalle schützen. Es mangelt an Pflegekräften, Lehrpersonal, Ärztinnen, bezahlbaren Wohnungen, kurz: Es knirscht an allen Ecken und Enden, seit die Regierungen den Sozialstaat aushöhlen und das Allgemeinwohl der Schuldenbremse unterordnen.« Das ist sicherlich eine korrekte Problembeschreibung. Aber die Mosaiklinke von Gewerkschaften, Sozialverbänden etc. und Parteien kommt aus der Defensive nur heraus, wenn sie ein linkes Reformprojekt konkretisiert, für das alle Beteiligten bereit sind zu kämpfen. Ein Politikwechsel kann sich nicht auf Einzelaspekte im nationalstaatlichen Rahmen beschränken, sondern wegen der weit verbreiteten Sorge und Angst vor Armut, Arbeitslosigkeit, Ungleichheit und der extremen Konzentration von Einkommen und Reichtum nur als ein europäischer Politikwechsel hin zu einem alternativen Sanierungs- und Wachstumsmodell erfolgreich sein. Die zentrale realwirtschaftliche Ursache der Eurokrise liegt in der ungleichen Entwicklung der Handels- und Kapitalströme. Seit Einführung des Euro werden die wirtschaftlich starken Volkswirtschaften stärker, die wirtschaftlich Schwachen dagegen schwächer. Ohne einen Abbau dieser Ungleichgewichte wird der Euro nicht überleben und sich kein dauerhafter und stabiler Pfad gesellschaftlicher Reproduktion und keine stabile Formation gesellschaftlicher Kompromissbildung finden lassen. Gelingt es aber, einen solchen in gemeinsamer Kraftanstrengung politisch mehrheitsfähig zu machen, wird auch der andauernde Zustrom von Flüchtlingen nach Deutschland und Europa zu bewältigen sein. Joachim Bischoff ist Mitherausgeber, Björn Radke ist Mitglied der Redaktion von »Sozialismus«. Ihr Text erschien zuerst auf der Website der Zeitschrift.
Joachim Bischoff und Björn Radke
Die Mosaiklinke von Gewerkschaften, Sozialverbänden, Bewegungen und Parteien kommt aus der Defensive nur heraus, wenn sie ein linkes Reformprojekt konkretisiert, für das alle Beteiligten bereit sind zu kämpfen.
Debatte, LINKE, linke Bewegung, linke Parteien, SPD, Wahlen 2016, Wahlen 2017
Meinung
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/998873.die-linke-muss-konkreter-werden.html
Du sollst nicht falsch Zeugnis reden
Die Frage, ob die Selbstverbrennung des Oskar Brüsewitz vordergründig religiös, politisch oder pathologisch motiviert war, wird sich nicht mehr vollends klären lassen. Sie ist für die Historiker aber auch nicht entscheidend. Denn nicht der öffentliche Feuersuizid des Pfarrers in Zeitz war das Ereignis in der DDR-Geschichte, sondern die Reaktionen der Bevölkerung auf einen Brüsewitz diffamierenden ND-Kommentar vom 31. August 1976. Dieser eine Artikel im SED-Zentralorgan unter der Überschrift »Du sollst nicht falsch Zeugnis reden« (flankiert von einem ähnlichen Kommentar im CDU-Blatt »Neue Zeit«) löste in der DDR-Gesellschaft eine Welle der Kritik und der Empörung aus. Auf der zweiten Seite des ND kommentierte ein anonymer Autor unter dem Kürzel A.Z. die »Bösartigkeit bundesrepublikanischer Kirchenfürsten«, die da versuchten, einen Märtyrer gegen den Kommunismus hochzustilisieren. Man sehe sich gezwungen, auf den »Selbstmord eines ‚Pfarr... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Karsten Krampitz
Weit mehr als die Selbsverbrennung des Pfarrers Brüsewitz löste in der DDR ein Kommentar im damaligen Zentralorgan der SED eine Welle der Kritik und der Empörung aus - auch unter Sozialisten.
Christen, DDR, Kirche, Religion, SED, Sozialismus
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1000062.du-sollst-nicht-falsch-zeugnis-reden.html
Staatsversagen mit Methode
Mitte vergangener Woche war die Gymnasiastin Alexandra Măcesanu in der südrumänischen Kleinstadt Caracal mit einem Jungen verabredet. Doch weil seit einigen Jahren kein Bus mehr von ihrem Dorf Dobrosloveni dorthin fährt, musste das Mädchen die sieben Kilometer lange Strecke per Anhalter fahren - und kam nie an. Alles verlief wie in einem klassischen Horrorfilm. Der Fahrer nahm ihr das Handy weg und sperrte sie in seiner Garage am Stadtrand ein. Obwohl sie vergewaltigt wurde, behielt die 15-Jährige einen kühlen Kopf, profitierte von der kurzen Abwesenheit des Täters, fand ein anderes Mobiltelefon, das der Mann aus Versehen liegen gelassen hatte, und rief die Polizei an. Nicht einmal, sondern mindestens dreimal. Sie gab den Behörden zahlreiche und erstaunlich präzise Details über Tatort, Auto und Fahrer. Doch all dies nutzte ihr nichts: Am Anfang nahm der Polizist am anderen Ende der Leitung sie gar nicht ernst, dann dauerte es fast 20 Stunden, bis die Beamten das Grundstück betraten. Auf dem Hof fanden sie dann nur verbrannte menschliche Knochen. Zwar konnte der mutmaßliche Täter, ein 66-jähriger pensionierter Automechaniker namens Gheorghe Dincă, noch vor Ort gefasst werden. Die Liste der Fehler, die die Polizei offensichtlich machte, ist allerdings unglaublich. Zunächst stellte sich heraus, dass fast keiner im zuständigen Revier die App für die Ortung von Handys nutzen kann. Dann wurden die wertvollen Hinweise, die das Mädchen gab, gar nicht weiterverfolgt. Erst nach zwölf Stunden konnte mit Hilfe aus Bukarest die Adresse identifiziert werden. Doch anstatt an die Tür zu klopfen, beantragten die Beamten einen in diesem Fall völlig unnötigen Durchsuchungsbeschluss und warteten darauf die ganze Nacht. Die interne Untersuchung dieser Pannen ist bei Weitem nicht abgeschlossen, aber Innenminister Nicolae Moga feuerte kurzerhand den Polizeichef und den Präfekten des Landkreises, um anschließend selber zurückzutreten - obwohl er erst seit sechs Tagen im Amt war. Die merkwürdige Geste zeigt, wie nervös die sozialdemokratische Regierung in Bukarest auf den medialen Druck reagiert. Im November stehen Präsidentschaftswahlen an, Premierministerin und PSD-Vorsitzende Viorica Dăncilă möchte gerne antreten. Das Letzte, was sie im Moment braucht, ist ein neuer Skandal. Im Jahr 2015 kostete den damaligen Premier Victor Ponta eine Brandkatastrophe in einem Bukarester Club das Amt. Noch halten sich die Proteste gegen die krasse Inkompetenz der Behörden zwar in Grenzen: Vor dem Innenministerium demonstrierten bisher nur wenige Hundert Menschen, denn viele Details der Affäre sind noch völlig unklar. Doch Frust und das Gefühl, im Stich gelassen zu werden, verbreiten sich massiv über die sozialen Medien. In den nächsten Tagen wird noch zu ermitteln sein, ob Alexandra Măcesanu das einzige Opfer des Täters war oder ob eine andere Schülerin aus der Gegend, die seit Monaten verschwunden ist, das gleiche Schicksal erlitt. Der Notrufdienst wird dann erklären müssen, wieso die Anrufe nicht sofort und automatisch geortet wurden, obwohl das mit der heutigen Technologie unproblematisch und kostenlos möglich ist und kein rumänisches Gesetz dies untersagt. Die Polizei wird sich nicht nur für ihre offenbar mangelhafte Ausbildung, sondern auch für ihr Desinteresse und ihren Sexismus rechtfertigen müssen, denn es ist schon jetzt klar, dass Alexandra auf geschmacklose Ironie stieß, als sie telefonisch über ihre Vergewaltigung berichtete. Schließlich muss noch geklärt werden, ob der mutmaßliche Täter bei seiner Verhaftung und auch danach tatsächlich zusammengeschlagen wurde, wie er behauptet, und ob sein Geständnis in dem Fall überhaupt gültig ist.
Silviu Mihai, Bukarest
Vergangene Woche wurde die 15-jährige Alexandra Măcesanu entführt, vergewaltigt und ermordet. Seitdem wird heftig protestiert, hochrangige Politiker und Beamten mussten zurücktreten.
Rumänien
Politik & Ökonomie
Politik Rumänien
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»Manifest für Frieden«: Pluralität als Stärke
Das politische Klima heute erinnert an die späten 90er Jahre: Als vor ziemlich genau 24 Jahren heftig über eine Beteiligung der Bundeswehr am Kriegseinsatz in Jugoslawien gestritten wurde, waren Gegner der Nato-Intervention in den Augen der rot-grünen Bundesregierung und ihrer Sympathisanten Handlanger des serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic. Heute werden Menschen, die sich kritisch zu den westlichen Waffen- und Rüstungslieferungen an Kiew äußern, als »Putin-Versteher« oder »Putin-Knechte« verunglimpft. Beides war und ist Meinungsmache im Sinne imperialistischer Interessen. Lesen Sie auch die Gegenposition zu diesem Kommentar von Simon Poelchau: »Mit Rechten marschiert man nicht, sondern bekämpft sie« Letzteres zielt auf die Linke-Politikerin Sahra Wagenknecht ab, die zusammen mit der Alt-Feministin Alice Schwarzer kürzlich ein »Manifest für Frieden« veröffentlichte. Anlass ist der brutale Angriffskrieg der Russen gegen den westlichen Nachbarn, der täglich unzählige Menschen das Leben kostet. In diesem Papier sprechen sich die beiden Frauen zusammen mit 69 Erstunterzeichnern gegen weitere Waffenlieferungen Deutschlands an die Ukraine aus und fordern Kanzler Olaf Scholz auf, sich für Friedensverhandlungen zwischen den Kriegsparteien einzusetzen. Eine Demonstration ist für das kommende Wochenende am Brandenburger Tor in Berlin geplant. Die aktuelle Ukraine-Debatte ist vor allem von denen dominiert, denen das Aufrüsten der blau-gelben Armee nicht schnell genug geht. Der Vorstoß von Wagenknecht und Schwarzer versucht diese Dominanz zu brechen. Es bräuchte viel mehr als nur diese eine Initiative. Denn Waffenlieferungen in ein Kriegsgebiet können niemals eine linke Forderung sein. Der Text des Manifestes aber war von Anfang an Nebensache. Kritisiert wird vor allem das breite Spektrum der Erstunterzeichner, das von dem linken Armutsforscher Christoph Butterwegge über den Foodwatch-Gründer Thilo Bode bis zum CSU-Rechtsanwalt Peter Gauweiler reicht. Klar, eine Kaderschmiede im Sinne der Kommunistischen Internationalen sieht anders aus. Aber genau in der Heterogenität liegt die Stärke der Friedensbewegung. Nur diese konnte die Demonstrationen sowohl gegen das atomare Wettrüsten Anfang der 80er Jahre als auch gegen den Einmarsch der USA in den Irak 2003 auf Hunderttausende Teilnehmer anschwellen lassen. Rund 500 000 Menschen haben das Manifest von Wagenknecht und Schwarzer mittlerweile unterschrieben. Einer von ihnen ist AfD-Chef Tino Chrupalla. Vermutlich hat er eine ganze Reihe seiner Spießgesellen dazu gebracht, ihre Unterschrift unter das Schriftstück zu setzen. Zu allem Überfluss ruft das extrem rechte »Compact«-Magazin zur Demonstration am 25. Februar auf. Hier könnte man den Initiatoren vielleicht vorwerfen, dass sich der Text nicht von Leuten wie Chrupalla distanziert. Allerdings macht das Spektrum aus Erstunterzeichnern klar, wo die Grenzen der Pluralität liegen. Und die Teilnahme von völkisch-nationalistischen Akteuren macht das Anliegen des Manifestes nicht falsch. Das Wagenknecht-Schwarzer-Manifest ist vielmehr eine Chance für die Friedensbewegung, mit ihren Positionen zum russischen Angriffskrieg stärker in die Öffentlichkeit zu kommen. Zu oft kamen sie nicht gegen das Kriegsgeheul der Regierenden an. Am 25. Februar ist das anders – und danach hoffentlich auch.
Christian Klemm
Das »Manifest für Frieden« von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer erhitzt die Gemüter. Dass AfD-Politiker das Papier unterschrieben haben, macht das Anliegen aber nicht falsch, meint Christian Klemm.
Friedensbewegung, linkekriegfrieden, Sahra Wagenknecht, Ukraine
Meinung
Kommentare Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer
2023-02-17T14:34:30+0100
2023-02-17T14:34:30+0100
2023-02-19T11:36:25+0100
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Nichts ist unmöglich
Da steht ein Mann. Er steht an der Bushaltestelle, die nur mit allergrößter Mühe als solche erkennbar ist. Auf allen drei Wänden des Buswartehäuschens sind, hinter bruchsicherem Glas, riesige bunte Hochglanzbilder mit halbnackten Frauen zu sehen, deren halb geschlossene Augenlider und halb offen stehende Münder den Eindruck erwecken, die Frauen ernährten sich von Benzodiazepinen und es habe überdies jemand etwas mit ihren Gehirnen gemacht. »Perfect Beauty« lauten die Worte neben der Großaufnahme eines Gesichts. Der an der Haltestelle wartende Mann wirft einen zärtlichen Blick auf sein Pappbrötchen, einen kompakten kleinen hellbraunen Klumpen, den er mit zwei Fingern aus dem kleinen bunten Hochglanzpappkarton angelt, den er in der Hand hält. Die Worte »Ich liebe es« sind auf dem Karton zu lesen. Es kann als ausgeschlossen gelten, dass ein Mensch des 19. Jahrhunderts den Klumpen als Nahrungsmittel identifiziert hätte. Auch auf dem T-Shirt, das der Mann trägt, prangt ein Schriftzug in Versalien: »DEUTSCHLAND«. Auf der Plastiktüte, die er neben sich abgestellt hat, steht: »Ich bin doch nicht blöd.« Auf einem großen bunten Plakat auf der anderen Straßenseite ist die Frau abgebildet, die oft abends im Fernsehen gezeigt wird und dort Sätze spricht, die an der Stelle, wo andere Sätze Spurenelemente eines Gedankens enthalten, Motivationstrainerjargon und Sprachwatte haben. Die größte aller Banalitäten wird von ihr in einem Ton verkündet, als handele es sich dabei um eine jahrtausendelang vor der Allgemeinheit verborgene und nun von ihr entschlüsselte Weltweisheit. »Was jeder Einzelne von uns im Kleinen erreicht, das prägt unser Land im Ganzen«, sagt sie. Oder: »Alles, was noch nicht gewesen ist, ist Zukunft, wenn es nicht gerade jetzt ist.« Auf dem Plakat, das offenbar schon sehr lange dort hängt und das wohl jemand vergessen hat, rechtzeitig wieder zu entfernen, steht geschrieben: »Kanzlerin für Deutschland«. Auf einem Plakat daneben liest man: »Nichts ist unmöglich.« Die Menschen, die, Schutzmasken vorm Gesicht, durch den hinter der Bushaltestelle gelegenen neonerleuchteten Supermarkt trotten, wissen, dass nichts unmöglich ist. Und sie wissen, was Glück ist: ein kaltes Bier, ein großes Schnitzel, eines von diesen Fernsehgeräten, deren Bildschirm die halbe Wohnzimmerwand einnimmt. Kurz: Dinge, die man in sich hineintun kann. Die bunt sind. Und laut. Nein, da braucht niemand zu kommen und die Menschen zu belehren. Zwei junge Männer, die aus dem Discounter kommen, sagen beide etwas. »Super! Boah, ist das geil! So geil!«, schreit der eine von ihnen, der an seinem bis oben gefüllten Einkaufswagen zwei kleine Deutschlandfähnchen angebracht hat, die er anscheinend soeben erstanden hat. »Voll der Hammer! Der totale Wahnsinn, Alter!«, antwortet der andere, während er wie in Trance auf sein Smartphone sieht. Man weiß nicht, wovon die beiden Männer reden. Oder ob sie miteinander reden. Aber das spielt auch keine Rolle. Die gesamte Szene ist schön, so, wie sie ist. Denn sie ist wahr. Da gibt es keinen Zweifel.
Thomas Blum
Ein Mann an der Bushaltestelle, auf den Wänden sind Hochglanzbilder mit Frauen, die den Eindruck erwecken, sie ernährten sich von Benzodiazepinen und es habe jemand etwas mit ihren Gehirnen gemacht. »Perfect Beauty« steht daneben.
Feuilleton
Kultur
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US-Kohleindustrie sieht schwarz
Billiges Erdgas, Expansion von Sonnenstrom und Windenergie sowie sinkende Nachfrage bei Großkunden zwingen den US-Kohlebergbau in die Knie. Hinzu kommt der gerade vorgestellte »Clean Power Plan« des Präsidenten, der auf sauberen Strom aus erneuerbaren Energiequellen setzt. Fast zeitgleich meldete in dieser Woche Alpha Natural Resources Insolvenz an. Alpha ist die Nummer eins bei der Produktion von Kohle für die Verhüttung von Eisenerz und anderen Metallen in den USA. Der Firmenchef Kevin Crutchfield sieht den Niedergang von Alpha als symptomatisch für die ganze Branche: »Die Kohleindustrie der Vereinigten Staaten ist in ihrer gegenwärtigen Struktur nicht zu erhalten.« Alpha hatte in der Vergangenheit vom Boom der chinesischen Wirtschaft profitiert. Um die gesteigerte Nachfrage zu bedienen, kaufte Alpha den Konkurrenten Massey Energy 2011 für 7,1 Milliarden Dollar (6,47 Milliarden Euro) auf. Aber Chinas Wirtschaft boomt nicht mehr. Sie versucht sogar, ihren Kohleverbrauch zu reduzieren, um die Hauptquelle für die Smogplage im Land zu beseitigen. Der Preis für Verhüttungskohle ist inzwischen auf den tiefsten Stand seit elf Jahren gefallen. Bei Alpha brechen deshalb die Einnahmen ein. Die Firma hat Bestände im geschätzten Wert von 10,1 Milliarden Dollar, aber mehr als sieben Milliarden Dollar Schulden. Darunter sind drei Milliarden kurzfristig fällige Verpflichtungen, die Alpha nicht bedienen kann. Deshalb wurde Insolvenz angemeldet, um dem Unternehmen Zeit zum Begleichen seiner Schulden zu verschaffen. Die soll auch zur Restrukturierung genutzt werden, um Alpha wieder in die Gewinnzone zu führen. Crutchfield sprach davon, die Grundlagen für die Geschäftstätigkeit zu verbreitern - und damit die Abhängigkeit von der Kohle zu mindern. Alpha steht mit seinen Problemen nicht allein da. James River Coal, Patriot Coal und Walter Energy haben Insolvenz angemeldet. Arch Coal steht kurz vor der Pleite und schlägt den Gläubigern eine Umschuldung vor. Aber die zögern angesichts der Lage der Branche. »Wir werden noch mehr Bankrotte erleben, sodass die Indus-trie bei Kapazitäten und Produktion auf eine Größe schrumpfen kann, die das finanzielle Überleben sichert«, sagte John Lichtenstein von der Beratungsfirma Accenture Strategy. Die Kohlefirmen sind in Not geraten, seit Erdgas im Zuge des umstrittenen Frackingbooms immer billiger geworden ist und die Kohle ersetzt. Auch macht der teuere Dollar es immer schwerer, Kohle im Ausland abzusetzen. Hinzu kommt, dass die Energiegewinnung aus erneuerbaren Quellen wie Sonne und Wind auch in den USA längst aus dem Schattendasein herausgetreten sind. Die Kohleproduktion ist seit 2008 um 15 Prozent gesunken, berichtet das US-Energieministerium. 30 Prozent des Stromverbrauchs in den USA werden noch durch Kohle gedeckt. Dass Präsident Barack Obama die Details seines »Plans für sauberen Strom« am Tag der Bankrotterklärung von Alpha Natural Resources vorlegte, war natürlich Zufall. Aber es gibt einen Zusammenhang: Obama will, dass in den USA bis 2030 etwa 28 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Quellen gewonnen werden. Der Kohlendioxidausstoß der Kraftwerke soll, verglichen mit 2005, um 32 Prozent sinken. Damit müsste eine Vielzahl von Kohlekraftwerken schließen. Aber die Kohleindustrie will nicht kleinbeigeben. Die größte US-Bergbaugesellschaft Murray Energy aus Ohio will gegen Obamas Energieplan vor einem Bundesgericht klagen. Firmenchef Robert Murray nannte den Plan illegal, weil das Weiße Haus den Bundesstaaten deren Energiepolitik nicht vorschreiben dürfe.
John Dyer, Boston
Das US-Kohleunternehmen Alpha Natural Resources musste Insolvenz anmelden. Der Geschäftsführer sieht die gesamte Branche bedroht. Andere Energieträger sind schlicht billiger und weniger umweltschädlich.
Energie, erneuerbare Energie, Klimawandel, Kohle, Umwelt
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt
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Es war nicht alles schlecht
Das Ende der Olympischen Spiele von Tokio liegt nicht einmal eine Woche zurück. Für tiefgreifende Analysen war eigentlich noch keine Zeit. Und doch wurde dieser Tage ein düsteres Bild vom deutschen Sport gezeichnet: 37-mal Gold, Silber oder Bronze sowie Platz neun im Medaillenspiegel seien nur noch Mittelmaß, hieß es vor allem von ehemaligen Athleten. Die Strukturen seien verkrustet, alles müsse auf den Kopf gestellt werden. Doch ist es tatsächlich so schlimm? Der ehemalige Weltklasseschwimmer Michael Groß zog im Interview mit t-online.de die schwärzeste Bilanz. Er kenne die Strukturen genau, hieß es bei seiner Vorstellung, schließlich saß Groß von 2000 bis 2005 im Präsidium des Nationalen Olympischen Komitees (NOK), einem Vorgänger des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB). Doch seit damals hat sich viel geändert, die 2016 angeschobene Leistungssportreform rund um das Potenzialanalysesystem PotAS erwähnte Groß nicht einmal. Der ehemalige Schwimmer forderte stattdessen wenig überraschend eine Konzentration aufs Beckenschwimmen und die Leichtathletik, weil hier mehr Medaillen errungen werden können als anderswo. Damit wirkt der 57-Jährige wie in alten Denkmustern gefangen, obwohl er ja genau das dem DOSB vorwirft. Die Vielfalt Olympias ist seit seiner aktiven Zeit so sehr gewachsen, dass in vielen Sportarten eine Menge Medaillen zu holen sind. Meistens sogar einfacher als in den beiden Kernsportarten, da weitaus weniger Länder in Slalomkanuten, Bahnradsportler oder Judoka investieren als in 100-Meter-Freistilschwimmer. Eine Verlagerung der begrenzten Fördersummen könnte die deutsche Medaillenbilanz also eher noch gefährden, wenn man bedenkt, dass zum Beispiel alle vier deutschen Slalomkanuten eine Medaille holten, 91 Leichtathleten aber nur drei. Groß fordert wie vor 15 Jahren eine reine Leistungssportorganisation, getrennt vom DOSB. Wie schädlich aber eine Spaltung von Leistungs- und Breitensport sein kann, zeigen die ewigen Querelen zwischen dem Deutschem Fußball-Bund und der Deutschen Fußball-Liga. Dass die Bundesligaklubs nicht einen einzigen Nationalspieler für Olympia freistellten, spricht Bände. Auch im Basketball sind die Profiligen längst autark unterwegs und stellen ihre besten Akteure nicht mehr für Länderspiele ab. Dass sich die deutschen Männer dennoch für Tokio qualifizierten und dort bis ins Viertelfinale vorstießen, war schon ein Erfolg. Bei der Medaillenzählerei aber fallen sie als Achte hinten runter. Im Vergleich zu den vergangenen Ausgaben fiel die Edelmetallbilanz von Tokio tatsächlich schwächer aus. Mit etwas Glück und einem Olympiasieg mehr wäre aber schon Platz sieben drin gewesen. Doch die junge Bahnradweltmeisterin Emma Hinze fiel konditionell dem engen Zeitplan zum Opfer und wurde Vierte. Fünfkämpferin Annika Schleu hätte wohl mit jedem anderen Pferd Gold geholt. Und der neue Stadionbelag war für Johannes Vetters Anlauf im Speerwurf ungeeignet. Die Liste der knapp oder unglücklich verpassten Chancen ließe sich im Karate, Hockey oder Zehnkampf fortsetzen. Betrachtet man also nicht nur die Medaillenzahl, sondern alle Finalplätze von eins bis acht, bleiben die USA, China, Japan, Großbritannien und Russland für die deutschen Athleten außer Reichweite. Aber mit 114 Finalplätzen ließen sie Niederländer, Franzosen, Australier klar hinter sich. Dirk Schimmelpfennig kennt die Statistik des Instituts für Angewandte Trainingswissenschaften. Der für den Leistungssport zuständige DOSB-Vorstand will die geringe Medaillenausbeute damit zwar nicht schönreden. »Aber wir hatten durchaus eine vergleichbare Zahl an weiteren Medaillenkandidaten in Tokio. Es muss bis Paris 2024 gelingen, die Zahl der Finalplatzkandidaten noch etwas zu erhöhen und die dann häufiger auf dem Podium zu sehen«, sagt Schimmelpfennig im nd-Gespräch. Seine Kritiker vergleichen die aktuellen Zahlen gern mit denen von 1992, als das gerade vereinigte Deutschland mit 82-mal Edelmetall noch Dritter im Medaillensammeln wurde. Allerdings wird dabei ignoriert, dass die Sportwelt seit den Spielen von Barcelona viel diverser geworden ist. Mehr Nationen haben gute Sportprogramme aufgebaut oder schicken ihre besten Athleten zur Ausbildung an Colleges in die USA. 1992 gewannen nur 64 Länder Medaillen - knapp 30 Jahre später sind es nun schon 93. Davon stellen 65 sogar Olympiasieger. Überall auf der Welt gibt es herausragende Athleten. Zwei Ruderer in Irland oder eine Triathletin auf Bermuda reichen auch für Gold. Es muss nicht immer ein Ruder-Achter oder eine ganze Handballmannschaft sein. Jene irischen Ruderer wurden übrigens schon vor Jahren in ein Boot gesteckt und gesondert gefördert. Der Ruf nach einer solchen Zentralisierung der besten Kräfte wird auch oft in Deutschland laut, doch Schimmelpfennig kontert: »Wir haben mit dem Olympischen und Paralympischen Trainingszentrum in Kienbaum einen Ort, an dem viele Zentralmaßnahmen der Spitzenverbände unter optimalen Bedingungen stattfinden. Wir haben aber in Deutschland auch ein bewährtes Bundesstützpunktsystem, selbst wenn einige dies schon als zu stark konzentriert empfinden. In Bundes- und Landesstützpunkten können sich Athletinnen und Athleten im langfristigen Leistungsaufbau in der Region unter Leitung guter Trainer entwickeln.« Alles an einem einzigen Ort zu konzentrieren hält der DOSB-Funktionär für weniger sinnvoll als den dezentralen Aufbau vom Nachwuchs- bis in den Spitzenbereich, auch wenn die Niederländer gerade erfolgreich einen anderen Weg gehen. »Für die ist das Zentrum in Papendal offensichtlich der richtige Ansatz«, sagt Schimmelpfennig, aber übertragbar sei das nicht. »An den Stützpunkten haben wir auch immer die duale Karriere im Blick und bieten für Kaderathleten parallel auch die Eliteschulen oder später Möglichkeiten zu Ausbildung und Studium an.« In der nötigen Anzahl wäre dies an einem einzigen Ort in Deutschland gar nicht zu leisten. Ausschließen will er Konzentrationen bei den Senioren aber nicht: »Man kann überlegen, ob das für manche Sportarten sinnvoll ist. Das Hauptargument für die Athleten ist, bei einem guten Trainer in einer guten Trainingsgruppe zu trainieren. In einigen Sportarten haben wir das schon, dann wird an den Bundesstützpunkten nur die Nachwuchsförderung betrieben«, so Schimmelpfennig. Die ehemalige Hochspringerin Heike Henkel sieht in der hohen Abbrecherquote unter jungen Sportlern das Hauptproblem. Kommen nicht genügend Talente oben an, sinke automatisch die Medaillenzahl, lautet die Logik. Leider würden Computer und Handys die Kinder aber heutzutage vom Sport fernhalten, kritisierte sie im Gespräch mit web.de. Dabei gab es eine fast deckungsgleiche Debatte auch schon zu ihren aktiven Zeiten, als die ach so faulen Pubertierenden angeblich nur noch vor der Glotze hingen. »Natürlich gibt es im Leistungssport immer eine Drop-out-Quote. Die ist gewissermaßen mitgedacht. Manche Verbände beklagen zudem einen Leistungseinbruch im U23-Bereich«, streitet Schimmelpfennig das Phänomen gar nicht ab. Das Problem sei aber im Grunde erst nach dem Schulende lösbar. 14-Jährige interessiere nicht, wie hoch mal die Medaillenprämien sein werden oder wo welcher Studienplatz offen wäre. »Ein talentierter Jugendlicher will in erster Linie seine Sportart so erfolgreich wie möglich betreiben. Stellt der Weg an die Weltspitze ein realistisches Ziel dar, muss ihm der Verband den Weg dahin mit allen Schritten aufzeigen und die notwendigen Bedingungen schaffen. Der Leistungssport ist dann natürlich mit persönlichen Einschränkungen verbunden, aber diejenigen, die in Tokio Medaillen gewonnen haben, sind diesen Weg über Jahre konsequent gegangen«, sagt Schimmelpfennig. Die Niederländer und Briten hätten jedenfalls auch nicht mehr Talente als der DOSB. Doch warum gewinnen andere dann häufiger? Michael Groß meint, der deutsche Dachverband gehöre professionalisiert: keine Ehrenamtler mehr, die dazwischenreden. Dabei gibt es längst einen hauptamtlichen DOSB-Vorstand. »Durch die neue Leistungssportstruktur treiben wir die Professionalisierung des Personals bereits voran. So bewertet PotAS die Verbände auch dahingehend, ob Verantwortung und operativer Einfluss für den Leistungssport im Hauptamt liegen«, sagt Schimmelpfennig. Da das aber erst jetzt passiert, konnten erwartete Vorteile in Tokio noch nicht sichtbar werden. In Gänze greift PotAS frühestens 2024. Der ganz große Sprung soll sogar erst 2028 geschafft sein. Tatsächlich brauchen Strukturreformen viel Zeit. Der Deutsche Handball-Bund will seit zwei Jahren verstärkt Trainer an Schulen schicken, um dort Talente zu entdecken und zu fördern. Für Tokio half das natürlich noch nicht. Selbst 2024 dürfte es noch keines der neu entdeckten Kinder zu Olympia schaffen. Der Basketballklub Alba Berlin schickt seit 2005 seine Trainer an Schulen. Erst 2020 aber wurde er nach zwölf Jahren Pause mal wieder Meister. In weniger gut betuchten Sportarten wäre ein deutschlandweites Scouting finanziell zudem gar nicht zu stemmen. Mehr Geld will die Politik aber nicht lockermachen, schon gar nicht jetzt im Wahlkampf. Die Sportausschussvorsitzende des Deutschen Bundestages Dagmar Freitag (SPD) polterte bereits, »der Ruf nach mehr Geld sollte jetzt nicht an erster Stelle stehen«. Dabei stellt niemand aus dem organisierten Sport diese Forderung. »Unsere Leistungssportstruktur ist in den letzten Jahren von der Politik durch Fördermittel unterstützt worden. Jetzt geht es darum, die Strukturen noch effektiver zu nutzen und die Leistungssportreform konsequent umzusetzen«, sagt auch DOSB-Vorstand Schimmelpfennig. »Wir müssen uns auf Inhalte konzentrieren, auf die Potenziale, also die Kandidaten, die in Paris unter die ersten acht kommen und vielleicht den Sprung aufs Podest schaffen können. Die dafür nötigen Leistungsniveaus müssen die Spitzenverbände bis dahin gezielt entwickeln.« Die Athleten interessiert das Gesamtergebnis der Nation übrigens gar nicht. »Der Medaillenspiegel ist für mich nicht relevant«, sagte etwa Tischtennisprofi Dimitrij Ovtcharov, nachdem er mit Silber und Bronze aus Tokio heimgekehrt war. Gerade sein Beispiel zeigt, wie abhängig auch Deutschland mittlerweile von individuellen Leistungsträgern ist. Für Medaillen braucht es Ausnahmekönner wie Schwimmer Florian Wellbrock oder Weitspringerin Malaika Mihambo. Eine Konzentration auf wenige Athleten, die damit einherginge, andere Sportarten komplett fallen zu lassen - wie etwa in Großbritannien - will aber in Deutschland niemand. Das Gießkannenprinzip ist aber auch hierzulande längst Geschichte: 16 Verbände haben in Tokio Medaillen gewonnen, einige weitere zumindest Finalplätze erreicht. Andere konnten sich nur für Olympia qualifizieren, manche nicht einmal das. Die ersten beiden Gruppen müssten bis 2024 anders gefördert werden als die letzten, sagt der DOSB-Sportvorstand. Ihr Medaillenpotenzial sei schließlich erwiesen. In anderen Sportarten werde der Verband erst einmal analysieren, ob die Weltspitze so schnell überhaupt erreicht werden kann. Ansonsten müsse auf Basis der PotAS-Daten eine gezielte Förderung für 2028 her. »Fehlt das Potenzial für Paris, bedeutet das für einige Verbände dann einen Neuaufbau im Nachwuchsbereich, durchaus mit geringerer Mittelausstattung. Bei Verbänden ohne international konkurrenzfähige Spitze wird die Unterstützung in diesem Bereich reduziert. Bei Verbänden ohne Potenziale und überzeugende Nachwuchskonzepte ist die Förderung generell infrage gestellt«, stellt Schimmelpfennig klar. Bleibt die Frage, ob Deutschland überhaupt zu den »Top 5« gehören muss, wie es Michael Groß forderte. Der DOSB wäre sicher gern ganz oben mit dabei, aber auch Dirk Schimmelpfennig kennt die Diskussion um den Stellenwert des Leistungssports in Deutschland. Will man erfolgreiche Athleten um jeden Preis, oder reichen herausragende Persönlichkeiten, die ein paar besondere Momente schaffen? »Wenn wir mehr erfolgreiche Athleten sehen wollen«, sagt Schimmelpfennig, »müssen wir sie entsprechend konsequent aufbauen - völlig unabhängig vom Medaillenspiegel. Wir haben Athletinnen und Athleten, die international erfolgreich sein wollen und können. Diesen müssen wir noch gezielter und effektiver die Möglichkeit geben, sich kontinuierlich bis in die Weltspitze zu entwickeln.«
Oliver Kern
37 Olympiamedaillen für deutsche Athleten waren vielen Beobachtern nach den Spielen in Tokio zu wenig. Sie fordern eine Reform der Sportförderung. Dabei ist die längst im Gange. Andere einfach nur zu kopieren, funktioniert ohnehin nicht.
DOSB, Leistungssport, Medaille, Olympische Spiele, Reform
Sport
Sport Olympia Sportförderung
2021-08-13T16:53:23+0200
2021-08-13T16:53:23+0200
2023-01-20T21:12:53+0100
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1155563.olympia-sportfoerderung-es-war-nicht-alles-schlecht.html