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Wie der Kolonialismus sich in die Seelen gräbt
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Was das wieder für ein Rätselraten war! Wie Journalisten wetteiferten, uns ihre Favoriten für den Literaturnobelpreis aufzutischen. Vorneweg diejenigen, die sie in den vergangenen Jahren schon auf ihren Listen hatten (und die es auch diesmal nicht schafften): die Kanadierin Margaret Atwood, der Japaner Haruki Murakami, der Kenianer Ngũgĩ wa Thiong’o, der mit 83 nun wirklich mal dran wäre, Jamaica Kincaid, geboren in Antigua und in New York lebend, Maryse Condé, die Grande Dame der karibischen Dekolonialisierungsliteratur oder Ljudmila Ulitzkja aus Moskau. Und nun ist es, wie gar nicht so selten in den vergangenen Jahrzehnten, jemand geworden, dessen Name erst einmal Erstaunen auf die Gesichter selbst der Literaturexperten zaubert: Abdulrazak Gurnah, 1948 auf der Insel Sansibar an der Ostküste Afrikas geboren, die seit 1963 zu Tansania gehört. Seit Ende der 60er Jahre lebt er in Großbritannien. 1968 begann er am Christ Church College in Canterbury zu studieren, promovierte 1982 an der Universität Kent in Canterbury, wo er mit seinen 73 Jahren bis vor Kurzem noch eine Professur für englischsprachige Literatur innehatte. Nicht verwunderlich, dass sein Hauptinteresse dem postkolonialen Schreiben gilt. Er hat dazu zwei Bände mit Essays herausgegeben, in denen er sich vornehmlich auch mit anderen Autoren wie V. S. Naipaul, Salman Rushdie und Zoë Wicomb beschäftigt, nicht geneigt allerdings, im Sinne afrikanischer Literatur etwa Konkurrenzkämpfe auszufechten. Literatur ist Abdulrazak Gurnah etwas Universelles. »Als ich mit fünfzehn das erste Mal Anna Karenina las, weinte ich, obwohl ich nichts wusste über das Russland des 19. Jahrhunderts. Tolstoi schreibt über menschliche Gefühle, die alle verstehen können«, wird er in der »Zeit« zitiert, die sich hier aus einem Interview mit ihm in der »Stuttgarter Zeitung« bediente. Die Nobelpreis-Jury lobt »sein kompromissloses und mitfühlendes Durchdringen der Auswirkungen des Kolonialismus und des Schicksals des Flüchtlings in der Kluft zwischen Kulturen und Kontinenten«. Dabei habe er auch bewusst mit Konventionen gebrochen, um die koloniale Perspektive auf den Kopf zu stellen. Dass nur Europa und Nordamerika im Blick der Juroren wären, kann man schon längst nicht mehr sagen. Seit Jahren hat sich in der Öffentlichkeit der Begriff von Weltliteratur erweitert – und das nicht etwa nur im Sinne eines Gerechtigkeitsempfindens. Vielmehr machen wir die Erfahrung, wie gerade die nichtwestliche Literatur uns bereichert – im Wissen und Fühlen wie auch durch eine ganz eigene Ästhetik. Das kommt bei Gurnah natürlich auch aus eigenen Erfahrungen. Seine Heimat hatte er verlassen, als es dort zu blutigen Ausschreitungen gegen arabischstämmige Einwohner gekommen war, nachdem eine kleine Gruppe von Schwarzafrikanern, die in der britischen Kolonialzeit besonders unterdrückt gewesen waren, die Macht ergriffen hatte und den Sultan zum Abdanken zwang. Gurnah, selbst mit arabischen Wurzeln, seine Muttersprache war Swahili, floh nach Großbritannien und schrieb fortan auf Englisch. Von seinen Büchern, unter anderem »Das verlorene Paradies« (1994), »Donnernde Stille« (2000), »Schwarz auf Weiß« (2004), sind durchaus nicht alle ins Deutsche übersetzt. Was jetzt nachgeholt werden könnte. Jüngste Veröffentlichung war 2006 der Roman »Die Abtrünnigen« im Berlin-Verlag. Darin geht es um zwei miteinander verflochtene Liebesgeschichten. So wie sich 1899 ein kolonialismuskritischer englischer Orientalist in die Schwester seines kenianischen Gastgebers verliebt, ohne sie ehelichen zu können, muss 50 Jahre später auch die Liebe des Erzählers zu deren Enkelin scheitern. »Wie sich der Kolonialismus in die Seelen der Menschen gegraben hat und jenseits ihres Willens ihr Handeln und Fühlen steuert«, hob Tobias Rapp damals in der »Taz« hervor. Wobei Gurnahs Schreiben eine Besonderheit darin hat, jegliche Klischees zu vermeiden, keinerlei Vereinfachungen zuzulassen. So öffnet er den Blick auf eine Welt, die die meisten von uns nicht kennen und die auf jeden Fall vielfältiger ist als wir zumeist vermuten. Der Nobelpreis 2021 ist mit zehn Millionen Schwedischen Kronen dotiert (umgerechnet rund 984 000 Euro) und gilt als prestigeträchtigste literarische Auszeichnung der Welt. Die Verleihung wird am am 10. Dezember erfolgen, dem Todestag des Dynamit-Erfinders Alfred Nobel (1833–1996), der den Preis gestiftet hat.
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Irmtraud Gutschke
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Dass nur Europa und Nordamerika im Blick der Juroren des Literaturnobelpreises wären, kann man schon längst nicht mehr sagen. Und dennoch wusste die Stockholmer Jury die Öffentlichkeit erneut zu überraschen - mit der Wahl von Abdulrazak Gurnah aus Tansania.
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Kolonialismus, Literaturnobelpreis
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Feuilleton
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Kultur Literaturnobelpreis
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https://www.nd-aktuell.de/artikel/1157395.literaturnobelpreis-wie-der-kolonialismus-sich-in-die-seelen-graebt.html?sstr=sansibar
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Schluss mit Schlagzeug, Bass, Gelaber!
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Treffenderweise teilen der Musiker Heinz Rudolf Kunze und die deutsche Hochschulrektorenkonferenz das Kürzel: HRK. Denn beiden haftet etwas Offiziöses, Verwaltungsmäßiges an. Die Karriere des 1956 geborenen Sängers begann schon einschlägig bei einem »Pop-Nachwuchs-Festival«. Sie führte über »Dein ist mein ganzes Herz« und weitere Glanzstücke der Tonpoesie zu Ruhm und Lehraufträgen. Und als es leicht war, kritisch zu sein - nämlich in den westdeutschen 1980ern, als der Aufruhr verklungen und nostalgische Reminiszenzen an denselben daher wohlgelitten waren -, erwarb sich der Lieder- den Titel »Niedermacher«. Da Musikdeutschland bisher seiner Worte zu »Kollegah« und »Farid Bang« geharrt, ihn aber nicht gefragt hatte, macht der Meister die Flegel nun per »DPA-Gespräch« nieder. Und auch gleich diesen »Rap« als solchen, dieses »menschenfeindliche Gestammel mit Musikverzicht«. Diese ganze Richtung, »bei der nur jemand zu Schlagzeug und Bass rumlabert«, werde alsbald verschwinden, glaubt der 61-Jährige, denn: »Da kann kein Titel ein Golden Oldie werden, weil es keine Melodie gibt und niemand mitsingen oder mitsummen kann.« Und das werde gut sein für die Demokratie: »Die Braunen und die Rapper vereint im Totentanz / wird Zeit, dass wir sie mundtot machen und ihre Allianz«, reimte Kunze jüngst auf Facebook, um seinen Gesprächsbedarf zu signalisieren. Demnächst erscheine nun aber, ist dem »Gespräch« zu entnehmen, zum Glück Kunzes 36. Album: ein »Streifzug durch die Musikgeschichte«, der natürlich auch »Schwarze Musik« umfasst. Man könnte sich nun aufregen über einen gealterten Kulturbeutemacher, der sich dieselbe greift und zugleich alte Rassismen über ihre amelodiöse Buschtrommelhaftigkeit aufruft. Man könnte an Kunzes 2016 erschienenen Protestsong »Willkommen liebe Mörder« erinnern, der - völlig missverstanden, wie der Meister betont! - von Pegidisten gefeiert wird: »Fühlt euch wie zu Hause / bedient euch macht es euch bequem (...) nichts nehmen wir euch übel / Empörung nicht die Spur / ihr habt halt eine andere Umbringekultur«. Und man könnte sich anhand eines jüngeren Interviews ausmalen, wie konkret der Rap verschwinden soll: Dadurch, dass »Flüchtlinge, die sich nicht an die Spielregeln halten, konsequent« rausfliegen nämlich, bevor sie zu dieser Unmusik greifen? Mann kann sich den Ärger aber auch sparen und lächelnd an die Wirkungsgeschichte eines anderen Musikexperten denken, der einst Schluss machen wollte: nämlich mit dem »Ye, Ye, Ye«.
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Velten Schäfer
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Berühmt wurde Heinz Rudolf Kunze mit der Schnulze »Dein ist mein ganzes Herz«. Er nutzt die Aufregung um »Kollegah« und »Farid Bang« für eine Generalabrechnung mit dem »Rap« - doch aus der spricht nur unterschwelliger Rassismus.
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Echo, Hip Hop, Musik, Rap, Rassismus
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Feuilleton
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Kultur Heinz Rudolf Kunze und der Hip Hop
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2018-05-01T18:06:43+0200
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2018-05-01T18:06:43+0200
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2023-01-21T21:45:46+0100
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1086999.schluss-mit-schlagzeug-bass-gelaber.html
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Liebe kann tödlich sein
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Es war eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis sich Peter Konwitschny Othmar Schoecks (1886-1957) Einakter »Penthesilea« aus dem Jahre 1927 vornehmen würde. Die beiden geistigen und die Bühne für Extreme bereitenden, spätromantisch in ihren Tod tobenden Vorläufer(innen), Richard Strauss’ »Salome« und »Elektra«, hat er schon vor Jahren inszeniert. Was die Vorherrschaft des Patriarchats und die Macht der Konventionen für Spuren vor allem in der weiblichen Seele hinterlassen, ist eh eins der Themen, auf die er in seinen Inszenierungen schon immer besonders geachtet hat. Zu diesen archaischen Frauengestalten, denen die Fähigkeit zur vorurteilsfreien Liebe und Hingabe an einen Mann auf die eine oder andere Weise abhandengekommen sind, gehört auch die Amazonenkönigin Penthesilea. Bei Kleist und bei Schoeck ist der Kampf gegen alle Exemplare des männlichen Geschlechts gleichsam schon in die weibliche DNA eingegangen. Annäherung, gar körperliche Vereinigung ist hier nur als Komplettierung eines Kampfes auf Leben und Tod vorstellbar. Nur wen sie besiegt, den darf sie lieben. Das Verhältnis der Geschlechter zueinander ist zum Krieg der Geschlechter pervertiert. Und ausgerechnet der Mann Achilles, der da ausbrechen will, bezahlt das mit seinem Leben. Er wird mit blutigem Ernst von Penthesilea zerrissen, als ihr klar wird, dass man ihr den Sieg über Achilles nur vorgetäuscht hatte. Sie würde ihn durchaus lieben, wenn sie dürfte, also die Konvention des Amazonengesetzes und sie selbst es sich erlauben würden. Es ist das alte Lied, das wir vor allem mit den vertauschten Rollen kennen, die das Gesetz des Patriarchats immer wieder neu singt. Konwitschny und sein Ausstatter Johannes Leiacker machen in der Bonner Inszenierung das Gegenteil des Erwartbaren. Sie belassen das Grauen in den Worten und in der Musik, bringen die Zuschauer (zum Teil sogar wortwörtlich) auf die Bühne und überlassen die Bilder unserer Fantasie. Der neue Bonner Generalmusikdirektor Dirk Kaftan dirigiert das Beethoven-Orchester für alle sichtbar auf der Hinterbühne. Die Spielfläche über dem Orchestergraben wird nicht nur vom Chor, sondern auch von Zuschauern umrahmt. Zwei Konzertflügel werden auf der Spielfläche wie Geschütze gegeneinander in Stellung gebracht. Der Rest ist Personenregie jener Premiumklasse für die der Name Peter Konwitschny exemplarisch steht. Dshamilja Kaiser als Penthesilea und Christian Miedl als Achilles sind dafür vokal und darstellerisch ideale Protagonisten und führen das auch sonst exzellente Ensemble an. Für das Crescendo des Grauens zum Finale lässt Konwitschny seine Penthesilea als Konzertsängerin zurückkehren. Also einen Fluchtweg offen, den sie in der Geschichte eigentlich nicht hat. Weitere Vorstellungen: 29. Oktober, 12. und 19. November
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Roberto Becker
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»Penthesilea« in Bonn
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Bonn, Liebe, Musik
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Feuilleton
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Kultur
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1068111.liebe-kann-toedlich-sein.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
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Händewaschen und schwereres Geschütz
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In einer Vitrine im Deutschen Hygiene-Museum in Dresden (DHMD) sind sechs gläserne Objekte ausgestellt, die wie Lüster oder filigrane Schmuckstücke wirken. Eine von Perlen überzogene Kugel, in der ein von Noppen besetzter Zylinder schwebt; eine Spirale, die einer überdimensionalen Raupe ähnelt. Es handelt sich um Modelle von Viren in millionenfacher Vergrößerung, die der Glaskünstler Luke Jerram geschaffen hat: HIV- und Ebola-Virus, Erreger von Vogelgrippe und Pocken; ein Vertreter der Adenoviren, die bei Menschen die Atemwege befallen; schließlich ein Virus, der Bakterien angreift und wie ein Antibiotikum wirken kann. »Er zeigt, dass Viren nicht nur schaden«, sagt Carola Rupprecht, Leiterin des Bereichs Bildung und Vermittlung. Die Virenmodelle sind seit 2016 in der Dauerausstellung des DHMD zu sehen. In dieser geht es um Leben und Sterben, Ernährung und Sexualität, Denken und Erinnern. Jerrams Objekte wurden angekauft, weil sie mit ihrem ästhetischen Reiz »gängige Vorstellungen von Krankheitserregern als gefährlich und potenziell tödlich« unterliefen, hieß es damals. Dennoch gehören sie zur Abteilung über das »Leben mit Krankheit« - in der sie freilich seither nicht gerade im Mittelpunkt des Interesses standen, sagt Rupprecht. Führungen machten selten vor dieser Vitrine Halt. Dass Viren allgegenwärtig sind, ist Besuchern bewusst; dass Ebola in Afrika ein ernstes Problem ist und die Pocken das bis in die 1970er Jahre auch hierzulande waren. Dennoch schien es ein Phänomen in geografischer oder historischer Ferne zu sein. Dass ein Virus auch das Potenzial hat, unsere heutige Gesellschaft in beispielloser Weise zu erschüttern - das, sagt Rupprecht, »haben wir nicht mehr auf dem Schirm gehabt«. Jetzt aber hat sich ein Virus mit Wucht auf den Schirm gedrängt; die Welt dreht sich nur noch um Corona; und das DHMD könnte gewissermaßen das Museum zur Krise sein - wenn nicht der Museumsbetrieb nach wochenlanger Schließung nur langsam wieder in die Gänge käme. Kaum 20 Besucher pro Tag verirren sich in den weißen Bau am Dresdner Großen Garten; Vorträge oder Diskussionen sind wegen strikter Hygienevorgaben vorerst undenkbar. Gleichwohl dreht sich in dem Haus, das seine Wurzeln in einer von Mundwasserfabrikant Karl August Lingner organisierten Internationalen Hygieneausstellung von 1911 hat, schon immer vieles um Krankheiten. Es geht um die Frage, was Wissenschaftler über sie herausfinden und wie dieses Wissen einer breiten Bevölkerung zu vermitteln ist; wie die Verbreitung zu unterbinden ist, und darum, welche Rolle dem Einzelnen und dem Staat dabei zukommt. Ein großer Teil der Sammlung, sagt ihre Leiterin Susanne Roeßiger, entstammt Kampagnen zu Gesundheitsthemen. Es sind Plakate, Filme und andere Werbeartikel, die ein bestimmtes Verhalten propagieren: weniger rauchen, gesünder essen, mehr Sport treiben, Kondome nutzen. Slogans aus früheren Jahrzehnten klingen dabei nicht selten wie Befehle. Mittlerweile haben sie eher den Charakter von Empfehlungen. Roeßiger beobachtet einen »Paradigmenwechsel«: weg von strenger Gesundheitserziehung, hin zu Aufklärung. »Der Einzelne«, sagt sie, »soll sich selbst verantwortlich fühlen für seine Gesundheit.« Im Zweifelsfall reagiert er nun freilich empfindlich, wenn ihm doch Vorschriften gemacht werden. Er wolle sich, zürnte Regisseur Frank Castorf, von »Frau Merkel« nicht vorschreiben lassen, »wann ich mir die Hände zu waschen habe«. Es ist freilich ein Unterschied, ob sich eine Kampagne gegen Übergewicht oder das Rauchen richtet - oder ob es um eine von einem Virus ausgelöste Pandemie mit möglicherweise Tausenden Toten geht. Auch Tabakkonsum oder zu gehaltvolles Essen können aufgrund von Folgen wie Krebs, Diabetes oder Erkrankungen von Herz und Kreislauf tödlich sein; die Behandlung ist teuer. Das erklärt, warum Kampagnen versuchen, Maßhalten und Verzicht zu propagieren. Letztlich liegt die Entscheidung aber bei jedem Einzelnen - der auch mit den Folgen zurechtkommen muss. Ganz anders bei einer Pandemie, in der ein Virus außer Kontrolle geraten ist. In einem solchen Fall gehe es nicht um allmähliche Verhaltensänderungen, die mit Argumenten oder sanftem Druck bewirkt werden sollen, sondern »sofort um Leben oder Tod«, sagt Roeßiger. Appelle an die Verantwortung des Einzelnen »stoßen da schnell an ihre Grenzen«. Es seien Situationen, in denen regelmäßig Staat und Politik ins Spiel kämen und massive Eingriffe in Privatsphäre und individuelle Freiheiten durchsetzen. Es werde, sagt Roeßiger, »ganz schweres Geschütz aufgefahren.« Worum es bei einer Pandemie geht, formulierte unmissverständlich der Titel einer Sonderausstellung, die das Dresdner Museum Ende 1995 zeigte. »Das große Sterben« hieß die Schau; Untertitel: »Seuchen machen Geschichte«. Sie drehte sich um Pest und Pocken, Cholera und Tuberkulose - sowie um AIDS, die »damals zeitgenössische Seuche«, so Roeßiger. Beim Blättern im Katalog, von dem im Museum nach einem Vierteljahrhundert nur noch wenige Exemplare aufzutreiben sind, stellt sich Bedauern ein, dass die Ausstellung nicht einfach aus dem Archiv zu holen ist. Denn sie verdeutlicht, dass Reaktionsmuster auf Pandemien sich über Jahrhunderte hinweg erstaunlich ähneln - und dass viele Debatten über Eingriffe des Staates in die Privatsphäre oder die Sinnhaftigkeit medizinischer Empfehlungen, wie sie gerade aufgeregt geführt werden, gar nicht so neu sind. So ist social distancing keineswegs eine Erfindung aus Coronazeiten. Als ab Mitte des 14. Jahrhunderts die Pest in mehreren Wellen in Europa wütete, die, Stichwort Globalisierung, von Kaufleuten aus Mittelasien eingeschleppt worden war, isolierte man nicht nur die Häuser Betroffener. 1682 riegelte das Militär ein ganzes Dorf vor den Toren Erfurts nach einem auffälligen Anstieg der Todesfälle ab und untersagte das Verlassen bei Todesstrafe. Hafenstädte wie Venedig richteten Lazarette ein, in denen Reisende vier Wochen lang unter Quarantäne gestellt wurden, bis sicher war, dass sie nicht erkrankten. Eigens eingesetzte Gesundheitsbehörden erließen »Pestordnungen«, die bei Androhung drakonischer Strafen öffentliche Veranstaltungen wie Märkte und Tanzabende verboten. Selbst Gottesdienste wurden untersagt, weshalb ein Florentiner Bischof 1630 den zuständigen Beamten wegen Häresie vor Gericht zerrte. Ein- und Ausreiseverbote sowie der Abbruch von Handelsbeziehungen galten als probates Mittel, um die Seuche einzudämmen - mit der Folge, dass Städte wie Frankfurt 1666 Ausbrüche leugneten, um wirtschaftliche Schäden zu vermeiden. Wie umstritten derlei Maßnahmen waren und welchen massiven gesellschaftlichen Widerstand sie teils erzeugten, belegt der Umgang mit den Pocken, die im 18. Jahrhundert die Pest als schlimmste Seuche ablösten und immer wieder durchs Land zogen. »Die Seuche kam, brachte die Kinder um oder bewahrte sie für die Zukunft vor nochmaliger Ansteckung«, heißt es im Katalog - ein Phänomen, das jetzt »Herdenimmunität« genannt wird. Wenn freilich nach vier bis sieben Jahren genügend Kinder ohne Immunität nachgewachsen waren, folgte die nächste Welle. Erst dank erfolgreicher Impfkampagnen sind die Pocken seit 50 Jahren Geschichte. Sie gelten als »einzige Infektionskrankheit, die durch medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnis von der epidemiologischen Weltkarte gelöscht wurde«, heißt es im Katalog, der freilich eindrücklich schildert, wie steinig der Weg bis dahin war. Eine Pockenimpfung stand ab 1796 zur Verfügung; die Skepsis in der Bevölkerung war indes enorm. Von staatlicher Seite arbeitete man mit Argumenten, Anreizen und Zwang, traf aber auf eine immer breitere Bewegung von Impfgegnern, die sich schon damals auch aus Anhängern von Naturheilkunde und Homöopathie rekrutierte - und im Impfen oft mehr als einen medizinischen Eingriff sah. Ein prominenter Kritiker, Carl Georg Gottlob Nittinger aus Stuttgart, deutete die Impfung als ein »Symbol der politischen Willkürherrschaft über das Volk«. 1874 trat im Deutschen Reich das »Reichsimpfgesetz« in Kraft, das einen, wie es heute hieße, Impfzwang verfügte. Um so skurriler wirkt es, dass Kritiker der Coronamaßnahmen derzeit teils mit Reichsflaggen wedeln. 150 Jahre später scheinen sich die Debatten zu wiederholen, teils weit schärfer. Ein Grund: Corona sei die erste Pandemie, deren Bekämpfung auch unter Beobachtung der sozialen Medien stattfinde, sagt Susanne Illmer, Leiterin der Abteilung Wissenschaft im DHMD. Dort werden Verschwörungstheorien und Zweifel an wissenschaftlichen Befunden zur Gefährlichkeit des Virus gestreut, teils mit Verweis auf widerstreitende Studien. Dieses Phänomen kennt man am DHMD gut. Laien verlangten von Experten oft eindeutige Aussagen - die diese nicht bieten können. »Dass Wissenschaft stets kontrovers ist und sich Erkenntnisgewinn in einem Diskurs vollzieht, ist sehr schwer zu kommunizieren«, sagt Illmer. Im DHMD hat Corona den Blick auf solche Probleme bei der Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse geschärft - und auch den auf das Selbstverständnis. Nach der Gründung und in der DDR war das Haus erklärtermaßen eines der Gesundheitserziehung. Ab 1991 erfand es sich neu: als »Museum vom Menschen«, in dem es nicht um Hygiene ging, sondern um größere Dinge: Arbeit und Spiel, Alter und Tod. »Wir wollten nicht mehr das Museum vom Händewaschen sein«, sagt DHMD-Sprecher Christoph Wingender: »Wir waren überzeugt, das hat sich erledigt; das haben wir im Griff.« Nun offenbart ein Virus die Verwundbarkeit des Menschen, und es geht wieder um die »ganz elementare Dinge«: Besucher kommen - »und wir sagen ihnen erst einmal: Wascht euch die Hände!«
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Hendrik Lasch, Dresden
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Das Dresdner Hygiene-Museum ist quasi das Museum zur Corona-Krise - auch wenn die letzte große Ausstellung zu Seuchen 25 Jahre her ist.
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Corona-Krise, Coronavirus, Dresden, Sachsen
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Politik & Ökonomie
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Politik Coronavirus
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1137331.haendewaschen-und-schwereres-geschuetz.html
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Der Bildungsminister tritt zurück
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Als Günter Baaske 2002 brandenburgischer Sozialminister wurde, da erklärte er, sein Name schreibe sich ohne H, aber mit zwei A. Das werde häufig falsch gemacht. Inzwischen kennt die Presse die richtige Schreibweise. In der aktuellen rot-roten Landesregierung gab es niemanden, der schon so früh dabei gewesen ist wie er. Nun hat der SPD-Politiker am Dienstag aus persönlichen Gründen seinen Rücktritt als Bildungsminister erklärt. Den unbequemen Posten hatte er nach der Landtagswahl 2014 übernehmen müssen, als das von ihm so geliebte Sozialressort bei der Regierungsbildung an die LINKE fiel. Sozialminister ist Baaske gern gewesen. Er hat sich als Erbe der populären, 2001 verstorbenen Sozialministerin Regine Hildebrandt (SPD) präsentiert und in dieser Rolle sehr wohlgefühlt. Doch Bildungsminister, das war offensichtlich nicht sein Ding, obwohl er von Beruf Lehrer ist und früher Mathematik und Physik an einer Gehörlosenschule unterrichtete. Als Baaske zu Beginn des neuen Schuljahres vom »nd« gefragt wurde, ob er amtsmüde sei, wies er dies noch zurück und wollte wissen: »Wirke ich so?« Ja, so wirkte er. Geradezu unglücklich in seiner Funktion, genervt von der Panne beim Mathe-Abitur. Die Prüflinge hatten Aufgaben erhalten, die eine erhebliche Zahl von ihnen nicht lösen konnte, weil das an ihren Schulen nicht im Unterricht behandelt wurde, obwohl es im Lehrplan stand. Drei erwachsene Kinder aus verschiedenen Ehen hat der 59-Jährige und dazu ein fünf Jahre altes Töchterchen. Um die Familie möchte er sich nun mehr kümmern, außerdem um seinen Wahlkreis. Landtagsabgeordneter bleibt er. Minister habe er eigentlich nur einige Zeit sein wollen, erzählt er. Zwei Jahre vor der Landtagswahl 2019 sei der richtige Zeitpunkt für einen Wechsel. Das es zwei Tage nach der Bundestagswahl geschah und nicht etwa zwei Tage davor, ist sicher kein Zufall. Spät noch einmal Vater zu werden, kann belastend sein. Doch als die damals erst zehn Monate alte Tochter 2012 wegen einer leichten Erkältung nicht in die Kita konnte, da nahm der Papa sie mit ins Ministerium und erledigte seine Arbeit mit dem Kleinkind auf dem Schoß. Er wirkte trotz allem frisch und wach. Aber da war er auch noch Sozialminister. Anfangs hatte Baaske als Minister ein bisschen was von einem Sonnyboy. Der Eindruck ließ mit den Jahren zwar nach, hat sich aber nie ganz verflüchtigt. Ihm haftet nicht der sprichwörtliche sozialdemokratische Stallgeruch an, obwohl er die Partei 1989 in seinem Heimatkreis mitgegründet hat und Sozialbeigeordneter in Potsdam-Mittelmark war, bevor er nach Potsdam ging. Er duftet nach Kreativität. Von 1989 bis 1993 wirkte er nebenberuflich als Manager der gerade damals sehr bekannten Band »Keimzeit«. Im Bad Belziger Ortsteil Lütte, wo die Musiker herkommen, da wohnt er. Baaske ist genauso wie der frühere Ministerpräsident Matthias Platzeck und wie der aktuelle Ministerpräsident Dietmar Woidke ein SPD-Politiker, der in persönlichen Begegnungen beim Volk sehr gut ankommt und insofern für die Partei von großem Wert ist. Als Müllmann, Erzieher oder Altenpfleger im Sommerpraktikum behielt er Tuchfühlung zu Sorgen und Nöten der Bevölkerung, inszenierte dies allerdings auch geschickt. Sein soziales Engagement wirkte dennoch absolut glaubwürdig, obwohl er nicht als Gegner von Hartz IV in Erscheinung getreten ist und obwohl die Arbeitslosenzahlen, die er ursprünglich halbieren wollte, nach seinem Amtsantritt zunächst einmal noch gestiegen waren. 2003 erreichte die Erwerbslosenquote den höchsten Wert. Ehrlicherweise muss gesagt werden: Das lag nicht in seiner Macht. Nachfolgerin Baaskes soll Britta Ernst (SPD) werden. Die 56-jährige Ehefrau des Hamburger Bürgermeisters Olaf Scholz (SPD) war bis Sommer Bildungsministerin in Schleswig-Holstein. Dann wurde Rot-Grün dort abgewählt und durch eine Jamaika-Koalition aus CDU, Grünen und FDP ersetzt. Dass die SPD unmittelbar nach einem Rücktritt sofort ein neues Gesicht präsentiert, ist ein bewährtes Verfahren. Amtswechsel werden vorbereitet. Für Spekulationen bleiben allenfalls ein paar Minuten. Britta Ernst besuchte am Dienstag gleich die Sitzung der Linksfraktion. Dort war man von ihr sehr angetan und angenehm überrascht, schilderte der Fraktionsvorsitzende Ralf Christoffers. Sie habe in Schleswig-Holstein ähnliche Schwerpunkte gesetzt wie die Bildungspolitiker in Brandenburg. Ernst habe erklärt, nicht mit einem Zehn-Punkte-Plan gekommen zu sein, sondern sich von den Gegebenheiten in Brandenburg zunächst ein Bild machen zu wollen. Man freue sich auf eine »Sichtweise von außen«. Derweil gelingt die richtige Schreibweise von Günter Baaske auch heute noch nicht jedem. In einer Pressemitteilung kritisierten die Jungen Liberalen den Zeitpunkt des Rücktritts von »Günther« Baaske. »Die Berichterstattung zur Bundestagswahl soll diesen zweifelhaften Wechsel übertönen«, vermutete ihr Landesvorsitzender Matti Karstedt. Ein Personal- und Politikwechsel sei im Bildungsressort nach dem »Versagen und Kaputtsparen« der letzten Jahre tatsächlich nötig. Die SPD taktiere aber nur. Dagegen äußerte die Landtagsabgeordnete Kathrin Dannenberg (LINKE) in der korrekten Schreibweise, »Günter Baaske hatte sich in seinem Ressort gut eingearbeitet und war uns ein kompetenter sowie zuverlässiger Partner. Gemeinsam haben wir in den letzten drei Jahren viel geschafft. Stichworte: viele zusätzliche Lehrerstellen und die Verbesserung der Kitabedingungen.« Anders als von Dannenberg dargestellt, machte Baaske zumindest nach außen hin aber nicht den Eindruck, dass er der Idee der Gemeinschaftsschule aufgeschlossen gegenüberstehe.
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Andreas Fritsche und Wilfried Neiße
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Günter Baaske begründet seinen Rückzug als Bildungsminister mit privaten Angelegenheiten. Es drängt sich jedoch der Verdacht auf, er sei in seiner neuen Funktion nicht glücklich gewesen.
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Bildungspolitik, Brandenburg, SPD
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Hauptstadtregion
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Brandenburg
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1065033.der-bildungsminister-tritt-zurueck.html
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Bayer Leverkusen geht entzaubert ins DFB-Pokalfinale
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Irgendwann spät in dieser kühlen irischen Frühlingsnacht, der Bus mit den Kollegen wartete bereits auf die Abfahrt, da fasste Granit Xhaka in Worte, was bislang niemand vermisst hatte, was aber dem für seine beinahe perfekte Spielweise gefeierten Deutschen Meister aus Leverkusen noch fehlt auf dem Weg zur Vollendung: das Wegstecken von Rückschlägen. »Wir hatten nie dieses Gefühl in diesem Jahr«, sagte der Mittelfeldspieler über Leverkusens erste Niederlage ausgerechnet im vorletzten Spiel dieser Saison. Nun sei es »Zeit zu sehen, welcher Spieler hat einen Charakter, welcher Spieler ist in der Lage schnell aufzustehen.« Die Werkself, die – abgesehen von zwei, drei einzelnen Halbzeiten – ein Jahr lang jeden Gegner dominiert hatte, war plötzlich in völlig unbekanntes Terrain geraten. Dieses Finale der Europa League hatte Gegner Atalanta Bergamo schließlich ähnlich souverän mit 3:0 gewonnen, wie Bayer Leverkusen durch die Bundesligasaison marschiert war. Allerdings mit einem völlig anderen Stil. »Wir konnten nicht unser Spiel machen, sie waren in allem besser«, musste Trainer Xabi Alonso feststellen, und Jonas Hofman ergänzte: »Das war nicht Bayer-like«. Mit einem fast immer fairen und doch extrem aggressiven Verteidigungsverhalten hatten die von dem schlauen Gian Piero Gasperini trainierten Italiener alle Leverkusener Spielfreude erstickt. Ob das nun zuallererst an den Italienern lag, an einer schwachen Tagesform der Leverkusener, ob die Wichtigkeit der Partie hemmte, oder ob es eine Mischung aus allem war, wird wohl nie ganz geklärt werden können. Aber die Symptome waren nicht zu übersehen: Der neue deutsche Meister litt unter der starken Körperlichkeit dieses Gegners, und »die Räume, die sie uns gelassen haben, haben wir nicht gut bespielt«, sagte Abwehrchef Jonathan Tah. Dass die Leverkusener anders als in allen anderen Partien nicht in der Lage waren, sich zu steigern, sich aufzubäumen, hatte gewiss auch damit zu tun, dass sie sich einfach nicht auskannten mit so einer extremen Drucksituation, in der alles auf dem Spiel stand. Alonso ahnte bereits, dass genau das zu einem Problem werden könnte. Noch in der vergangenen Woche hatte der Spanier auf die Frage, was er selbst dazugelernt habe in dieser Saison, erwidert: »Eigentlich lernt man am meisten aus Niederlagen.« Solche Lektionen fehlten nicht nur ihm, sondern der gesamten Mannschaft. Klar, das Team hat etliche Punkte durch sehr späte Tore in der Nachspielzeit gewonnen, aber nie waren die herausfordernden Momente so existenziell wie die Lage in diesem Finale. Nie zuvor hatte man einen Pokal zum Greifen nah und konnte ihn doch an nur einem Tag verlieren. Der ehemalige Leipziger Ademola Lookman der alle drei Tore für Bergamo schoss, hatte früh einen schlimmen Fehler von Ezeqiuel Palacios zum 1:0 genutzt (12.) und in der 26. Minute einen zweiten Treffer folgen lassen, nach einer halben Stunde waren die Leverkusener Versagensängste allgegenwärtig. Wie ein Seefahrer, der sich durch ein völlig fremdes Gewässer voller Felsen und gefährlicher Strömungen navigieren muss, wirkte die Mannschaft, während der Favoritenschreck aus Italien bestens vertraut war mit exakt dieser Umgebung. Seit Jahren gelingt es Atalanta Bergamo regelmäßig, große Gegner auf diese Art und Weise zu schlagen, zuletzt beim Duell in Liverpool im Viertelfinale, das die Mannschaft ebenfalls mit 3:0 gewonnen hatte. Bayer hingegen verfügt nicht über bewährte Mechanismen für derart ernsthafte Krisenmomente. Auch ein Plan B lag nicht bereit, vielleicht hätte er die Anweisung geben sollen, weniger kurze Pässe zu spielen, überlegte Alonso, der sich aber anders entschied: »Wir wollten nicht unseren Stil wechseln.« Immer wieder wird im Fußball der Begriff »Entzauberung« verwendet, aber selten traf er so zu wie an diesem Abend, was am Ende sogar als Trost taugte für den Bundesligisten. »Wenn man klar verliert, muss man das als Sportler akzeptieren und sagen, dass sie es verdient haben und wir nicht«, sagte Geschäftsführer Fernando Carro. Nun gelte es, das am Samstag bevorstehende Finale im DFB-Pokal gegen den 1. FC Kaiserslautern zu gewinnen, um die großartige Saison würdig zu Ende zu bringen. Womöglich wird sich der Finalgegner aus der Pfalz allerdings einiges abschauen von den Italienern, die traditionell im Schatten der großen Konkurrenten aus der Nachbarstadt Mailand stehen, jetzt aber den größten Erfolg ihrer Klubgeschichte feiern können. In jedem Fall hat Trainer Gasperini viel zur Entschlüsselung von Bayer Leverkusen beigetragen, wobei auch Alonso sagte: »Ich weiß, dass wir vieles lernen werden.« Sport-Geschäftsführer Simon Rolfes formulierte sogar den Vorsatz, diesen Europapokal ein andermal zu gewinnen, was aber so schnell nicht möglich sein wird. In der kommenden Saison spielt Leverkusen schließlich in der Champions League, wo das Team an ganz anderen Widerständen wachsen kann als in dieser Saison, in der niemand ernsthaft mithalten konnte. Bis zu dieser Nacht von Dublin.
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Daniel Theweleit, Dublin
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Mit schweren Rückschlägen umzugehen, haben die Fußballer Bayer Leverkusens ein Jahr lang verlernt. Ausgerechnet im Europapokal-Finale reißt nun ihre Serie der Unbesiegbarkeit, weil sie vom Widerstand überrascht wurden.
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Bayer, Bayer Leverkusen, Fußball, Italien
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Sport
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Sport Europa League
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2024-05-23T14:43:01+0200
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2024-05-23T14:43:01+0200
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2024-05-23T18:20:00+0200
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1182387.bayer-leverkusen-geht-entzaubert-ins-dfb-pokalfinale.html
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Bayern will noch mehr »sichere« Herkunftsstaaten
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Berlin. Die CSU bekommt nicht genug - kaum kann sich der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer als Sieger des so genannten Asylkompromisses gerieren, kommt schon die nächste Forderung aus München. »Bayern hat heute im Bundesrat die Einstufung von elf weiteren Staaten beantragt«, sagte Seehofer am Freitag mit Blick auf die umstrittene Einstufung von Algerien, Tunesien und Marokko, auf die sich die Koalition zuvor geeinigt hatte. Nun will Bayern, dass auch Armenien, Bangladesch, Benin, Gambia, Georgien, Indien, Mali, die Mongolei, Nigeria, die Republik Moldau und die Ukraine auf die Liste kommen. In Mali soll die Bundeswehr demnächst zu einem Einsatz einrücken, weil dort im Rahmen einer UN-Friedensmission »die staatliche Ordnung (…) wiederhergestellt werden« muss, wie es beim Auswärtigen Amt heißt. Für Nigeria hat die Bundesregierung zahlreiche Reisewarnungen herausgegeben, weil dort Gewalt, Terrorismus und Entführungen an der Tagesordnung sind. Bayerns Bundesratsminister Marcel Huber erklärte, »diese Herkunftsländer haben auch andere Mitgliedsstaaten der Europäischen Union bereits als sicher eingestuft«. Diese Einstufung folgt ohnehin einer anderen politischen Opportunität: Asylverfahren für Antragsteller aus diesen Ländern werden erheblich und zu Lasten der Flüchtlinge beschleunigt, auch kann schneller ausgewiesen werden. Seehofer hat das nach dem Anti-Asylpaket in die Formulierung gebracht: »Es geht um die Begrenzung der Zuwanderung. Das ist noch zu leisten.« Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen sowie die Opposition im Bundestag lehnen die ständige Ausweitung der angeblich sicheren Herkunftsstaaten ab. nd
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Redaktion nd-aktuell.de
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Die CSU bekommt nicht genug - schon ist die nächste Anti-Asyl-Forderung aus München da: Elf weitere Staaten sollen als »sichere Herkunftsländer« eingestuft werden, darunter Krisenherde wie Mali, Ukraine, Nigeria.
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Asylbewerber, Asylpolitik, Bayern, CSU, Flüchtlinge, Mali, Nigeria, Ukraine
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Politik & Ökonomie
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Politik
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»Ein toller Typ«, mehr gibt Schulz nicht her
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Martin Schulz beherrscht das Einmaleins des Regierungspolitikers spielend - eine noch so trübe Lage als Erfolg zu verkaufen. In seiner Antrittsrede hat er dies demonstriert und sich damit als geeigneter Nachfolger Sigmar Gabriels erwiesen. Als Retter der SPD dürfte er aber schon mit dieser ersten Rede abgewirtschaftet haben. Denn die entscheidende Frage, die Schulz zu beantworten hatte, lautet: Was läuft falsch, was muss die SPD deshalb anders machen als bisher? Schulz’ Antwort heißt: Nichts! Weil alles schon super läuft. Das Dilemma, in dem die SPD steckt, ist das zwischen ihrem Machtanspruch und den Interessen der Menschen, die sich aus diesem Machtanspruch eine Verbesserung ihrer Lage versprechen können. Schulz verkündet den Machtanspruch: Ich will Bundeskanzler werden. Sonst nichts. Er verschweigt, warum jemand, der sich von der SPD abgewandt hat, ihr nun seine Stimme geben sollte. Selbst die nachgeordnete Frage beantwortete Schulz nicht: Wo er angesichts der realen Lage der Partei in Umfragen denn Bündnispartner seiner geplanten Machtübernahme sieht. Kein Wandel, keine Bündnispartner für einen solchen - da passt ins Bild, dass Schulz die Übernahme des Parteivorsitzes selbst - wie schon Gabriel - als Deal zweier Kumpels behandelt. »Ein toller Typ«, das reicht. Und passt ins Bild jener Menschen von Politik, die ihr inzwischen jede Glaubwürdigkeit absprechen. Da fehlte nur noch, dass Schulz den Anspruch erhebt, die SPD müsse nun »stärkste politische Kraft« werden. Ja, und auch das hat er.
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Uwe Kalbe
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Schulz passt ins Bild jener Menschen von Politik, die ihr jede Glaubwürdigkeit absprechen. Da fehlte nur noch, dass er den Anspruch erhebt, die SPD müsse nun »stärkste politische Kraft« werden. Ja, und auch das hat er.
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Sozialdemokratie, SPD
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Meinung
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Kommentare
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Rassismus ist kein Vorbild
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Er hat es wieder getan: Der weltberühmte Internetstar Felix Kjellberg, der besser unter seinem alias Namen »PewDiePie« bekannt ist, hat rassistische Äußerungen vor Millionen Zuschauern von sich gegeben. Während Kjellberg das Computerspiel »PlayerUnknown’s Battlegrounds« (zu Deutsch: Kampf gegen unbekannte Spieler) spielte, wurde eine Übertragung auf einer Videoplattform gesendet. In einer Szene beschimpft Kjellberg einen Mann mit schwarzer Hautfarbe als »verdammten Neger«. Anschließend lacht der 27-jährige Schwede, sagt »Entschuldigung« und: »Ich meinte das nicht in einem schlechten Sinn.« Bereits Anfang des Jahres hatte Kjellberg mit antisemitischen Äußerungen in mehreren Videos für Aufsehen gesorgt. In einem Video hatte er seine Zuschauer sogar dazu aufgerufen, Schilder mit dem Schriftzug »Tod allen Juden« vor die Kamera zu halten. Anschließend beendete der Konzern Disney seine Zusammenarbeit mit Kjellberg. Auch sein bisher letzter Ausfall bleibt nicht folgenlos: Sean Vanaman, Mitgründer des Entwicklerstudios Campo Santo, hat sich gegen »PewDiePie« ausgesprochen. Das berichtet die Internetseite gamona.de. Demnach wollen die Macher von Campo Santo bewirken, dass alle Videos von Kjellberg entfernt werden, in welchen er das von Campo Santo entwickelte Spiel »Firewatch« spielt. »Er ist schlimmer als ein anonymer Rassist«, zitiert gamona.de Vanaman. »Er betreibt Propaganda von dem Mist und schadet damit der Kultur und der Industrie.« Vanaman empfahl anderen Entwicklern, die Zusammenarbeit mit Kjellberg einzustellen. In Internetforen wird derzeit heiß darüber diskutiert, ob Computerspieler und die Betreiber von Youtube-Kanälen eine Vorbildfunktion für Kinder und Teenager einnehmen. Auf der Videoplattform Youtube hat »PewDiePie« noch immer mehr als 57 Millionen Zuschauer, seine Zielgruppe ist zwischen 14 und 26 Jahren alt. Schätzungen zufolge verdient Kjellberg rund 15 Millionen Dollar im Jahr.
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Katharina Schwirkus
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Personalie
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Internet, Juden, Rassismus
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Politik & Ökonomie
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Politik
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1063559.rassismus-ist-kein-vorbild.html
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Ein heißer Herbst von links
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»Genug ist Genug« stand auf zahlreichen Plakaten und Transparenten, die an den Wänden des Veranstaltungsraums Oyoun in Berlin-Neukölln hingen. Dorthin hatte am Donnerstagabend das gleichnamige Bündnis zur Auftaktveranstaltung seiner Kampagne eingeladen. Der Raum war überfüllt und die Stimmung war von Anfang an sehr kämpferisch. Als erste Rednerin zeigte sich Iris Schwerdtner vom linkssozialistischen Magazin »Jacobin« begeistert von der großen Resonanz. Dabei habe man erst vor Kurzem mit der Mobilisierung begonnen. Vorbild für »Genug ist Genug« ist laut Schwerdtner die Kampagne »Enough is enough«, mit der sich in Großbritannien Gewerkschaften und soziale Initiativen dagegen wehren, dass die kapitalistische Krise auf dem Rücken der Lohnabhängigen ausgetragen wird. Dagegen richteten sich auch die sechs Forderungen der »Genug ist Genug«-Kampagne, die Schwerdtner unter großem Applaus vortrug: Dazu gehören 1000 Euro Wintergeld, die dauerhafte Einführung des 9-Euro-Tickets, die Deckelung von Gas- und Strompreisen, die Sozialisierung der Energiewirtschaft, die Besteuerung der Krisenprofiteure und eine kräftige Erhöhung der Löhne und Gehälter. Um diese Forderungen drehten sich auch die folgenden kurzen Redebeiträge von Lohnabhängigen verschiedener Branchen. Da war eine Pflegekraft, die sagte, ohne die Erfahrungen des mehrwöchigen Streiks im letzten Jahr in Berlin würde sie hier nicht reden. »Wir haben bewiesen, dass wir kämpfen und siegen können«, betonte sie. Nach ihr sprach ein langjähriger Mitarbeiter der Berliner Stadtreinigung (BSR), der als Erster das Wort Generalstreik unter großem Applaus aussprach. Es wurde danach noch von anderen Redner*innen wiederholt. Es wurde diskutiert, wie sich die Beschäftigten in den anstehenden Tarifverhandlungen der nächsten Monate koordinieren können, um somit mehr Druck auszuüben. Eine Beschäftigte der Post meinte, bei der Tarifrunde müssten diejenigen, auf die es in dem Land ankommt, ihre Macht ausspielen. Da könne ein Arbeitskampf ein wichtiges Mittel sein. Mehrere Redner*innen betonten, wie wichtig es sei, die anstehenden Sozialproteste mit der Tarifrunde zu verbinden. Wenn den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, die mit einer Forderung von über 10,5 Prozent in die Verhandlungen einsteigen, ein guter Abschluss gelingt, hätte das Signalwirkung auch über die Branche hinaus, so die Einschätzung der Kolleg*innen. »Wir dürfen uns nicht spalten lassen.« Dieser Satz war am Donnerstagabend immer wieder zu hören. So bekam eine alleinerziehende Frau mit Kind, die sich in der Gruppe der Armutsbetroffenen engagiert, viel Applaus für ihren Vortrag, in dem sie aufzeigte, wie sehr das Leben mit wenig Geld den Alltag einschränken kann. Mehrere Redner*innen grenzten sich unter großem Applaus nach rechts ab. »Sozialer Protest kann nur antifaschistisch sein«, meinte der Linke-Abgeordnete im Berliner Abgeordnetenhaus Ferat Kocak. Er richtete ebenso wie die Bundessprecherin der Grünen Jugend, Sarah-Lee Heinrich, aus dem Publikum kurze Grußadressen an den Ratschlag. Unmut aus dem Publikum kam erst auf, als auch der Neuköllner SPD-Bundestagsabgeordnete Hakan Demir seine Solidarität mit den Protestierenden ausdrücken wollte. Nach zwei Stunden Programm gingen die Teilnehmer*innen nicht sofort auseinander. An allen Ausgängen hingen Papierrollen, auf denen sich die Betroffenen in Listen eintrugen. Sie wollen in den nächsten Tagen in Betrieben, Kneipen, Stadtteilen und Universitäten die Ziele des Bündnisses bekannt machen und für die Demonstrationen der nächsten Wochen werben. Am 22. Oktober startet ab 12 Uhr unter dem Motto »Solidarisch durch die Krise« eine große Bündnisdemonstration am Berliner Invalidenpark. Am 12. November beginnt um 13 Uhr eine weitere Demonstration des Bündnisses »Umverteilen«, an dem zahlreiche linke Gruppen beteiligt sind. Mehrere Redner*innen hatten bei der Veranstaltung am Donnerstagabend erklärt, sie könnten es nicht erwarten, ihren Protest auf die Straße zu tragen. Nach der guten Stimmung beim Auftakt könnte es noch ein heißer Herbst von links werden.
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Peter Nowak
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Für die nächsten Wochen sind große Bündnisdemonstrationen gegen die Energiepreiskrise angekündigt. Dabei werden nicht nur Forderungen nach staatlichem Handeln eine Rolle spielen, sondern auch Forderungen nach höheren Löhnen.
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Berlin, Heißer Herbst
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Politik & Ökonomie
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Politik Genug ist Genug
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2022-10-16T14:55:10+0200
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2022-10-16T14:55:10+0200
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2023-01-20T17:13:44+0100
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1167725.ein-heisser-herbst-von-links.html
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»EU sollte Friedensprojekt bleiben«
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»Dringender denn je«, so heißt es in einem am Montag veröffentlichten Appell, werde eine Europäische Union (EU) gebraucht, »die für Frieden und Menschenrechte eintritt - zu Hause und jenseits ihrer Grenzen«. An das Europäische Parlament gerichtet kritisieren 74 Organisationen und Institutionen aus Europa geplante Milliardeninvestitionen in die Rüstungsindustrie, Militäreinsätze und noch striktere Grenzsicherung der EU. Dementsprechend drastisch lautet auch der Titel des Aufrufs: »Rettet das Friedensprojekt Europa.« Hinter dem Appell stehen Verbände der Friedensbewegung, aber auch Umweltorganisationen wie Greenpeace oder die Hilfswerke Brot für die Welt un... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
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Alexander Isele
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74 zivilgesellschaftliche Organisationen fordern vom Europaparlament eine Abkehr der Militarisierung der EU-Außenpolitik und eine Rückbesinnung auf Friedenswerte.
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Europäische Union, Friedensbewegung
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Politik & Ökonomie
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Politik
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1111542.eu-sollte-friedensprojekt-bleiben.html
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Bewegende Zeiten
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Was sagen wir einem Kind, das uns das erste Mal nach der großen Krise fragt? Seitdem 2008 die Zockerbanken Risse in die Fundamente des globalen Finanzkapitalismus schlugen, sind fünf Jahre vergangenen. Fünf Jahre, in denen der Kladderadatsch umgedeutet wurde: »wir« hätten über unsere Verhältnisse gelebt, und »wir« müssten nun die Banken retten. Fünf Jahre, in denen sich die Armut gerade von Kindern verschärft hat und demokratische Standards ausgehöhlt wurden, in denen die Gefahr von Rechts wuchs und die soziale Daseinsvorsorge abnahm.
Und so müssen wir dem Kind, um dessen Zukunft es geht, auch unsere eigene Ernüchterung erklären: Die Alltagsweisheit, wonach man aus Schaden klug werde, gilt jedenfalls nicht für die herrschende Politik. Statt den Experten-Rufen nach einem Kurswechsel zu folgen; statt sich die Stimme der Vielen zu eigen zu machen, die sich für Alternativen einsetzen; statt aus dem Scheitern des Hurra-Kapitalismus politische Konsequenzen zu ziehen, bleibt das »Weiter so« auf der Agenda - und trifft sogar noch auf Zustimmung.
Aber war der Neoliberalismus nicht längst totgesagt? Waren die Hoffnungen auf einen alternativen politischen Frühling falsch, welche die Bewegungen der Empörten und der 99 Prozent, die Aktivisten von Blockupy und Umfairteilen in ihrem Kampf um eine andere, bessere Welt bestärkt hatten? Ist es erneut so, dass zwar die Analysen der gesellschaftlichen Linken stimmen - sie aber politisch wirkungslos bleibt?
Natürlich wäre es falsch, die Probleme, mit denen soziale und ökologische Veränderung konfrontiert ist, in demonstrativem Optimismus zu ertränken. Doch ebenso falsch wäre es, dem Neoliberalismus den Triumph eines zweiten Sieges zu überlassen. Wo Parteien zwar Mehrheiten finden, ihre Politik aber nicht den Interessen der Mehrheit entspricht, bleibt Widerstand gefordert.
An diesem Wochenende diskutieren in Berlin Hunderte über Macht, Gerechtigkeit und Umverteilung. Am darauf folgenden ziehen Tausende nach Frankfurt am Main, um gegen das europäische Sparregime zu protestieren. Fast wöchentlich werden Zwangsräumungen verhindert und Neonazi-Aufmärsche blockiert, Menschen suchen gemeinsam nach neuen Formen des Lebens und Arbeitens; knüpfen Netzwerke über Grenzen hinweg. Wer den Kampf um eine bessere Welt führt, hat gute Gründe, selbstbewusst seinen Platz in der Öffentlichkeit zu beanspruchen.
Erstmals wird das »Fest der Linken« vor der Berliner Volksbühne stattfinden. Dort werden wir am 1. und 2. Juni nicht nur über die NSU-Mordserie, den Kampf von Mietern und die Bundestagswahl diskutieren. Sondern wir wollen auch zeigen, dass für Linke das Lachen nicht verboten ist. Mit Politik, Musik, Theater, Marktständen, Filmen - und einem Programm zum Kindertag.
Seien sie herzlich eingeladen!
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Redaktion nd-aktuell.de
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Einladung zum nd-Pressefest / Fest der Linken 2013
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Fest der Linken, nd-Pressefest
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Hauptstadtregion
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Brandenburg
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BVG fällt bei Sanierung des Tramnetzes weiter zurück
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Direkt neben dem Straßenbahngleis klafft am Neujahrstag ein großes Loch im begrünten Mittelstreifen der Seestraße im Berliner Ortsteil Wedding. Ein dickes Kabelbündel ragt daraus hervor, dessen Ende mit rot-weißem Absperrband umwickelt ist. Einige Männer in gelben, orangefarbenen und grün-blauen Jacken wuseln rund um die Absperrung herum, ein Bagger zieht seine Kreise, um einen Sandhaufen vom Straßenrand auf den Mittelstreifen umzulagern. In der Silvesternacht ist hier an der Ecke Guineastraße kurz vor 20 Uhr eine der Hauptwasserleitungen der Stadt geplatzt. Die Kreuzung war überflutet, und Hunderttausende in weiten Teilen der Stadt hatten kein Wasser. Nicht nur die Wasserleitung muss nun repariert werden, auch an der Tram-Strecke ist großer Schaden entstanden. Mindestens das Gleis in Richtung Virchow-Klinikum ist unterspült worden. Außerdem zerstörten die Wassermassen auch die Einspeisung für den Fahrstrom der Bahnen. Die Männer in den verschiedenfarbigen Jacken sind von den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) und den Wasserbetrieben. Sie besprechen weitere Schritte. Auf 270 Metern soll das 1928 verlegte Rohr nun erneuert werden. Das soll Monate dauern. Gegraben werden kann nur, wenn der Boden nicht gefroren ist. »Die Wasserbetriebe haben uns für Anfang kommender Woche den Antrag für die Bauarbeiten angekündigt«, sagt Petra Nelken zu »nd«. Sie ist Sprecherin der Senatsverkehrsverwaltung, die die Arbeiten genehmigen muss. nd.Muckefuck ist unser Newsletter für Berlin am Morgen. Wir gehen wach durch die Stadt, sind vor Ort bei Entscheidungen zu Stadtpolitik – aber immer auch bei den Menschen, die diese betreffen. Muckefuck ist eine Kaffeelänge Berlin – ungefiltert und links. Jetzt anmelden und immer wissen, worum gestritten werden muss. Man habe das direkt neben dem Straßenbahngleis verlaufende Rohr bereits seit längerer Zeit austauschen wollen. »Die BVG hat uns das bisher aber nicht durchgehen lassen«, sagt Wasserbetriebe-Sprecher Stephan Natz zu »nd«. »Ein förmlicher Antrag ist bisher nicht gestellt worden«, sagt jedoch Verwaltungssprecherin Nelken. Allerdings warten die Wasserbetriebe nach nd-Informationen seit geraumer Zeit für eine geplante Erneuerung eines anderen Abschnitts dieser Hauptwasserleitung auf die verkehrsrechtliche Genehmigung. Damit hat allerdings die BVG nichts zu tun, sondern das liegt in den Händen der Senatsverkehrsverwaltung. Offen ist derzeit, wann die Tramlinien M13 und 50 wieder zum Virchow-Klinikum fahren werden. Es könnte schneller gehen als zunächst erwartet, da der von den Wasserbetrieben geplante Rohrtausch auf 270 Metern Länge in dem Bereich die Straßenbahngleise dem Vernehmen nach nur bedingt tangieren könnte. Vielleicht werden die Fahrgäste nur einige Tage statt einige Wochen Ersatzverkehr mit Bussen ab dem U-Bahnhof Osloer Straße hinnehmen müssen. »Die aktuellen Schäden am Gleis und der Stromversorgung werden begutachtet und schnellstmöglich behoben«, heißt es von der BVG. Und die BVG hat nun eine weitere Straßenbahn-Gleisbaustelle mit unklarer zeitlicher Perspektive an der Backe. Als gäbe es nicht schon genug zu tun. Mit 434 Kilometern Gleisen und 836 Weichen ist nach Angaben der Verkehrsbetriebe Berlins Straßenbahnnetz das drittgrößte der Welt. Allein 2024 gab es 84 Baumaßnahmen zur Instandhaltung der Gleisanlagen, wird im BVG-Mitarbeitermagazin »Profil« berichtet. Unter anderem sechs Kreuzungen und zehn Weichen sind repariert und 2,5 Kilometer Gleise getauscht worden. 79 Baustellen waren bereits im Dezember 2024 für 2025 geplant. Dabei ist noch nicht einmal das Pensum des gerade zu Ende gegangenen Jahres abgearbeitet. Eigentlich hätte bereits am 23. Dezember die Südumfahrung der Altstadt Köpenick fertig sein sollen. Ein neues zweites Gleis entlang der Müggelheimer Straße sollte einen durchgehenden Verkehr auf den Ästen vom Krankenhaus Köpenick Richtung Adlershof sowie von Wendenschloß nach Alt-Schmöckwitz möglich machen. Offiziell ist derzeit die Eröffnung für den 13. Januar angekündigt, intern ist inzwischen von einer weiteren Verschiebung auf den 27. Januar die Rede. Die Gleise und der neue Bahnsteig am zweiten Gleis sind fertig, aber beim Umbau der Oberleitung hakt es. Zunächst habe die Technische Aufsichtsbehörde sich mit einer Genehmigung sehr viel Zeit gelassen, berichtet ein Insider. Die BVG nennt offiziell Lieferschwierigkeiten für Elektrotechnik als Grund. Auch so etwas ist weiterhin an der Tagesordnung. »Da müssen wir noch eine deutliche Schippe drauflegen.« Die großen Bauarbeiten in der Altstadt Köpenick sollen im Februar starten und bis September 2027 dauern. In einer koordinierten Aktion erneuern die Wasserbetriebe ihr Rohrnetz, die BVG die Gleise, außerdem werden endlich barrierefreie Haltestellen gebaut. So eine abgestimmte Planung benötigt weit mehr Zeit als die tatsächlichen Arbeiten. »In der Altstadt Köpenick hat das sechs Jahre gedauert«, berichtet Stephan Natz von den Wasserbetrieben. Nicht nur die zwei Betriebe müssen ihre Bauabschnitte sinnvoll koordinieren und die Planungen rechtzeitig fertigstellen. Zahllose Stellen müssen vor allem ihre Genehmigung erteilen, besonders intensiv sind mehrere Abteilungen und Unterbehörden der Verkehrsverwaltung involviert. Nicht nur die Technische Aufsichtsbehörde ist als besonders restriktiv bekannt, auch die Abteilung VI der Senatsverwaltung, die einst als eigene Behörde Verkehrslenkung Berlin als Beispiel besonders dysfunktionalen hauptstädtischen Verwaltungshandelns immer wieder in den Schlagzeilen war. Die BVG bekam den festen Willen der Abteilung VI zum Beispiel im Oktober 2022 zu spüren, als sie eine bereits ausgehobene Grube für den Gleistausch in der Friedrichstraße wieder zuschütten musste. Die nötige verkehrsrechtliche Anordnung war verweigert worden. All das geschieht vor dem Hintergrund des eklatanten Personalmangels auf allen Seiten – ob Planerinnen und Planer bei der BVG oder beauftragte externe Büros oder Entscheiderinnen und Entscheider in den Behörden. Auch bei den Baufirmen klaffen große Lücken in der Personaldecke. Ausschreibungen, die jeweils mehrere Monate dauern, müssen oft wiederholt werden, weil sich kein Bewerber findet oder Mondpreise aufgerufen werden. Die Beantragung von Zuschüssen für eine Maßnahme bedeutet ein weiteres großes zeitliches Risiko. Und seit der Corona-Pandemie und dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine sind Lieferprobleme noch hinzugekommen. Die Gesamtlage erklärt vielleicht auch, warum die Wasserbetriebe das 97 Jahre alte Wasserrohr in der Seestraße nicht getauscht haben, während die BVG die Strecke wegen eigener Arbeiten sowieso gesperrt hatte. Erst kürzlich endete eine dreimonatige Sperrung der Strecke, 2020 war sie sogar fast ein halbes Jahr stillgelegt. Trotz der Misere soll das aufwendig gebaute zweite Gleis in Köpenick nach der Baustelle in der Altstadt wieder verschwinden, obwohl es dauerhaft sehr sinnvoll wäre. Ein kurioser, nicht mal 20 Meter langer eingleisiger Abschnitt am Ostende soll der Tatsache geschuldet sein, dass es Zweifel an der Tragfähigkeit der 1980 gebauten Frauentogbrücke gebe. Alkali-Kieselsäure-Reaktion, umgangssprachlich auch Betonkrebs genannt, so der Verdacht. Etwas weiter westlich lässt der erforderliche Neubau der Langen Brücke seit Langem auf sich warten. Vielleicht 2028 könnte er starten, vielleicht noch später. Solange die beiden Brückenfragen nicht geklärt sind, soll es keine dauerhafte Zweigleisigkeit geben. Einiges an Geld, Planungs- und Baukapazitäten wird derzeit auch weiter nordwestlich in eine Straßenbahnstrecke mit begrenzter Perspektive gesteckt. »Bis auf Weiteres« ist derzeit der Abschnitt zwischen Betriebshof und S- und U-Bahnhof Lichtenberg der Linien 21 und 37 gesperrt. Erneuert werden unter anderem Teile der großen Wendeschleife durch Fanninger- und Gudrunstraße. Dabei soll die Wendeschleife durch eine neue Endhaltestelle vor dem Zugang zur U5 und dem Bahnhof Lichtenberg in der Alten Frankfurter Allee ersetzt werden. Die Siegfriedstraße soll ein zweites Gleis erhalten und die Strecke an der Endhaltestelle stumpf enden. Über eine doppelte Kreuzungsweiche sollen die Bahnen das Richtungsgleis wechseln können. Doch das Projekt, das den Umstieg von der Straßenbahn zu U-, S- und Regionalbahn deutlich bequemer machen soll, zieht sich. Obwohl die BVG bereits 2022 in die Öffentlichkeitsbeteiligung ging, geht man laut Antwort der Pressestelle auf Anfrage von »nd« davon aus, dass die Planfeststellungsunterlagen erst »im Jahr 2026 finalisiert und eingereicht werden können«. Die Umsetzung des Vorhabens sei für 2028/29 vorgesehen, heißt es weiter. Es wird auch bestätigt, dass im Zuge der Arbeiten die gerade erneuerte »Gleisanlage in der Fanningerstraße, Gernotstraße und Gudrunstraße zurückgebaut wird«. Erstaunlich, dass dieser Aufwand nicht für die Bestandsstrecke der Linie 21 in der Boxhagener und Marktstraße in Friedrichshain und Rummelsburg betrieben werden soll. Der Gleiszustand der Strecke ist so schlecht, dass nach Angaben von Insidern spätestens im September oder Oktober dieses Jahres der Betrieb im Abschnitt eingestellt werden muss. Der Einbau einer provisorischen Bauweiche an der Haltestelle Wismarplatz werde inzwischen vorbereitet, heißt es weiter. Dabei ließe sich die Strecke laut Insidern mit überschaubarem Aufwand weiterbetreiben, wenn die schlimmsten Stellen mit preiswertem Rahmengleis erneuert würden – wie das gerade am Bahnhof Lichtenberg geschieht. In Friedrichshain kam es so weit, weil sich das Planfeststellungsverfahren für die geplante Verlegung des Abschnitts zum Bahnhof Ostkreuz durch Planungsfehler und massiven Widerstand vor Ort endlos zieht. Es sollte kein Geld mehr in die perspektivisch stillzulegende Altstrecke investiert werden. Die vielen Probleme sorgen dafür, dass die Instandhaltung des Bestandsnetzes immer weiter hinter dem Bedarf zurückhängt. BVG-Chef Henrik Falk räumte das kürzlich öffentlich in einer Anhörung im Mobilitätsausschuss des Abgeordnetenhauses ein. Flossen 2022 noch 41,8 Millionen Euro in Reparatur, Grund- und Teilsanierung des Tram-Netzes, waren es 2023 nur noch 34,8 Millionen Euro. »Da müssen wir noch eine deutliche Schippe drauflegen, damit wir nicht in einen Instandhaltungsrückstau laufen, der uns dann wehtut«, sagte Falk im Ausschuss.
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Nicolas Šustr
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Planungen dauern viel zu lange, Genehmigungen werden nicht erteilt, Anwohner*innen wehren sich und überall fehlt das Personal: Die Instandhaltung des Tramnetzes in Berlin kommt einfach nicht vorwärts.
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Bahnverkehr, Berlin, BVG, Treptow-Köpenick, Verkehrspolitik
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Hauptstadtregion
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Berlin Berliner ÖPNV
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2025-01-03T17:04:39+0100
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2025-01-03T17:04:39+0100
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2025-01-05T15:55:15+0100
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1187963.bvg-faellt-bei-sanierung-des-tramnetzes-weiter-zurueck.html
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Söder: Deutschland braucht Notfallapotheke
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Die Meldungen überschlugen sich auch am Dienstag angesichts der raschen Ausbreitung des Sars-Cov-2-Erregers: Anbieter wie Flixbus stellten den Busfernverkehr ein, der Deutsche Richterbund diskutiert über eine Änderung der Strafprozessordnung, damit Unterbrechungen von Gerichtsverfahren über erlaubte Fristen hinaus nicht dazu zwingen, jedes Mal ganz von vorn zu beginnen. Der CDU-Politiker Friedrich Merz ist auf das Coronavirus positiv getestet worden und muss in Quarantäne. Merz’ Parteikollege, Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, bat die Bevölkerung derweil um Geduld und Verständnis für Wartezeiten bei Info-Hotlines und Testergebnissen zum Coronavirus. In der vergangenen Woche habe es allein bei kassenärztlichen Laboren mehr als 100 000 Tests gegeben. Und bei der Service-Hotline der Kassenärzte unter der Nummer 116 117 seien über 400 000 Anrufe entgegengenommen worden. Bei einer Pressekonferenz mit dem bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) in München kündigte Spahn zugleich an, die Abhängigkeiten von anderen Ländern etwa bei Atemschutzmasken und Medikamenten künftig zu reduzieren. Er begrüßte, dass Bayern eigene Produktionskapazitäten schaffen wolle. Eine Lehre aus der jetzigen Lage nannte Söder dies: Es brauche eine »Notfallapotheke« mit einem Mindestbestand an medizinischen Einrichtungen und Materialien. Söder hatte am Vortag den Katastrophenfall für sein Bundesland ausgerufen; öffentliche Veranstaltungen und Versammlungen sind bis Mitte April untersagt. In Nordrhein-Westfalen, wo es die bisher höchste Coronavirus-Ausbreitung gibt, kündigte Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) an, Restaurants sollten anders als in anderen Bundesländern nicht am frühen Abend, sondern bereits um 15 Uhr schließen. Die Lage im bevölkerungsreichsten Land sei »nicht nur dynamisch, sondern dramatisch«. Laschet: »Es geht um Leben und Tod - so einfach ist das. Und so schlimm.« Die verschiedenen Regelungen in den Bundesländern schaffen zugleich Verunsicherung. Erbost meldete sich das Gastronomie- und Hotelgewerbe zu Wort und kritisierte, »das gegenwärtige Verordnungschaos« sei »völlig inakzeptabel«. Man akzeptiere angesichts der dramatischen Lage alle Anweisungen, aber unklar sei zum Beispiel, was für Cafés gelte und ob Geschäftsreisende nach 18 Uhr noch in Hotels bewirtet werden dürften. Optiker äußerten sich verunsichert, ob auch sie mit den verordneten Schließungen gemeint seien. Und während allerorten Hamstern angeprangert und als unnötig bezeichnet wird, warnt die Linke vor einer Aufweichung des Sonntagsarbeitsverbots im Zuge der Coronakrise. Aus Italien kam der dringende Hilferuf nach Schutzbekleidung und Atemmasken. Der Mangel werde durch Diebstähle verstärkt. Zehn Prozent der Infizierten im Land seien Ärzte, Pfleger und Krankenschwestern. Doch die EU scheitert derzeit an realer Solidarität über die regelmäßigen Geschlossenheitsbeteuerungen hinaus. Grenzschließungen - nun auch von Deutschland -, Personenkontrollen, Reise- oder Lieferverbote werden bisher einseitig verkündet, oft zum Ärger der Nachbarn. Am Freitag hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Leitlinien zu Grenzkontrollen für Montag angekündigt, am Wochenende verhängten mehrere Länder die Schließungen bereits. Vielerorts staut sich nun der Güterverkehr, eine gesonderte Fahrspur für Lastzüge soll nach den EU-Plänen dem abhelfen. Ministerpräsident Söder, der zu mehr Tempo bei der Coronabekämpfung aufrief, hat dies inzwischen als eigene Forderung verkündet. Immerhin: Ausschreibungen der EU für Großaufträge zur Herstellung von Schutzausrüstung soll nun den Mangel für alle Länder beheben. Die Frage ist nur, wann. Mit Agenturen
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Uwe Kalbe
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Die Politik versucht, mit dem Coronavirus Schritt zu halten. Das ist aussichtslos. In Deutschland und auch in der EU insgesamt.
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Armin Laschet, Bayern, CDU, Europäische Union, Jens Spahn
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Politik & Ökonomie
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Politik Corona
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1134431.soeder-deutschland-braucht-notfallapotheke.html
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Probesitzen in Hellersdorf
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Als Vorbereitung auf antifaschistische Proteste gegen einen Naziaufmarsch am 13. Februar 2010 in Dresden findet am Sonntag in Berlin eine Regionalkonferenz statt. Der lokale Ableger des bundesweiten Bündnisses »Dresden Nazifrei« lädt alle Interessierten ein, die sich in Dresden an Massenblockaden beteiligen wollen. »Wir möchten unser Aktions- und Blockadekonzept möglichst vielen Menschen transparent machen und offene Fragen klären«, erklärte Matthias Richter vom Vorbereitungskomitee gegenüber ND. Die Konferenz findet von 11 bis 17 Uhr in den Räumen der Alice Salomon Hochschule in Berlin-Hellersdorf statt. Die Teilnahme ist kostenlos. Für rechtliche Fragen stehe ein Anwalt zur Verfügung und zum Abschluss der Konferenz könnten sich die Anwesenden an einem Blockadetraining beteiligen. »Viele Leute fühlen sich einfach sicherer nach einem solchen Probesitzen«, erläutert Richter. Über mediale Aufmerksamkeit können die Antifaschisten seit Die... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
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Florian Osuch
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Nach Razzien gegen Bündnis »Dresden Nazifrei« reagieren linke Gruppen in Berlin offensiv
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Antifa, Berlin, Dresden, Nazis, Razzia
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Hauptstadtregion
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Brandenburg
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/163516.probesitzen-in-hellersdorf.html
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Verzögerung bei Tariftreuegesetz
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Das Bundestariftreuegesetz verzögert sich weiter. Ein entsprechender Entwurf soll nun doch erst »im Laufe des Sommers« in die Ressortabstimmung gehen, wie ein Sprecher des Bundeswirtschaftsministeriums auf »nd«-Anfrage mitteilte. Angekündigt war das Vorhaben eigentlich bereits für das Frühjahr. Mit dem Gesetz sollen Tarifverträge bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen des Bundes zur Bedingung gemacht werden. Damit will die Koalition die Tarifbindung in Deutschland stärken. Die befindet sich seit Jahrzehnten im Abwärtstrend. Laut Daten des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) zahlt nur noch ein Viertel der Unternehmen nach Tarif. Insbesondere im Osten ist die Zahl mit 18 Prozent gering. Ob die von der Regierung anvisierte Regelung daran in der Fläche etwas ändern wird, ist unklar. So ist im Koalitionsvertrag einschränkend vermerkt, dass mittelständische Interessen bei der Gesetzgebung besonders zu berücksichtigen sind. Gerade die weisen laut IAB-Zahlen eine geringe Tarifbindung auf: Lediglich die Hälfte der mittleren und nur ein Drittel der kleinen Unternehmen zahlen ihre Beschäftigten nach Tarif. Aufgrund der Verzögerung wird das Gesetz voraussichtlich nicht vor Herbst in das parlamentarische Verfahren eingebracht. Dort muss es noch in den entsprechenden Ausschüssen beraten und in drei Lesungen den Bundestag passieren, bevor es in Kraft treten kann. Die aktuelle Legislaturperiode geht bis Herbst 2025.
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Felix Sassmannshausen
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Das Bundestariftreuegesetz verzögert sich weiter. Ein entsprechender Entwurf soll nun doch erst im Laufe des Sommers in die Ressortabstimmung gehen. Angekündigt war das Vorhaben eigentlich bereits für das Frühjahr.
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Tarifpolitik
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Politik & Ökonomie
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Wirtschaft und Umwelt Vergaberecht
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2024-07-03T12:07:20+0200
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2024-07-03T12:07:20+0200
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2024-07-04T13:19:59+0200
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1183439.verzoegerung-bei-tariftreuegesetz.html
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Billig geht vor patientenfreundlich
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Die drei Buchstaben PTZ - eigentlich die Abkürzung für Partikeltherapiezentrum - stehen in Kiel inzwischen für einen millionenschweren Irrtum. Das im Frühjahr 2008 noch überschwänglich angekündigte PPP-Projekt (Public Private Partnership) ist zum peinlichen Flop geworden, das Gebäude wird bereits rückgebaut. Das das Projekt im Herbst 2011 platzte, fußt auf einem Rückzieher von Siemens Healthcare, die sich mit dem hochmodernen Nordeuropäischen Radioonkologischen Centrum Kiel in Zusammenarbeit mit dem Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH) bereits auf der Zielgeraden befunden hatte, sich aber dann für ein vergleichbares, nur offenbar billigeres Projekt in Schanghai entschied. Auch beim anvisierten PTZ an der von der Rhön-Gruppe privat betriebenen Marburger Uni-Klinik vollführte Siemens im Sommer 2011 aus betriebswirtschaftlichen Gründen unmittelbar vor Fertigstellung eine »Rolle rückwärts«. Man sei zu ambit... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
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Dieter Hanisch, Kiel
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Siemens hat mit seinem Finanzierungsrückzieher das Strahlentherapiezentrum in Kiel zum Aus verurteilt. Onkologen sind »entsetzt«.
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Krebs-Erkrankung, Therapie
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Politik & Ökonomie
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Wirtschaft und Umwelt
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/236160.billig-geht-vor-patientenfreundlich.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
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Wechsel an der Spitze der Polizeigewerkschaft
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Die Vorsitzende der Berliner Polizeigewerkschaft (GdP), Kerstin Philipp, gibt ihr Amt ab. Auf dem Landesdelegiertentag der GdP am 18. April werde sie nicht erneut kandidieren, teilte Philipp am Dienstag mit. Die vergangenen vier Jahre hätten ihr viel abverlangt, so Philipp laut GdP-Mitteilung. Nun seien erste Erfolge sichtbar. Genannt wurden unter anderem die angekündigten Investitionen in die Ausstattung der Polizisten sowie die Aussicht auf eine bessere Besoldung. Philipp ist auch stellvertretende Bundesvorsitzende der Polizeigewerkschaft. Für die Nachfolge in Berlin stehen laut Gewerkschaft zwei Kandidaten bereit. Es sind Steve Feldmann aus der Direktion 4 und Norbert Cioma aus dem Landeskriminalamt. Beide hätten unterschiedliche Vorstellungen, wie es mit dem Landesbezirk weitergehen soll. Beide setzten sich aber für bessere Arbeitsbedingungen ein. dpa/nd
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Redaktion nd-aktuell.de
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Berlin, GdP
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Hauptstadtregion
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Berlin
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1083778.wechsel-an-der-spitze-der-polizeigewerkschaft.html
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Wissenschaft im Umbruch
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Emsiges Getriebe auf dem Campus des Moskauer Instituts für Physik und Technologie (MIPT) in Dolgoprudny am Stadtrand der russischen Hauptstadt. Studenten diskutieren in Grüppchen oder hasten zu den Hörsälen und Labors in den Gebäuden ringsum. »Das Institut entstand 1946 und erhielt 1995 Universitätsstatus«, berichtet gegenüber »nd« Tagir Aushew, Vize-Rektor für wissenschaftliche Angelegenheiten und Strategie. Das MIPT gehöre neben den Staatlichen Universitäten von Moskau und St. Petersburg zu den führenden russischen Hochschulen. Unter den Absolventen und Professoren seien zehn Nobelpreisträger. Von Anfang an waren Physik und Mathematik die Hauptrichtungen für Studium und Forschung; später kamen Biologie, Chemie und Computerwissenschaft hinzu. Mehr als 6000 Studenten, davon etwa ein Zehntel aus dem Ausland, studieren hier. »Basis unserer Ausbildung ist das Phystech-System. Im ganzen Land werden hochtalentierte Schulabgänger ausgewählt,... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
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Hubert Thielicke
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Die geopolitischen Ambitionen Russlands machen sich auch in der Wissenschaft bemerkbar. Mehr als 25 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion will das Land wieder in die Weltspitze zurückkehren
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Forschung, Russland, Universität, Wissenschaft
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Feuilleton
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Wissen
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1041442.wissenschaft-im-umbruch.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
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DFB-Frauen im Glück
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Ohne triefenden Pathos kommt eine WM-Auslosung nicht mehr aus. Und so sprach mit Fatma Samoura die Generalsekretärin des Weltverbands Fifa aus, was inzwischen auch vor jedem Großereignis im Fußball der Frauen verkündet wird: dass die WM 2023 in Australien und Neuseeland (20. Juli bis 20. August) nicht nur die beste, sondern auch »die bunteste, spektakulärste und am besten besuchte aller Zeiten« werde. Das Attribut bunt trifft es zumindest aus deutscher Sicht ziemlich gut, denn mehr Vielfalt als eine Gruppe mit Marokko, Kolumbien und Südkorea hätte es kaum geben können. Eine viel leichtere Konstellation hätte der zweifache Weltmeister auch nicht erwischen können, um sich mitten im australischen Winter für die nächste Titelmission warmzuspielen. Drei Teams, die in ihren Konföderationen aus Afrika, Südamerika und Asien jeweils Vizemeister geworden sind – was vortrefflich zum Vize-Europameister Deutschland passt –, doch das oberste Level verkörpert kein Team. Entsprechend geschickt formulierte Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg nach der Zeremonie im Aotea Centre von Auckland: »Das ist eine Gruppe mit drei unbekannten Mannschaften. Es ist eine große Herausforderung für uns, die Gegner im Vorfeld gut zu analysieren.« Die Kontrahenten zu schlagen, sollte gemessen am eigenen Anspruch fast eine Selbstverständlichkeit sein. Erst im Achtelfinale wird es bei dem auf 32 Teilnehmer aufgeblähten Turnier richtig ernst, wenn vermutlich Frankreich oder Brasilien warten. Weltmeister USA könnte frühestens im Finale lauern. Für DFB-Kapitänin Alexandra Popp steht nach den Glückslosen fest: »Wir haben den Druck, als klarer Favorit Gruppenerster zu werden.« Mindestens das Halbfinale soll es schon werden, nachdem Popp und Co. bei der WM 2019 bereits im Viertelfinale strauchelten. Damals war die Bundestrainerin noch kein halbes Jahr im Amt, es hakte in Frankreich an verschiedenen Stellen. Nun sind die Voraussetzungen deutlich besser, wenn die WM für ihr Ensemble am 24. Juli 2023 in Melbourne gegen Marokko beginnt. »Wir haben noch nie gegen sie gespielt«, sagt Voss-Tecklenburg über den WM-Neuling. Danach geht es am 30. Juli in Sydney gegen den zweiten Außenseiter Kolumbien weiter, dem die Bundestrainerin pflichtschuldig »ganz viel Herzblut und Leidenschaft« bescheinigt. Das dritte Gruppenspiel steigt am 3. August in Brisbane gegen Südkorea, wo der im Westerwald beheimatete Colin Bell seit 2019 als Nationaltrainer arbeitet. Der gebürtige Engländer und frühere Profi des FSV Mainz 05 hat prägende Fußstapfen als Trainer beim 1. FFC Frankfurt hinterlassen, als er 2015 die Champions League gewann. Der 61-Jährige ist vom Fleiß, Lernwillen und Einsatz seiner Nationalspielerinnen tief beeindruckt. Gerade wegen Bell warnt Voss-Tecklenburg: »Südkorea ist eine sehr, sehr spielstarke Mannschaft, die einen feinen technischen Fußball spielt, mit einem ›deutschen‹ Trainer.« Die 54-Jährige weiß, dass die Gruppenphase nur bedingt als Gradmesser taugt. Von Vorteil muss das nicht sein, denn bei der EM in England kam es sehr gelegen, gleich gegen Dänemark (4:0) und danach gegen Spanien (2:0) voll gefordert zu werden. Fast unmöglich scheint es, dass die EM-Heldinnen erneut ein Millionenpublikum am Fernseher in der Heimat mitnehmen. Die deutschen Spiele laufen wegen der Zeitverschiebung wohl am frühen Morgen; die genauen Anstoßzeiten werden erst noch festgelegt. Wichtigste deutsche Aufgabe ist zunächst, ein Basecamp in Australien zu suchen. Das deutsche Team wird definitiv keinen Abstecher nach Neuseeland unternehmen müssen bei einer Veranstaltung der weiten Wege, die unter Gesichtspunkten der Nachhaltigkeit suboptimal ausgestaltet ist. Voss-Tecklenburg wird sich jetzt bei einer einwöchigen Inspektionsreise in Down Under selbst ein Bild von Unterbringungsmöglichkeiten und Trainingsplätzen machen. Gegen Melbourne, wo auch das Achtelfinale des Gruppensiegers stattfindet, spricht das wechselhafte Wetter, denn hier gilt die Redewendung »Four seasons in a day« – vier Jahreszeiten an einem Tag. Wenn die DFB-Delegation das Turnier von hinten plant, käme eher Sydney infrage. In der Hauptstadt werden Halbfinale und Finale ausgetragen – und Sehnsuchtsort ist ja das Stadium Australia, wo im besten Falle jener finale Schritt gelingt, der in Wembley beim verlorenen Finale der EM gegen die Engländerinnen noch verpasst wurde.
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Frank Hellmann
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Bei der WM 2023 in Neuseeland und Australien soll es für die deutschen Fußballerinnen mindestens bis ins Halbfinale gehen. In der Vorrunde warten aber erst mal unbekannte Gegnerinnen.
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Australien, DFB, England, Fußball, Kolumbien, Neuseeland, Südkorea, Westsahara
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Sport
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Sport Fußball der Frauen
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2022-10-23T17:30:50+0200
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2022-10-23T17:30:50+0200
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2023-01-20T17:09:47+0100
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1167939.dfb-frauen-im-glueck.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
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Bayern und Tschechien kooperieren bei Rettungsdienst enger
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Karlovy Vary. Bayern und Tschechien rücken beim Rettungsdienst enger zusammen. »Das ist ein Meilenstein einer optimalen und professionellen Organisation des Rettungsdienstes im Grenzraum«, sagte Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) am Montag bei der Unterzeichnung einer Kooperationsvereinbarung in Karlovy Vary. Darin verpflichten sich der Freistaat und die drei tschechischen Bezirke Karlovy Vary, Plzeň und Südböhmen zum grenzüberschreitenden Rettungsdienst. Nur durch organisiertes Management könnten Zeit gewonnen und Leben gerettet werden, erläuterte Herrmann. Der gut vorbereitete und durchdachte Einsatz vom Notruf bis zur Ankunft im Krankenhaus sei auch deshalb so wichtig, weil gerade in der Versorgung der Patienten vor der Fahrt in die Klinik maßgebliche Weichen für die weitere Behandlung und die Heilung gestellt würden. Die Vereinbarung enthält Vorgaben für die Koordinierung grenzüberschreitender Rettungsdiensteinsätze, etwa die Alarmierung der Einsatzkräfte und die Durchführung des Einsatzes bis zur Aufnahme in eine geeignete Klinik. dpa/nd
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Redaktion nd-aktuell.de
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Bayern, Krankenhaus, Tschechien
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Politik & Ökonomie
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Politik
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1027555.bayern-und-tschechien-kooperieren-bei-rettungsdienst-enger.html
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Befreiung von der Last ... des Positiven
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Alexander Lang inszeniert Büchners »Leonce und Lena« mit Studenten der Berliner Ernst-Busch-Schauspielschule. Eine Probe am BAT. Hier wird die Komödie der Selbsterkenntnis inszeniert. Wer bin ich in dieser Ödnis von Welt? Ein Spiel mit der Schlange der Erkenntnis: Verzaubere du sie, bevor sie dich verzaubert! Büchner blickt auf die Geschichte, und die Geschichte blickt zurück. Lang inszeniert den Zusammenprall. »Ich«, das ist nun immer jene Grauzone des Übergangs von einem ins andere. Ein Ort der Verwandlung vom Außen ins Innen und umgekehrt, aber vorerst nur von simplen Missverständnissen, Zufällen und Verwechslungen bestimmt. Die Ich-Werdung bei Büchner, so wie Lang sie versteht: ein bitterböses Märchen, so lachhaft grausam, dass man sich fragt, worin hier denn die Bezauberung liegt. Dass man sich in diesem Traum verlaufen kann wie in einem dunklen Wald? Der Traum verklärt, aber der Traum vernichtet auch. Wir sind schon mitte... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
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Gunnar Decker
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Berliner Ensemble, DDR, Schauspieler
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Feuilleton
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Kultur
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/207486.befreiung-von-der-last-des-positiven.html
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Vorwurf der unerlaubten Wahlwerbung
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Haben zwei SPD-Minister in Schleswig-Holstein mit Briefen unerlaubte Wahlwerbung betrieben? Der Wissenschaftliche Dienst des Kieler Landtages sieht Anzeichen dafür. Nun wird es eine Prüfung der Vorwürfe vor dem Landesverfassungsgericht geben. Ein von der CDU beantragter Missbilligungsantrag scheiterte am Mittwoch aber an der Koalitionsmehrheit. Vor einem Wahltermin herrscht ein Mäßigungsgebot, was Mitteilungen von Regierungen angeht, wenn es um Aussagen zugunsten von Parteien oder Koalitionen geht. Dazu hat das Bundesverfassungsgericht bereits 1977 festgelegt, dass die zulässige Öffentlichkeitsarbeit von Regierungsseite da an ihre Grenze stößt, wo die Wahlwerbung beginnt. Eine Konkretisierung wird nun wohl das Landesverfassungsgericht in Schleswig liefern, welches die CDU mit einer Normenkontrollklage anrufen will, der sich die FDP eigenen Angaben zufolge anschließt. Die Oppositionsparteien stören sich an einer von Schulministerin Britta... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
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Dieter Hanisch
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SPD in Schleswig-Holstein sieht den Vorgang gelassen
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CDU, FDP, Schleswig-Holstein, Sozialdemokratie, SPD, Wissenschaft
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Politik & Ökonomie
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Politik
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Berlin geht gegen Zensus 2011 vor
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Berlin. Berlin wird zusammen mit Hamburg und weiteren deutschen Kommunen gegen den Zensus 2011 klagen. »Wir bereiten die Klage vor. Doch die Absprachen sind noch nicht so weit gediehen, dass wir die Klage schon einreichen können«, sagte Berlins Senatssprecher Richard Meng der Nachrichtenagentur dpa. Dazu bestehe auch Kontakt zu rund 100 Kommunen, die ebenfalls planten, sich gegen die Ergebnisse der jüngsten Volkszählung juristisch zur Wehr zu setzen, sagte Meng.
Der Zensus 2011 hatte die Hauptstadt vor einem Jahr kalt erwischt. Bei der Veröffentlichung der Ergebnisse am 31. Mai 2013 stellten die Statistiker fest, dass in Berlin mit knapp 3,3 Millionen rund 180 000... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
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Redaktion nd-aktuell.de
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Vor einem Jahr erhielt Berlin die Hiobsbotschaft: Laut jüngster Volkszählung lebten 180 000 Menschen weniger in der Hauptstadt als angenommen. Die finanziellen Folgen waren bitter. Nun wehrt sich das Land juristisch.
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Berlin, Hamburg, Klagen, Länderfinanzausgleich, Volkszählung
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Hauptstadtregion
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Berlin
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Wichtiger Eckpfeiler für die Energiewende
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Die Frage, ob es die Energiewende ohne Offshore-Windkraft geben kann, ist ganz klar mit nein zu beantworten. Denn die Offshore-Windenergie auf See (Offshore) wird genauso wie die Windenergie an Land (Onshore) ein wichtiger Eckpfeiler der Energiewende sein. Die Energiewende hat zum Ziel, den Anteil der erneuerbaren Energien bis zum Jahre 2050 auf 80 Prozent zu erhöhen, derzeit liegt der Anteil bei etwa 25 Prozent. Somit werden nicht nur die restlichen Atomkraftwerke bis zum Jahre 2020 abgeschaltet, auch der Anteil von Kohlekraftwerken wird in den kommenden Jahrzehnten kontinuierlich zurückgehen müssen. Wenn die Energiewende ernst gemeint ist und der Anteil der erneuerbaren Energien auf 80 Prozent steigen soll, kann dies nicht ohne Offshore Windenergie gelingen. Dabei sollte man die eine Form nicht gegen andere Formen der erneuerbaren Energien ausspielen. Neben Photovoltaikanlagen, Wind- und Wasseranlagen werden ebenso dezentrale Kraf... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
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Claudia Kemfert
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Energiepolitik, Energiewende, Stromnetz, Windenergie
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Meinung
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Kommentare
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Karlsruhe kippt Mietendeckel
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Aus für den Berliner Mietendeckel: Das Bundesverfassungsgericht hat das 2020 in zwei Stufen in Kraft getretene Landesgesetz gekippt. Das geht aus dem Urteil hervor, das »nd« vorliegt und am Donnerstag veröffentlicht wurde. In einer Mitteilung des Gerichts heißt es, dass Berliner Gesetz zur Mietbegrenzung im Wohnungswesen sei »mit dem Grundgesetz unvereinbar und deshalb nichtig erklärt« worden. Das Gericht entschied über eine Normenkontrollklage, die 284 Abgeordneten der Bundestagsfraktionen von CDU/CSU und der FDP gemeinsam eingereicht hatten. Im Kern ging es bei der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes um die Frage, ob Berlin überhaupt dazu befugt ist, Gesetze zu erlassen, die die Miethöhe regeln. Das Mietrecht falle in die Gesetzgebungskompetenz des Bundes und sei dort abschließend geregelt, argumentierten die Kläger. Durch Berlins Alleingang sei die »Einheit der Rechtsordnung« gefährdet. Damit sei das Gebot der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung in Gefahr. Dieser Linie folgte das Bundesverfassungsgericht. Der Bundesgesetzgeber habe das Mietpreisrecht abschließend geregelt, weswegen die Länder hier keine Gesetzgebungsbefugnis hätten, argumentierten die Richter*innen. Die Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen war vor der Entscheidung davon ausgegangen, dass Mieter in diesem Fall wieder die eigentliche, höhere Miete zahlen müssen. Für den Fall, dass das rückwirkend gilt, hatte sie Mieterinnen und Mietern bereits empfohlen, das gesparte Geld vorerst zurückzulegen. Unter Umständen sei die Differenz für die gesamte Vertragslaufzeit nachzuzahlen. Die rot-rot-grüne Landesregierung hatte zum 23. Februar 2020 die Mieten für rund 1,5 Millionen Wohnungen eingefroren, auf dem Stand von Juni 2019. Das betrifft neun von zehn Mietwohnungen. Ab 2022 sollten Vermieter zumindest die Inflation ausgleichen dürfen. Für den Fall, dass die Mieter wechseln, sah das Mietendeckel-Gesetz vor, dass es bei der alten Miete bleibt oder Obergrenzen greifen. Mieten, die um mehr als 20 Prozent über der für die Wohnung geltenden Obergrenze liegen, galten als zu hoch. Seit dem 23. November waren betroffene Vermieter gesetzlich verpflichtet, sie abzusenken. Bei Verstößen drohte ein Bußgeld von bis zu 500 000 Euro. Der Mietendeckel galt nicht für neue Wohnungen, die seit 2014 fertig wurden. Die Regelung war auf fünf Jahre befristet, also bis 2025. Der Berliner Bausenator Sebastian Scheel (Linke) kündigte an, der Senat werde am Dienstag über Konsequenzen beraten. Es gehe nun darum, »sozial verträgliche Lösungen für Mieterinnen und Mieter zu entwickeln«. Die grüne Fraktionsvorsitzende im Berliner Abgeordnetenhaus, Antje Kapek, teilte mit: »Wir bedauern den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts sehr und werden ihn eingehend prüfen.« Sie forderte den Bund auf, es den Ländern gesetzlich zu ermöglichen, Mietendeckeleinzuführen. Sören Bartol, der stellvertretende Chef der SPD-Bundestagsfraktion, sprach von einem »schwarzen Tag« für die Berliner Mieterinnen und Mieter. Er forderte, das Bundesrecht »um einen verfassungsgemäßen Mietenstopp in angespannten Wohnungsmärkten« zu ergänzen. Auch SPD-Vize Kevin Kühnert einen bundesweiten Mietendeckel, damit Mieten in angespannten Wohnungsmärkten rechtssicher gesenkt werden könnten. »Bei der Bundestagswahl am 26. September macht die SPD den Mieterinnen und Mietern ein klares Angebot: In der nächsten Bundesregierung wollen wir einen Mietenstopp in allen angespannten Wohnlagen durchsetzen.« Das Kippen des Berliner Mietendeckelssei »eine verlorene Schlacht, aber der Kampf gegen explodierende Mieten ist dadurch noch lange nicht entschieden«, so Kühnert. SPD-Chefin Saskia Esken sagte den Zeitungen der Funke Mediengruppe, ihre Partei werde sich für Erhalt und Entstehung von bezahlbarem Wohnraum einsetzen. »Die Menschen, die unser Leben am Laufen halten, die Kranke pflegen, für Sicherheit sorgen, unsere Briefe austragen, an der Kasse im Supermarkt sitzen, unsere Kinder unterrichten oder löschen, wenn es brennt, die müssen es sich auch in Zukunft leisten können, in den Städten zu wohnen, wo sie arbeiten.« Der Linken-Politiker Victor Perli kommentierte das Urteil als eine große Niederlage »für alle Mieterinnen und Mieter bundesweit«. Alle Umfragen hätten gezeigt, dass eine große Mehrheit für die Regulierung der Mietpreise sei. Der Mietenexperte und Sozialwissenschaftler Andrej Holm betonte, eine rechtliche Klärung in Karlsruhe sei keine Problemlösung. Die Wohnungsfrage bleibe weiter dringlich. Die Politik sei nun gefordert, Mieter*innen vor Nachzahlungen zu schützen, einen Mietenstopp im Bund durchzusetzen und öffentliche Bestände auszubauen. Der Präsident des Deutschen Mieterbunds, Lukas Siebenkotten, bezeichnete die Entscheidung als »bitter«. Sie sei ein »lauter Weckruf an den Bundesgesetzgeber, endlich zu handeln und die Mietenexplosion in vielen deutschen Städten zu stoppen«. Der Deutsche Mieterbund forderte einen bundesweiten sechsjährigen Mietenstopp. Eine wirksame Mietenbegrenzung auf Bundesebene sei überfällig, erklärte der Verein. Verschiedene linke Gruppen rufen zu Demonstrationen auf, beispielsweise am Donnerstagabend um 18:00 auf dem Hermannplatz in Berlin. Der Mietendeckel war auch ein zentrales Projekt der Mieter*innenbewegung. fhi/nd Lesen Sie auch: Mietenstopp für das ganze Land. Martin Kröger fordert, dass Mieten über Berlin hinaus reguliert werden
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Redaktion nd-aktuell.de
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Eine große Niederlage für Mieterinnen und Mieter bundesweit: Das Bundesverfassungsgericht erklärt den Berliner Mietendeckel für nichtig. Eine Lösung für die drängende Wohnungsfrage ist das nicht.
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Berlin, Karlsruhe, Mieten, Mietendeckel
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Politik & Ökonomie
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Politik Mietendeckel
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2021-04-15T09:19:04+0200
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2021-04-15T09:19:04+0200
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2023-01-20T23:04:42+0100
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1150796.karlsruhe-kippt-mietendeckel.html
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Schöner Muskelkater
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Ihre Krankengeschichte füllt Bücher: Patellasehnen-, Kreuzband- und Achillessehnenrisse prägten ihre Karriere - und im Dezember 2010 wurde Ilke Wyludda gar der rechte Unterschenkel amputiert. Jetzt strebt die Diskusolympiasiegerin von Atlanta 1996 eine Teilnahme an den Paralympics in London an. Die 42-jährige Hallenserin schwitzt wieder bei ihrem langjährigen Trainer Gerhard Böttcher. »Ich habe praktisch bei Null begonnen. Derzeit absolviere ich 80 Prozent meines damaligen Trainingsprogramms«, sagt Wyludda. Es wäre nach 1992, 1996 und 2000 ihr vierter Start unter den olympischen Ringen. »Meine Leben stand auf dem Spiel. Mir blieb damals keine andere Wahl«, sagt Wyludda über die Amputation. Das Bein musste ihr nach einer hartnäckigen Entzündung abgenommen werden, doch mit einer Prothese fühlt sich die zweifache Europameisterin wieder einigermaßen beweglich. »Meine neue persönliche Situation hat mich zur Rückkehr zum Sport bewegt. Ich habe gemerkt, dass ich wieder etwas für mich tun muss, um mich körperlich in einen besseren Zustand zu bringen.« Nach zehn Jahren nahm Wyludda wieder Diskus und Kugel in die Hand. »Es war ein tolles Gefühl, endlich wieder einen Muskelkater zu haben«, erinnert sich die gebürtige Leipzigerin. Bei der WM der Rollstuhlfahrer und Amputierten Anfang Dezember 2011 in Dubai gewann sie Silber mit dem Diskus (20,69 Meter) und Bronze mit der Kugel (6,90 Meter). »Die Weiten waren grottenschlecht. Da habe ich noch sehr viel Luft nach oben.« Nach der Operation hat Wyludda ihr Leben völlig umstellen müssen. Ihre Wohnung wurde ebenso behindertengerecht umgebaut wie ihr Auto. »Ganz wichtig für mich ist, dass ich mobil bin. Anfangs war es eine große Umstellung, mit dem linken Fuß Gas zu geben«, so die Assistenzärztin. Sie lässt sich gerade zur Fachmedizinerin für Anästhesie weiterbilden, ihr Tag beginnt in der Regel um 4.30 Uhr. »Ich müsste nicht unbedingt arbeiten gehen, ich will es aber. Morgens brauche ich jetzt anderthalb Stunden, um in die Gänge zu kommen.« Von 7 bis 16 Uhr ist sie in einer Hallenser Klinik beschäftigt und fühlt sich dort sehr gut aufgehoben. »Mein Arbeitgeber weiß, was es bedeutet, nach einer schweren Verletzung wieder Höchstleistung bringen zu wollen. Außerdem kann ich mich auch sehr gut in die Lage der Patienten hineinversetzen.« Vier- bis fünfmal in der Woche schindet sich Wyludda, um ihren Traum von London zu verwirklichen, obwohl sie noch keinen Kaderstatus genießt und Fördermaßnahmen damit wegfallen. »Ich muss mich steigern, den Diskus auf knapp 30 Meter schleudern und die Kugel auf neun Meter stoßen, um eine Chance auf das Ticket für die Paralympics zu haben«, schätzt Wyludda. Die Plätze für London werden Mitte Juni bei den Titelkämpfen in Berlin vergeben. Es wäre kein Wunder, wenn Wyludda mit ihrer enormen Willenskraft den Weg nach London schafft.
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Finn Müller, dpa
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Ilke Wyludda war einmal die beste Diskuswerferin der Welt. Nachdem der Medizinerin ein Unterschenkel abgenommen werden musste, kämpft sie sich jetzt in den Sport zurück.
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Leichtathletik, Paralympics
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Sport
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Sport
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/215393.schoener-muskelkater.html
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Solidarisch nur mit der Basis
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Im Grundsatz ist es einfach: Linke Solidarität gebührt frei nach dem Vordenker der Entkolonialisierung Frantz Fanon den Verdammten dieser Erde, ob in Deutschland oder Venezuela, ob im Mittelmeer oder an der US-mexikanischen Grenze. Solidarität gebührt den schlecht Regierten, die Regierenden brauchen keine Solidarität, sie brauchen nicht zuletzt konstruktive Kritik, die ihre Defizite benennt. Vor allem aber brauchen Regierungen die Unterstützung ihrer eigenen Bevölkerung und diese insbesondere in Form von Druck von unten. Der Slogan »Un pueblo unido jamás será vencido« kommt nicht von ungefähr aus Lateinamerika: Ein einiges Volk kann niemals besiegt werden. Venezuela ist fern davon. Lesen Sie auch eine zweite Position zu Venezuela von Christian Klemm: »Maduro die Daumen drücken«. Dass die USA seit der Monroe-Doktrin 1823 den Subkontinent als ihren Hinterhof behandeln, ist allseits bekannt und durch viele historischen Erfahrungen belegt bis hin zur von Washington eingestandenen Verwicklung in den Putsch 2009 in Honduras. Die USA schlafen nie. Eben weil die Monroe-Doktrin eine Konstante US-amerikanischer Politik ist, muss sie jede lateinamerikanische Linksregierung in ihre eigene Strategie einfließen lassen – als zu überwindendes Hindernis. Die mehr als berechtigte Kritik an der US-Außenpolitik ist richtig, aber sie liefert keine überzeugende Antwort. Die bleibt die Regierung Maduro seit Amtsantritt 2013 schuldig. Schon damals war klar, was Venezuela dringend bedurfte: eines Strukturwandels, der mit der Beschneidung der Pfründen der bolivarischen Bourgeoisie anfangen müsste. Die Bolibourgeoisie labt sich an und fährt Hummer, die venezolanischen Massen müssen froh sein, wenn es zu einer Mahlzeit am Tag reicht. Fast 100 Prozent der von den UN befragten venezolanischen Migranten geben als Fluchtgrund die wirtschaftliche Krise an. Allein 1,6 Millionen haben sich seit 2015 auf den Weg gemacht, weil sich die Wirtschafts- und Versorgungskrise dramatisch zugespitzt hat. Wer mit Maduro in das Klagelied einstimmt, »Die Medien auf der ganzen Welt haben sich gegen Venezuela verschworen und behaupten, es gebe eine humanitäre Krise«, übt keine Solidarität mit Venezuelas Bevölkerung, sondern macht sich über deren Darben lustig. Vollkommen unbenommen ist, dass von den USA und der venezolanischen Rechten nichts für die Armen zu erwarten ist. Das macht die Lage umso trostloser.
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Martin Ling
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In Venezuela hat das Militär geputscht, das Land steckt in einer Wirtschaftskrise. Das stellt auch Linke in Deutschland vor die Frage: Wie umgehen mit der Regierung in Caracas? Martin Ling gibt eine eindeutige Antwort.
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Hugo Chavez, Imperialismus, Nicolás Maduro, USA, Venezuela
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Meinung
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Kommentare Venezuela
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CDU und FDP reißen Brandmauer weiter ein: Erst der Anfang?
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»Merz’ Brandmauer ist Geschichte«, beteuerte Alice Weidel am Donnerstag mit Stolz. Thüringen sei erst der Anfang. So gruselig ehrlich die Ansage der AfD-Chefin klingt – von einem Anfang kann hier wirklich nicht die Rede sein. Indem sie sich von der als rechtsextrem eingestuften Thüringer AfD-Fraktion zum Erfolg verhelfen ließen, führen CDU und auch FDP nur das weiter, was sie in den vergangenen Monaten perfektioniert haben: In Minischrittchen bauen sie die politische und auch die inhaltliche Brandmauer nach rechts ab. Immer gerade so viel oder wenig, dass es ihnen danach schnell noch mal gelingt, sich aus den Vorwürfen rauszureden. Erst im Juli sagte Unionschef Friedrich Merz, man müsse ein gemeinsames Vorgehen mit der AfD auf kommunaler Ebene in Erwägung ziehen. Nur um kurz darauf zu versichern, die CDU werde nicht mit der Partei zusammenarbeiten. Und auch die FDP bedient sich immer häufiger und ganz bewusst rechter, ausländerfeindlicher Narrative. Auch auf Bundesebene, obwohl man sich dort eigentlich von den Thüringer Kollegen abgrenzen will. Erst am Freitag sagte FDP-Chef Christian Lindner etwa, »ungesteuerte Migration stelle eine Gefahr für Deutschland dar.« Natürlich wurden auch für den Thüringer Vorfall schnell wieder Ausreden gefunden. Die CDU wolle ihr Verhalten eben nicht von der AfD abhängig machen, so Voigt. Doch wer Stimmen von rechts braucht, um politische Erfolge zu erzielen und diese nutzt, statt sie bei demokratischen Parteien zu suchen, ist genau das: abhängig. Damit überreichen CDU und FDP der Rechtsaußen-Partei nicht nur ganz direkt politische Macht. Viel mehr noch – sie normalisieren und festigen so die Präsenz und die Stimme Rechtsextremer in demokratischen Institutionen, die dort eigentlich gar nicht erst hingehören. Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.
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Pauline Jäckels
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Indem sich CDU und FDP von der als rechtsextrem eingestuften Thüringer AfD-Fraktion zum Erfolg verhelfen ließen, führen sie nur das weiter, was sie in den vergangenen Monaten perfektioniert haben.
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AfD, Alice Weidel, CDU, Christian Lindner, Einwanderung, FDP, Rechtsradikalismus, Thüringen
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Meinung
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Kommentare Thüringen
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2023-09-15T17:05:42+0200
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2023-09-15T17:05:42+0200
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2023-09-15T19:25:18+0200
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1176330.thueringen-cdu-und-fdp-reissen-brandmauer-weiter-ein-erst-der-anfang.html
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Sportiver Marathon
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Die Idee liegt nahe. Stars in der Rhythmischen Sportgymnastik starten frühzeitig und beenden ihre Karriere, wenn sie entweder auf keine weiteren Medaillen mehr hoffen dürfen oder der Körper nicht mehr mitspielt. Zum »alten Eisen« gehören sie dann längst noch nicht. In Italien formierte sich deshalb vor fünf Jahren ein halbes Dutzend weiblicher Olympia-Kader und internationaler Medaillengewinnerinnen zur Show-Formation »Rhyth.mix«. Und fand in Barbara Cardinetti eine Regisseurin und Choreografin, die es in der Rhythmischen Sportgymnastik bis zur Meisterin in Italien brachte, danach eine Tanzausbildung an der Alvin Ailey School New York anschloss und mit zahlreichen Compagnien tourte. Beide Sparten, Sportgymnastik und Tanz, sind ihr vertraut, beide will sie in den Programmen für »Rhyth.mix« vereinen. Erstmals zeigt sich die Gruppe jetzt mit ihrem Gastspiel im Tipi dem deutschen Publikum. Mit gut 20 Nummern eilt die Show durch den Abend, lässt im Saal wie auf der Bühne kaum Zeit zum Luft holen. Was die Frauen, alle hochgewachsen und gertenschlank, zuvörderst präsentieren, sind jene spektakulären Elemente, mit denen sie bei den Wettbewerben Punkte gesammelt haben. Besonders im ersten Teil werten Video-Chichi und farbiges Licht die staunenswerten Dehnungen bis zum Überspagat, das Spiel mit Requisiten wie Reifen, Keulen, Bällen und Bändern auf.
Was die Mädchen können, steht außer jedem Zweifel. Dennoch sind die Turnmatte und die Showbühne zwei verschiedene Böden. Optische Garnierung allein reicht im Varieté eben nicht aus: Gefragt sind hier poetische und fantastische Einfälle. Über die enorme Biegsamkeit der Körper, ihre katzenhafte Geschmeidigkeit, die extrem hoch geworfenen Beine hinaus würde man gern etwas über die Personen hinter all der bestechenden Leistung, die Besonderheiten jeder Gymnastin erfahren. Nur auf die sportlichen Tricks geworfen, laufen sie bei aller Perfektion Gefahr, zum bloßen turnerischen Spreiz- und Winkelement reduziert zu werden.
Freier wirkten Athletinnen und Choreografie im Teil nach der Pause. Verfangensein in Seilen; Verhüllte, die im letzten Moment ihre Behinderung abstreifen; durchaus auch der Sprung durch einen Reifen als artistisches Bonbon weisen den richtigen Weg. Wenn die Mädchen im knappen Silberbikini vor einer Wand mit rasant wechselnder Projektion sexy wie Gogogirls posieren und endlich weniger schuften müssen, wenn sie durch die Spalten einer Stoffbespannung Hände, Füße und Köpfe tanzen lassen, bedienen sie Show-Erwartungen und zeigen sich als das, was sie auch sind: bezaubernde junge Mädchen mit Spaß, Schalk und Strahlkraft.
Bis 21.4., Tipi am Kanzleramt, Große Querallee, Tiergarten, Tickettelefon: (030) 390 66 55 0
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Volkmar Draeger
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»Rhyth.mix« im Tipi
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Bühne, Theater
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Hauptstadtregion
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Brandenburg
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/818341.sportiver-marathon.html
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Langzeitstudie zum Grundeinkommen
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Entscheidungen sind stark von äußeren Faktoren bestimmt. Davon ist Susann Fiedler, die am Max-Planck-Institut forscht, überzeugt. Sobald man unter Druck stehe, etwa durch fehlende Mittel oder Zukunftssorgen führe dies zum Verlust von wichtigen kognitiven Ressourcen, sagte sie am Dienstag anlässlich der Vorstellung einer Langzeitstudie zum bedingungslosen Grundeinkommen (BGE). »Unter Druck besinnen sich Menschen eher auf Bekanntes und suchen weniger nach neuen Informationen. Sie umgeben sich dann eher mit Leuten, die ihnen gleichen«, so Fiedler. Das BGE könnte dazu führen, dass Menschen den Kopf frei hätten, um sozialer zu sein. »Was die Leute tatsächlich machen, werden wir sehen.« Das Pilotprojekt wird vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und dem Verein Mein Grundeinkommen initiiert. Ab dem Frühjahr 2021 erhalten 120 Menschen drei Jahre lang ein bedingungsloses Einkommen von monatlich 1200 Euro. Ausgewählt werden die Teilnehmenden aus bis zu einer Million Bewerber*innen, die sich seit Dienstag bewerben können. Die Studie wird nicht staatlich, sondern ausschließlich über Spenden finanziert. »Als Forschende werden wir bemüht sein, dass Vertrauen und Engagement aus der Zivilgesellschaft in wissenschaftliche Erkenntnis zu transformieren«, sagte Jürgen Schupp vom DIW. Neben dem DIW werden auch Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts und der Kölner Universität die Studie auswerten. Bisher werde die Idee eines BGE vor allem ideologisch diskutiert, so Schupp. Die Studie soll jetzt zeigen, wie sich das Empfinden und Verhalten von Menschen durch das bedingungslose Geld verändert. Welche Auswirkungen das Grundeinkommen auf Preisveränderungen bei den Löhnen oder beispielsweise bei Mieten und Lebensmittel hat, kann mit dem Projekt jedoch nicht untersucht werden. Es gibt weltweit zwar Studien zu dem Thema, deren Erkenntnisse sind laut Schupp aber begrenzt: »Sie sind entweder veraltet, nicht verallgemeinerbar oder untersuchen das Grundeinkommen nur für Erwerbslose.« Es gibt zig unterschiedliche Modelle für die konkrete Gestaltung von einem Grundeinkommen und dessen Finanzierung. Auf der Website des Vereins Mein Grundeinkommen wird erklärt, dass es sich dabei vor allem um eine Steuerreform handeln würde. Je nach BGE-Modell hätten Menschen mit geringen Einkommen mehr Geld zur Verfügung, die »Mittelschicht« etwa gleich viel und die Reichsten etwas weniger als vorher. Im Gegensatz zu Hartz IV, das zu »Demotivation, Existenzangst und Misstrauen« führe, würde ein bedingungsloses Grundeinkommen für Vertrauen, Sicherheit und Handlungsspielräume sorgen. Bisher hat der Verein regelmäßig insgesamt über 650 temporäre Grundeinkommen verlost. Befragungen der Gewinner*innen hätte gezeigt, dass sie während der Zahlungen gesünder und sozialer gelebt hatten, mutiger waren und sich keine Sorgen mehr über ihre finanzielle Lage gemacht hatten. Für eine funktionierende Gesellschaft sei es nicht nur wichtig, dass produktiv gearbeitet werde, sondern »auch das der Einzelne hier zufrieden ist. Dass er vielleicht keine Depression hat«, stellte Fiedler fest. Kritiker glauben hingegen, bei einem Grundeinkommen für alle würden Menschen weniger arbeiten, wären demotiviert und dadurch letztlich auch unglücklicher. Auch in der Linkspartei wird seit Jahren über das BGE gestritten. Kritiker befürchten etwa, ein BGE würde gewerkschaftliche Kämpfe schwächen. So hat sich der Parteivorstand erst im Juni gegen ein BGE ausgesprochen, während Co-Parteichefin Katja Kipping sich immer wieder dafür einsetzt. »Die Corona-Pandemie hat vielen bewusst gemacht, wie wichtig starke Sozialsysteme und eine wirklich universelle Grundsicherung für die gesamte Gesellschaft sind«, sagte wiederum Marcel Fratscher, Präsident des DIW. Zudem stießen die gegenwärtigen sozialen Sicherungssysteme an ihre Grenzen. Die Ergebnisse der Studie würden ein differenziertes Bild über die Wirkungen eines BGE möglich machen. »Es ist Zeit zum Hinterfragen und zum Experimentieren, um neue Lösungen für die großen Fragen unserer Zeit zu finden.« Kommentar
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Lisa Ecke
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Was ein bedingungsloses Einkommen mit Menschen macht, wird jetzt erstmals genau untersucht.
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Bedingungsloses Grundeinkommen, Die Linke, DIW
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Politik & Ökonomie
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Wirtschaft und Umwelt
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https://www.nd-aktuell.de/artikel/1140609.langzeitstudie-zum-grundeinkommen.html
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Österreich geht gegen Schlepper vor
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Wien. Im Kampf gegen Schlepper hat Österreich mit »verdeckten Schwerpunktkontrollen« in Grenznähe zur Slowakei begonnen. Grund für die Maßnahme von Polizei und Militär sei, dass immer mehr Schlepper versuchten, Flüchtlinge über die Slowakei in Richtung Norden zu schleusen, sagte der österreichische Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil der Zeitung »Die Welt« vom Mittwoch. Die Balkanroute sei trotz schärferer Grenzkontrollen etwa durch Ungarn und Mazedonien noch immer nicht dicht, sondern weiter beliebt. Doskozil zufolge gelangten rund 8000 der bisher 12 000 Asylantragssteller in diesem Jahr über den Balkan nach Österreich. dpa/nd
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Redaktion nd-aktuell.de
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Asylpolitik, Flüchtlinge, Österreich, Slowakei
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Politik & Ökonomie
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Politik
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1064404.oesterreich-geht-gegen-schlepper-vor.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
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Industriestrom: Ein Geschenk an die Konzerne
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Die Debatte um den Industriestrompreis wird zum politischen Dauerbrenner. Ihr Ausgangspunkt ist folgende Erzählung: Vor der durch den Ukraine-Krieg ausgelösten Energiekrise habe die Industrie etwa sieben Cent für die Kilowattstunde (kWh) Strom bezahlen müssen. Dieser Preis vervielfachte sich dann, seitdem ist er zwar wieder gesunken, aber nicht genügend. Aktuell kostet die Kilowattstunde an der Börse – Stromlieferung 2024 – um die 13 Cent. Kurzfristig ist Strom für acht oder neun Cent zu haben. Hohe Stromkosten, so geht die Erzählung weiter, gefährden Unternehmen, die viel Strom verbrauchen wie Stahl- und Aluminiumwerke, Chemie-, Glas- und Papierfabriken oder Raffinerien. Bereits im Frühjahr hatte Wirtschaftsminister Robert Habeck reagiert und vorgeschlagen, betroffenen Unternehmen für 80 Prozent ihres Stromverbrauchs einen reduzierten Preis von sechs Cent pro kWh zu gewähren. Eine noch stärkere Reduzierung auf nur fünf Cent schlug ein bereits Mitte April vom SPD-Bundestagsabgeordneten Bernd Westphal vorgelegtes Konzept vor. Zwei Jahre sollte der so genannte »Transformationsstrompreis« gelten und dann evaluiert werden, schrieb der Sprecher der Arbeitsgruppe Wirtschaft der SPD-Fraktion. Die fünf Cent finden sich auch in einem Anfang dieser Woche von der SPD-Bundestagsfraktion beschlossenen Positionspapier für »wettbewerbsfähige Strompreise«. Im Unterschied zu Habeck will die SPD nicht nur energieintensive Industrien unterstützen, sondern auch Hersteller von Batterien, von Wind- und Solaranlagen, von Wärmepumpen und Wasserstoffelektrolyseuren sowie Branchen, die CO2 verwerten oder speichern. Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen. Das erste Problem am Industriestrom-Konzept ist, dass sich Großunternehmen schon jetzt einer Vielzahl von Privilegien erfreuen, mit denen sie ihren Strompreis drücken, zum Beispiel niedrigere Netzentgelte oder geringere bis gar keine Steuern und Abgaben auf den Stromverbrauch. Mit ihren Lieferanten schließen Großverbraucher in der Regel Sonderverträge ab, deren Konditionen höchstes Geschäftsgeheimnis sind. Auch haben Energieintensive oft eigene Kraftwerke, deren preisliche Kalkulation ebenso nicht bekannt ist. Studien kommen so zu dem immer gleichen Ergebnis, dass sich die realen Stromkosten großer Industrieunternehmen nicht genau bestimmen lassen. Am Ende ist also gar nicht klar, ob Unternehmen den verbilligten Strom wirklich brauchen, um wettbewerbsfähig zu sein oder ob sie nur leichter Hand ihren Gewinn steigern. Kein Wunder, dass eine Reihe von Ökonom: innen eine künstlich verbilligten Industriestrompreis ablehnt. Nicht wegen hoher Energiekosten drohe Deutschland eine Deindustrialisierung, sondern vor allem wegen der verschlafenen industriellen Transformation, kommentierte Marcel Fratzscher, Chef des Wirtschaftsforschungsinstituts DIW, die Debatte schon im Frühjahr im Netzwerk X, damals noch Twitter. Auch konterkariere ein Industriestrompreis dringend nötige Energieeinsparungen sowie Effizienz-Investitionen. Darüber hinaus sei ein Industriestrompreis höchst unsozial, betonte Fratzscher weiter. Unternehmen würden massiv subventioniert, Bürgerinnen und Bürger – und vor allem die mit geringen Einkommen – gingen leer aus. Auch muss man sich klarmachen: Allein die energieintensive Industrie verbraucht jährlich deutlich mehr als 100 Milliarden Kilowattstunden oder etwa ein Viertel des in Deutschland benötigten Stroms. Diese Strommenge preislich herunter zu subventionieren, stellt einen massiven Eingriff in den Strommarkt dar. An der Börse werden, bildlich gesprochen, alle Stromerzeugungsarten in einen Topf geworfen. Der Strompreis für alle wird letztlich von dem Kraftwerk bestimmt, das als letztes und teuerstes noch gebraucht wird, um den Bedarf zu decken. Da heutzutage vor allem die Verstromung von Kohle, Öl und Gas am teuersten ist, würde ein milliardenteurer Industriestrompreis so gerade die fossile Erzeugung unterstützen. Er wäre primär eine weitere Subvention fossiler Energieträger, bestätigt DIW-Chef Fratzscher. Diese Kritik nahm sich die SPD offensichtlich zu Herzen. In ihrem Positionspapier präsentiert sie deshalb ein kompliziertes Modell, wie die Industrie den Ausbau von Ökostrom fördern und zugleich davon profitieren kann. Unter anderem sollen dazu zunächst vermehrt direkte Stromlieferverträge zwischen Ökostromern und Unternehmen geschlossen und diese dann zu größeren Ökostrom-»Pools« zusammengefasst werden. Das schaffe für die Industrie eine größere Versorgungssicherheit angesichts der schwankenden Erzeugung von Wind- und Sonnenstrom, argumentiert die SPD. Die Erneuerbaren hätten ihrerseits sichere Einnahmen, müssten sich nicht mehr auf die unberechenbare Börse verlassen. Dabei belässt es die SPD aber nicht. Die Sozialdemokraten wollen zugleich das Fördermodell für die Erneuerbaren umstellen. Bisher garantiert der Staat geförderten Erneuerbare-Energie-Anlagen meist über 20 Jahre eine feste Vergütung. Die Betreiber müssen ihren grünen Strom dennoch an der Börse vermarkten. Gibt es dort weniger Erlös als garantiert, zahlt der Staat die Differenz. Liegt der Erlös an der Börse über dem garantierten Preis, können die Ökostromer den Gewinn behalten – bisher jedenfalls. Nach dem Willen der SPD soll die Förderung künftig auf sogenannte Differenzverträge umgestellt werden. Grüne Stromerzeuger bekämen weiter einen garantierten Erlös. Nehmen sie beim Stromverkauf aber mehr als den garantierten Preis ein, soll der Gewinn künftig abgeführt werden – und beim SPD-Modell nicht mehr an den Staat, sondern an die Unternehmen, die sich den Ökostrom aus dem Pool liefern lassen. Die SPD verspricht sich davon mit der Zeit die Entstehung eines »subventionslosen Erneuerbaren-PooIs«. Ökostrom würde so verfügbar und billig, dass es eines Industriestrompreise nicht mehr bedürfte. Die Erneuerbaren-Branche ist von den Differenzverträgen allerdings wenig bis gar nicht begeistert. Sie müsste schließlich auf einen Teil ihrer Einnahmen verzichten, damit vor allem die Industrie noch preiswerteren Strom bekommt. Dass der SPD-Vorschlag jemals umgesetzt wird, ist ziemlich zweifelhaft. Das gilt auch für den subventionierten Industriestrompreis insgesamt. Denn letztlich befördert er die Energiewende nicht, sondern bremst diese ab.
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Jörg Staude
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Ein staatlich subventionierter Industriestrompreis käme letztlich den fossilen Energieträgern zugute. Unklar ist, ob die Unternehmen ihn wirklich brauchen, oder ob sie nur auf satte Extragewinne hoffen.
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Börse, erneuerbare Energie, SPD, Subvention
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Politik & Ökonomie
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Wirtschaft und Umwelt Energie
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2023-09-01T14:38:42+0200
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2023-09-01T14:38:42+0200
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2023-09-04T11:37:17+0200
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https://www.nd-aktuell.de/artikel/1175966.energie-industriestrom-ein-geschenk-an-die-konzerne.html?sstr=deindustrialisierung
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Früherer SS-Mann behauptet, von nichts gewusst zu haben
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Münster. Im Münsteraner Verfahren gegen einen ehemaligen SS-Mann bedauern KZ-Überlebende, dass der 94-jährige Beschuldigte nicht zur Wahrheitsfindung beitragen wolle. Die bisherigen Einlassungen des Angeklagten sollten das Bild eines naiven und hilflosen jungen Knaben vermitteln, der dem Geschehen im Konzentrationslager Stutthof bei Danzig fassungslos und unbeteiligt gegenüber gestanden habe, kritisierte der Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees, Christoph Heubner, am Dienstag in Berlin. »Diese Naivität als Mittel der Rechtfertigung und Verteidigung schiebt die grausame Realität der Opfer von Stutthof weg wie ein lästiges Detail«, erklärte Heubner. Überlebende des KZ berichteten, dass in dem Lager jeder Angehörige der SS, egal welche Funktion er hatte, »immer Herr über Leben und Tod der polnischen und jüdischen Häftlinge war«, sagte Heubner. Er appellierte an den Angeklagten, »aus seiner selbstgewählten Naivität herauszutreten« und auf die Fragen des Gerichts und vor allem der Nebenkläger ehrlich einzugehen. Ein KZ-Wächter, der von Gaskammern nichts wusste
Münster: Ehemaliger SS-Mann weist im Prozess wegen Beihilfe zu Mord in Hunderten Fällen individuelle Verantwortung zurück »Seine Aussage kann uns deutlich machen, wie ein religiös erzogener junger Mensch von einem Tag auf den anderen in einer Mordfabrik als Mittäter funktioniert und wie er dann als erwachsener Mann, der glaubt seinen Prinzipien treu geblieben zu sein, funktioniert hat.« Die Holocaust-Überlebenden seien nicht an Rache, sondern allein an Antworten interessiert, betonte Heubner. In dem Prozess vor dem Landgericht Münster wirft die Staatsanwaltschaft Dortmund dem ehemaligen Wachmann des KZ Stutthof Beihilfe zum Mord in mehreren hundert Fällen vor. Der Angeklagte war nach Angaben des Gerichts von Juni 1942 bis September 1944 für die Bewachung des Lagers und die Beaufsichtigung von Arbeitskommandos außerhalb des Lagers zuständig. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft hat er von der Ermordung von Häftlingen gewusst und diese durch seine Wachtätigkeit gefördert. Bislang sind Verhandlungstermine bis Februar angesetzt. Der 94-Jährige hatte in einer ersten Aussage bestritten, von systematischen Massentötungen gewusst zu haben. Er habe damals aus Zwang, nicht aus Überzeugung gehandelt, hatte er über seine Anwälte erklären lassen. Er sei im Alter von 18 Jahren vom NS-Staat zum Dienst im KZ Stutthof verpflichtet worden. Der Mann lebt heute in einer kleinen Gemeinde im Kreis Borken. Im KZ Stutthof waren unter anderem polnische Bürger, sowjetische Kriegsgefangene und Juden unter unmenschlichen Bedingungen inhaftiert. Von mehr als 100.000 Insassen, die insgesamt nach Stutthof gebracht wurden, kamen schätzungsweise 65.000 ums Leben. epd/nd
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Redaktion nd-aktuell.de
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Ein ehemaliger SS-Mann steht in Münster wegen Verbrechen im KZ Stutthof vor Gericht. Seine Strategie? Er gibt den naiven Ahnunglosen. Opferverbände sind empört. Die »grausame Realität der Opfer« werde damit bagatellisiert.
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Holocaust, Nazis, NS-Aufarbeitung, NS-Kriegsverbrechen
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Politik & Ökonomie
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Politik NS-Prozess
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1106072.frueherer-ss-mann-behauptet-von-nichts-gewusst-zu-haben.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
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Holt die Klimaflüchtlinge ins Land!
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Heute steht auf der Klimakonferenz in Manila »Schutz der Rechte von Klima-Migranten« auf der Agenda. In einem Video-Grußwort solidarisieren sich Aktivisten von »Fridays for Future« und »Ende Gelände« mit den Konferenz-Teilnehmern aus Kolumbien, Bahamas, Malaysia, Nigeria und all den anderen Ländern des Südens, wo die Klimakrise bereits hier und heute das Überleben handfest gefährdet. Auch Carola Rackete, die Kapitänin der »Seawatch 3«, schickt uns Worte der Solidarität in die Philippinen. Von den Rechten wurde sie zuletzt heftig angegriffen wegen ihrer Forderung, Klimaflucht als Asylgrund anzuerkennen. »Rackete will 50 Millionen Klimaflüchtlinge ins Land holen«, wurde im Netz sofort losgehetzt. Die einen nennen es Verantwortung, die anderen Klimaschuld des reichen Nordens. Daraus leitet sich die Forderung ab, Menschen auf der Flucht vor der Krise des 21. Jahrhunderts zu schützen. Wer, wie hier in Manila mit Menschen aus dem globalen Süden spricht und ihren Erfahrungen von Luftverschmutzung, Dürren, Fluten und Flucht zuhört, dem wird schnell klar, dass »Klimaschuld« zwar unangenehm und moralisch klingt, aber den Nagel dennoch auf den Kopf trifft. Im Recht ist das Schuldprinzip die Grundlage zur Übernahme von Verantwortung, ob freiwillig durch Einsicht oder durch Zwang nach Richterspruch, ob für den Einzelnen oder für Gemeinschaften. Wer Schulden hat, der muss zahlen oder Entschädigung leisten. Aber ist denn Deutschland »Schuld« am Klimawandel? Immer wieder hören wir Beruhigendes zur Verantwortung von Deutschland für die weltweite Klimakrise. Die blauen Faschisten versuchen mit kruden Zahlenkolonnen, die Menschen zu verwirren. AfD-Abgeordnete im Bundestag streiten nicht nur den Einfluss des Menschen auf den Klimawandel ab. In ihren Reden beten sie immer wieder runter, Deutschland trage »mit nur 0,00004712 Prozent« zum CO2 in der Luft bei. Fake-Fakts! Auch die Bundesregierung spielt das Ausmaß der deutschen Verantwortung regelmäßig runter. Deutschland als eine der größten Industrienationen überhaupt. Das Land verursache nur 2 Prozent des globalen CO2-Ausstoßes, liest man in allen Regierungspapieren zum Klima. Bitte schön, ehrlich bleiben! Die Geschichte nicht einfach unter den Tisch fallen lassen. Einfach mal die ganze Story erzählen: Deutschland ist der viertgrößte Klimasünder der Erde! Seit Beginn der Industrialisierung, als mit dem Verbrennen von Kohle begonnen wurde, wurden in Deutschland rund 90 Gigatonnen CO2 in die Luft geblasen. Nur die USA (397 Gigtatonnen), China (214 Gigatonnen) und die Ex-Sowjetunion (180 Gigatonnen) haben mehr verursacht und das mit deutlich größerer Bevölkerung. Die Konferenzteilnehmer schildern ihre Perspektive auf das »globale Dorf«. Das wohlhabende Europa und Nordamerika ziehen die Mauern hoch. Nicht nur echte Befestigungen aus Stahl und Stacheldraht. Sondern auch rechtlich unübwindbare Hürden durch die Aushöhlung des Menschenrechts auf Asyl. So änderte Deutschland nach der Aufnahme von Kriegsgeflüchteten aus Ex-Jugoslawien erst das Grundgesetz. Und führte dann in Europa das perfide Dublin-System ein, demzufolge Asyl dort beantragt werden muss, wo der Hilfesuchende zuerst europäischen Boden betritt. Ein Blick auf die Landkarte reicht, um zu verstehen, dass Berlin mit dieser Drittstaatenregelung das Asylrecht de facto an die EU-Außengrenzen abgeschoben hat. Ein Trick, den aktuell auch Donald Trump zur »Abwehr« der Migranten aus Mittelamerika einführen will. Darüber verhandelt er mit Ländern wie Guatemala und Mexiko. Übrigens unter Androhung, wenn dies nicht geschehe, die USA Handelsbarrieren hochzuziehen. Dieser Abbau von Menschenrechten, der sich nicht erst mit dem Aufstieg der Rechtsradikalen durchs Land zieht, setzt sich in den Auffanglagern für Migranten von Libyen bis Mali fort. Was politische Verfolgung für das Recht auf Asyl in der Vergangenheit war, das wird die Flucht vor Klimafolgen in Zukunft sein. Das Recht muss auf die neue Welt reagieren. Wir müssen die Verantwortung für unsere Wirtschaftsweise übernehmen und das Asylrecht auf Opfer von Umwelt- und Klimawandelfolgen ausweiten. In einer Welt, in der sich Kapital und Touristen weltweit bewegen, darf Menschlichkeit nicht an der eigenen Haustür enden. Lasst uns die Klimaflüchtlinge ins Land holen!
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Lorenz Gösta Beutin
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In einer Grußbotschaft solidarisiert sich Carola Rackete mit den Teilnehmern der Klimakonferenz in Manila. Sie fordert die Aufnahme von Klimaflüchtlingen. Der Grund dafür, Deutschland ist der viert größte Klimasünder der Erde.
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Asylpolitik, Deutschland, Klimakonferenz, Klimawandel, Manila
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Klima und Wandel Klimasünder
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Pendeln ohne Funkloch?
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Magdeburg. Auf einem Gleis mitten auf einer Wiese steht eine auf den ersten Blick ganz normale rote Regionalbahn. Bis vor wenigen Stunden haben die Techniker auf dem Werkstattgelände der Deutschen Bahn im brandenburgischen Wittenberge dem Wagen jedoch gefragte Technik verpasst. Ein Mitarbeiter weist mit dem Finger ans Dach des Zugs: eher unscheinbare langgezogene schwarze Knubbel machen den Unterschied. Die neue Ausrüstung ist für Reisende in den Zügen der Elbe-Saale-Bahn das Versprechen auf stabiles Internet. Nicht auf eigene Handy-Rechnung, sondern als kostenloses WLAN-Angebot. Damit können sich Fahrgäste in Mitteldeutschland jetzt nicht nur in den ICE-Schnellzügen der Deutschen Bahn einloggen, sondern auch in Nahverkehrs-Zügen: Sachsen-Anhalt hat die Zugflotte für ein komplettes Netz mit der Technik ausrüsten lassen - und gehört damit zu den Vorreitern. In allen 60 Wagen, die auf den Strecken quer durchs Land von Naumburg und Halle bis Magdeburg und ins brandenburgische Wittenberge unterwegs sind, soll das Surfen beim Fahren funktionieren. Am Montag wird der letzte Zug offiziell an den Landesverkehrsminister Thomas Webel (CDU) übergeben. Seit April hatten die Wittenberger Techniker die Züge umgebaut, oft im Zwei-Schicht-System, wie eine Bahnsprecherin sagt. Das Team habe für das Projekt auch das eigene System Colibri und eine passende gleichnamige App entwickelt und programmiert. Nacheinander wurden die aufgerüsteten Wagen auf die Strecke geschickt. Resonanz bisher? Die Zahl der Nutzer schwanke zwar, steige aber stetig, sagt Projektleiterin Henriette Hahn von der Bahntochter DB Regio. »Die Nutzung des Datenvolumens verdoppelt sich seit April jeden Monat. Die Versorgung wird immer stabiler, das Angebot immer bekannter und deshalb auch häufiger genutzt«, fasst Hahn zusammen. »Wir hatten einen typischen Pendler vor Augen, der 220 Tage im Jahr die immer gleiche lange Strecke fährt«, sagt Klaus Rüdiger Malter. Er ist Geschäftsführer des Nahverkehrsservice Sachsen-Anhalt. Malter und sein Team verhandeln und entscheiden für das Bundesland, welcher Bahn-Anbieter auf den Nahverkehrsstrecken fährt und wie das Angebot aussehen soll. Ihr Credo: Bahnfahren attraktiv zu machen, auch im eigenen Interesse. Jede zusätzlich verkaufte Fahrkarte bedeute für das Land beim Zuschussgeschäft Nahverkehr weniger finanzielle Last. dpa/nd
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Redaktion nd-aktuell.de
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WLAN in Regionalzügen in Sachsen-Anhalt
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Bahn, ÖPNV, Sachsen-Anhalt
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Politik & Ökonomie
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Politik
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1063381.pendeln-ohne-funkloch.html
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Zugpersonal streikt ab Dienstagabend
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Berlin. Die Gewerkschaft GDL erhöht im Tarifstreit den Druck auf den Bahnkonzern: Fern- und Regionalzüge sollen dann ebenso ruhen wie Güterzüge und S-Bahnen. Die GDL rief ihre Mitglieder im Tarifstreit mit der Bahn zu einem bundesweiten und flächendeckenden Streik von Dienstagabend 21.00 Uhr bis Mittwochmorgen 6.00 Uhr auf. Das teilte GDL-Sprecherin Gerda Seibert am frühen Dienstagmorgen mit. Zum Streik aufgerufen sind unter anderem die Lokomotivführer, Zugbegleiter, Bordgastronomen und Disponenten in allen Eisenbahnverkehrsunternehmen der Deutschen Bahn.
Die Lokführer fordern fünf Prozent mehr Geld und eine um zwei Stunden verkürzte Wochenarbeitszeit. Außerdem verlangt die Gewerkschaft die Senkung der Belastung, »nur noch 50 statt bisher unbegrenzte Überstunden im Jahr sowie einen 50-prozentigen Zeitzuschlag bei Schichtverlängerungen«, eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie, »dass zur Wertschätzung eine dem Ge... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
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Redaktion nd-aktuell.de
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Die Gewerkschaft GDL erhöht im Tarifstreit den Druck auf den Bahnkonzern: Fern- und Regionalzüge sollen dann ebenso ruhen wie Güterzüge und S-Bahnen. Es geht in der Auseinandersetzung nicht nur um Geld.
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Deutsche Bahn, GDL, Lokführer, S-Bahn, Streik
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Politik & Ökonomie
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Politik
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/948346.zugpersonal-streikt-ab-dienstagabend.html
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Walesa lobt seine Rolle beim Mauerfall
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Warschau (AFP/ND). Es sei »eine Lüge«, dass UdSSR-Präsident Gorbatschow die Mauer zu Fall gebracht habe, sagte der Friedensnobelpreisträger Walesa am Montag dem polnischen Fernsehsender tvn24. Viel wichtiger sei die Rolle des damaligen Papstes Johannes Paul II. und der polnischen Gewerkschaft Solidarnosc gewesen, die Walesa seinerzeit anführte. »Es macht mich heute traurig, dass Helden aus denen gemacht werden, die keine waren«, sagte Walesa. Gorbatschow habe weder den Kommunismus noch die Berliner Mauer stürzen wollen – »das lag nicht auf seinem Weg«. »Wenn die Dinge so dargestellt werden, heißt das, dass Europa auf einer Lüge errichtet wird, das erschreckt mich«, erklärte der frühere Gewerkschaftsführer. »Die Wahrheit ist, dass Papst Johannes Paul II. zu 50 Prozent zum Mauerfall beigetragen hat, 30 Prozent die Solidarnosc und Lech Walesa und nur 20 Prozent der Rest der Welt«, sagte Walesa. Der polnische Papst habe seinerzeit die Völker Europas aufgerufen, das »Gesicht der Welt zu verändern«, und seine Botschaft habe die Menschen ermutigt, die Politiker zu Veränderungen zu zwingen.
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Redaktion nd-aktuell.de
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Der ehemalige polnische Präsident Lech Walesa hat bestritten, dass der Mauerfall vor 20 Jahren vor allem dem damaligen sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow zu verdanken sei. Anderen gebühre dieser Ruhm, maßgeblich auch Walesa selbst.
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Mauerfall, Michail Gorbatschow, Papst
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Politik & Ökonomie
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Politik
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/158849.walesa-lobt-seine-rolle-beim-mauerfall.html
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Gefangen im Livestream
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Irre Zahlen aus der Heimat: 27,48 Millionen Menschen sollen im Fernsehen live zugeguckt haben, wie die deutschen Fußballer in letzter Sekunde den Kopf aus der Schlinge zogen. Spätestens nach diesem Spiel gilt der WM die volle Aufmerksamkeit der Deutschen. Andere Länder, andere Sitten: Am Moskauer Flughafen Domodedowo war es am Samstag überhaupt nicht einfach, einen Fernseher zum Fußballgucken zu finden. Die Leute saßen geduldig auf den Wartebänken unter den Abflugtafeln, auf denen allerlei rot markierte Flüge zu sehen waren - die üblichen Verspätungen, in einem Land, das sich über elf Zeitzonen erstreckt. Ein Flug um 2.30 Uhr? Das Normalste der Welt. Zwei Stunden zu spät? Ja, was soll’s? Schließ die Augen! Schlummere! An diesem Abend sieht man in Domodedowo zwei Deutsche von Restaurant zu Restaurant hetzen und mit wirrem Blick die Wände absuchen. Läuft hier irgendwo das Deutschland-Spiel? Hat ja schon vor ner halben Stunde begonnen, doch wenn man den »Aeroekspress« am Bahnhof Paweletskaja verpasst hat, kann man in Stress geraten. Da, ein Fernseher! Er hängt eher beiläufig im »Uzbechka«, einem Selbstbedienungsrestaurant mit usbekischen Spezialitäten. Auf den Holzbänken sitzen nur zwei, drei Halbinteressierte und ein schmatzender Mann, der das Spiel beim Kauen auf seinem Handy verfolgt. Erleichtert lassen wir uns nieder. Endlich Fußball. Geschafft. »Sieht schlecht für euch aus«, sagt der Schmatzende links von uns, mehr zu sich selbst als zu uns, als er realisiert, dass wir Deutsche sind. Er lächelt hämisch vor sich hin. Hm. Als kurz die Schweden gen DFB-Tor preschen, fängt plötzlich das halbe Lokal an zu jubeln, vor allem die nigerianische Reisegruppe am Tisch hinter uns. So ist das also. Sympathien klar verteilt, nun gut. Etwas anderes fällt viel schwerer ins Gewicht: Das Spiel läuft nur im Livestream und die Internetverbindung ist derart schlecht, dass ständig das Bild stockt. Reus läuft auf das Tor zu, Reus spielt zu ... Pause ... Boateng setzt von hinten zum langen Pass, der Ball fliegt ... Pause ... Neuer wirft den Ball zu Hec ... Pause! Ein Mix aus Ruckeln, Pause, Gucken: Mal läuft's ein paar Minuten flüssig, dann wieder Stopp und Stille. So ein Mist! Standbilder von einem Spiel, das für die DFB-Kicker schon das Ende sein kann. Man würde es jetzt gerne im Ganzen sehen. Dazu hat der Schmatzende mit seinem Handy ein paar Sekunden Vorlauf »Odin - odin!«, sagt er kopfschüttelnd. Und wirklich: Kurz darauf trifft Reus zum 1:1. Freude bei den Deutschen, auch wenn der Moment schöner gewesen wäre, hätte man es nicht schon vorher gewusst. Wird der Mann mit den schlechten Tischmanieren jetzt alles laut ansagen? Ja: »Boateng rot!« Umgehend fliegt Boateng vom Platz. Wer will Fußball gucken und schon wissen, was passiert? Kurz darauf dann die Erlösung: Der Schmatzende geht. Wenigstens die Schlussphase ohne Vorhersagen! Freistoß in der Nachspielzeit, ist das spannend! Kommt hier noch die Wende? Da stockt das Fernsehbild, im Lokal hält man den Atem an. So muss Fußball sein, denke ich noch, da hält mir mein Kollege grinsend sein Handy vors Auge: »2:1« steht da im Liveticker. Dann segelt der Ball von Kroos auch im Fernseher in Netz. Und ich merke, dass ich schon aufgestanden bin und Tor gerufen habe. Diesen Treffer musste das Uzbechka leider mit meiner Vorhersage ertragen. Iswinitje!
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Jirka Grahl
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Deutschland gegen Schweden in einem usbekischen Selbstbedienungsrestaurant am Flughafen Domodedowo
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Flugverkehr, Fußball, Schweden
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Sport
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Sport Völkerball
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1016453.brexit-kickt-die-mark-aus-eu-hilfen.html
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Kein Eurocity mehr ab Budapest
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Sogar die Deutsche Bahn gab am Donnerstag den von Flüchtlingen bestürmten Ostbahnhof in der ungarischen Hauptstadt auf. Dieser werde bis auf weiteres nicht mehr von internationalen Zügen angefahren, teilte das Unternehmen mit. Die Eurocity würden an der Grenze zwischen Österreich und Ungarn oder nördlich von Budapest an der Grenze zur Slowakei halten. Empfohlen wurden ungarische Regionalzüge. Nach Chaos und Tumulten in Ungarn flüchtete sich die Politik in grenzüberschreitenden Streit und gegenseitige Schuldzuweisungen. Besonderen Unwillen erweckte Ungarns Premier Viktor Orban. Er hatte nach einem Gespräch mit EU-Parlamentspräsident Martin Schulz in Brüssel versichert, es dürfe kein Flüchtling ausreisen, ohne dass er vorher registriert worden sei. Sein Land halte sich lediglich an europäische Regeln und tue das, was Kanzlerin Angela Merkel erwarte. »Das Problem ist kein europäisches Problem. Das Problem ist ein deutsches Problem.« ... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
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Klaus Joachim Herrmann
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Verzweiflung, Hilflosigkeit und Schuldzuweisungen kennzeichneten einen weiteren Tag der europäischen Krise um die Flüchtlinge.
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Asylpolitik, Budapest, Flüchtlinge, Ungarn
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Politik & Ökonomie
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Politik
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/983436.kein-eurocity-mehr-ab-budapest.html
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Niemand hat ein Ultimatum gestellt
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Einiges deutet darauf hin, dass es im Streit zwischen der CSU und der CDU am Ende der Woche nicht zum ganz große Krach kommt. Beide Parteien scheinen zurück zu einer gemeinsamen Arbeitsebene gefunden zu haben, nachdem es zwischenzeitlich Befürchtungen gab, dass das Verhältnis zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und dem Innenminister Horst Seehofer (CSU) völlig zerrüttet ist. Am Dienstagnachmittag tagte erstmals wieder die Fraktion gemeinsam und am Abend sollte der Koalitionsausschuss zusammenkommen, in dem die Unionsparteien zusammen mit der SPD über den Streit um die Asylpolitik sprechen wollten. Vor dem Treffen waren die Töne merklich freundlicher. CSU-Generalsekretär Markus Blume erklärte seinen Wunsch, wieder zur Normalität zurückzukehren und versicherte: »Es gibt niemanden von uns, der die Gemeinschaft der Union in Zweifel zieht oder die Regierung in Frage stellt.« Auch die Kanzlerin wolle die CSU keinesfalls stürzen. »Diese Frage wird nicht von uns gestellt«, sagte er. »Das ist auch nicht unsere Debatte. Für uns geht es um eine Sachfrage.« Die ist hinlänglich bekannt. Horst Seehofer möchte jene Flüchtlinge nicht mehr ins Land lassen, die bereits in einem anderen EU-Staat einen Asylantrag gestellt haben. Im vergangenen Jahr waren 60 000 Geflüchtete mit ihren Fingerabdrücken bereits in einem anderen europäischen Land registriert. Und in dieser Frage zeigte der Innenminister sich auch weiterhin unnachgiebig, wenngleich er betonte, auf eine europäische Einigung zu hoffen, die Merkel anstrebt. Als Ultimatum will er seine Ankündigung, notfalls eigenmächtig die Grenzen zu schließen, wenn es keine europäische Lösung geben sollte, jedenfalls nicht verstanden wissen . Darauf wies Seehofer in den vergangenen Tagen mehrere Male hin. Letztlich war es auch Merkel, die eine Rote Linie setzte, indem sie auf ihre Richtlinienkompetenz als Kanzlerin verwies. Käme es wirklich zum Seehofer-Alleingang, würde dies eine Kettenreaktion auslösen, deren Folgen niemand abschätzen könnte: Der Innenminister würde entlassen werden, das Unionsbündnis auseinander brechen, die Große Koalition auch. Bei Neuwahlen würden mit ziemlicher Sicherheit beide Parteien verlieren. Die offizielle Lesart heißt daher: Die Kanzlerin habe Seehofer darum gebeten, 14 Tage Zeit zu bekommen, um eine europäische Lösung voranzubringen. Doch die zu erreichen, ist nicht leicht. Merkel möchte die Rücknahme von Asylbewerbern über bilateralen Abkommen mit EU-Staaten klären. Doch bislang zeigte sich lediglich Frankreich dazu bereit. Zu einem Kompromiss regte nun Armin Schuster an: Der CDU-Innenexperte brachte ein Fünf-Punkte-Konzept in die Diskussion ein, das den Christsozialen entgegenkommt, ohne komplett zu Schlagbäumen zurückzukehren. Der Schuster-Plan sieht vor, nur wenige Grenzübergänge stationär zu kontrollieren und anstelle dessen die Fahndung nach unerlaubt Eingereisten bis 30 Kilometer hinter der Grenze zu intensivieren. Werden Flüchtlinge aufgegriffen, sollen sie in AnKER-Zentren gebracht werden. Ist geklärt, welches Land für sie zuständig ist, könnten sie umgehend abgeschoben werden. Der Vorschlag würde die Freizügigkeit im Schengen-Raum, auf den es der Kanzlerin sehr ankommt, nur wenig einschränken, aber für Flüchtlinge die Einreise ins Land erheblich erschweren. Ob ein solcher Vorschlag mehrheitsfähig ist, liegt freilich nicht nur an der Union, sondern auch an der SPD als Koalitionspartner. Die hielt sich in dem unionsinternen Machtkampf bislang zurück, betonte allenfalls, nicht als Therapeutin zur Verfügung zu stehen.
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Stefan Otto
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Die Unionsparteien schrecken offenbar davor zurück, ihren Streit eskalieren zu lassen. Das ist auch kein Wunder. Würde ihr Bündnis nämlich scheitern, gäbe es auf beiden Seiten Verlierer.
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Angela Merkel, Asylpolitik, CDU, CSU, Flüchtlinge, Horst Seehofer
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Politik & Ökonomie
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Politik Asylstreit in der Union
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https://www.nd-aktuell.de/artikel/1092425.asylstreit-in-der-union-niemand-hat-ein-ultimatum-gestellt.html
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Quittung für den Hambacher Forst
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Es war ein hartes Rennen, aber am Ende hieß der Sieger Rolf Martin Schmitz. Der Vorstandsvorsitzende von RWE wurde am Freitag mit dem Negativ-Preis »Dinosaurier des Jahres 2018« ausgezeichnet. Diesen Schmähpreis vergibt die Umweltschutzorganisation seit 1993, in diesem Jahr nun zum 23. Mal. Fast gleichauf mit RWE-Chef lag die deutsche Autoindustrie, erklärte NABU-Präsident Olaf Tschimpke bei der Verleihung in Berlin. »Aber der vehemente Einsatz von Schmitz für eine nicht zukunftsfähige Strategie machte ihn dann doch zum Spitzenreiter«, so Tschimpke. Ins Abseits gestellt habe sich Schmitz im Herbst noch einmal mit seiner unzeitgemäßen Machtdemonstration im Streit um die Rodung des Hambacher Waldes. Dabei hatte Schmitz weder Rücksicht auf die gesellschaftliche Stimmungslage, die laufenden Verhandlungen in der Kohlekommission noch auf die Folgen für Natur und Umwelt genommen. Er habe damit in der Debatte um den in Deutschland nicht vorankommenden Klimaschutz zusätzlich polarisiert. Jeden Tag lesen rund 25.000 Menschen unsere Artikel im Internet, schon 2600 Digitalabonennt*innen und über 500 Online-Leser unterstützen uns regelmäßig finanziell. Das ist gut, aber da geht noch mehr! Damit wir weiterhin die Themen recherchieren können, die andere ignorieren und euch interessieren. Hier mitmachen! »Dass der RWE-Konzern nicht als Natur- und Klimaschützer in die Geschichte eingehen wird, ist uns klar«, erklärte Tschimpke. Schmitz’ Festhalten an der Zerstörung eines sehr alten Waldes zeige aber, dass er keinen Wert auf den Erhalt von Natur und Artenvielfalt legt. Diese Einstellung zeige sich auch in der Gesamtaufstellung des Energiekonzerns: Im Geschäftsbericht für 2017 stehen hinter der Stromgewinnung über 90 Prozent fossile Energien, im Einzelnen fast 37 Prozent aus Braunkohle, 15 Prozent aus Kernkraft und 26 Prozent aus Erdgas. Steinkohle kommt mit 14,5 Prozent dazu. Angesichts des 2015 von Deutschland unterzeichneten Klimaschutzabkommens und eines für 2019 absehbaren Klimaschutzgesetzes liege RWE weit zurück. »Andere Stromerzeuger sind da weit besser aufgestellt«, findet der NABU-Präsident. Am Ende würden das die Mitarbeiter ausbaden müssen. Deshalb sieht Tschimpke auch Gewerkschaften und kommunalen Aktionäre von RWE in der Pflicht. In der Geschichte der Dinosaurier-Preisverleihung liegt das Essener Unternehmen mit drei Trophäen absolut an der Spitze. 2010 erhielt der damalige RWE-Chef Jürgen Großmann den Preis für die Aufkündigung des Atomkonsenses und sein Wirken für eine Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke. Letztere wurde unter dem Eindruck der Nuklearkatastrophe von Fukushima 2011 von Bundeskanzlerin Angela Merkel zurückgenommen. 2006 hatte Großmanns Vorgänger Harry Roels den NABU-Dino für den Antrag auf Laufzeitverlängerung für den 2011 stillgelegten Schrottreaktor Biblis A erhalten. Schon anhand dieser Beispiele könnte der Energiekonzern beispielhaft für ein besonders rückwärtsgewandtes Denken und Handeln stehen. Die Verleihung des Negativpreises versteht der NABU auch als Gesprächsangebot an die Geschmähten. Das habe bisher zum Beispiel bei den Konzernchefs von TUI und Aida wegen ihrer luftverschmutzenden Kreuzfahrtschiffe funktioniert, sonst eher weniger. Jedoch würde die öffentliche Diskussion zu den kritischen Themen zumindest gestärkt, hofft Tschimpke. Die Umweltschutzorganisation sieht jedoch mit Sorge auch auf weitere, für Deutschland strategisch wichtige Branchen. Bayer habe sich mit dem Monsanto-Erwerb keinen Gefallen getan. Die Autombilindu-strie verliere täglich an Vertrauen bei den Verbrauchern, weil sie diese nicht nur zum Erwerb von Dieselfahrzeugen ermutigt hatte, sondern auch bei der Umstellung auf Elektromobilität hoffnungslos hinterherhinke. Ein künftiges großes Thema für den Umwelt- und Klimaschutz sei die Gestaltung der Bio-Ökonomie, bei der große Unternehmen wie Bayer und BASF schon bereitstünden, um bei der künftigen Nutzung des Ackerlandes entscheidend mitzumischen.
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Ulrike Henning
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Seit 1993 verleiht der Naturschutzbund (NABU) den »Dinosaurier des Jahres« für besondere Ignoranz im Natur- und Umweltschutz. 2018 trifft es RWE-Chef Rolf Martin Schmitz.
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Klimaschutz, Naturschutz, Umweltschutz
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Politik & Ökonomie
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Wirtschaft und Umwelt Rolf Martin Schmitz
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1108948.rolf-martin-schmitz-quittung-fuer-den-hambacher-forst.html
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Neue Zeugen, bitte!
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1235 Tage nach dem Attentat vom Breitscheidplatz, bei dem Anis Amri zwölf Menschen tötete, bemühte sich der Untersuchungsausschuss im Bundestag am Donnerstag wieder um die Aufklärung eines mittlerweile offenkundigen Behördenversagens. Neben vielen offenen Fragen bei der Sicherung der Beweise nach dem Attentat, beschäftigt sich der Ausschuss immer noch mit einer schwerwiegenden Aussage aus dem November 2019. Kriminalhauptkommissar M. vom Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen hatte die Spitze des Bundesinnenministeriums schwer belastet. Anweisungen von ganz oben habe es gegeben, möglicherweise vom damaligen Minister Thomas de Maizière selbst, gab M. damals zu Protokoll. Er sei in einem Vieraugengespräch ausgebremst worden. BKA-Polizisten, darunter auch die ranghohen Zeugen Martin Kurzhals und Sven Kurenbach, hätten darauf hin gearbeitet, dem Fall des damals als kleinkriminell verharmlosten Gefährders Anis Amri nicht weiter nachzugehen. Vor allem aber sollte der Hauptinformant von Kriminalhauptkommissar M., Murat Cem, doch endlich aufhören, Hinweise zu liefern, die für Handlungsdruck sorgten. Den schweren Vorwurf stritten BKA und Bundesregierung damals vehement ab, wirkten geradezu panisch, als sie über Nacht ein Statement ausarbeiteten, das dann in der Regierungspressekonferenz verlesen wurde. Normalerweise wird dort gebetsmühlenartig wiederholt, aus Respekt vor der Ermittlungsarbeit des Parlamentes keine Fragen zu Untersuchungsausschüssen zu beantworten. Nun postulierte man heftig eine andere Sicht der Dinge, in vollem Wissen, dass Aussage gegen Aussage stehen wird und ein Fehlverhalten des BKA nie ganz nachweisbar sein dürfte.
Unisono, und teils mit wortgleichen Einlassungen, verteidigten sechs Monate darauf am Donnerstag die Zeugen Martin Kurzhals und Sven Kurenbach ihr BKA. Nein, ein so verlaufenes Vieraugengespräch könne es nicht gegeben haben. Da müsse »heftig aneinander vorbeigeredet worden sein«. Undenkbar sei auch die Weisung, Murat Cem, der als Vertrauensperson VP-01 zu viele Informationen lieferte, kaltzustellen. »Ich kann Ihnen versichern, dass es niemals eine derartige Weisung von oben gegeben hat. Warum hätte es die auch geben sollen?«, beschließt Sven Kurenbach sein langes Eingangsstatement. In den kommenden sieben Stunden laviert sich Kurenbach, kooperativ und charmant wirkend, durch die Befragung. »Mit BKA meinen Sie Bundeskanzleramt? ... Ich frage nur sicherheitshalber nach, nicht dass ich Fragen beantworte, die mir gar nicht gestellt worden sind«, gibt sich Kurenbach tapsig und nahbar. Sein Kollege Martin Kurzhals schlägt die Brücken aus, die Parlamentarier ihm bauen. Fehler habe es nicht gegeben. Das BKA habe bei der Analyse eben zwischen zwei Einschätzungen entscheiden müssen. Von beiden habe man nicht wissen können, ob sie richtig seien. Letztendlich sei es daher in der Nachbetrachtung des Anschlags weder fair noch möglich, von einer falschen Entscheidung zu sprechen. »Der schreckliche Anschlag hat deutlich gezeigt, dass sich das BKA in der Einschätzung der VP-01 und damit auch in der Gefährlichkeit Amris geirrt hat«, sagt Benjamin Strasser (FDP). Das BKA verstecke sich »hinter einem Schild aus Arroganz und Ignoranz und versucht noch immer, die Fehleinschätzung zu verteidigen«. Der Ausschuss beschloss, Murat Cem zu laden. Seine Darstellung erscheint am 11. Mai als Buch unter dem Titel »Undercover: Ein V-Mann packt aus«. Abseits der Sitzung berichtete die Süddeutsche Zeitung über einen noch unbekannten Verfassungsschutzbericht aus Mecklenburg-Vorpommern, der Kontakte eines Waffenhändlers zu Anis Amri belege. Martina Renner (Linke) forderte vom verantwortlichen Innenminister: »Herr Caffier sollte jetzt dringend erklären, warum Unterlagen seines Geheimdienstes offenbar nicht an die Ermittlungsbehörden weitergeleitet wurden.«
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Daniel Lücking
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Aussage gegen Aussage - für das Bundeskriminalamt ist das wenig schmeichelhaft, aber immer noch besser, als Fehler einzugestehen. Denn die habe es ja nicht gegeben, meinen Zeugen vor dem Breitscheidplatz-Untersuchungsausschuss im Bundestag.
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Anis Amri, Attentat, Breitscheidplatz, Bundeskriminalamt
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Politik & Ökonomie
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Politik Breitscheidplatz-Attentat
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2020-05-08T14:40:00+0200
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2020-05-08T14:40:00+0200
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2023-01-21T11:21:11+0100
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1136459.neue-zeugen-bitte.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
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Am Ende vom Gelände wird nun ermittelt
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Die Welt retten! Mit keinem geringeren Ziel waren sie angetreten, die rund 3500 Klimaaktivisten, die im Mai zu den Protesten gegen Braunkohle in die Lausitz gekommen waren. Sie besetzten die Bagger im Tagebau Welzow-Süd und blockierten die Kohlezufuhr des Kraftwerks Schwarze Pumpe. »Aktionen des zivilen Ungehorsams« wird das beim Bündnis »Ende Gelände« genannt. Haus- und Landfriedensbruch, Sachbeschädigung, Widerstand gegen Polizeibeamte und gefährlicher Eingriff in den Schienenverkehr, so heißt das bei der Staatsanwaltschaft Cottbus. Auch Körperverletzung wird einzelnen Aktivisten vorgeworfen. Insgesamt 19 Ermittlungsverfahren sind gegen Teilnehmer der Klimaproteste eingeleitet worden, sagte Brandenburgs Justizminister Stefan Ludwig (LINKE) am vergangenen Donnerstag im Rechtsausschuss des Landtags. »Mit einigen dieser Vorwürfe, insbe... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
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Elsa Köster
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Zu den Protestaktionen des Anti-Kohlebündnisses »Ende Gelän᠆de« in der Lausitz waren Tausende angereist. Jetzt ermittelt der Staatsanwalt gegen linke Blockierer und rechte Schläger.
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Brandenburg, Braunkohle
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Hauptstadtregion
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Brandenburg
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1018182.am-ende-vom-gelaende-wird-nun-ermittelt.html
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Workers for Future
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Um halb fünf in der Früh ging es in Chemnitz los, erzählt Ariane Grund, damit sie und ihre Kolleg*innen pünktlich um acht Uhr am Freitag im Berliner Regierungsviertel für ihre Sache einstehen konnten. Ariane Grund ist IG-Metall-Vertrauensfrau im VW-Motorenwerk Chemnitz. »Die Kollegen haben natürlich Angst um die Zukunft ihres Werkes, weil wir noch immer Verbrennermotoren bauen«, sagt sie. »Wir wissen noch nicht, wie es weitergeht.« Dabei sei man im Werk im benachbarten Zwickau bereits weiter. Dort habe VW seit einiger Zeit auf Elektromotoren umgestellt. Grund und ihre Kolleg*innen sind dem Aufruf der IG Metall gefolgt, um für einen »fairen, sozial-ökologischen Wandel der Industrie« zu demonstrieren: Der Umbau in klimaneutrale Fabriken soll nicht auf Kosten der Beschäftigten gehen. »Keine Entlassungen in der Transformation« lautet eine zentrale Forderung der Gewerkschaft. Rund 1000 Menschen sind nach Berlin zu der Kundgebung zwischen dem Reichstagsgebäude und dem Paul-Löbe-Haus am Ufer der Spree gekommen. Bundesweit haben laut IG Metall mehr als 50 000 Menschen in über 50 Städten an Protestaktionen teilgenommen. An Kundgebungen der kleineren Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie beteiligten sich Tausende Beschäftigte. Auch hier ging es darum, die Umstellung auf eine klimaneutrale Produktion »fair« zu gestalten. »Plötzlich steht jeder Arbeitsplatz auf dem Prüfstand«, sagt der Vertrauensmann Patric Succo vom Daimler-Werk in Berlin-Marienfelde, dem ältesten produzierenden Standort des Autokonzerns. Die Transformation sei für ihn und seine Kolleg*innen nicht nur ein Wort. Es gehe um Existenzen. »Wir reden hier von Menschen und nicht von irgendwelchen Kostenfaktoren«, sagt er am Rande der Kundgebung im Berliner Regierungsviertel. Der Strukturwandel werde dazu führen, dass in vielen Betrieben »kein Stein auf dem anderen« bleibt, prophezeit IG-Metall-Chef Jörg Hofmann bei einem Pressebriefing vor dem Aktionstag. Politik und Unternehmen könnten viel tun, damit Menschen nicht um ihre Arbeitsplätze und damit ihr Einkommen bangen müssten. Wenn es künftig keine Autos mit Verbrennungsmotoren mehr gibt, hätten beispielsweise Zehntausende Ingenieure keine Perspektive mehr. Ähnliches gilt für Beschäftigte mit anderen Fertigkeiten. Darum verlangt die IG Metall unter anderem, Menschen eine zweite Berufsausbildung oder einen zweiten Hochschulabschluss zu ermöglichen. Das von der FDP vorgeschlagene »Midlife-Bafög« sei zu niedrig. Wer eine neue Ausbildung machen müsse, sollte Unterstützung in Höhe des Arbeitslosengelds 1 erhalten. Die IG Metall könnte sich in Tarifrunden dafür einsetzen, dass Unternehmen diese öffentliche Förderung aufstocken. Für tarifpolitische Forderungen kann die Gewerkschaft streiken und damit ihr stärkstes Machtmittel einsetzen. »Die IG Metall fordert zurecht ein, dass die Transformation hin zu einer klimaneutralen Wirtschaft nicht zu Lasten der Beschäftigten gehen darf. Dazu braucht es einen besseren Schutz vor Kündigungen und eine stärkere Mitbestimmung insbesondere bei wirtschaftlichen Fragen«, sagt der gewerkschaftspolitische Sprecher der Linke-Bundestagsfraktion, Pascal Meiser, dem »nd«. Mit den Protestaktionen will die IG Metall auch und gerade Druck auf SPD, Grüne und FDP machen, die derzeit Koalitionsverhandlungen führen. Die Gewerkschaft plädiert für öffentliche Investitionen in Höhe von 500 Milliarden Euro bis zum Jahr 2030. Verwendet werden sollen die Mittel etwa für Stromnetze, Ladesäulen und den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs. Bei SPD und Grünen kann die Gewerkschaft dafür in einer möglichen Ampel-Koalition Fürsprecher haben. Beide Parteien waren mit ähnlichen Forderungen in den Bundestagswahlkampf gegangen. »Ihr könnt Euch auf Olaf Scholz und die SPD verlassen«, ruft der noch geschäftsführende Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) den Gewerkschafter*innen in Berlin zu. »Wir brauchen Investitionen«, pflichtet Grünen-Bundesgeschäftsführer Michael Kellner bei. Öffentliche Mittel bräuchten auch kleine und mittlere Unternehmen und Zulieferer in der Autoindustrie, um in neue Geschäftsmodelle investieren und Beschäftigte weiterbilden zu können, so die Gewerkschaft. Dabei müsse sichergestellt werden, dass staatliches Geld nicht in Unternehmen gesteckt wird, die Standorte schließen oder verlagern wollen oder die Tarifverträge ablehnen. Der IG-Metall-Chef sieht die Gefahr, dass Firmen den Umbau nutzen, um neue Produktionsanlagen in sogenannten Best-Cost-Countries aufzubauen, also in Länder mit niedrigem Lohnniveau. Als Beispiel nennt Hofmann den Konzern ZF, der in Serbien ein Werk für Elektroantriebe errichtet hat. Um die Investitionen für einen sozialen Klimaschutz zu finanzieren, hat die Gewerkschaft in einem Positionspapier vom Sommer für eine Abschaffung der Schuldenbremse, einen höheren Spitzensteuersatz und die Besteuerung hoher Vermögen plädiert. Wenn die Schuldenbremse bleibt, was insbesondere die FDP will und wahrscheinlich ist, müsse man ausloten, was innerhalb dieser Vorgabe möglich ist, so Hofmann. Ökonomen haben hierzu bereits Vorschläge vorgelegt, nach denen trotz Schuldenbremse erhebliche Investitionen möglich sind. Für Gewerkschafter*innen wie Succo ist indes wichtig, dass die Kosten gerecht verteilt werden. »Diese Transformation können wir nicht alleine stemmen«, sagt der Vertrauensmann aus Berlin.
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Simon Poelchau, Eva Roth
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Zehntausende Industriebeschäftigte haben für Klimaschutz und Jobsicherheit demonstriert. Der ökologische Umbau soll nicht auf Kosten der Beschäftigten gehen. Firmen, die Standorte schließen, dürften kein staatliches Geld erhalten, so die IG Metall.
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Beschäftigte, IG Metall, Jobs, Klimaprotest, Klimaschutz
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Politik & Ökonomie
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Politik Klimademo von Industriebeschäftigten
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1158127.workers-for-future.html
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Mohammed-Karikaturen 2.0?
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Das wird man ja wohl noch zeichnen dürfen, könnte das Motto des aktuellen Karikaturen-Streitchens sein. Auslöser ist, dass der Journalistinnenbund (jb) am Samstag die Hedwig-Dohm-Urkunde verleihen will. Und zwar an die Karikaturistin und Feministin Franziska Becker, die seit 1977 auch für die Frauenzeitschrift »Emma« zeichnet. In gewohnt provokanter Manier beeilte sich »Emma«, auf Twitter ausgerechnet Beckers Karikaturen zum Thema Islam zu teilen. Eine zeigt eine Polizistin mit Kopftuch, die einem Ladendieb die Hand abhackt. »Seit die bei der Polizei sind, ist der Ladendiebstahl merklich zurückgegangen«, sagt der Ladenbesitzer am Rand. Wie auf Knopfdruck entlud sich im Netz die Kritik, das sei muslimfeindlich. Allen voran die »taz«-Journalistin Sibel Schick, die befürchtet, solche Bilder spielten Pegida und Co. in die Hände. Eine andere schreibt: »Nie lag der jb so daneben mit seinem Preis.«
Die Becker-Fans hingegen tun die Warnungen vor einer rassistischen Instrumentalisierung der Satire als humorlos ab. Ein Blogger ärgert sich, dass Beckers Abbildungen von christlichen Priestern, die Frauen verprügeln, niemanden interessierten, nur ihre Kritik am Islam störe. Auch die Namensgeberin des Preises, Hedwig Dohm, setzte sich intensiv mit Religion auseinander. Das traurige Gehacke über Becker erinnert an die Mohammed-Karikaturen, die 2015 in der dänischen Zeitung »Jyllands-Posten« erschienen waren. Das lässt – leider – wenig Raum für die Preisträgerin, die jenseits aller Politik einfach sehr gut zeichnen kann. Sie wird übrigens nicht nur für ihre Karikaturen in der »Emma« ausgezeichnet – sondern für ihr Lebenswerk. Becker, 1949 in Mannheim geboren, ist seit den 1970ern feministisch aktiv. Sie arbeitete für »Psychologie Heute«, »Titanic« und »Stern« und erhielt bereits mehrere Preise, zuletzt den Wilhelm-Busch-Preis. Ob als nächstes die Hedwig-Dohm-Urkunde folgt, bleibt abzuwarten. Die nd-Anfrage an den jb, der nun intern diskutiert, wurde nicht rechtzeitig beantwortet.
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Lotte Laloire
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Eine Muslima hackt dem Ladendieb die Hand ab – das ist eines von vielen Motiven der Karikaturistin Franziska Becker. Sie soll am Samstag den Hedwig-Dohm-Preis erhalten - und die Kritik reißt nicht ab.
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Feminismus, Islamfeindlichkeit, Journalismus, Medien, Medienkritik
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Feuilleton
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Kultur Hedwig-Dohm-Urkunde
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1121730.mohammed-karikaturen.html
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Ein Mal Klassismus bitte, aber ohne Klasse
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Unter dem Schlagwort »Klassismus« diskutieren Linke mittlerweile Klasse als Diskriminierungsverhältnis. Auch im jüngst erschienenen Sammelband »Solidarisch gegen Klassismus - organisieren, intervenieren, umverteilen« aus dem Unrast-Verlag geht es viel um verweigerte Chancen, unmögliche Klassenreisen und Linke, die anderen mit ihren bürgerlichen Manieren das Leben schwer machen. Die in diesem neueren Diskurs entstandenen Schriften helfen Betroffenen, ihre Lebenserfahrungen besser zu begreifen und sich individuell und im Bündnis mit anderen zu widersetzen. Andererseits mindert das auf Diskriminierung und damit auf Moral fokussierende Nachdenken über Klassismus die Chancen, den tatsächlichen Klassencharakter der Menschen zu verstehen. Diese teilen mehr als ihre relative Ausgeschlossenheit aus der bürgerlichen Gesellschaft. Es ist ja wahr: Linke Parteien und die Zivilgesellschaft sind voll von Bürger*innenkindern, die subtil jeden auf den Platz zurück verweisen, der mit der falschen Sprache, dem falschen Habitus oder der falschen Kleidung aus der Reihe tanzt. So produzieren sie das alltägliche Paradox, dass eine Linke, die sich der Emanzipation der Deklassierten mehr oder weniger stark verschrieben hat, diese Deklassierung fortführt. Und auch an den Universitäten, den großen Katalysatoren des Aufstiegs an der Karrieresprossenwand, stoßen Arbeiter*innenkinder schnell an kaum greifbare Grenzen. Viele von ihnen scheitern schließlich, im Zweifelsfall trotz besserer Noten. Ihnen fehlt die nötige Selbstverständlichkeit im Umgang mit Leuten, die ein »Dr.« vor ihrem Namen führen, und im Small-Talk, mit dem wissenschaftliche und geschäftliche Bündnisse geschmiedet, Seilschaften geknüpft werden. »Klassismus« wird verstanden als Diskriminierung aufgrund der Klassenbiografie, in der das aktuelle Einkommen genau so steckt wie die Erfahrungen und Prägungen der Vergangenheit. Und natürlich dienen Erzählungen wie »vom Tellerwäscher zum Millionär« vor allem der Sicherung des ungleichen Status Quo, nicht dazu, dass breitere Schichten die Armut verlassen könnten, in der sie gehalten werden. Das Beispiel der unglaublich wenigen Menschen, die solche Aufstiege schaffen, verdeutlicht im Gegenteil den »unten« Verbliebenen noch, dass ihnen eben Fleiß oder Talent fehlten, ihre Misere selbst verschuldet sei. Aber: Marx, auf den die Rede von der »Klasse« zurückgeht, taucht im Diskurs nur zwischen den Zeilen auf. Eine Auseinandersetzung mit seinem Werk wird auffällig gemieden. Dabei könnte man in den 150 Jahre alten Schriften lernen, dass Klasse etwas handfesteres, blutigeres ist als bloße Diskriminierung: zunächst ist die Enteignung der Arbeiter*innen von ihren Subsistenzmitteln militärisch vollzogen worden, und zwar auf britischem Ackerland ebenso wie als Kolonisierung und Versklavung ganzer Kontinente. »Ursprüngliche Akkumulation« nennt Marx das. Auf diese brutale Schicht der Geschichte der Klassenbildung schließlich legte sich der nun schon hunderte Jahre währende, bewusstlose Prozess der rastlosen Akkumulation von Kapital »aus sich selbst heraus«. Wenn es die Welt der Reichtümer in Warenform selber ist, die zur fortwährenden Enteignung durch Lohnarbeit antreibt, versagen die Kategorien der Moral. Dass der Besitzlose den selben Preis für Brot zahlen muss wie die Reiche, ist ja perfiderweise gar keine Diskriminierung, sondern eine Gleichbehandlung von Ungleichen. Den Klassenkampf wird uns darum kein Antidiskriminierungsbüro abnehmen.
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Jeja Klein
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Die Diskussionen über Klassismus vermeiden auffällig die Auseinandersetzung mit Marx. Doch könnte man gerade von dem lernen, dass Klassenkampf nicht ins Antidiskriminierungsbüro, sondern zur Revolution führen soll. Höchste Zeit, anders über Klasse zu reden.
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Antidiskriminierung, jejanervt, Klassenkampf, Klassismus
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Meinung
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Kommentare Klassismus
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2020-11-27T16:44:52+0100
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2020-11-27T16:44:52+0100
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2023-01-21T09:37:38+0100
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1145037.klassismus-ein-mal-klassismus-bitte-aber-ohne-klasse.html
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Neue Bühne – alter Stil?
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(dpa). Stararchitekt David Chipperfield hat einen neuen Entwurf für die Berliner Kudamm-Bühnen vorgelegt. Damit hat er Berlins Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) und die Theaterleitung überzeugt, wie die Senatskanzlei am Mittwoch mitteilte. Ein Ende des lange anhaltenden Streits um die Investorenpläne für die Traditionsbühnen ist in Sicht. Das Gelände bekommt dem Plan zufolge eine Fußgängerpassage vom Kudamm aus und einen neuen öffe... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
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Redaktion nd-aktuell.de
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Lösung für Berliner Kudamm-Bühnen in Sicht / Wowereit von Konzept überzeugt
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Klaus Wowereit, Theater
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Hauptstadtregion
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Brandenburg
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/173222.neue-buehne-alter-stil.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
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Im Eilzugtempo durch zwei Jahrhunderte Australien
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Brisbane: Langsam verschwindet die beeindruckende Skyline aus dem Blick. Kaum zu glauben, dass die Stadt noch bis vor rund 20 Jahren als das »größte Provinzkaff der Welt« galt. 1824 als englische Sträflingskolonie für Schwerverbrecher gegründet, dämmerte Brisbane mehr schlecht als recht vor sich hin. Erst mit der Weltausstellung im Jahr 1988 kam der Aufschwung. Heute ist es eine quirlige, moderne und junge Stadt mit rund 1,8 Millionen Einwohnern. Gladstone: Sieben Stunden fährt der Zug immer parallel zum Pazifik, es ist stockdunkel, wenn er in Gladstone einrollt. Aber viel zu sehen gibt es für Touristen ohnehin nicht. Die steigen hier zumeist nur aus, um im größten Jachthafen südlich des Äquators den Katamaran zu erreichen, der dort nach Heron Island, der nur einen Kilometer langen feinsandigen Insel im Great Barrier Reef startet. Das wegen seiner reichen Fauna zum Nationalpark erklärte Eiland ist auch der Geburtsort der riesigen Meere... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
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Heidi Diehl
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24 Stunden braucht der »Spirit of the Outback« (Geist des Outbacks) von Brisbane an der australischen Ostküste bis Longreach, dem »Tor zum Outback«. Auf 1325 Kilometern Zugfahrt genießt man nicht nur fantastische Ausblicke, sondern bekommt auch einen Einblick in 200 Jahre Geschichte des fünften Kontinents.
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Australien, Reisen
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Reise
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/169746.im-eilzugtempo-durch-zwei-jahrhunderte-australien.html
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Schutz und Hilfe, aber nicht für alle
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Die Bilder aus der Ukraine sind nur schwer zu ertragen: flüchtende Menschen, Menschen ohne Hab und Gut, blutende Menschen, weinende Menschen, tote Menschen. Was wir aber in der täglichen Berichterstattung nicht oder nur selten sehen, sind Menschen mit Behinderungen. Warum eigentlich? Menschen mit Behinderungen sind in so ziemlich jedem gesellschaftlichen Bereich wenig bis gar nicht sichtbar, weil sie durch strukturelle Exklusion und Diskriminierung unsichtbar gemacht werden - in Arbeit, Bildung, Wohnen, Freizeit. In der Ukraine leben circa drei Millionen Menschen mit Behinderungen, aber es stellt sich die Frage, wie viele von ihnen überhaupt die Chance haben (werden), zu flüchten oder zumindest in Sicherheit gebracht zu werden. Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen.
dasnd.de/hohmann Stellen Sie sich also vor, Sie sind Rollstuhlfahrer*in und können nicht in einen Luftschutzbunker, den Keller oder die Metro-Station fliehen, weil Sie wegen der Treppen nicht aus ihrer Wohnung rauskommen können. Stellen Sie sich vor, Sie sind gehörlos und können daher nicht die Sirenenwarnung wahrnehmen und auch keine aktuellen Informationen über den Computer und das Smartphone lesen, weil das Internet nicht mehr funktioniert. Stellen Sie sich vor, Sie sind auf eine dauerhafte Beatmung angewiesen und der Strom fällt aus. Stellen Sie sich vor, Sie haben Diabetes und können kein neues Insulin mehr erhalten. Stellen Sie sich vor, Sie sind in einer psychiatrischen Einrichtung und werden bei der Bombardierung unfreiwillig festgehalten oder Sie leben aufgrund ihrer Lernbeeinträchtigung in einer Wohneinrichtung und werden beschossen. Was tun Sie dann? Wer hilft Ihnen? Wie können Sie sich selbst helfen? All diese Szenarien erscheinen für uns im stabilitätsverwöhnten Deutschland weit weg - sie scheinen etwas zu sein, dass nur in Gebieten mit bewaffneten Konflikten und Kriegen passiert. Das ist falsch. 2021 tötete die Flutkatastrophe in Sinzig zwölf lernbehinderte Menschen in einer Einrichtung; sie ertranken jämmerlich, weil man im Vorfeld einfach vergessen hatte, die Menschen zu evakuieren. Szenarien dieser Art werden allerdings zunehmen, denn nicht nur die Anzahl der bewaffneten Konflikte in der Welt steigt, sondern auch die Anzahl von Katastrophen aufgrund des Klimawandels. Eine japanische Studie hat festgestellt, dass Menschen mit Behinderungen ein vierfach erhöhtes Risiko haben, in Katastrophenfällen zu sterben. Außerdem sind behinderte Menschen im Katastrophengebiet als auch auf der Flucht überproportional Gewalt und Missbrauch ausgesetzt, insbesondere behinderte Mädchen, Jungen, Frauen, Schwangere und Senior*innen. Behinderte Menschen benötigen barrierefreien Transport und Unterbringung, diskriminierungsfreien und selbstbestimmten Anspruch auf eine Notversorgung sowie Informations- und Kommunikationsübermittlung, Wasser- und Sanitärversorgung, die zugänglich sind. Eine wirksame Katastrophenabwehr beinhaltet nicht nur aktives Mitdenken und Partizipation von Menschen mit Behinderungen bei der Erstellung dieser, sondern auch das systematische Identifizieren von ihnen in den jeweiligen Gefahrensituationen. Als Abschreckung missbraucht - Menschen mit Behinderung dienen häufig als Vorzeigeobjekte für Folgen, die Fehlverhalten im Straßenverkehr haben kann, kritisiert Greta Niewiadomski. Studien zeigen auch, dass im Notfall Angehörige von behinderten Menschen teilweise entscheiden müssen, ob sie sich selbst oder die behinderten Familienmitglieder retten. Das darf nicht sein! Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) stellt einen Paradigmenwechsel für Menschen mit Behinderungen dar - weg vom medizinisch-definiertem Objekt und hin zum Menschenrechtssubjekt, das seine Rechte einfordern kann als auch einen unabdingbaren Anspruch auf dessen vollste Wahrnehmung und Umsetzung hat. Artikel 11 der UN-BRK verlangt alle erforderlichen Maßnahmen, um den Schutz und die Sicherheit von Menschen mit Behinderungen zu gewährleisten. Damit wird das humanitäre Völkerrecht ganz klar in die Pflicht genommen. Katastrophenhilfe muss neutral, unparteilich und diskriminierungsfrei erfolgen, damit die Rechte von Menschen in Gefahrensituationen gewährleistet und sie evakuiert und geschützt werden können. Dies gilt auch für behinderte Menschen, denn sie sind keine Menschen zweiter Klasse. Genau hinschauen, nicht wegschauen - das ist unsere Pflicht.
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Maria-Victoria Trümper
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Menschen mit Behinderung sind in vielen gesellschaftlichen Bereich kaum sichtbar - auch bei der Hilfe in Katastrophenfällen. Das gefährdet ihren Schutz und Evakuierung, kritisiert Maria-Victoria Trümper.
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Antidiskriminierung, Behindertenrechte, Flut, Menschen mit Behinderung
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Meinung
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Kommentare Menschen mit Behinderung
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2022-03-20T12:25:01+0100
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2022-03-20T12:25:01+0100
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2023-01-20T18:58:48+0100
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1162275.menschen-mit-behinderung-schutz-und-hilfe-aber-nicht-fuer-alle.html
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Linksfraktionschef Sebastian Walter soll Spitzenkandidat werden
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Brandenburgs Linksfraktionschef Sebastian Walter soll bei der Landtagswahl am 22. September 2024 der Spitzenkandidat seiner Partei sein. Dafür haben sich Landesvorstand und Landesausschuss der Linken am Samstag ausgesprochen, wie Walter das »nd« im Anschluss informierte. Walter war bereits bei der Landtagswahl 2019 Spitzenkandidat, damals in Doppelspitze mit der Landtagsabgeordneten Kathrin Dannenberg. Diesmal soll er alleiniger Spitzenkandidat sein. Beim Strausberger Friedensfest am Samstag erzählte Walter den Besuchern von dieser einstimmigen Empfehlung von Landesvorstand und Landesausschuss. Nominiert wird der Spitzenkandidat Ende Januar in Templin durch eine Vertreterversammlung. Walter führt nicht nur die Linksfraktion im Landtag, er ist auch Landesvorsitzender seiner Partei. Er werde sich für eine starke Linke einsetzen, die konsequent für Frieden und soziale Gerechtigkeit streite, versprach der 33-Jährige. Zur schnellen Beendigung des Krieges in der Ukraine seien ein sofortiger Waffenstillstand und Friedensverhandlungen notwendig, appellierte er. Ähnlich äußerten sich auch andere Gäste des Friedensfestes. So sagte die Landtagsabgeordnete Bettina Fortunato (Linke) gleich zur Eröffnung, das Töten müsse ein schnelles Ende finden. Bundestagsfraktionschef Dietmar Bartsch verurteilte den russischen Überfall. Deutschland sollte sich in einen Friedensdialog einbringen, anstatt immer mehr Waffensysteme ins Kriegsgebiet zu liefern, sagte er. Im Vorfeld des Friedensfestes gab es bereits am Donnerstagabend ein Friedensforum in der Stadt. Dabei erläuterte der Wirtschaftswissenschaftler Kai Kleinwächter vor etwa 60 Zuhörern die desolate wirtschaftliche Lage der Ukraine. Sie sei mittlerweile der ärmste Staat Europas, ärmer noch als der Kosovo, Moldova und Albanien. Das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner betrage nur noch 3700 US-Dollar. Im Kosovo seien es 4300 Dollar, in Russland 10 100 und in Deutschland 46 200 Dollar. In der Sowjetunion der 1970er und 1980er Jahre sei die Ukraine eine der führenden Republiken gewesen. Doch während sich Polen, Rumänien und Russland seit 1991 einigermaßen entwickelten, habe die Ukraine zunächst bis zur Jahrtausendwende in einer lange anhaltenden Krise gesteckt und seit 2008 stagniere die Wirtschaft. Eine EU-Mitgliedschaft sei nach den geltenden Kriterien für einen Beitritt »ausgeschlossen«, sagte Kleinwächter. In den von Russland kontrollierten Gebieten Donezk und Luhansk sehe es keineswegs besser aus, betonte er. Die Ukraine sei vom Ausland abhängig. EU und USA pumpten seit 2014 pro Jahr durchschnittlich zehn Milliarden Euro hinein. »Zu Russland haben wir keine Zahlen, aber es sind wahrscheinlich ähnliche Summen.« Kleinwächter rechnete hier auch die Krim hinzu. Die Annäherung an das Ausland, ob nun an den Westen auf der einen Seite oder Russland auf der anderen, habe zu einer weiteren Verarmung geführt. Seit Herbst 2022 verschiebe sich die Frontlinie kaum noch, erinnerte Kleinwächter. Aber die Wirtschaft werde nach wie vor wechselseitig zerstört. 40 Prozent der Bevölkerung benötige dringend humanitäre Hilfe. Zum Vergleich: In Afghanistan seien es 30 Prozent. Bei einem Wachstum von 2,5 Prozent würde die Ukraine mehr als 80 Jahre benötigen, um aufzuholen. Schätzungsweise eine Million Zivilisten seien schon umgekommen. »Wie viele Opfer sind genug, bis der Begriff ›Souveränität‹ sinnlos wird?« So fragte Kleinwächter. Seine Antwort: »Aus meiner Sicht ist der Punkt längst überschritten. Der Krieg muss ein Ende haben.« Die Journalistin Kathrin Gerlof widmete sich der Frage, wer am Krieg in der Ukraine verdient. Gerlof zufolge ermöglichen Kriege, dass Regierungen die Demokratie zeitweise oder auf Dauer abbauen und Bevölkerungen auf eine Militarisierung einschwören. Gerlof erklärte: »Es gibt viele Branchen, die infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine hohe Gewinne einstreichen.« Sie nannte den Rüstungskonzern Rheinmetall, dessen Aktie mit über 200 Euro mehr als doppelt so viel wert sei wie in den Tagen vor dem russischen Überfall im Februar 2022. Der Ostasienexperte Wolfram Adolphi informierte über chinesische Friedensbemühungen, die im Westen fast unbekannt seien.
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Andreas Fritsche
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Bei der Landtagswahl 2019 fiel Die Linke mit ihrem damals noch wenig bekannten Spitzenkandidaten Sebastian Walter von 18,6 auf 10,7 Prozent. 2024 will er für eine starke Linke antreten.
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Die Linke, Friedensbewegung, Russland, Ukraine
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Hauptstadtregion
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Berlin Landtagswahl Brandenburg
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2023-09-10T17:08:36+0200
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2023-09-10T17:08:36+0200
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2023-09-11T11:07:48+0200
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https://www.nd-aktuell.de/artikel/1176175.landtagswahl-brandenburg-linksfraktionschef-sebastian-walter-soll-spitzenkandidat-werden.html?
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Neue alte Heimat
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In Australien ist er als Eastern Quoll bekannt, bei uns als Tüpfelbeutelmarder. Seit über 50 Jahren war das kleine Raubtier auf dem Festland des fünften Kontinents ausgestorben. Jetzt haben Umweltschützer die ersten 20 Tiere aus einer Aufzuchtstation auf Tasmanien im Booderee-Nationalpark von New South Wales in die Wildnis entlassen. 80 weitere sollen in den nächsten Jahren folgen. Für die Aktivisten der Organisation Rewilding Australia, die das Projekt angeschoben haben, war die Bekanntgabe der Nachricht ein bewegender Augenblick. Die kleinen Jäger, die sich von Mäusen, Ratten und Insekten ernähren, waren einst großflächig entlang der gesamten Ostküste Down Unders beheimatet. Noch in den letzten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts lebten sie hier. Ein massiver Rückgang im Bestand war um 1900 zu verzeichnen, möglicherweise durch eine Seuche. Größere Raubtiere wie Fuchs und verwilderte Katzen taten das Übrige, diese Unterart des ... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
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Thomas Berger
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Ein kleines Raubtier galt in Australien als ausgestorben. Nun wollen Umweltschützer den Tüpfelbeutelmarder wieder ansiedeln. 20 Tiere aus einer Aufzuchtstation wurden in die Wildnis entlassen.
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Australien, Umweltschutz
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Politik & Ökonomie
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Wirtschaft und Umwelt Ausgestorbene Tierart
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1083263.neue-alte-heimat.html
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Marktkonformer Populismus
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Ja was denn nun: Will die neue rechts-/linkspopulistische Koalition in Italien nun der EU den Kampf ansagen, sich mit Brüssel arrangieren oder einfach nur tun, was ihr gerade so beliebt? Dies alles kann man aus den Äußerungen irgendwie relevanter Regierungspolitiker herauslesen, die sich in den vergangenen Tagen zu den Etatplänen für die kommenden Jahre äußerten und mit unterschiedlichen Zahlenspielen aufwarteten. Gewiss, die EU-Defizitvorgaben können kontraproduktiv für die soziale und wirtschaftliche Entwicklung sein. Gerade deshalb braucht es eine schlüssige wirtschaftspolitische Gegenstrategie. In Rom freilich gibt es ein bisschen Keynes, ein bisschen neoliberale Steuersenkungspolitik, ein bisschen Klientelismus. Aber das ist das Grundproblem der Populisten, dass es um verbales Getöse geht statt um die oft recht komplexe Sache. Doch auch Italiens Regierung wird sagen müssen, wie sie den gewaltigen Schuldenberg abzubauen gedenkt. Von dem schon mal ins Spiel gebrachten Schuldenschnitt ist aber keine Rede mehr - die vergangenen Tage haben gezeigt, dass man diesen mit hohen Zinsaufschlägen auf Staatsanleihen sehr teuer bezahlen müsste. Und so übt man sich in Rom zunehmend in Kompromisssuche. Angela Merkel sprach einst von »marktkonformer Demokratie«. Italien entwickelt eine neue Spielart: den marktkonformen Populismus.
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Kurt Stenger
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Kurt Stenger über das Hin und Her beim italienischen Staatshaushalt
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Angela Merkel, Bildungspolitik, Europäische Union, Italien, Verschuldung
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Meinung
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Kommentare Italienischer Staatshaushalt
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1102385.italienischer-staatshaushalt-marktkonformer-populismus.html
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Deutsch-türkisches Verhältnis: Zwischen Klartext und Kooperation
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Der Besuch des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan in Berlin kommt zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt für den Gastgeber. Seit Beginn des Gazakriegs hat sich Erdoğan schon mehrfach zu Israel und zur Hamas geäußert – immer in fundamentaler Opposition zur deutschen Position, die sich in dem Schlagwort »Staatsräson« verdichten lässt. Erdoğan sprach im Zusammenhang mit Israel dagegen von »Faschismus«, nannte Israel einen »Terrorstaat«, der einen »Genozid« in Gaza begehe; die Hamas bezeichnete er als »Befreiungsorganisation«. Es dürfte interessant werden zu sehen, wie Bundeskanzler und Bundespräsident ihn vom Gegenteil überzeugen wollen. Der Besuch des türkischen Präsidenten war lange geplant und sollte nach seiner Wiederwahl im Frühjahr eine Geste der Wiederannäherung sein. Seitdem haben sich die Rahmenbedingungen geändert. Die anfängliche vorsichtige Öffnung auf beiden Seiten ist wieder der Konfrontation gewichen. Vor allem die unterschiedliche Sicht auf den Terror-Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober und auf die israelische Reaktion belasten derzeit die Beziehung. Dennoch hält die Regierungskoalition das Treffen für wichtig. Das hat einen bestimmten Grund: Das Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei von 2016. Michael Roth, SPD-Politiker und Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestags, hat sich für eine Wiederbelebung des EU-Türkei-Deals ausgesprochen. »Aber wir sollten das aus einer Position der Stärke und des Selbstbewusstseins heraus tun, weil ein Migrationsabkommen dient nicht nur den Interessen der Europäischen Union, sondern vor allem auch der Türkei«, sagte Roth am Freitag im ARD-Mittagsmagazin. Wegen der angespannten wirtschaftlichen Lage brauche die Türkei die Europäische Union als starken Partner in Sachen Wirtschafts- und Migrationspolitik, meint Roth. Er hält das Erpressungspotential gegenüber der EU heute für geringer. Teller und Rand ist der nd.Podcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch. Scharfe Kritik am Besuch Erdoğans äußert die Linkspartei: »Die Bundesregierung sollte den Besuch als Gelegenheit nutzen, um deutliche Kritik an der Politik der türkischen Regierung zu artikulieren, die im Inland undemokratisch und nach außen aggressiv auftritt«, erklärte Gökay Akbulut, migrationspolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke und stellvertretende Vorsitzende der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe. Außerdem müsse die Bundesregierung »unmissverständlich zum Ausdruck bringen, dass sie die Unterstützung der Hamas in keiner Weise toleriert«, und Erdoğan auffordern, »die permanenten völkerrechtswidrigen Angriffe auf Kurden im Nordirak und Nordsyrien endlich zu stoppen«. Der Vorsitzende der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe im Bundestag, Max Lucks (Grüne), forderte wegen der Parteinahme Erdoğans für die islamistische Hamas Rüstungsexporte an die Türkei sowie Hermes-Bürgschaften für in der Türkei tätige deutsche Unternehmen auf den Prüfstein zu stellen. Bei Waffenlieferungen könnte sich aber das genaue Gegenteil abzeichnen. Die Türkei will 40 Eurofighter kaufen und hofft dazu auf Zustimmung aus Deutschland. Der deutschen Regierung sei der Sachverhalt nicht fremd, sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit am Freitag. Ob das Thema in Berlin angesprochen wird, war unklar. Mit Agenturen
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Cyrus Salimi-Asl
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Es ist einer der heikelsten diplomatischen Besuche in Deutschland seit langem: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier empfing den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Scharfe Kritik begleitet den Besuch.
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Berlin, Einwanderung, Europäische Union, Hamas, Israel, Nahost, Türkei
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Politik & Ökonomie
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Politik Deutschland / Türkei
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2023-11-17T17:39:44+0100
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2023-11-17T17:39:44+0100
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2023-11-19T10:11:16+0100
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https://www.nd-aktuell.de/artikel/1177859.deutschland-tuerkei-deutsch-tuerkisches-verhaeltnis-zwischen-klartext-und-kooperation.html?sstr=türkei|cyrus
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Bremen, Schleswig-Holstein und Berlin Spitze bei Inklusion
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Gütersloh. Bei der Entwicklung der schulischen Inklusion von Kindern mit Behinderungen gibt es große Unterschiede zwischen den Bundesländern. Insgesamt sei der Anteil der Kinder, die an separaten Förderschulen unterrichtet werden, in den letzten Jahren gesunken, teilte die Bertelsmann Stiftung am Montag in Gütersloh mit. Besuchten 2008 noch 4,9 Prozent aller Schüler eine Förderschule, waren es 2017 nur noch 4,3 Prozent. »Inklusion kommt an Deutschlands Schulen voran«, erklärte Stiftungsvorstand Jörg Dräger. »Die Chancen von Förderschülern, eine Regelschule zu besuchen, hängen allerdings immer noch sehr vom Wohnort ab.« Spitzenreiter bei der Inklusion ist nach einer Analyse des Bildungsforschers Klaus Klemm Bremen, wo nur noch 1,2 Prozent aller Schüler auf Förderschulen gehen. Besonders niedrige Anteile separat unterrichteter Kinder haben auch in Schleswig-Holstein (2,1 Prozent), Berlin (2,8 Prozent), Hamburg (3,1) und Niedersachsen (3,4 Prozent). In Baden-Württemberg (4,9 Prozent), Bayern (4,8 Prozent) und Rheinland-Pfalz (4,0 Prozent) ist dagegen die Quote der Förderschüler laut Analyse in den letzten zehn Jahren sogar gestiegen. Die höchsten Anteile von Kindern auf Förderschulen haben Mecklenburg-Vorpommern mit 6,0 Prozent, Sachsen-Anhalt (5,9 Prozent) und Sachsen (5,7 Prozent). Im Vergleich zum Schuljahr 2008/2009 gab es den größten Integrationssprung in Bremen und Thüringen. In der Hansestadt wurden damals noch 4,6 Prozent aller Kinder mit Förderbedarf auf Förderschulen »abgeschoben« - im Schuljahr 2016/2017 waren es nur noch 1,2 Prozent. Im rot-rot-grün regierten Thüringen halbierte sich der Anteil beinahe von 7,5 auf 4 Prozent. Vor allem im Süden und Westen hapert es offenbar noch mit der Inklusion. Die Studienautoren schreiben: »In Ostdeutschland hingegen geht die Exklusionsquote erheblich zurück.« Große Unterschiede bei der Inklusion gibt es den Angaben zufolge nicht nur regional, sondern auch je nach Förderbedarf. Während immer weniger Kinder spezielle Schulen für Lernbehinderte oder mit dem Förderschwerpunkt Sprache besuchten, nahm der Anteil separat unterrichteter Schüler mit sozial-emotionalen Handicaps, geistigen oder körperlichen Einschränkungen zu. Um die regionalen Unterschiede bei der Inklusion zu verringern, forderte Stiftungsvorstand Dräger bundesweit einheitliche Qualitätsstandards. Impulse dazu erhoffe er sich vom geplanten nationalen Bildungsrat. Die Schulen brauchten mehr sonderpädagogische Kompetenz und Fortbildungen für die Lehrkräfte, um den unterschiedlichen Schülern besser gerecht zu werden. epd/nd
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Redaktion nd-aktuell.de
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Die Inklusion von Kindern mit Behinderungen an Schulen kommt unterschiedlich schnell voran. Während sie im rot-rot-grün regierten Thüringen deutlich gesunken ist, ist sie im Süden Deutschlands sogar leicht gestiegen.
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Behinderte, Inklusion, Schule
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Politik & Ökonomie
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Politik Förderschulen in Bundesländern
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2018-09-03T08:44:39+0200
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2018-09-03T08:44:39+0200
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2023-01-21T19:04:26+0100
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1099258.bremen-schleswig-holstein-und-berlin-spitze-bei-inklusion.html
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Zwischen den Stühlen
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Am 14. Juli 1893 rekapitulierte Friedrich Engels in einem Brief an Franz Mehring: »Wir alle haben zunächst das Hauptgewicht auf die Ableitung der politischen, rechtlichen und sonstigen ideologischen Vorstellungen und durch diese Vorstellungen vermittelten Handlungen aus den ökonomischen Grundtatsachen gelegt und legen müssen. Dabei haben wir dann die formelle Seite über der inhaltlichen vernachlässigt: die Art und Weise, wie diese Vorstellungen etc. zustande kommen.« Andreas Peglau: Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus.
Psychosozial-Verlag. 680 S., geb., 49,90 €. Formell war es freilich ganz und gar nicht, was hier ausgelassen wurde: die Entstehung der Motive menschlichen Handelns, inklusive jener psychischen Strukturen, die hochgradig vor jedem Kontakt zur Arbeitssphäre geprägt werden - in Kindheit und Familie. Diese Lücke hat niemand konsequenter zu schließen versucht als Wilhelm Reich (1897-1957), Psychoanalytiker jüdischer Herkunft, Sigmund-Freud-Mitstreiter und zugleich dessen Antipode, seit 1925 Mitglied in linken Parteien Österreichs, ab 1930 - nun in Berlin lebend - der KPD. Hier engagierte er sich an führender Stelle in der KP-nahen Sexualreformbewegung, avancierte nach Freud zum populärsten psychoanalytischen Autor deutscher Sprache. Am 10. Mai 1933 war er dann einer von nur vier Analytikern, deren Bücher in der »Reichshauptstadt« Berlin verbrannt wurden; kurz darauf trafen ihn mehr NS-Verbote als seine sämtlichen Berufskollegen. Ebenfalls noch in jenem Jahr von Hitlers Machtantritt entzog die internationale Psychoanalytiker-Organisation Reich die Zugehörigkeit, weil er deren Anpassungskurs an das NS-Regime im Wege stand. Nahezu zeitgleich wurde er aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen, da er angeblich zu psychoanalytisch argumentiert und so vom Klassenkampf abgelenkt hatte. Seine während der ausgehenden Weimarer Republik gewonnenen Erkenntnisse fasste Reich 1933 in seiner Massenpsychologie des Faschismus zusammen: eine Analyse psychosozialer Grundlagen der Europa prägenden »rechts«-autoritären Regime, des enormen Erfolgs Adolf Hitlers und des Versagens der Linken im Kampf gegen ihn. Bis heute sind Reich und sein Werk sowohl in der Psychoanalyse als auch in der Linken weitgehend verdrängt - bedauerlicherweise. Andreas Peglau, selbst Psychologe und Psychotherapeut, engagiert sich seit langem dafür, diese Verdrängung aufzuheben. Als wichtigstes Ergebnis jahrelanger Recherchen ist sein Buch »Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus« zu nennen. Es dürfte zu Wilhelm Reichs 120. Geburtstag am 24. März für historisch Interessierte und vor allem heutigen Berufskollegen von Reich eine ergiebige Erkenntnisquelle sein. Zu der in ihrer Materialfülle einzigartigen Aufarbeitung sind 40 Extraseiten hinzugekommen. Sie informieren über Reichs - zeitweise wohl von der Komintern gelenktes - geheimes Wirken in der KPÖ und über seine Tätigkeit innerhalb des Einheitsverbandes für proletarische Sexualreform und Mutterschutz. Zudem über seine Freundschaft zu dem KPD-Abgeordneten Theodor Neubauer und seine Mitwirkung im Initiativkomitee zur Vorbereitung jenes 1932 in Amsterdam abgehaltenen Antikriegskongresses, dessen Organisation maßgeblich Willi Münzenberg oblag. Aber auch über die Verstrickungen von Psychoanalytikern in die psychologische Kriegsführung des »Dritten Reiches« und in die gegen Faschisten wie Kommunisten gleichermaßen gerichteten Aktivitäten von US-Geheimdiensten hat Peglau Zusätzliches zu berichten. Man sollte sich nicht vom beachtlichen Umfang dieses Buches abschrecken lassen. Es sei hier versichert, dass es erstens prägnant und flüssig geschrieben ist. Zweitens handelt es sich um eines der wichtigsten Bücher zur Geschichte der Psychoanalyse, das deren Niedergang von einer sozialkritischen Theorie und Praxis zur medizinalisierten, angeblich »unpolitischen« Wissenschaft erstmals detailliert nachvollziehbar macht. Und drittens bietet es die Wiederentdeckung eines herausragenden linken Sozialwissenschaftlers, dessen Werk von aktueller Brisanz ist: Reichs 1933 zu Papier gebrachten Erkenntnisse werden dringend benötigt, um den gegenwärtigen europäischen »Rechtsruck« nicht nur zu verstehen, sondern ihm auch angemessen entgegentreten zu können.
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Werner Abel
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Andreas Peglau entdeckt den Psychoanalytiker Wilhelm Reich neu
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Buchmesse Leipzig, Kommunisten, Literatur, Nationalsozialismus
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Feuilleton
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Kultur Buchmesse Leipzig
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1045587.zwischen-den-stuehlen.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
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Die Mauer fiel für alle
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Gülriz Eğilmez erinnert sich noch genau an den 9. November 1989, den Tag, an dem die Mauer fiel. Sie war 16 Jahre alt, Schülerin und lebte mit ihrer Familie in Berlin-Tempelhof. Sie erinnert sich an die Freude, die alle verspürten, und an das Gefühl, dass gerade Geschichte geschrieben wird. Eine Hochstimmung, die die ganze Nation erfasste. Die weiteren Entwicklungen der Nachwendezeit waren längst nicht für alle in Deutschland lebende Menschen freudvoll. Viele verbinden mit der Zeit fehlende Jobperspektiven und eine restriktive Asylpolitik, die vermehrt die Rückkehr der ehemaligen Gastarbeiter*innen in ihre Heimatländer forderte, bis hin zu gewaltvollen Pogromen gegen als nicht deutsch wahrgenommene Menschen wie in Hoyerswerda, Mannheim oder Rostock-Lichtenhagen und den Morden in Mölln und Solingen. »Meine politische Sozialisation in den 90er Jahren in Berlin war geprägt durch den erstarkenden Rassismus und die wachsende Ausländerfeindlichkeit in der Wendezeit«, sagt Eğilmez. Wie die Migrant*innen diese Zeit wahrgenommen haben, das sei ein Blickwinkel, der in der deutschen Erinnerungskultur nur marginal vorkommt, findet sie. Doch auch das sei deutsche Geschichte. Die brünette 47-Jährige mit lockigem Haar sitzt aufrecht vor ihrem Minztee in einem Café in Kreuzberg und spricht über ihre Vergangenheit und ihr aktuelles Projekt, den Mauerfall aus migrantischer Perspektive darzustellen. Im Sammelband »Erinnern stören«, der am 3. Oktober erscheint, zeigt Eğilmez die andere Seite der Wiedervereinigung. 2018 hatte sie gemeinsam mit ihrer langjährigen Freundin, der Filmemacherin Alexandra Weltz-Rombach, erstmals die Idee, einen migrantischen Blick auf die Nachwendezeit zu werfen und Migrant*innen in Kreuzberg zu ihren Erfahrungen in der Zeit zu befragen. »Mit offenem Blick - Açık bakışla« heißt das Projekt. Kreuzberg, das sich seit der Wende von einem für viele unattraktiven Mauer-Randbezirk - bewohnt von vielen migrantischen Familien - zu einem gentrifizierten hippen Viertel entwickelt hat, ist dafür perfekt geeignet. Die beiden Frauen haben die Wendezeit selbst hier erlebt und befragten Menschen aus verschiedenen Generationen, die die Zeit um den Mauerfall in Kreuzberg miterlebt haben. »Die Arbeit selbst ist weniger strikt akademisch, sondern verfolgt mehr einen Do-it-yourself-Ansatz«, sagt Eğilmez. Wenn sie wild mit den Händen gestikulierend davon erzählt, kann man die Leidenschaft, mit der sie sich der Sache widmet, förmlich spüren. Ihre Eltern stammen aus der Türkei und kamen in den 70er Jahren nach Deutschland. Gemeinsam mit zwei Brüdern wuchs Eğilmez in Duisburg auf. 1988 zog die Familie nach Berlin. Die Großstadt politisierte die junge Frau stark. Nach dem Abitur blieb sie in Berlin und begann verschiedene geisteswissenschaftliche Fächer zu studieren. Hier lernte sie auch ihre Projektpartnerin Alexandra Weltz-Rombach kennen. Einen Abschluss machte Eğilmez am Ende im Bereich Modedesign, danach war sie jahrelang in der Modebranche tätig und gründete ihr eigenes Label. Neben dieser Arbeit zog sich das politische Engagement durch ihr ganzes Leben. Eine Zäsur war für die Wahl-Berlinerin die Aufdeckung der NSU-Morde im Jahr 2011. »Dieser Skandal hat bei mir für eine Entfremdung von Deutschland gesorgt«, erzählt Eğilmez, und man sieht die Erschöpfung, die das Thema rassistische Gewalt bei ihr auslöst. Ein Jahr später zieht sie nach Istanbul und pendelt für sechs Jahre zwischen Berlin und der türkischen Metropole, von der sie mit leuchtenden Augen erzählt. Seit 2018 lebt sie wieder fest in Berlin und ist mittlerweile als selbstständige Projektarbeiterin tätig. »Mit offenem Blick« ist für sie ein Herzensprojekt. Auffallend sei gewesen, wie überrascht die Befragten zum Teil waren, dass jemand sich für ihre Wahrnehmung von der Wendezeit interessiere. Manche seien vorher noch nie nach ihrer Sicht auf die Dinge gefragt worden, obwohl auch sie damals Teil der deutschen Gesellschaft und Geschichte waren, sagt die groß gewachsene Frau nachdrücklich. Seit den 50er Jahren leben immerhin mehrere Millionen Migrant*innen in Deutschland, die das Land nach dem Krieg mit aufgebaut haben. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie weh das getan haben muss«, sagt Eğilmez mit Blick auf die von Ausgrenzung und rassistischer Gewalt geprägten Jahre nach dem Mauerfall. Was die Benachteiligung betrifft, sieht sie große Parallelen zwischen Migrant*innen und Ostdeutschen. Für Eğilmez ist klar: Viele der gegenwärtigen gesellschaftlichen Probleme resultieren aus der jüngeren deutschen Vergangenheit. Aus einer Zeit, die zu wenig und zu einseitig aufgearbeitet wurde. Das zeige sich auch in der Verleugnung der Gefahr eines organisierten Neonazismus, die es seit 40 Jahren in der Bundesrepublik gebe. »Ich weiß nicht, was noch passieren muss, damit die Regierung einsieht, dass sich etwas ändern muss«, sagt sie kopfschüttelnd. Deshalb sei es an der Zeit, eine inklusive Erinnerungskultur an den Mauerfall unter Berücksichtigung der migrantischen Perspektive zu etablieren. Mit ihrem Projekt will Eğilmez dazu beitragen, den Kanon deutscher Nachwende-Erinnerung zu verändern. Ein Text zum Projekt erscheint am 3. Oktober im Sammelband »Erinnern stören - Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive«, herausgegeben von Lydia Lierke und Massimo Perinelli. Verbrecher-Verlag, 540 Seiten, 20 Euro.
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Josefine Körmeling
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Mit einem Interviewprojekt in Berlin-Kreuzberg füllt die ehemalige Modedesignerin Gülriz Eğilmez eine Leerstelle: migrantische Perspektiven auf die deutsche Wiedervereinigung.
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Berlin, Einwanderung, Friedrichshain-Kreuzberg, Mauerfall, Rassismus
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Hauptstadtregion
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Berlin 30 Jahre Deutsche Einheit
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1142502.jahre-deutsche-einheit-die-mauer-fiel-fuer-alle.html
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Arme Erbschaftsteuer
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Deutschlands Wirtschaftswundergeneration ist in die Jahre gekommen. So stiegen die Einnahmen aus der Erbschaft- und Schenkungsteuer im vergangenen Jahr auf einen neuen Rekordwert von 6,3 Milliarden Euro. Das waren rund 15 Prozent mehr als im Vorjahr, wie das Statistische Bundesamt (Destatis) am Donnerstag in Wiesbaden mitteilte. Trotz des neuen Höchststands bestätigen die neuen Zahlen jedoch den Trend, dass die sogenannten Reichensteuern kaum Geld in die Staatskasse spülen. Auch aus der Vermögensteuer waren 1996 umgerechnet nur 4,6 Milliarden Euro an den Fiskus geflossen. Seither wird diese Steuer gar nicht mehr erhoben, denn die vom Bundesverfassungsgericht angemahnte Gesetzesreform blieb aus. Verteilt wurden die Einnahmen auf die Bundesländer, genau so wie heute die Steuereinnahmen aus Erbschaften und Schenkungen. Was die offensichtliche Trägheit vieler Bundespolitiker, die sie bei beiden Reichensteuern an den Tag legen, zum Tei... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
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Hermannus Pfeiffer
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Der neue Höchststand bei den Einnahmen täuscht über die geringe ökoomische Bedeutung der Erbschaftsteuer hinweg. Der anhaltende Streit über eine Reform dreht sich aus staatlicher Sicht eher um »Peanuts«.
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Erbschaft, Erbschaftssteuer, Vermögen
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Politik & Ökonomie
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Wirtschaft und Umwelt
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1021850.arme-erbschaftsteuer.html
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Armut: Eine Begegnung mit Folgen
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Liebe Veva! Ich muss immer wieder an unsere Begegnung vor ein paar Wochen in Köln denken, wo wir beide von einem Fernsehsender für eine Formatentwicklung zum Thema Armut eingeladen wurden. Es gab an dem Tag eine Situation, für die ich mich im Nachhinein schäme. Wir waren gerade zur Mittagszeit im Restaurant angekommen, als du sagtest, dass du dein Essen nicht in dem Restaurant einnehmen könntest, da du zu einer Corona-Risikogruppe gehörst. Den ganzen Tag über trugst du deine FFP3-Maske, und sie für das Essen neben uns abzunehmen, war dir zu riskant. Du bist dann zum Essen alleine hinausgegangen, während wir anderen sitzen blieben. Im Nachhinein verstehe ich, warum ich nicht mit hinausgegangen bin, obwohl es mir inzwischen unangenehm ist. Die anderen Teilnehmer*innen des Workshops waren größtenteils ebenfalls Journalist*innen. Und noch mehr als die geteilte Armutserfahrung in der Kindheit wog in diesem Moment unsere Erfahrung oder Identität als Journalist*innen in der Medienbranche. Alle, die wir an dem Workshop teilnahmen, hatten gemein, dass wir in unserer Kindheit und Jugend arm waren oder es immer noch sind. Aber die meisten von uns sind dazu noch Journalist*innen, und das bestimmte viel wesentlicher unseren Alltag: die Frage, was die Arbeit der anderen war, das Austauschen über mediale Phänomene und so weiter. Und dieser Punkt bringt mich zu einem Gedanken, den ich in letzter Zeit öfter habe, wenn in den Medien mal wieder von Repräsentation die Rede ist. Versteh mich nicht falsch, ich bin kein Feind von Repräsentation. Im Gegenteil: Mir haben in meiner Jugend, aber auch im Erwachsenenalter die Zugänge zu Debatten und Medienkonsum gefehlt, auch weil ich das Gefühl hatte, dass die Inhalte von Zeitungen und Fernsehsendern nichts mit meinem Leben zu tun hatten. Aber wenn ich sehe, dass die Repräsentation von Arbeiterkindern in den Medien als Allheilmittel für Gerechtigkeit angesehen wird, empfinde ich es als falsch. Es gibt in den Medien und in der Politik so viele Beispiele von Arbeiterkindern, die eben nicht solidarisch an der Seite der Armen stehen, sondern von ihrer Erfahrung, es aus der Armut heraus geschafft zu haben, so eingenommen sind, dass sie glauben, diese Schranken könne jede*r überwinden. Ich frage mich mit Blick auf diesen Tag in Köln, wie dir die Situation vorgekommen ist. Ob du dich »uns« Journalist*innen zugehörig gefühlt hast. An dem Tag habe ich neben deinen Ideen und Beiträgen nicht viel von dir mitbekommen. Was ich weiß, ist, dass du unter #ichbinarmutsbetroffen im Internet deine Stimme erhebst und so für eine gerechtere Welt kämpfst. Dein Engagement finde ich bewundernswert. In deinem Alter hatte ich für meine Erfahrungen keine Sprache. Ich hatte ein diffuses Unrechtsbewusstsein. Mich so dezidiert für meine Rechte – und die Rechte der Marginalisierten – einzusetzen, das war mir nicht möglich. Wenn ich mir Tweets unter #ichbinarmutsbetroffen anschaue, dann habe ich den Eindruck, dass das Schreiben darüber ein Gefühl der Selbstermächtigung sein muss. Nein, anders, ich habe nicht den Eindruck, ich glaube zu wissen, dass es selbstermächtigend ist. Denn ich schreibe ja ebenfalls zum Thema Ungleichheit und Armut, und mir hat diese Arbeit geholfen zu verstehen, unter welchen Ungerechtigkeiten ich leiden musste. Was ist es bei dir, dass dich trotz der Beschämung, die du und andere Aktivist*innen in den sozialen Medien erfahren, durchhalten und dich gegen Armut einsetzen lässt? Herzlichst! Dein Olivier
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Olivier David
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In dieser Folge von »Klassentreffen« schreibt Olivier David der Aktivistin und Armutsbetroffenen Genoveva Jäckle einen Brief – auf den sie in 14 Tagen an gleicher Stelle antwortet.
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Armut, Klassentreffen, Medienkritik, Pressefreiheit
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Meinung
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Kommentare Kolumne »Klassentreffen«
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2023-04-04T15:38:30+0200
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2023-04-04T15:38:30+0200
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2023-04-19T17:39:24+0200
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1172223.armut-eine-begegnung-mit-folgen.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
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BER in Schönefeld: Freiheit der Flüchtlinge endet am Flughafen
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Als Jugendlicher ist Omar Bah nach Europa geflohen und über Italien nach Deutschland gelangt. Die instabilen politischen Verhältnisse in seiner afrikanischen Heimat Gambia haben ihn dazu veranlasst. Er wollte in Freiheit leben. 2016 beantragte Omar Bah Asyl und stellte schnell fest, wie Flüchtlinge in der Bundesrepublik leben. Mehrere einander fremde Menschen aus verschiedenen Staaten mussten sich im Asylheim ein Zimmer teilen. Sie schliefen in Doppelstockbetten. Endlich fand der heute 24-Jährige einen Ausbildungsplatz als Maschinen- und Anlagenfahrer. Doch sein Rechtsanwalt erklärte ihm, dass er keine Chance habe, in Deutschland zu bleiben. Denn Gambia sei als sicher eingestuft. Bah könne noch seine Ausbildung beenden und dann müsse er seine Sachen packen und gehen. Er sei bisher kein Aktivist gewesen, erzählt der 24-Jährige. »Mein Engagement startet mit diesem Camp hier.« Es ist ein Protestcamp gegen Abschiebungen, das noch bis zum Dienstag läuft. Seit Donnerstag stehen immer mehr Zelte auf einer weitläufigen Wiese am Kiekebuscher See. Das Gewässer ist von hier aus nicht zu sehen, aber am Himmel immer wieder Flugzeuge, die den nahen Hauptstadtflughafen BER in Schönefeld ansteuern. Sie gehen tief herunter und setzen hinter dem Maschendrahtzaun des Airports auf der Landebahn auf. Ein für die Luftfahrt begeisterter älterer Herr stellt an dem Maschendrahtzaun zwei Klappstühle auf und beobachtet die Flugzeuge. In der Ferne sind Passagiermaschinen zu erkennen, die abheben. Die Richtung hängt vom Wetter ab. Gestartet wird immer gegen den Wind. Für Geflüchtete sind solche technischen Details aber uninteressant. Sie bewegt, ob sie in Europa eine Perspektive bekommen oder mit so einem Flugzeug weggeschafft werden, als wären sie keine menschlichen Wesen. In Schönefeld soll in den nächsten Jahren ein privater Investor ein Behördenzentrum für den Bund und das Land Brandenburg bauen. Hier sollen ankommende Flüchtlinge im Schnellverfahren abgefertigt und Rückführungen abgewickelt werden. »Abschiebedrehkreuz« – so und nicht anders bezeichnet die Landtagsabgeordnete Andrea Johlige (Linke) das Vorhaben. Der Investor würde 155 Millionen Euro einsetzen und dann über 30 Jahre hinweg 470 Millionen Euro Kaltmiete vom Staat kassieren, Preissteigerungen noch nicht eingerechnet, sagt sie. Die unmenschliche Asylpraxis wäre also auch noch ein gutes Geschäft. Gegen das Abschiebezentrum und gegen die Asylpraxis richtet sich das Camp am See. Bis zum 6. Juni werden dazu rund 500 Menschen erwartet – Flüchtlinge und Unterstützer ihrer Anliegen. Seit 1. Juni ist auch Zongo Seydou vor Ort. In Burkina Faso habe er sich politisch engagiert und sei deswegen verfolgt worden, berichtet der 37-Jährige. 2013 nach Deutschland gekommen, sei er zunächst in Bitterfeld in Sachsen-Anhalt gewesen. »Es ist dort sehr schlecht gelaufen«, erinnert sich Seydou an eine für ihn sehr schwere Zeit. »Die Angst vor Abschiebung ist zermürbend und kann sogar Menschen in den Tod treiben.« Er habe 2017 und 2018 unter extremem Druck gestanden. »Mir ging es sehr schlecht. Ich würde den Zustand als Depression beschreiben.« Wenn es nicht Menschen gegeben hätte, die ihm halfen, würde er heute nicht hier sitzen. Aber er kenne Leidensgenossen, die dieses Glück nicht hatten, die abgeschoben wurden oder die versuchten, sich das Leben zu nehmen. »Wir fordern, dass dieses System beendet wird und dass Menschen eine Chance bekommen«, sagt Seydou. Er lebt jetzt in Berlin und engagiert sich in der No Border Assembly, der Keine-Grenzen-Versammlung. Diese gehört zu den Initiativen, die das Zeltlager mit vielfältigem Programm am Kiekebuscher See auf die Beine gestellt haben. Verschiedene Organisationen steuerten etwas bei, Geld oder auch Ressourcen, erklärt Sulti Mandel. Definitiv habe keine politische Partei das Camp gesponsert. Soweit Mandel weiß, auch keine staatliche Organisation. Mandel stellt Fragen und gibt die Antworten gleich selbst. »Die erste Frage ist: Warum Flüchtlinge hier sind? Wegen der Folgen des Kolonialismus, wegen der Ausbeutung, wegen der weißen Vorherrschaft, wegen des Waffenhandels – deswegen mussten sie ihre Länder verlassen! Die zweite Frage ist: Warum gegen das Abschiebezentrum kämpfen? Weil Bewegungsfreiheit das Recht von allen ist!« Doch schon direkt am Zeltlager endet diese Bewegungsfreiheit – in diesem Falle durch eine Selbstbeschränkung der Vorsicht halber. Von hier führt ein etwa dreieinhalb Kilometer langer Fußweg zum Airport BER. Mit dem Expresszug vom Flughafenbahnhof wäre man dann in 19 Minuten am Berliner Ostkreuz. Trotzdem empfiehlt das Camp Besuchern für die An- und Abreise den acht Kilometer entfernten S-Bahnhof Zeuthen. Denn der kürzere Weg führt direkt am eingezäunten Rollfeld vorbei. Für weiße EU-Bürger ist das kein Problem. Doch am Camp warnt ein angeklebter Zettel in deutscher und englischer Sprache: »Benutze diesen Weg nicht, aus Sicherheitsgründen (erhöhte Polizeipräsenz).« Tatsächlich stehen zeitweise alle paar hundert Meter Polizeifahrzeuge vor dem Zaun und dahinter patrouillieren weitere. Bei Kontrollen könnten Asylbewerber schnell ernste Schwierigkeiten bekommen, vielleicht auch wegen Verstößen gegen die Wohnsitzauflage, die ihren Aktionsradius einschränkt. Wie die schwarze Aktivistin Napoli im Camp anprangert: »Geflüchtete werden kriminalisiert ohne Verbrechen.« In Berlin und Brandenburg immerhin dürfen sich die hier untergebrachten Flüchtlinge frei bewegen. Für Montag ist eine Demonstration geplant. Darüber hinaus gibt es an den sechs Tagen des Camps Filmvorführungen, Theateraufführungen, Zirkusnummern für Kinder und viele, viele Workshops zu allen möglichen asylpolitischen Themen. Es herrschen spartanische Bedingungen in dem Zeltlager. Dazu gehören Plumpsklos und andere provisorisch wirkende Einrichtungen. Bei aller Bescheidenheit und Ernsthaftigkeit kommt trotzdem ein bisschen Festivalstimmung auf. Auch bei politischen Botschaften, etwa wenn Aktivistin Napoli die Losung ausgibt: »Kein Mensch ist illegal.« Alle antworten im Chor: »Bleiberecht überall.«
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Andreas Fritsche
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Es soll Schluss sein mit Abschiebungen. Das verlangen Geflüchtete und ihre Unterstützer, die sich in einem Camp am Kiekebuscher See in Brandenburg versammeln. Bis Dienstag läuft das Programm.
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Asylpolitik, BER, Flüchtlinge, Flugverkehr
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Hauptstadtregion
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Berlin Asyl
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2023-06-02T13:35:58+0200
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2023-06-02T13:35:58+0200
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2023-06-06T15:05:08+0200
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1173686.ber-in-schoenefeld-freiheit-der-fluechtlinge-endet-am-flughafen.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
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Untersuchungsausschuss lädt Betroffene ein
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Genau 34 Minuten. So lange hat die zweite Sitzung des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses zum sogenannten Neukölln-Komplex diesen Freitag gedauert. In zwei Tagesordnungspunkten wurde unter Ausschluss der Öffentlichkeit die Beweisaufnahme gestartet, es wurden also Akten eingefordert, Beweisanträge gestellt und Zeug*innen geladen. Nach der parlamentarischen Sommerpause soll es dann am 2. September mit der Anhörung geladener Betroffener losgehen, verkündete der Schriftführer Vasili Franco (Grüne), der den entschuldigten Ausschussvorsitzenden Florian Dörstelmann vertrat. »Bis dahin ein schönes Aktenstudium«, wünschte Franco seinen Kolleg*innen. Eine Neuigkeit gab Franco im Anschluss bekannt: In der kommenden Sitzung werden Claudia und Christian von Gélieu und Heinz Ostermann aussagen. Die drei Zeug*innen wurden Opfer mutmaßlich rechtsextremer Anschläge in Neukölln. Das Ehepaar von Gélieu erlebte im Februar 2017 einen Brandanschlag, ihr Auto stand nachts in Flammen. Die Publizistin Claudia von Gélieu kämpft seitdem in der Initiative Rudow empört sich für Aufklärung. Heinz Ostermann ist Buchhändler, sein Buchladen »Leporello« wurde mehrfach von mutmaßlich Rechtsextremen mit Brandanschlägen attackiert. Gemeinsam mit Ferat Koçak, Abgeordneter der Linksfraktion und stellvertretendes Mitglied im Untersuchungsausschuss, wird er außerdem ab dem 29. August als Nebenkläger im Prozess gegen die Neonazis Sebastian T. und Tilo P. am Amtsgericht Tiergarten aussagen. T. und P. wird vorgeworfen, als Teil des Neuköllner Terror-Komplexes in der Nacht des 1. Februar 2018 die Autos von Ostermann und Koçak angezündet zu haben. Mit Ostermann und den von Gélieus als Zeug*innen zu beginnen, soll nicht nur ein Zeichen an alle Betroffenen sein. Die Reihenfolge habe auch einen praktischen Nutzen, sagt Niklas Schrader, Ausschussmitglied für die Linken-Fraktion, zu »nd«. »Behördenzeugen machen erst Sinn, wenn die dafür notwendigen Akten vorliegen.« Die Betroffenen hingegen würden von persönlichen Erfahrungen erzählen. Diese Anhörungen seien deshalb auch öffentlich. Bislang seien Unterlagen angefragt worden, die bereits der Sonderkommission vorlagen, Akten von Justiz-, Polizei- und Verfassunschutzbehörden zu Personen aus dem Umfeld der Verdächtigen und Akten zu sogenannten Einzelfällen, berichtet Schrader weiter. Als Beispiel nennt er den Fall »Ostburger Eck«: Eine Kneipe in Rudow, in der ein Polizist vom Verfassungsschutz bei einem Treffen mit dem Neonazi Sebastian T. beobachtet wurde, der Verfassungsschutz dann aber von einer Verwechslung ausging – für Schrader »eine der absurdesten Geschichten«. Zwei politische Fallstricke kamen am Freitag nur kurz zur Sprache. So hatte der Umstand, dass Linke-Politiker Koçak im Ausschuss sitzt und zugleich als Betroffener der Anschlagsserie vor Gericht auftritt, im Vorfeld für Trubel gesorgt. Vor zwei Wochen kündigte der Anwalt von Tilo P., Mirko Röder, an, gegen Koçaks Mitwirkung am Strafverfahren zu klagen. Koçaks »Sonderwissen aus dem Untersuchungsausschuss« würde sonst die Rechte seines Mandanten einschränken, so Röder zum »Tagesspiegel«. Dies, sagt Vasili Franco zu »nd«, sollte den Untersuchungsausschuss aber nicht beeinschränken. Koçak sei schließlich regulär gewählt und seine Rolle als Nebenkläger für den Ausschuss nicht relevant. Ein weiteres Politikum wurde ebenfalls umschifft. Wegen Dörstelmanns Abwesenheit hätte eigentlich dessen Stellvertreter die Sitzung leiten müssen. Doch den gibt es nicht, da der Posten der AfD-Fraktion zugestanden hätte, wogegen sich die anderen Parteien mehrheitlich wehrten. So blieb der Sitz leer und Franco war als Schriftführer für die Moderation verantwortlich.
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Nora Noll
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Nach der zweiten Sitzung ist bekannt: Drei Betroffene von mutmaßlich rechtsextremen Brandanschlägen werden als erste Zeug*innen im Untersuchungsausschuss zum Neukölln-Komplex aussagen.
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Berlin, Neukölln-Komplex, rechter Terror
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Hauptstadtregion
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Berlin Untersuchungsausschuss Neukölln-Komplex
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2022-07-01T15:07:58+0200
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2022-07-01T15:07:58+0200
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2023-01-20T18:06:22+0100
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1164983.untersuchungsausschuss-neukoelln-komplex-untersuchungsausschuss-laedt-betroffene-ein.html
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Kein langer Lulatsch kann die Sicht versperren
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Aus manchen Fenstern hängen Füße. Einige Türen sind geöffnet, die meisten geschlossen. Viele Pärchen haben es sich in den parkenden Wagen behaglich eingerichtet. Einige verbringen die Stunden aneinandergeschmiegt im offenen Cabrio. Es ist Sommer in Köln. Und am Rande der Stadt werden am späten Abend Spannung und Emotionen geboten. Open Air. Im Autokino, das wieder deutlich beliebter wird. Und das in vielerlei Hinsicht anders ist als andere Kinos. Punkt eins: Wo sonst muss man vor dem Film Fenster putzen? Silas und Annika sind gerade dabei, wischen gründlich und ausgiebig die Windschutzscheibe. Das junge Paar will die Reißzähne der Dinosaurier von »Jurassic World« schließlich messerscharf sehen. Auch viele andere sind in der Abenddämmerung so zu Gange. Die Autokennzeichen zeigen, dass die Besucher auch von weiter her kommen: Bielefeld, Bonn, Euskirchen, Siegen oder Coesfeld. »Das Autokino hat einen ganz besonderen Charme. Und man sitzt nicht mit irgendwelchen Unbekannten eng aufeinander«, sagt Willi, ein 31-Jähriger aus Jülich. Er freut sich über den lauen Abend, kommt aber auch im Winter - dann mit Wolldecke. »Es ist auch viel intimer, man bleibt schön für sich im geschlossenen Wagen«, ergänzt seine Freundin Janina. Kein langer Lulatsch könne einem die Sicht versperren. Weiteres Plus: Die Lautstärke lasse sich nach Wunsch rauf und runter regeln. Bevor es losgeht, erscheint ein Hinweis, welche Frequenz man einschalten soll, um den Ton übers Autoradio zu empfangen. Bundesweit gibt es laut Filmförderungsanstalt 20 Autokinos - in Essen, Frankfurt, München, Stuttgart, Berlin, Leipzig oder auf Rügen. Auf manche Areale wie in Köln-Porz passen mehr als 1000 Autos. Die Freiluftkinos - eine US-amerikanische Erfindung aus den 1930er Jahren - sind zwar nur eine Nische in der Branche, aber mit einem stattlichen Zuwachs, erläutert Alfred Holighaus, Präsident der Spio - Spitzenorganisation der Filmwirtschaft. Uschi und Holger haben alles dabei: Tochter Jamie. elf Jahre alt, und Freundin Glenda liegen schon im Familien-Van auf einer flauschigen Decke im Kofferraum. Die Tür ist hochgeklappt, der Blick auf die XXL-Leinwand frei. Schokolade, Chips, Limo gibt es in rauen Mengen, Kuscheltiere sind an Bord. Vater Holger gibt zu bedenken: »Es ist als Familie nicht nur ein echtes Event, es ist noch dazu viel günstiger, weil wir alles zu Essen und Trinken mitbringen können.« Seine Frau parkt neben ihm im Cabrio, drinnen ist der 14-jährige Sohn mit Kumpel. »Es quatscht doch im normalen Kino immer jemand dazwischen oder lacht an der falschen Stelle. Wenn du Pech hast, riecht dein Sitznachbar auch noch streng. Hier ist es viel schöner«, findet Mutter Uschi. »Ist eine tolle Sache - nicht nur für Pärchen.« Mehr als eine Milliarde Euro Umsatz haben die Kinos im Jahr 2017 nach Angaben der Filmförderungsanstalt (FFA) deutschlandweit mit mehr als 122 Millionen Besuchern erwirtschaftet. Der Anteil der Autokinos liegt unter einem Prozent. Aber immerhin 313 445 Besucher steuerten die stark vom Wetter abhängigen Open-Air-Kinos im vergangenen Jahr an. Der Umsatz wuchs dabei um 20,5 Prozent auf mehr als 2,6 Millionen Euro. Für viele sei das Auto bloß Gebrauchsgegenstand - und bei denen ziehe dann der Faktor »Sinnlichkeit eines Autokinos« nicht, schildert Holighaus. Die meisten Besucher stellten an den Sound hohe Ansprüche, worauf die Filmtheater mit immer ausgereifteren Systemen reagierten. Die Tonqualität der meisten Autoradios könne da nicht mithalten. »Das Autokino ist nicht das Kino der Zukunft, aber ein Abenteuer.« Und nirgendwo sonst hat man so viel frische Luft und manchmal auch den Sternenhimmel beim Filmgucken. Noch eine Besonderheit des Autokinos: Bei der Open-Air-Version sind auch Hunde erlaubt. Offenbar ist das sehr gefragt, denn man sieht eine ganze Menge Vierbeiner. Rauchen geht ebenfalls klar. Im Imbiss kann man das übliche Kinofutter kaufen. Aktuelle Blockbuster werden gezeigt oder auch Klassiker wie »Dirty Dancing«. Auf dem Platz sind auch Stromanschlüsse angebracht - falls man in der kälteren Jahreszeit mal eine kuschelige Heizdecke braucht. Apropos Kuscheln: Wohl noch immer ein Argument für das Autokino. »Man ist schön ungestört zu zweit und kann ein ganz besonderes Erlebnis draus machen«, sagt Elektroinstallateur Ralf und schaut dabei seiner Begleitung tief in die Augen. »So romantisch«, seufzt die junge Dame aus Bergheim. »Einmal im Leben muss man das erleben.« dpa/nd
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Yuriko Wahl-Immel, Köln
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Rätsel: Wo ist das? Man hat es gemütlich - aber nicht zu Hause. Man ist mit vielen zusammen, und doch zu zweit allein. Keiner quatscht dazwischen oder versperrt die Sicht. Man sollte vorher Fenster putzen.
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Film, Nordrhein-Westfalen
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Politik & Ökonomie
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Politik
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1095014.kein-langer-lulatsch-kann-die-sicht-versperren.html
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Die Geister, die keiner rief
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Es wird Frühling. Das sieht man mancherorts beim Spazierengehen und flächendeckend daran, dass die Supermärkte längst wieder Schokoladen-Osterhasen im Sortiment haben. Für Fußballfans dürfte sich derweil durch den Temperaturanstieg nicht allzu viel ändern. Da es in Sachen Impfen und Testen hierzulande mit Sieben-Millimeter-Stiefeln vorangeht, wird es wohl noch sehr lange dauern, bis wieder Fußballspiele vor Publikum stattfinden können. Bis es so weit ist, werden sich die ersten Jugendlichen schon daran gewöhnt haben, dass bei Übertragungen aus der ersten Liga nur das gleiche Gemurmel und Geschreie zu hören ist wie auf den Kreisligaplätzen, zu denen sie nie mitgenommen wurden, um die wohlverdienten täglichen zehn Online-Stunden nicht unnötig zu unterbrechen. Selten ist der ganze Wahnsinn besser beschrieben worden als von Ingo Petz neulich im »nd«. Auch Erstligafans sind fühlende Wesen, einsame Seelen, die sich an Samstagen wegsehnen vom Nachmittagsspaziergang, dem Kinderlärm, dem Familieneinkauf. Sie tun dann komische Dinge, joggen wie zufällig am Stadion vorbei, kaufen für zu Hause die Biermarke, die es auch im Stadion gibt. Grölen unter der Dusche Fußballlieder, die sie im Stadion nie mitsingen würden. Manchmal trifft man solche Menschen auch nach dem Schlusspfiff noch im unmittelbaren Stadionumfeld. So wie die ältere Frau, die mich am Samstag in Freiburg ansprach. »Sie waren da drin?«, fragte sie irritiert. Nur um mich dann – als ich ihr fast schon kleinlaut Sinn und Zweck meiner Pressekarte erläutert hatte – anzusehen, als müsse ich auf der Stelle von fachlich geschultem Personal übernommen werden. »Und das macht Spaß?«, fragte sie. »NEIN!«, rief ich so verzweifelt, dass die Scheiben der angrenzenden Häuser bedenklich zu wackeln anfingen. Aber da war sie schon weg. Fußball unter Publikumsausschluss ist wohl für alle Dauerkarteninhaber Europas wie ein Konzert der Lieblingsband nach einem Stromausfall. Richtig schlimm aber muss es für Fans von Vereinen sein, die sich ausgerechnet die Pandemiezeiten ausgesucht haben, um so richtig den Bach runterzugehen. Nehmen wir einmal Schalke 04, oder noch besser: den 1. FC Kaiserslautern. Beide Vereine weisen bei der Zusammensetzung des Cocktails aus Dilettantismus und Größenwahn erstaunliche Parallelen auf. Doch das hat zehntausende Fans nicht daran gehindert, Jahr für Jahr, Woche für Woche, wiederzukommen, nur um sich erneut enttäuschen zu lassen. Aus Gründen, die erneut in den Kompetenzbereich von einschlägig geschultem Personal fallen. Aber auch zu einem kleinen Prozentsatz aus der verzweifelten Hoffnung heraus, dass genau in dieser Saison Klaus Toppmöller, Michael Ballack und Miro Klose gleichzeitig wieder im FCK-Trikot spielen und mit einem souverän herausgespielten 8:0 gegen Großaspach die Wende zurück in eine glorreiche Zukunft einläuten. Natürlich gewinnt im echten Leben dann Großaspach auf dem Betze, und Schalke verliert 0:5 zu Hause gegen Augsburg. Als FCK- oder Schalke-Fan weiß man dann wieder, dass so ein Virus auch etwas Erlösendes haben kann. Man darf gegen Mainz oder Unterhaching einfach nicht ins Stadion – und muss sich ein paar Wochen am Stück nicht die quälende Frage stellen, warum man ohne Verbot aus der Politik doch wieder da stünde, wo man immer steht. Eines aber will man nicht als Fan: Ausgerechnet dann nicht dabei sein, wenn der fünfte Sprung von des Teufels Schippe misslingt, wenn sich die vermeintliche Gewissheit, dass es irgendwann einmal nicht mehr weiter runtergeht als gegen Verl, in Luft auflöst. Man will am 22. Mai vor Ort sein, wenn der FCK, einst stolzer Meister und Europapokal-Dauergast, tatsächlich in die vierte Liga absteigt. Vielleicht auch, weil man die wichtigen Dinge des Lebens nur analog so richtig begreift. Nach Lage der Dinge spielt Lautern am 22. Mai in einem menschenleeren 50 000er-Stadion gegen Verl. Vielleicht ist der Verein dann schon gerettet, vielleicht steht er dann schon als Absteiger fest. Vielen FCK-Fans dürfte beides lieber sein als die dritte Option: ein Geisterspiel, in dem es um alles geht.
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Christoph Ruf
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Fußballspiele ohne Publikum sind schlimm – und besonders schlimm für Trauernde, die sich von ihren dahinscheidenden Vereinen nicht anständig verabschieden können. Fans von Schalke 04 und des 1. FC Kaiserslautern wissen das am besten.
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Fußball-Bundesliga
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Meinung
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Kommentare Schalke 04 und 1. FC Kaiserslautern
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https://www.nd-aktuell.de/artikel/1149165.schalke-und-fc-kaiserslautern-die-geister-die-keiner-rief.html
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Zeit für einen Neuanfang
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Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) teilt seinen vom Hackerangriff verunsicherten Abgeordneten nun mit, dass in den vergangenen beiden Wochen keine weiteren Daten abgeflossen seien. Eine gewagte Behauptung, ergaben die jüngsten Recherchen doch genau das Gegenteil. Wer hat recht? Gegen Lammert spricht, dass er in der Affäre hilflos wirkt und dabei, vielleicht auch unwissentlich, die tatsächliche Lage be... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
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Fabian Lambeck
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Fabian Lambeck plädiert für mehr Ehrlichkeit bei der Debatte um den Cyberangriff auf den Bundestag
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BND, Geheimdienste, NSA, Überwachung
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Meinung
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Kommentare
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/974364.zeit-fuer-einen-neuanfang.html
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Merkel spricht mit Erdogan über Flüchtlingspakt
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Istanbul. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) berät sich an diesem Montag mit zahlreichen Staats- und Regierungschefs über eine bessere Koordinierung der internationalen humanitären Hilfe. Das Treffen beim ersten UN-Nothilfegipfel in der türkischen Metropole Istanbul findet hinter verschlossenen Türen statt. Bereits zu Beginn gab es Irritationen über den Ablauf. Die Organisation hatte am Tag zuvor kurzfristig die eigentlich geplante offizielle Begrüßung durch UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon und den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan nach Angaben aus Gipfelkreisen abgesagt. Anlass von Merkels Reise ist der erste UN-Nothilfegipfel in Istanbul, der am Montagmorgen beginnt. Das Augenmerk liegt aber auf ihrem Treffen mit Erdogan am Nachmittag.
Flüchtlingspakt: Erdogan hat indirekt gedroht, den Flüchtlingspakt zu kippen. Hintergrund ist eine EU-Forderung, die Anti-Terror-Gesetze der Türkei zu reformieren, damit sie nicht politisch missbraucht werden. Ohne Reform will die EU die Visumpflicht für Türken nicht aufheben. Merkel will wissen, wie Erdogan zu dem Thema steht. Parlament: Auf Betreiben Erdogans hat das Parlament beschlossen, Abgeordneten die Immunität zu entziehen. Betroffen ist vor allem die linke Oppositionspartei HDP, der Erdogan Terrorvorwürfe macht. Parlamentariern droht jetzt Strafverfolgung. Merkel hat sich darüber öffentlich sehr besorgt gezeigt - sie dürfte das Thema nicht aussparen. Pressefreiheit: Kürzlich wurden zwei kritische Journalisten der Zeitung »Cumhuriyet« zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Andere Medien wurden auf Regierungskurs gezwungen. Erdogan meint dennoch, türkische Medien seien frei. Merkel hat sich schon am Vorabend mit Journalisten getroffen. Armenier: Am 2. Juni will der Bundestag eine Resolution beschließen, mit der die Gräuel an den Armeniern im Osmanischen Reich vor gut 100 Jahren als »Völkermord« eingestuft werden. Die Türkei lehnt das strikt ab. Unklar ist, ob der Punkt jetzt schon zum Thema wird. Böhmermann-Affäre: Am kleinsten dürften die Differenzen noch beim Thema Jan Böhmermann sein. Erdogan hat sich öffentlich nicht über das Schmähgedicht des ZDF-Moderators Jan Böhmermann geäußert, aber dagegen geklagt. Merkel nannte ihre Äußerung, Böhmermanns Gedicht sei »bewusst verletzend«, später einen Fehler. Dennoch gewährte sie die Strafverfolgung Böhmermanns unter Berufung auf den Paragrafen 103 StGB, der die Majestätsbeleidigung unter Strafe stellt. Von sich aus dürfte Merkel diesen Punkt daher nicht ansprechen. dpa/nd Nach dem Auftakttreffen der Staats- und Regierungschefs ist die offizielle Eröffnungsveranstaltung des Gipfels geplant, bei dem auch Merkel und Erdogan Reden halten werden. Besonderes Augenmerk liegt auf dem Treffen Merkels mit Erdogan am Nachmittag am Rande des Gipfels. Merkel will bei diesem Gespräch Wege aus dem Streit über den Flüchtlingspakt der EU mit der Türkei suchen. Merkel kündigte außerdem an, über »alle wichtigen Fragen« zu reden. Über die innenpolitischen Entwicklungen in der Türkei äußerte sich die Kanzlerin in der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung« besorgt. Merkel machte aber deutlich, dass sie dennoch auf die Umsetzung des EU-Flüchtlingspaktes mit der Türkei baue. Die Kritik aus der EU an Erdogans zunehmend autoritärer Politik dauert indes an. Die Bundesregierung geht nach einem Bericht der »Bild«-Zeitung (Montag) nicht mehr davon aus, dass die Visafreiheit für die Türkei zum 1. Juli umgesetzt werden kann. Die Zeitung zitierte unter Berufung auf Regierungskreise, dass Ankara die für die Visafreiheit nötigen Voraussetzungen nicht vor Jahresende erfüllen könne. Ein Grund seien die festgefahrenen Verhandlungen zwischen EU und Türkei über die Umsetzung der Bedingungen für die Visafreiheit. »Wir erleben, dass die Türkei unter Erdogan auf dem Weg in einen Ein-Mann-Staat ist«, sagte EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) dem »Kölner Stadt-Anzeiger« (Montag). »Die Bundeskanzlerin und die EU-Regierungschefs müssen dem türkischen Präsidenten ganz klar sagen, dass seine Politik nicht mit den europäischen Grundwerten vereinbar ist.« Nach ihrer Ankunft in Istanbul am Sonntagabend beriet sich Merkel ungewöhnlich lange mit Vertretern der türkischen Zivilgesellschaft. Bei dem Treffen sei es um die politische und gesellschaftliche Lage, die Kurden, die Entwicklung des Rechtsstaats sowie um die Kooperation in der Flüchtlingspolitik gegangen, hieß es aus Teilnehmerkreisen. Auch die EU-Beitrittsverhandlungen seien Thema gewesen. Das für 60 Minuten angesetzte Gespräch dauerte insgesamt gut zwei Stunden. Agenturen/nd
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Redaktion nd-aktuell.de
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Kritiker erwarten von der Bundeskanzlerin klare Worte im Gespräch mit dem autoritär regierenden türkischen Präsidenten Erdogan. Merkel kündigt ein offenes Wort an - will aber ein Scheitern des Flüchtlingspakts verhindern.
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Angela Merkel, EU, Flüchtlinge, Türkei
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Politik & Ökonomie
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Politik
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1012721.merkel-spricht-mit-erdogan-ueber-fluechtlingspakt.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
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Ramadan »erobert« Frankreich
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Für fromme Muslime wird es in diesem Jahr noch ein bisschen schwerer: Der Fastenmonat Ramadan fällt mitten in den Hochsommer. In Frankreich, wo innerhalb Europas die größte muslimische Gemeinde lebt, stellen sich viele Muslime darauf ein, früher mit der Arbeit zu beginnen. Auf diese Weise können sie wenigstens noch ein paar Stunden mit vollem Magen arbeiten. Der Ramadan nimmt seit Jahren in Frankreich einen immer breiteren Platz in der Gesellschaft ein. Nicht zuletzt die großen Supermarktketten stellen sich auf ihre muslimische Kundschaft ein, die für das abendliche Fastenbrechen gerne gut einkauft. Sogenannte Halal-Produkte, die den islamischen Reinheitsgeboten entsprechen, haben sich eine bedeutende Nische erobert. Ihre Kundschaft sei in Frankreich etwa viermal so groß wie die von Bioprodukten, so Soziologin Florence Bergeaud-Blackler. Große Ketten hätten lange gezögert, religiöse Produkte anzubieten, sagte sie der Zeitung »Libération«. Es bestand Sorge, dass dies als Angriff auf die laizistische Tradition Frankreichs gewertet würde, die die Religion in die Privatsphäre verbannt. Außerdem fürchteten die Anbieter Proteste von ausländer- und muslimfeindlichen Rechtsextremen. »Aber letztlich war es sinnvoller, das Risiko einzugehen, als auf diese Klientel zu verzichten.« Die Supermarktkette Casino hat die Marke Wassila eingeführt, bei Carrefour laufen Halal-Produkte unter dem Handelsnamen Sabrina. Viele Geschäfte richten zum Ramadan Angebotstische oder Sonderregale ein und bieten u. a. Trockenfrüchte und alkoholfreie Getränke an. Die meisten verzichten aber darauf, das Wort Ramadan in der Werbung zu benutzen, und setzen eher auf »orientalische Spezialitäten«. In den letzten zwei Jahrzehnten ist die Zahl der Muslime in Frankreich, die während des Ramadans fasten, von einem Drittel auf 70 Prozent angewachsen. Gerade unter jungen Muslimen der zweiten Einwanderergeneration ist die Quote besonders hoch. Möglicherweise hat auch die Debatte über den Vollschleier bei manchen Muslimen den Wunsch verstärkt, ihre Religionszugehörigkeit öffentlich zu demonstrieren. Aber auch im politischen Leben Frankreichs hat der Ramadan seinen Platz. Viele muslimische Gemeinden laden Politiker zum traditionellen Fastenbrechen ein – und das ist zeitaufwendig und kaloriengeladen.
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Ulrike Koltermann, dpa
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Große Supermarktketten stellen sich auf muslimische Kundschaft ein
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Frankreich, Ramadan
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Politik & Ökonomie
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Politik
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/177247.ramadan-erobert-frankreich.html
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Massenappell zur Wahl gegen rechts
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Berlin. Eine Woche vor der Europawahl haben bei bundesweiten Großdemonstrationen viele Zehntausend Menschen für die europäische Einigung und gegen Nationalismus demonstriert. Die Veranstalter sprachen am Sonntag von 150 000 Teilnehmern in ganz Deutschland. Allein die nach ihren... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
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Redaktion nd-aktuell.de
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150 000 Menschen folgten Aufruf von 70 Organisationen zur Demo
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Nationalismus
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Politik & Ökonomie
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Politik
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https://www.nd-aktuell.de/artikel/1119086.massenappell-zur-wahl-gegen-rechts.html
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Grünes Licht für 9,54 Euro Mindestlohn bei öffentlichen Aufträgen
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Schwerin. In Mecklenburg-Vorpommern rückt der bundesweit zweithöchste Mindestlohn für öffentliche Aufträge näher: Der Wirtschaftsausschuss des Landtags hat am Donnerstag grünes Licht für das neue Vergabegesetz des Landes gegeben. Es sieht vor, dass Firmen künftig nur dann öffentliche Aufträge von Land und Kommunen bekommen, wenn sie ihren damit beschäftigten Mitarbeitern mindestens 9,54 Euro pro Stunde zahlen. Das sind 70 Cent mehr als der aktuelle gesetzliche Mindestlohn. Jetzt muss noch der Landtag entscheiden, der in aller Regel dem Votum seiner Ausschüsse folgt. Nach Einschätzung der Opposition wird der neue Vergabemindestlohn allerdings weitgehend wirkungslos bleiben. »Da sämtliche Branchenmindestlöhne über den festgesetzten 9,54 Euro liegen, wird das neue Gesetz kaum Wirkung zeigen«, sagte der wirtschaftspolitische Sprecher der Linksfraktion, Henning Foerster. Seine Fraktion fordere 10,09 Euro. Den höchsten Vergabe-Mindestlohn für öffentliche Aufträge hat derzeit Schleswig-Holstein mit 9,99 Euro. Thüringen plant, wie Mecklenburg-Vorpommern, 9,54 Euro festzulegen. dpa/nd
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Redaktion nd-aktuell.de
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Mecklenburg-Vorpommern, Mindestlohn
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Politik & Ökonomie
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Politik
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1091196.gruenes-licht-fuer-euro-mindestlohn-bei-oeffentlichen-auftraegen.html
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Neue Proteste und alte Verfahren
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Greifswald (ND-Schäfer). Am heutigen Samstagnachmuttag wird in Greifswald ab 14 Uhr erneut gegen Castortransporte und Atomkraft demonstriert. Die diesmal erwarteten Castorbehälter beinhalten die in Karlsruhe zu Glaskügelchen verfestigte »Atomsuppe« aus der Wiederaufbereitung von Brennelementen – mit Plutonium und Cäsium angereicherte Salpetersäure, eine der giftigsten Hinterlassenschaften der Atomindustrie. An 40 Orten seien Aktionen geplant, so Felix Leipold vom Anti-Atom-Bündnis Nordost. Der Castor-Transport soll am 16... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
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Redaktion nd-aktuell.de
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Greifswald wartet auf den nächsten Atomtransport
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Castor, Greifswald
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Politik & Ökonomie
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Politik
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/190794.neue-proteste-und-alte-verfahren.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
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Deutlich mehr Asylbewerber in der EU
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Brüssel. Die Zahl der Asylbewerber in der Europäischen Union ist in den ersten vier Monaten 2019 deutlich gestiegen. Dazu trägt die Krise in Venezuela bei. Das EU-Frühwarnsystem weist für die Zeit Anfang Januar bis Ende April rund 206 500 Erstanträge auf Asyl aus, im Vergleich zu 179 0... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
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Redaktion nd-aktuell.de
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Tausende aus Venezuela
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Asylpolitik, Europäische Union, Flüchtlinge, Kolumbien, Syrien, Venezuela
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Politik & Ökonomie
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Politik
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1120530.deutlich-mehr-asylbewerber-in-der-eu.html
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Goebbels grüßt zum Einheitsfest
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Es war mit deutscher Gründlichkeit geplant: Zum Auftakt der zentralen Feierlichkeiten anlässlich des 26. Tags der deutschen Einheit in Dresden am Montag hatte sich die sächsische Landes- wie auch die Bundesregierung eine genaue Choreographie überlegt, um ein Loblied auf sich selbst und den Patriotismus zu singen. Am Mittag zum Gottesdienst in die Frauenkirche, anschließend ein Festakt in der Semperoper, wo 1000 Ehrengäste den Worten des Bundestagspräsidenten Norbert Lammert und des sächsischen Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich (beide CDU) lauschten. Doch bereits die Ankunft von Angela Merkel geriet zum Spießrutenlauf. Hunderte Menschen empfingen die Kanzlerin an der Frauenkirche mit einem Pfeifkonzert und brüllten Parolen wie »Merkel muss weg« und »Volksverräter«. Unter den auch von der Lokalpolitik verharmlosend als »besorgte Bürger« Bezeichneten tummelten sich AfD-Anhänger und Pegida-Chef Lutz Bachmann. Angemeldet war d... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
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Robert D. Meyer
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In Dresden fanden am verlängerten Wochenende die zentralen Feierlichkeiten zum Einheitsgedenken statt. Erneut zeigte sich: Nicht nur Sachsens Regierung sieht vor allem eine vermeintliche Gefahr von links.
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AfD, CDU, Dresden, Einheit, Flüchtlinge, Linksradikalismus, Nationalismus, Pegida, Sachsen
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Politik & Ökonomie
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Politik
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1027416.goebbels-gruesst-zum-einheitsfest.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
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Sie kämpften aus Überzeugung
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Unlängst fragte der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler J. Bradford DeLong unter der Überschrift »Was wir Stalingrad schuldig sind«: »Aber wie viele NATO-Führer oder Präsidenten und Premierminister der Europäischen Union haben sich jemals die Zeit genommen, das Schlachtfeld zu besuchen und vielleicht für diejenigen einen Kranz niederzulegen, deren Opfer ihre Zivilisation gerettet haben?« Diese Frage ist berechtigt. Sie verdeutlicht, dass das europäische Gedenken an Nazi-Faschismus und Weltkrieg auch heute noch durch den Kalten Krieg und Antikommunismus geprägt ist. Für die Bundesrepublik gilt dies insbesondere.
Während die Erinnerung an die Ermordung der Juden längst inoffizielle Staatsräson geworden ist und auch der ermordeten Sinti und Roma mit der Einweihung eines Mahnmals vor kurzem in Berlin endlich gedacht wird, kann davon im Hinblick auf die zahlenmäßig größte Opfergruppe des deutschen Faschismus nicht die Rede ... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
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Guido Speckmann
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Während die Erinnerung an die Ermordung der Juden längst inoffizielle Staatsräson geworden ist und auch der ermordeten Sinti und Roma vor kurzem in Berlin endlich gedacht wird, kann davon im Hinblick auf die zahlenmäßig größte Opfergruppe des deutschen Faschismus nicht die Rede sein.
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Buchrezension, Deutschland, UdSSR, Zweiter Weltkrieg
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Feuilleton
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Kultur Politisches Buch
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/811458.sie-kaempften-aus-ueberzeugung.html
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»Die Bewegung gegen das Auto einen Gang hochschalten«
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»Stets die nächste Kurve im Blick haben, die Kraft des Motors und den Rausch der Geschwindigkeit spüren – Autos ermöglichen ein sinnliches Erlebnis.« Wer diese Sätze auf der Internetseite der Internationalen Automobil-Ausstellung (IAA) liest, kann ungefähr erahnen, wie viel die deutsche Autoindustrie von einer Verkehrswende hält. Eine exklusive Teststrecke, Fahrten durch die Frankfurter Innenstadt und natürlich auch über die Autobahn werden angeboten. Die IAA, die vom Verband der deutschen Autohersteller ausgerichtet wird, ist das Spitzentreffen der Branche. Doch in diesem Jahr könnte es schwieriger werden mit ungestörter PS-Protzerei und Bikini-Mädchen, die sich auf Autos räkeln. Mit »#aussteigen« und »Sand im Getriebe« kündigen gleich zwei Bündnisse Proteste gegen die Party der Autoindustrie an. Das von Nichtregierungsorganisationen wie Greenpeace, Campact oder der Deutschen Umwelthilfe getragene Bündnis »#aussteigen« kündigt für den 13. Und 14. September eine Fahrradsternfahrt und eine Großdemonstration gegen die Automesse an. Die Messe stehe für »größere Autos, mehr PS und mehr Verbrauch«, heißt es in dem Aufruf. »Anstatt Konsequenzen aus Klimakrise und Abgasskandal zu ziehen, schützt Verkehrsminister Andreas Scheuer die Autokonzerne«, so die Kritik. Damit müsse jetzt Schluss sein, die Bürger hätten die »autofixierte Politik« satt und wollten Städte, in denen es Spiel- statt Parkplätze gäbe und saubere Luft statt krankmachender Abgase. Wenn die IAA am 14. September für Besucher in Frankfurt am Main öffnet, will das Bündnis eine große Kundgebung vor den Toren der Messe abhalten. Radikaler soll es am 15. September zugehen, wenn »Sand im Getriebe« die IAA blockieren will. Bündnissprecherin Tina Velo kündigt an: »Wir planen Blockaden gegen die Internationale Automobil-Ausstellung, weil wir der Meinung sind, dass es Zeit ist, die Bewegung gegen das Auto und für eine radikale Verkehrswende einen Gang hochzuschalten und zu zeigen, dass es Widerstand gegen dieses kranke Verkehrssystem gibt.« Die Messe sei die »Spitze des Eisbergs«, auf der sich Politiker und Industrievertreter treffen, um »ein Verkehrskonzept von Vorvorgestern« zu feiern. Dass bei der IAA Elektromobilität eine immer wichtigere Rolle spielt, stellt Velo nicht zufrieden. Es gehe um eine »radikale Verkehrsrevolution«, die ökologisch und sozial gerecht sein müsse. »Sand im Getriebe« ist ein Bündnis, in dem Menschen von »Ende Gelände« und der »Extinction Rebellion« aktiv sind. Warum sich die Aktivisten die IAA ausgesucht haben, erklärt Velo so: Man habe sich gefragt, »wo die 'Kohlegruben' der Autoindustrie« seien. Irgendwo in den fließenden Verkehr eingreifen, sei nicht in Frage gekommen, weil man so die »individuellen Autofahrer« getroffen hätte. Fabriken zu besetzen oder zu blockieren sei ebenso keine Option. Mit der IAA als »Glitzer- und Glanzmesse« haben die Aktivisten den richtigen Punkt gefunden, meint Velo. Die deutsche Autoindustrie sei »Rückgrat der kapitalistischen Exportwirtschaft«. IAA-Besucher hätten allerdings nichts zu befürchten, in dem Bündnis sei es Konsens, dass niemand gefährdet werden soll. Einen augenzwinkernden Tipp für Messebesucher hat die Bündnissprecherin allerdings: »Der 15. September könnte ein schlechter Tag für den Besuch sein, denn im besten Falle ist er dann nicht möglich, weil die Messe blockiert ist.«
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Sebastian Weiermann
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Die Internationale Automobil-Ausstellung in Frankfurt am Main wird in diesem Jahr Ziel von Protesten. Das Bündnis »Sand im Getriebe« will die »kapitalistische Exportwirtschaft« angreifen.
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Automobilindustrie, Blockade, Ende Gelände, Messe
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Politik & Ökonomie
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Wirtschaft und Umwelt „Sand im Getriebe“
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https://www.nd-aktuell.de/artikel/1123188.bsand-im-getriebel-die-bewegung-gegen-das-auto-einen-gang-hochschalten.html
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Illegal, aber aktiv
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Seit 70 Tagen protestieren die Menschen im Iran landesweit. Trotz der harten Repressionen kommen täglich zahlreiche Menschen auf die Straße, Frauen sind die Anführer*innen dieser Revolution. Laut der in Oslo ansässigen Menschenrechtsorganisation Iran Human Rights wurden seit dem Beginn der Proteste 416 Menschen von Polizei und Militär getötet, darunter 51 Kinder und 21 Frauen. Auch am heutigen Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen werden die Menschen im Iran unter dem Motto »Frau, Leben, Freiheit« protestieren. Initialzündung der größten und dauerhaftesten landesweiten Proteste in der Geschichte des Iran war der Mord an einer kurdischen jungen Frau: Mahsa Jina Amini wurde von der Polizei totgeschlagen. Es ist nicht das erste Mal, dass die iranische Gesellschaft mit so einem Fall konfrontiert ist. Doch mit Mahsa Jina Amini können sich sehr viele Menschen im Iran identifizieren. Sie ist Frau und Kurdin, sie kam aus armen Verhältnissen und aus einer Kleinstadt. Jede Person, ob Frau, trans Mann oder nicht-binäre Person, die den Zwang zur Verschleierung im Iran erlebt hat, weiß, wie es ist, wenn man auf der Straße von der Sittenpolizei angegangen oder festgenommen wird. Männer können sich mit ihrem Bruder identifizieren, der seit dem ersten Tag dafür gesorgt hat, dass der Version des Staates über den Tod seiner Schwester widersprochen wird. Jina ist Repräsentationsfigur für Kurd*innen und andere ethnische Minderheiten, die Unterdrückung erlebt haben. Alle Menschen im Iran, die staatliche Gewalt auf der Straße erlebt haben, können sich mit ihr identifizieren. Denn ihr Körper repräsentiert auch diese Gewalt. Zum ersten Mal bekommt die iranische feministische Bewegung, die an der Spitze dieser Proteste steht, weltweit Aufmerksamkeit. Doch sie war die ganze Zeit aktiv, wenn auch illegal. Der iranische Staat hat seit der Islamischen Revolution die gesellschaftliche Ordnung des Landes durch repressive Maßnahmen gegen Frauen und Hinrichtungen politischer Gegner*innen verändert. Nachdem Ruhollah Khomeini nach der Islamischen Revolution 1979 an die Macht kam, erklärte er das Familienschutzgesetz für ungültig und rief zur Zwangsverschleierung im Iran auf. Frauen protestierten schon damals wochenlang dagegen. Ihre Hauptparole: »Freiheit ist weder östlich noch westlich. Freiheit ist international. Ohne die Freiheit der Frau gibt es keine Freiheit für die Gesellschaft.« Sie wurden von der Mehrheitsgesellschaft alleingelassen. Im Alltag wehrten sich Frauen trotzdem – soweit es ging. 1981 erteilte Khomeini den Befehl, dass Frauen in den Behörden künftig Hijab tragen müssen. In Audiodateien ist belegt, dass er die Anwesenheit von Frauen bei der Arbeit als »unrein« und »unmoralisch« bezeichnete. Auch dagegen gab es Protest. Frauen kleideten sich ganz in Schwarz und demonstrierten vor dem Arbeitsministerium. Noch nach der Niederschlagung der Proteste trugen diese Frauen noch Monate schwarz bei der Arbeit – viele von ihnen wurden festgenommen und entlassen, man weiß nicht genau, was mit ihnen passierte. Nur ein Jahr später wurde die Zwangsverschleierung im gesamten öffentlichen Raum zum Gesetz. Gleichzeitig ging das iranische Regime schon damals gewaltsam gegen Kurd*innen vor, die sich lautstark gegen die Islamische Republik auflehnten, tausende Oppositionelle wurden festgenommen und ermordet. 1988 wurde das Massaker von Khawaran sinnbildlich für die Gewalt des Regimes, in Khawaran wurden zum großen Teil links orientierte politische Gefangene begraben, die vom Regime hingerichtet wurden. Die Initiative der Mütter von Khawaran hält dieses Ereignis bis heute im kollektiven Gedächtnis der Iraner*innen. Viele Recherchen großer Menschenrechtsorganisationen wären ohne diese Frauen nicht möglich gewesen. Während der letzten Jahrzehnte gab es immer wieder zivilen Ungehorsam der iranischen Frauen und Feminist*innen gegen den Hijab und andere frauenfeindliche Gesetze im Iran. So hat sich etwa 1994 die Ärztin und Frauenrechtlerin Homa Darabi aus Protest gegen die Unterdrückung öffentlich selbst verbrannt. Die Regierung reagierte auf Widerstand mit Festnahmen und Gewalt. Etwa 20 Jahre nach der Einführung des Zwangs-Hijabs begann sich der Protest dagegen politisch zu formieren. Kampagnen wie »Meine versteckte Freiheit« und der »Weiße Mittwoch« haben viel dazu beigetragen, dass der zivile Ungehorsam der iranischen Frauen und später auch trans und nicht-binärer Personen mehr Sichtbarkeit bekommt. 2018 wurden die »Töchter der Revolutionsstraße« ein weit verbreitetes Phänomen. Angefangen mit Wida Mowahed legten Frauen aller Altersgruppen ihre Kopftücher ab und stellten sich auf Stromkästen und andere Erhebungen, oft, bis die Polizei sie festgenommen hat. Bei den aktuellen Protesten sieht man alle sozialen Bewegungen, die in den letzten Jahren im Iran unsichtbar waren, vereint auf der Straße – und an der Spitze die feministische Bewegung. Am Anfang der Gewalt des Regimes stand die Zwangsverschleierung. Die Protestbewegung kehrt nun dahin zurück und rührt damit an den Kern der Islamischen Republik. Hier ist der Kampf gegen Gewalt an Frauen auch ein Kampf für die Freiheit aller Menschen.
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Mina Khani
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Über 400 Menschen wurden seit Beginn der Proteste im Iran von staatlichen Kräften ermordet. Im Kampf gegen Femizid und Zwangsverschleierung einen sich die sozialen Bewegungen der letzten Jahrzehnte.
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Feminismus, Femizide, Iran
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Politik & Ökonomie
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Politik Internationaler Tag gegen Gewalt an Frauen
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2022-11-24T17:47:02+0100
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2022-11-24T17:47:02+0100
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2023-01-20T16:54:22+0100
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1168809.internationaler-tag-gegen-gewalt-an-frauen-illegal-aber-aktiv.html
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Aserbaidschans gefährliches Spiel
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Aserbaidschans autokratischer Präsident Ilham Alijew spielt mit dem Feuer - ganz bewusst. Nur wenige Monate nach dem Waffenstillstand mit Armenien im Krieg um Berg-Karabach lässt er sein Militär erneut die Muskeln zeigen, um dem verhassten Nachbarn klarzumachen, wer das Sagen hat im Südkaukasus. Die Manöver sollen sich über mehrere Tage hinziehen, Tausende Soldaten mit schweren Kriegswaffen kommen zum Einsatz, verkündete das Außenministerium in Baku. Wenn das keine Provokation ist? Alijew fühlt sich offenbar sicher, gestärkt durch den militärischen Erfolg und geschützt durch die Türkei. Er testet, wie weit er gehen kann mit einer aggressiveren Außenpolitik. Schon in den Vortagen hatte Armenien der aserbaidschanischen Armee Grenzverletzungen vorgeworfen. Will Alijew etwa mit Gewalt vollendete Tatsachen schaffen, noch vor zukünftigen Friedensverhandlungen? Armenien kann seinem Nachbarn wenig entgegensetzen. Russische Soldaten garantieren zwar den Waffenstillstand, Armenien offen militärisch zu unterstützen, kann sich Russland aber kaum erlauben; das würde zum Konflikt mit der Türkei führen. Und am 20. Juni wählen die Armenier ein neues Parlament: Nikol Paschinjan, geschwächt wegen der militärischen Niederlage, will erneut Regierungschef werden.
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Cyrus Salimi-Asl
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Aserbaidschans autokratischer Präsident Ilham Alijew spielt mit dem Feuer - ganz bewusst. Nur wenige Monate nach dem Waffenstillstand mit Armenien im Krieg um Berg-Karabach lässt er sein Militär erneut die Muskeln zeigen.
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Armenien, Aserbaidschan, Russland, Türkei
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Meinung
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Kommentare Südkaukasus
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1152064.aserbaidschans-gefaehrliches-spiel.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
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»Wollen Sie so gut sein …
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… und heute morgen meine Wäsche (unterste Schrankschublade) in die Wäscherei bringen? Ich lasse den Schlüssel unter der Matte.« Diese nette Bitte äußerte Jean-Paul Sartre in einem Brief an seine geliebte Simone de Beauvoir. Da half kein Weh und kein Klagen, Klugheit schon gar nicht - auch der große Philosoph wusste, was richtige Rollenverteilung ist. Gestern »Tagesschau« gesehen - schafft Frau ja selten wegen dieser komischen Mehrfachbelastung. Also »Tagesschau« und dann dieses Standbild mit dem Verkehrsminister Scheuer und all diesen anderen Männern. Das Ganze wurde Flug-Gipfel genannt und das Wort Gipfel traf es dann ja auch. Also lauter Männer stehen da in meinem Fernseher und gucken in meine Wohnung und versichern mir, dass bald alles besser wird. Nicht fürs Klima, weil es soll ja mehr geflogen werden. Aber sonst eben für alle, denen zum Beispiel die Zugfahrt Berlin - Frankfurt am Main zu lange dauert. Und für mich, falls ich mal eben nach Malle will für schlappe 29,90 Euro. Ich gucke mir an, wie Scheuer und all die Männer Hände schütteln und an ihren Anzügen zupfen. Im Hintergrund grummelt meine Waschmaschine vor sich hin, heimlich und leise arbeitet sich eine Staubmaus Richtung Flachbildschirm, als hätte sie ernsthaftes Interesse an Scheuers Geschwurbel. Himmel, denke ich, dass die sich das trauen, immer noch diese Gruppenbilder ohne eine Frau (na in der Maske wird schon eine gewesen sein). Dass denen das nicht peinlich ist im Jahr 2019, also dass deren Marketingchefs nicht vor der Veranstaltung sagen: »Das mit dem Gruppenbild, das lassen wir lieber. Das kommt einfach nicht mehr gut in dieser Zeit. Es wird Leute geben, die sich daran stoßen, dass da nur Männer vor der Kamera stehen.« »Laaaangweilig«, brüllte jetzt das Känguru, mit dem Marc Uwe Kling nun schon so lange zusammenlebt und das ich auch gern mal ein paar Tage beherbergte, nur, um die Anarchistin in mir aus dem Tiefschlaf zu wecken. »Laaangweilig, diese Nörgeleien über den Frauenanteil und die Männerübermacht. Als wäre das ein erstrebenswerter Job, da mit diesem Typen, dieser Marionette der Autolobby, vor der Kamera zu stehen und so zu tun, als könne man sich leiden. Laaangweilig.« »Weißt du«, müsste ich dann antworten, »beim Flugwesen mag das ja noch angehen. Und richtig ist, Frau wäre schon krass drauf, fänd sie es schön, mit diesem Verkehrsminister auf einem Bild zu erscheinen. Ich kenne jedenfalls keine, der das gefiele. Aber ansonsten ist es doch auch schade, dass die Sache mit dem Frauenanteil immer noch so katastrophal aussieht.« Die Staubmaus ist verschwunden, hat sich wahrscheinlich angesichts des traurigen Fluggipfels dematerialisiert, was ökologisch betrachtet eine feine Sache ist. (Dematerialisierung hat ja zum Ziel, Stoffströme zu reduzieren, die durch menschliches Handeln, vor allem durch wirtschaftliche Tätigkeit, verursacht werden. Leider ist noch keine Möglichkeit bekannt, einen Verkehrsminister auf diese Weise aus der politischen Welt zu schaffen.) »Definiere schade«, nörgelte das Känguru und guckte dabei angelegentlich in meinen Schrank, ob da irgendwo Schnapspralinen rumliegen. Und ich dann so: »Also kürzlich gab es mal wieder eine neue Datenlage zum Thema ›Anteil Politikerinnen auf kommunaler Ebene‹ und die sagt: Unter 294 Landrät*innen sind 28 Frauen, also weniger als zehn Prozent. In Sachsen gibt es gar keine. Innerhalb von zehn Jahren (2008 bis 2017) ist der Anteil an Oberbürgermeisterinnen von 17,7 auf 8,2 Prozent gesunken. In den kommunalen Vertretungen betrug 2017 der Frauenanteil 27 Prozent.« »Jetzt kommste bestimmt gleich mit der Quote«, disste das Känguru. »Das ist auch laaaangweilig. Wäre es nicht viel einfacher, den Anteil der Frauen und Mädchen an der Gesamtbevölkerung so lange zu vermindern, bis die 27 Prozent in den Kommunalvertretungen die realen Verhältnisse abbilden?« »Natürlich«, antwortete ich. »Das geht auch. Und wahrscheinlich ist es wirklich einfacher.«
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Kathrin Gerlof
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Warum unbedingt den Frauenanteil in Führungspositionen erhöhen, fragt sich Flattersatz-Kolumnisten Kathrin Gerlof. Man könnte ja auch den Frauenanteil an der Gesamtbevölkerung senken - und schon stimmt die Quote.
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Flugverkehr, Verkehrspolitik
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Meinung
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Kommentare Quote für Frauen
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1115804.wollen-sie-so-gut-sein-h.html
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Musik der Gedanken: Literaturnobelpreis für Louise Glück
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Die US-amerikanische Lyrikerin Louise Glück erhält in diesem Jahr den Literaturnobelpreis. Das gab die Schwedische Akademie am Donnerstag in Stockholm bekannt. Die 77-Jährige werde »für ihre unverkennbare poetische Stimme« ausgezeichnet, mit der sie »mit strenger Schönheit die individuelle Existenz universell« mache, sagte der Ständige Sekretär der Akademie, Mats Malm. Auf Deutsch sind von Glück bei Luchterhand (München) zwei Gedichtbände erschienen - sie sind allerdings vergriffen. »Wir sind gerade dabei, die Rechte neu zu verhandeln«, sagte Verlagssprecher Karsten Rösel am Donnerstag. Die Nachricht aus Stockholm habe den Verlag »überrascht und gefreut«. Bei Luchterhand erschienen zwei Bände mit Gedichten: 2007 »Averno« und 2008 »Wilde Iris«. Sie wurden aus dem Amerikanischen übersetzt von Ulrike Draesner, einer preisgekrönten Romanautorin, Essayistin und Lyrikerin. Andere deutsche Übersetzungen von Glücks Texten seien ihm nicht bekannt, meinte Rösel. Glück wurde 1943 als Tochter eines Unternehmers und einer Hausfrau in New York geboren, ihre Großeltern väterlicherseits waren aus Ungarn eingewanderte Juden. Schon als Mädchen schrieb sie Gedichte. »Ich war ein einsames Kind«, sagte die in einem ihrer seltenen Interviews. »Meine Interaktionen mit der Welt als soziales Geschöpf waren unnatürlich, gezwungen, und ich war am glücklichsten, wenn ich gelesen habe.« Besonders bei Gedichten habe es sich angefühlt, als ob die Autoren direkt zur ihr sprächen. »Mein frühes Schreiben war dann ein Versuch, mit diesen Autoren zu kommunizieren, ihnen zu antworten.« Nach ihrem Debüt »Firstborn« (1968) veröffentlichte die heutige Literaturprofessorin elf weitere Gedichtbände sowie mehrere Bücher mit Essays über Poesie. Aktuell lehrt sie an der Elite-Uni Yale in New Haven (Connecticut) Englisch und lebt in Massachusetts. In ihren Texten geht es fast immer um starke Gefühle: Einsamkeit, Liebe, Verzweiflung, Trennungen gen und Tod - oft durchwirkt mit klassischen antiken Mythen und Sagen. »Das ist die normale menschliche Erfahrung«, sagt Glück. »Man benutzt also sich selbst als Labor, um darin die für einen selbst zentralen menschlichen Dilemmas zu üben und zu meistern.« Obwohl sie das Scheinwerferlicht meidet, ist sie in den USA recht erfolgreich. Sie bekam Guggenheim-Stipendien, den Pulitzer-Preis und 2014 den National Book Award (Foto). Glücks Spezialität sei »genau die Sache, die nur lyrische Dichtung schaffen kann, und die zu den intimsten, nicht-öffentlichsten Dingen gehört, die Wörter schaffen können: Die ganz spezielle Musik der Gedanken zu imitieren«, schrieb die »New York Times« über sie. nd /mit Agenturen
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Redaktion nd-aktuell.de
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Glück wurde 1943 als Tochter eines Unternehmers und einer Hausfrau in New York geboren, ihre Großeltern väterlicherseits waren aus Ungarn eingewanderte Juden. Schon als Mädchen schrieb sie Gedichte.
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Literatur, Musik, Schweden
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Feuilleton
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Kultur
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1142837.musik-der-gedanken-literaturnobelpreis-fuer-louise-glueck.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
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Befriedigendes Niveau bei Reha-Kliniken
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Eine Servicestudie des Deutschen Instituts für Service-Qualität (DISQ) hat neun große Reha-Klinik-Ketten getestet. Insgesamt präsentierten sich die Reha-Kliniken im Servicetest nur auf einem befriedigenden Niveau. Acht Unternehmen erreichten das Qualitätsurteil »befriedigend«. Testsieger wurde ZAR Nanz Medico. Vor allem der telefonische Service überzeugt: In angenehmer Gesprächsatmosphäre beantworten die Mitarbeiter Fragen umfassend und sorgen für eine einfache Lösung des Anliegens. Anfragen per E-Mail beantwortet das Unternehmen freundlich. Der Internetauftritt informiert verständlich und gut strukturiert über die Einrichtungen und bietet diverse Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme. Auf dem zweiten Rang platzieren sich die Celenus-Kliniken. Auf den dritten Platz positionierte sich Mediclin.
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Redaktion nd-aktuell.de
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Ratgeber
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1136862.befriedigendes-niveau-bei-reha-kliniken.html
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Aus dem Leben eines Rebellen
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Auch im Alter von 76 Jahren jettet Jean Ziegler noch um die Welt. Rastlos prangert der nunmehrige Vizepräsident des Beratenden Ausschusses der Menschenrechtskommission der UNO den Skandal des Welthungers an. In einem Interview zu seinem 75. Geburtstag wies er es weit von sich, nun »weise« werden zu wollen. Im Gegenteil, seine Verve in Diskussionen mit Gegenspielern und seine Geduld sind ungebrochen. Wenn er unfair angegriffen wird, zieht er höchstens einmal eine Augenbraue hoch oder rückt die riesige, an Frischs und Dürrenmatts Augengläser erinnernde Brille zurecht. »Monsieur Teflon« hat man ihn auch schon genannt, weil ihn nichts aus der Ruhe bringen kann, er selbst aber die Unruhe einer Schweizer Uhr selber ist. Jürg Wegelin war bestimmt eine gute Wahl für die erste Biografie über Jean Ziegler, der eigentlich Hans Ziegler heißt. Es war Simone de Beauvoir, die in Paris seinen ersten Beitrag für die Zeitschrift »Temps Modernes« mit ... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
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Hans Peter Gansner
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Jürg Wegelin schrieb die erste Biografie über Jean Ziegler
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Buchrezension, Hungerkatastrophe, UNO
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Feuilleton
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Kultur Politisches Buch
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/213362.aus-dem-leben-eines-rebellen.html
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Fallstricke für den Käufer
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Wird ein Mietkaufvertrag vereinbart, reichen für die Gültigkeit keineswegs die Unterschriften der beiden Vertragspartner aus. Ein Mietkauf muss immer von einem Notar beurkundet werden - sowohl für den kaufvertraglichen als auch für den mietvertraglichen Teil.
Wer den Mietkauf als Finanzierungsmöglichkeit für das Eigenheim wählt, sollte sich vieler Nachteile bewusst sein. Probleme treten gleich nach Vertragsunterzeichnung auf. Wird der Käufer sofort als Eigentümer im Grundbuch eingetragen, muss er als neuer Eigentümer auch die Kosten für Sanierungsmaßnahmen tragen. Für den Verkäufer stellt sich die Frage, wie er die Forderung der Restsumme absichern kann. Dies kann etwa mit einer Restkaufgeldhypothek geschehen oder durch Zwangsvollstreckungsunterwerfung. In einem solchen Fall wird bei Zahlungsverzug sofort der Restkaufpreis fällig.
Probleme entstehen... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
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Redaktion nd-aktuell.de
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Eine eigene Immobilie zu erwerben, wird immer teurer. Mancher denkt deshalb über einen sogenannten Mietkauf nach. Der besteht, wenn zwischen Mieter und Vermieter ein Mietvertrag mit einem Ankaufsrecht vereinbart wird. Dabei wird die Netto-Kaltmiete mit dem Kaufpreis verrechnet.
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Immobilie, Kaufen, Mieten
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Ratgeber
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/824098.fallstricke-fuer-den-kaeufer.html
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Sprachwacht und Geschlechterkampf
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Sprache ist ein Mittel - auch politischer Kämpfe. Daher wird sie selbst zum Gegenstand von Kämpfen. Nichts Neues soweit. Nur was, wenn eine Partei leugnet, dass sie kämpft? Den Streit um eine geschlechtergerechte Alltagssprache durchgeistert etwas seltsam Verbogenes, und in dem Verbogenen steckt etwas Verborgenes. Kritiker des »Genderwahns« treten nicht gern als Kritiker des Genderanspruchs auf. Sie ziehen vor, sich als Bewahrer der Sprache gegen gedankenlose Reformer zu gebärden. Folgt man ihrer Erzählung, tobt ein Kampf zwischen politischen Interessen und den Interessen der Sprache selbst. Es gibt so eine Weise, Unvernunft hinter Vernunft zu verstecken. Reine Vernunft nämlich kann nur in politisch indifferenten Disziplinen walten (Mathematik, Logik, mit Abstrichen Naturwissenschaften). Sprache, ja selbst Grammatik, fällt hierunter nicht. Gewiss, man findet in ihr Form und System, gleichwohl aber Konvention, Kontingenz, Geschichte und darin abgebildete gesellschaftliche Wirklichkeit. Jeder weiß das, doch offenbar muss man es wiederholen. Die Pose des Sprachbewahrers ist ohne Idealismus (im miesesten Sinn des Wortes) nicht zu haben. Sie unterstellt, dass es eine reine, natürliche, mit sich selbst identische Sprache gebe. Sie blendet aus, dass sich Sprache durch Veränderung erhält, Grammatik durchaus ein System macht, aber ein immer dürftiges. Was wir heute in Lehrwerken abbilden, wurde mehrfach durch gewaltige Verwerfungen reformiert; es stehen uralte neben vergleichsweise jungen Formen, die in ihrem Ursprung nie aufeinander abgestimmt waren (so etwa im Tempussystem, wo teils veritable Zeitformen, teils Rückstände aus dem Aspektsystem zusammenwirken). Alle Sprachen haben etwas Kreolisches. Folglich kann es gar nicht darum gehen, ob sich eine Sprache ändert, sondern allenfalls darum, wie sie das tut. Der materialistische Zugriff leugnet nicht das Normative, das durch die Form der Sprache gegeben ist. Er berücksichtigt nur zugleich den gesellschaftlichen Charakter der gebildeten Sprache. Wenn wir von geschlechtergerechter Sprache reden, meinen wir kaum je Eingriffe in den grammatischen Bau und selten mehr als bloß den Einsatz von Suffixen, hauptsächlich bei Berufsbezeichnungen. Gerade bei denen aber wird der politische Ursprung der historischen Sprachbildung besonders deutlich. Unser Bild von der Arbeit ist maßgeblich eingefärbt durch patriarchale Frühzeiten. Die Berufsarbeit war der Bereich des Mannes, die Heimarbeit der der Frau. Deswegen dominiert das Maskulinum die Berufsbezeichnungen in einem Ausmaß, dass man länger bräuchte, auch bloß eine Handvoll femininer Berufsnamen zu finden. Wer sich vor diesem Hintergrund stellt, als komme erst mit der Vergenderung das Politische von außen in die Sprache, dem mangelt es nicht bloß an historischem Bewusstsein, er übersieht die psychologische Wirkung auf heranwachsende Mädchen, die ihren Traumberuf immer zuerst in der männlichen Flexion kennenlernen, als etwas also, das sie zunächst nichts angeht, in das sie sich erst hineinkämpfen müssen. Natürlich gibt es Beispiele misslungener Vergenderung; sie werden von den Sprachwächtern genussvoll aufgezählt. Ein Ausdruck wie »Gästin« klingt bizarr, es müsste eigentlich »die Beamte« statt »die Beamtin« heißen, und irgendwann hat mal ein Tropf von Organisatorin auf einen Briefkopf »Liebe Mitgliederinnen und Mitglieder« geschrieben. Grundsätzlich aber funktioniert das Verfahren und tut der Sprache nichts an. Manches irritiert Gewohnheit und Empfinden. Auch darin liegt ein Mitmotiv - im Unbehagen älterer Menschen, wenn Entwicklungen über sie hinweggehen und kommende Generationen sich um ihre Bedenken nicht scheren. Mithin im Gefühl von Männern, die den allmählichen Verlust ihrer Vorrechte als Benachteiligung wahrnehmen. Ohnmacht ist ein machtvoller Antrieb. Dass es ihnen gar nicht gegen die organisierte Anpassung von Alltagssprache überhaupt geht, lässt sich leicht zeigen. Sie haben sich abgewöhnt, »Neger«, »Zigeuner«, »Krüppel«, »Hure« oder »Halbjude« zu sagen, und sicher hätten sie keine Schwierigkeiten, in einer sozialistischen Gesellschaft wieder »Arbeiter« anstelle des diffamierenden »Arbeitnehmer« zu benutzen. Doch auch innerhalb des Genderkomplexes baumeln ihre kategorischen Imperative. Nie etwa kämen sie auf die Idee, bei den wenigen weiblichen Berufsnamen die tradierte Form zu wahren, sobald mal ein Mann die betreffende Tätigkeit ausübt. Wie selbstverständlich nutzen sie Neologismen, sagen »Krankenpfleger« statt »männliche Krankenschwester«, »Geburtshelfer« statt »männliche Hebamme«. Erst wo man die Übermacht maskuliner Marker durch feminine ergänzt (nicht austauscht), kriegen sie es mit der Angst. Wenn in einer von Jahrtausenden patriarchaler Kultur durchprägten Sprache wenigstens fleckenweise ein paar Kontrapunkte gesetzt werden, durch Endungen und Wendungen, die dem anderen Geschlecht oder den Abweichungen vom binären Muster etwas Achtung erweisen, fürchten sie um den Wort- und Formbestand der deutschen Sprache. Mit Sorge blicken sie auf das generische Maskulinum, das (bei ihnen mehr Parole als Begriff) in Ermangelung einer separaten Form für Gattungsbestimmungen als Sprechgewohnheit tatsächlich weitgehend gelöst von biologischen Konditionen vor sich hin rotiert. Für ihre politischen Zwecke taugt es aber nur bedingt. Der Begriff meint zunächst bloß den Umstand, dass es bei den belebten Substantiven ein Übergewicht des männlichen Geschlechts gibt, dass somit, wenn es »der Sportler«, »der Hase« oder »der Arzt« heißt, nicht zwingend gleich ein männliches Exemplar gemeint war. Manchmal ist die Unterscheidung unmissverständlich, manchmal nicht. Wenn ich etwa sage »Wer krank ist, sollte zum Arzt gehen«, ist das Maskulinum generisch, sage ich »Wenn ich krank bin, gehe ich zu meinem Arzt«, ist es das eindeutig nicht. Benutze ich aber den Satz »Wenn ich krank bin, gehe ich zum Arzt«, kann es das eine oder das andere sein. So sauber trennen, wie die Sprachwacht gern behauptet, lässt sich das alles kaum, auch im Plural nicht. Hier liegt ebenso ein Unterschied zwischen, sagen wir: »Ärzte retten Leben« und »die Ärzte taten, was sie konnten«. Man müsste also auch innerhalb des generischen Maskulinums unterscheiden zwischen Aussagen, die sich streng auf die Gattung beziehen, und solchen, die bloß generisch scheinen, weil der Sprechende entschieden hat, dass das Geschlecht der Erwähnten jetzt keine Rolle spiele. Was natürlich sein Recht ist, aber eben das leistet das Gendersternchen auch, mit dem Unterschied, dass es diese Entscheidung sichtbar macht. Das generische Maskulinum im Singular wiederum ist gar nicht ersetzbar. Einen Satz wie »Wer krank ist, sollte zur Ärzt*in gehen« dürfte niemand sagen, es sei denn aus Ostentation. Der größte Teil der Gendereingriffe findet in den Pluralformen statt. Unsere besorgten Sprachzausel können ihre frisch rekrutierten Bürgerwehren also gern wieder auflösen. Die Abbildung des dritten Geschlechts mittels Sternchen ist gewiss nicht vollkommen, mal ganz abgesehen davon, dass nicht mehr zwischen Geschlecht und Geschlechtsidentität unterschieden wird, oder von der dem Ausdruck »divers« innewohnenden Paradoxie, etwas zusammenzufassen, das sich gerade der Zusammenfassung entziehen möchte. Im Sternchen wird das mit sich selbst nicht identische dritte Geschlecht durch eine Sprechpause markiert. Man erwähnt es, indem man es nicht erwähnt. Andererseits zeigt gerade die Unvollkommenheit dieser Lösung, wie harmlos das alles bleibt. Dieses Sternchen macht keine grammatikalische Form. Es wird überhaupt nichts verändert am Bau der Sprache oder am Wortbestand, nur ein Zeichen mit neuer Bedeutung tritt hinzu. Ärzt*innen bedeutet nichts anderes als die Gesamtmenge aller Ärzte. Generischer wird’s nicht mehr. Was dann noch übrig bleiben kann, sind ästhetische Vorbehalte. Aber die Schreibweise mittels Sternchen wird sich wahrscheinlich weder in der Hochsprache noch in der Alltagssprache richtig durchsetzen, für jene ist sie zu klinisch, für diese zu umständlich. So dürfte sie ganz bestimmten Sprech- und Schreibsituationen vorbehalten bleiben: Ansprachen ans Kollektiv, Rundbriefen, Gesetzestexten und ähnliches. Und wenn etwa doch? Ja, was wäre denn dann? Wenn in fernerer Zukunft Gewohnheit solche Formeln als nicht mehr hässlich und nicht mehr umständlich empfinden ließe? Wer hätte dann einen Schmerz, wer einen Verlust? Wir, die wir dann nicht mehr leben? Oder unsere Nachgeborenen, die ihn nicht mehr fühlen? Ich bin mir sicher, dass die Ostgoten, wo immer sie gerade stecken, selten anders denn mit Wehmut auf uns schauen.
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Felix Bartels
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Sprache kann man nicht bewahren, weil sie sich notwendig verändert. Und zwar auch in der Folge politischer Kämpfe. Nur die Sprachzausel, die gegen die gendergerechte Sprache zu Felde ziehen, mögen das weder einsehen noch zugeben.
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Gender, Gendern, Sprache
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Feuilleton
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Kultur Gendern
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2020-12-27T15:33:20+0100
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2020-12-27T15:33:20+0100
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2023-01-21T09:24:49+0100
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1146266.sprachwacht-und-geschlechterkampf.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
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Abgehängt trotz Heimatministerium
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Es war anfangs nicht mehr als ein diffuses Gefühl, das Ruth Müller bei ihrer politischen Tätigkeit immer wieder begegnete. Die SPD-Landtagsabgeordnete hat ihren Wahlkreis in Niederbayern, einem Regierungsbezirk, der viele ländliche Regionen aufweist. Bei dessen Bürgern drängte sich regelmäßig der Eindruck auf, dass sie weniger Einkommen erwirtschaften als Menschen, die in größeren Städten wohnen - zum Beispiel in der Landeshauptstadt München, gut 70 Kilometer von der Bezirkshauptstadt Landshut entfernt. Tatsächlich ist das keine bloße Einbildung. Laut Zahlen des Sozialministeriums, die Müller erfragt hat, weichen Löhne und Gehälter teils erheblich voneinander ab. Arbeitnehmer in Oberbayern kamen demnach 2015 auf ein verfügbares Einkommen pro Kopf von durchschnittlich 25 868 Euro, während die Menschen in der Oberpfalz gerade einmal 21 592 Euro erzielten. Die beiden Bezirke Niederbayern und Oberfranken lagen mit einem Gesamteinkommen von 21 830 beziehungsweise 22 248 Euro nur unwesentlich höher. Die Steuer- und Sozialabgaben sind aus den angegebenen Beträgen bereits herausgerechnet. Einerseits sind diese erheblichen Gehaltsdifferenzen zwar ein logischer Effekt. In Großstädten wie München oder Nürnberg leben schlicht mehr Menschen, es gibt eine größere Vielzahl von hochbezahlten Arbeitsplätzen, mehr Bildungsangebote sowie höhere Lebensunterhaltungskosten, etwa durch die vielerorts kaum noch bezahlbaren Mieten. So müssen Betriebe automatisch ein höheres Einkommen bezahlen, um attraktive Arbeitsplätze für gut ausgebildete Mitarbeiter zu bieten. Außerdem sind die Metropolen seit jeher starke Wirtschaftsstandorte, in denen sich weltweit bedeutende Unternehmen niedergelassen haben. Doch andererseits lassen sich die Unterschiede nicht allein mit derartigen Gründen erklären, sagt Ruth Müller. Für die SPD-Politikerin sind die Zahlen auch ein Beweis für die Schwäche des ländlichen Raums, dessen gezielte Förderung noch immer mangelhaft sei. Eigentlich hatten die Bürger 2013 per Volksentscheid in die Verfassung schreiben lassen, dass der Freistaat »gleichwertige Lebensverhältnisse« zu fördern und zu sichern hat - in der Stadt und auf dem Land. Die Regierung hat seitdem einiges unternommen, um diesen Forderungen nachzukommen. Vor allem Markus Söder (CSU), Finanzminister und wohl bald Ministerpräsident, spielte dabei eine zentrale Rolle. Er erweiterte seine Zuständigkeit 2014 um ein neu geschaffenes Heimatministerium mit Sitz in Nürnberg, dessen Schwerpunkt die Förderung des ländlichen Raums sowie der Breitbandausbau wurde. Zugleich strebte die Staatsregierung vermehrt Behördenverlagerungen aus München weg an, um mit gutem Beispiel voranzugehen und dort attraktive Arbeitsplätze anzubieten. Als Beispiele können der geplante Bau eines Gefängnisses in Marktredwitz mit 420 Arbeitsplätzen oder die Teilverlagerung des Gesundheitsministeriums nach Nürnberg dienen. Nur geht dies Kritikern nicht weit genug. »Es reicht nicht aus, wenn man Landesbehörden in die ländlichen Regionen verlegt«, sagt Müller. Langfristig müsse der Freistaat geeignete Maßnahmen ergreifen, um private Unternehmen ebenfalls anzusprechen. »Man muss Firmen bei Unternehmensansiedlungen in diesen Gegenden fördern und unterstützen.« Dazu bedürfe es vorwiegend einer professionellen Infrastruktur, einschließlich eines gut ausgebauten Internets. Müller verdeutlicht das am Beispiel der niederbayerischen Gemeinde Vilsbiburg, einer knapp 11 000 Einwohner starken Kommune im Landkreis Landshut. Dort haben sich gleich zwei große Unternehmen angesiedelt, die für die lokale Wirtschaft von entscheidender Bedeutung sind. Der Grund: Vilsbiburg verfügt über eine vergleichsweise gute Infrastruktur, hat eine Realschule und ein Gymnasium sowie ein eigenes Krankenhaus. Es bietet damit attraktive Bedingungen, die Fachkräfte von diesem Standort überzeugen. Auf ein solches Rundum-Angebot komme es an, sagt Müller. Und: »Zur räumlichen Gerechtigkeit gehören eine gute medizinische Versorgung, eine professionelle Betreuung für Kinder, gute Bildungsangebote und ein funktionierender Öffentlicher Personennahverkehr. Wenn das vorhanden ist, kommen auch die Betriebe, bleiben in den Regionen und entwickeln sich.« Dabei müsse das Heimatministerium von Söder stärker mit dem Wirtschaftsministerium von Ilse Aigner (CSU) kooperieren, im jüngsten Münchner Machtkampf eine parteiinterne Widersacherin Söders. Gemeinsam sollten sie Maßnahmen ergreifen, so Müller, »um die nötige Infrastruktur zu schaffen und den ländlichen Raum als attraktiven Arbeitsplatz zu bewerben.« Im Rahmen dieser Strategie kann sich die SPD-Politikerin auch die Unterstützung »junger Start-Ups« vorstellen, die bei einer guten technischen und räumlichen Förderung wiederum junge Menschen ins Land locken würden. »Das wäre eine Investition, die sich lohnt, denn langfristig würden die nötigen Gelder wieder zurück in die Staatskasse fließen - in Form von Gewerbe- und Einkommenssteuer«, sagt Müller.
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Johannes Hartl
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Im ländlichen Raum ist das Einkommen in Bayern wesentlich niedriger als in den Großstädten. Die SPD fordert ein Maßnahmenpaket, um die abgehängten Regionen endlich attraktiver zu machen.
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Bayern, München
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Politik & Ökonomie
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Wirtschaft und Umwelt
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1072593.abgehaengt-trotz-heimatministerium.html
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Ohne Hilfe, ohne Chancen
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Wendeverlierer Jürgen Weiss (André Hennicke) lebt mit seiner Familie in ärmlichen Verhältnissen in Berlin. Das Leben schwankt zwischen cholerischen Ausbrüchen des Mannes gegen Frau und Kind sowie sentimentalen Momenten, in denen sie sich weinend in den Armen liegen. Letztlich geht die Familie an Gewalt und Alkoholismus zugrunde. In Andreas Arnstedts Filmdebüt »Die Entbehrlichen« wird die Handlung nach einer wahren Begebenheit aus Sicht des zwölfjährigen Jakob Weiss, großartig gespielt von Oskar Brökelmann, in Rückblenden erzählt. Nach dem Selbstmo... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
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Aert van Riel
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Kinofilm »Die Entbehrlichen« – ein Bild ärmlicher Verhältnisse
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Filmrezension, Kino
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Feuilleton
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Kultur
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/181216.ohne-hilfe-ohne-chancen.html
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»Uns fehlt die Zeit«
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Seit Wochen gehen Tausende Schüler für Klimagerechtigkeit auf die Straßen. Warum grade jetzt? In den vergangenen Jahren gab es für junge Menschen so gut wie keine Möglichkeiten, die Klimapolitik der Erwachsenen zu beeinflussen. Es entstand ein Gefühl der Machtlosigkeit. Uns fehlt dabei die Zeit, es sind nur noch wenige Jahre, bevor der Klimawandel außer Kontrolle gerät. Wenn die Erwachsenen die Verantwortung dafür nicht übernehmen wollen, dann müssen wir es selbst tun. Die angestaute Frustration einlädt sich nun überall auf der Welt in Schülerstreiks. Linus Steinmetz ist Schüler in Göttingen. Der 15-Jährige engagiert sich seit September in der bundesweiten Bewegung »Fridays for Future« (Freitage für die Zukunft). Unter diesem Motto bestreiken Schüler freitags den Unterricht, um für Klimagerechtigkeit und Umweltschutz auf die Straße zu gehen. Auch in anderen Ländern finden ähnliche Proteste statt. Mit Steinmetz sprach Sebastian Bähr. Warum streikt Ihr während der Schulzeit? Den meisten jungen Menschen wird kaum zugehört - außer sie überschreiten Regeln. Wir demonstrieren mit unserem Regelübertritt: Wenn die Erwachsenen sich nicht an ihre Pflicht halten, uns eine lebenswerte Zukunft zu garantieren, dann halten wir uns auch nicht an unsere Pflichten. An welche Pflichten halten sich die Erwachsenen nicht? Die Erwachsenen haben 2015 das Klimaabkommen von Paris beschlossen, aber schaffen es bis heute nicht, sich an die dort gesteckten Ziele zu halten. Ein anderes Beispiel in Deutschland ist der kürzliche beschlossene Kohlekompromiss, der einen Ausstieg aus dieser Energiegewinnung erst für 2038 vorsieht. »Fridays for Future« fordert einen Ausstieg spätestens bis 2030, wenn möglich noch früher. Von uns Jugendlichen war darüber hinaus auch niemand in der Kohlekommission vertreten. Ich glaube nicht, dass die zahlreichen über 50-jährigen Mitglieder des Gremiums noch viel vom Klimawandel erleben werden. Warum fällt es den Erwachsenen so schwer, sich für Umweltschutz einzusetzen? Das fragen wir uns auch. Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) hat uns gegenüber mal erklärt, dass Deutschland eben ein bedeutender Industriestandort sei. Wenn wir auf internationaler Ebene diesen »Vorsprung« behalten wollen würden, dürften die Bedürfnisse der Wirtschaft nicht im Widerspruch zur Klimapolitik stehen. Wir stellen regelmäßig fest, dass Klimapolitik von den Politikern nicht ernst genommen wird. Immer wieder soll es vermeintlich wichtigere Prioritäten geben. Aber für uns ist Klimapolitik auch Zukunftspolitik. Es ist wichtig, dass verschiedene Themen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Was meinst Du damit? Es macht beispielsweise keinen Sinn, die Kumpel der Kohleindustrie gegen uns protestierende Schüler auszuspielen. Alle von uns wollen eine positive Zukunft, wir sollten nicht gegeneinander aufgehetzt werden. Als Einzelperson bin ich offen für Gespräche mit den Arbeitern; ich bin sicher, die Bewegung ist es auch. Wir wollen definitiv einen sozialverträglichen Kohleausstieg, der die Bedürfnisse der Beschäftigten berücksichtigt und nicht den Unternehmen in die Karten spielt. Wie reagieren eigentlich die Lehrer, wenn Ihr streiken geht? Ich gehe in Göttingen in die Schule. Meine Schulleitung hält schon die unentschuldigten Fehltage fest, verhängt aber keine drakonischen Strafen. Unter der Hand sagen uns die Lehrer, dass sie eigentlich sehr gut finden, was wir machen. Wir sehen generell, dass uns große Teile der Erwachsenenwelt Sympathie entgegenbringen. In anderen Bundesländern wie Bayern gibt es jedoch auch ein unverhältnismäßig hartes Vorgehen der Behörden. Wenn man bedenkt, dass hier Jugendliche sich politisch engagieren, finde ich das unsolidarisch. Kritiker behaupten, dass Ihr nur schwänzen wollt. Der Duden erklärt Schwänzen als Wegbleiben vom Unterricht, weil man keine Lust darauf hat. Wir bleiben vom Unterricht weg, weil wir etwas bewegen wollen und ein höheres Ziel haben. Das ist etwas vollkommen anderes. Sehen das auch Eure Eltern so? Man sollte natürlich nicht zu viel in der Schule fehlen, das gefällt keinen Eltern. Ich persönlich habe das Glück, dass meine mich unterstützen und verstehen, warum ich mich engagiere. Ich bin da aber privilegiert, weil ich aus einem Bildungsbürgertum-Hintergrund komme. Politische Eltern sind keine Selbstverständlichkeit. Ich möchte dennoch alle Eltern aufrufen, ihre Kinder bei den Streiks so gut zu unterstützen, wie sie können. Wie wird es mit Euren Protesten weitergehen? In einzelnen Städten gehen die Jugendlichen weiter wöchentlich auf die Straßen. Für Freitag, den 15. März, ist dann ein internationaler Aktionstag geplant. Das wird auch der nächste bundesweite Schülerstreik sein. Wie wichtig ist für Euch internationale Vernetzung? Die Streiks werden in Deutschland und auch international mit Hilfe von Whatsapp-Gruppen koordiniert. Wir müssen anerkennen, dass der Klimawandel ein globales Problem ist und keine Grenzen kennt. Für unseren Protest müssen wir uns dementsprechend auch international organisieren.
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Redaktion nd-aktuell.de
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Friday-for-Future-Aktivist Linus will selbst dafür sorgen, dass beim Klimaschutz mehr passiert. Im Interview erzählt der Schüler aus Göttingen, wie die Bewegung funktioniert und was jetzt getan werden muss.
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Bildungspolitik, fossile Energie, Streik
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Politik & Ökonomie
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Politik Fridays for Future
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https://www.nd-aktuell.de/artikel/1111617.fridays-for-future-uns-fehlt-die-zeit.html
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Mummenschanz und Hexerei
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»Da haben wir es also: Eine kirchliche Ordnung mit Priesterschaft, Theologie, Kultus, Sakrament; kurz, alles das, was Jesus von Nazareth bekämpft hatte.« Wer dieses Diktum Friedrich Nietzsches wieder einmal bestätigt haben wollte, brauchte am Sonntag nur einen Blick in die Live-Übertragungen vom Mummenschanz des Jahres auf dem römischen Petersplatz zu werfen: Hunderttausende erwachsene Menschen, die unter der Regie bizarr gewandeter Männer inbrünstig einen Hautfetzen und eine Ampulle Blut von zwei toten katholischen Kirchenfürsten anbeteten.
Um nicht ungerecht zu sein: Natürlich ist solch ein Showspektakel allemal angenehmer als andere öffentliche Darbietungen christlicher Nächstenliebe, wie sie in vergangenen Jahrhunderten üblich waren. Zum Beispiel die Hinrichtungen von »Hexen« und »Hexern«. Klar, das ist lange her. Außerdem: Bei der Verfolgung dieser Delikte gegen Gott und Glauben taten sich besonders die Protestanten hervor. Schließlich war Luther ein zutiefst von Teufelswerk und -zeug Überzeugter. Immerhin: Es ist ein evangelischer Pfarrer - Hartmut Hegeler - , der sich seit Jahren für die Entlastung der rund 25 000 in Deutschland Exekutierten einsetzt. Ein öffentlicher Rehabilitationsakt der christlichen Großkirchen, in ökumenisch-trauter Eintracht, würde auch im Fernsehen ein gutes Bild bieten.
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Redaktion nd-aktuell.de
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Ingolf Bossenz über kirchliche Spektakel und spektakuläre Versäumnisse
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Christentum, Katholische Kirche
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Meinung
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Kommentare
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/931245.mummenschanz-und-hexerei.html
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Gegen die Schwerkraft
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Zement ist ein gleichsam proletarisches Material. Aus Rohstoffen wie Kalkstein und Ton bestehend, hat es nichts Glamouröses oder Schmuckvolles an sich. Als preisgünstiger Baustoff diente Zement, zu Beton verarbeitet, Anfang und Mitte des 20. Jahrhunderts sowohl der Realisierung modernistischer Avantgarde-Architektur als auch zahlreicher Sozialbauten – mitunter wurde auch beides vereint. Vielleicht war die graue Substanz deshalb das Lieblingsmaterial von Peter Lászlo Péri. Der jüdisch-ungarische Bildhauer entwickelte sogar ein eigenes Beton-Fertigungsverfahren, genannt »Pericrete« – ein Kompositum aus seinem Namen und dem englischen Wort für Beton, »concrete«. Dementsprechend viele Werke aus Beton sind auch gerade im Kunsthaus Dahlem zu sehen, das Péri eine große Einzelausstellung widmet. Das reicht von großen Porträtköpfen in verschiedenartigen Modellierstilen über kleine Figuren – Péris so genannte »Little People« – bis hin zu Reliefs mit teilweise bunt bemaltem Beton. Dass die Wahl des Materials bei Péri mit seiner politischen Überzeugung korrespondierte, wird aus seiner Biografie ersichtlich. 1899 in die jüdische Familie Weisz hineingeboren – der Familienname wurde 1918 magyarisiert – war Péri seit seiner Jugend überzeugter Kommunist. Weil er sich auf verschiedene Weise politisch engagiert hatte und rege Kontakte zu kommunistischen Organen pflegte, musste er seine Heimatstadt Budapest nach dem Sturz der Ungarischen Räterepublik 1919 verlassen. Péri zog wie viele anderen politischen Künstler aus Ungarn nach Berlin. Dort machte er sich zunächst als Konstruktivist einen Namen. Arie Hartog, als Direktor des Gerhard-Marcks-Hauses Bremen zusammen mit Dorothea Schöne vom Kunsthaus Dahlem für die dortige Schau verantwortlich, weist im zugehörigen Katalog darauf hin, dass die Hinwendung Péris zum Konstruktivismus auch vor dem Hintergrund seines politischen Engagements in Deutschland verstanden werden muss. Mit seinen radikalen Überzeugungen fand er in der deutschen Arbeiterschaft – die vorwiegend sozialdemokratisch und nicht kommunistisch eingestellt war – keine große Resonanz, verlegte sich auch deshalb auf einen formalen Avantgardismus als politisches Ausdrucksmittel: Der Konstruktivismus kam schließlich aus dem revolutionären Russland, sollte die ästhetische Instruktion für die Einrichtung einer neuen Welt sein. Das allerdings konnte ihn nicht davor bewahren, auch von bürgerlichen Kräften aufgegriffen zu werden bzw. von Künstlern, die in den Augen der Kommunisten »bürgerliche Kunst« schufen. Péri begann, daran zu zweifeln, wie viel er mit seiner Kunst tatsächlich zur Erneuerung der Gesellschaft beitragen könne. Er entschied, sich der Architektur und damit etwas Handfesterem zuzuwenden, fertigte unter anderem zahlreiche Entwürfe für Arbeiterwohnungen an. Doch auch auf diesem Gebiet sah Péri seine politischen Anliegen letztlich nicht verwirklicht. Schon 1929 wandte er sich wieder der bildenden Kunst zu – nun arbeitete er jedoch nicht mehr konstruktivistisch, sondern gegenständlich. Nur eine gegenständliche Kunst könne wirklich menschliche Emotionen ausdrücken, war Péri fortan überzeugt. Also schuf er von nun an vor allem menschliche Figuren – allerdings ohne seine Sensibilität und sein besonderes Interesse für geometrische Formen, Raumverhältnisse und verschiedene Größenordnungen aufzugeben. In Dahlem kann man im Hinblick darauf zum Beispiel vertikale Betonflächen begutachten, auf denen – der Schwerkraft zum Trotz – Figuren herumlaufen, -sitzen oder -liegen. Oder eine Konstruktion aus zahlreichen, durch Stäbe verbundenen runden Platten, auf denen sich ebenfalls Figuren in verschiedenen Körperhaltungen befinden, hinauf- oder hinabklettern und einander dabei helfen. Péris Interesse galt klar dem Menschen – jedoch stets im Verhältnis zur Umgebung, in der er sich befindet und wirken kann. Obgleich Péri in London, wohin er kurz nach dem Reichstagsbrand 1933 emigriert war, Fuß fasste und sich mit seinen künstlerischen Arbeiten über Wasser halten konnte, war es ihm nicht möglich, an seinen früheren Bekanntheitsgrad im Berlin der 1920er Jahre anzuschließen; von der Kunstkritik wurde er kaum zur Kenntnis genommen. Auch heute denkt man bei ungarischen Künstlern der Moderne, vor allem des Konstruktivismus, statt an ihn wohl eher an den mit ihm befreundeten Laszlo Moholy-Nagy, der ebenfalls in Berlin und London (sowie später in den USA) lebte und mit dem Péri schon zu Lebzeiten gemeinsam ausstellte. Die Dahlemer Ausstellung als umfangreiche Werkschau könnte dazu beitragen, das zu ändern. Beachtlich ist Péris Werk zweifellos. Wegen der ausgefeilten Formsprache und der breiten Spanne von Stilen und Techniken – Péri suchte eben längere Zeit nach dem adäquaten Ausdruck für seine politischen Überzeugungen –, ebenso wegen seiner idiosynkratischen Bestandteile: Nicht nur entwickelte der Künstler mit »Pericrete« ein eigenes Material, auch färbte er den Beton mitunter bunt ein – eine bis dato in der Kunst recht unbekannte Technik –, was der spröden Substanz eine neue Verspieltheit verlieh. Wie zeitgenössische Künstler heute mit Zement bzw. Beton arbeiten, lässt sich im ersten Obergeschoss des Kunsthauses sehen: Dort sind Arbeiten von Friedemann Grieshaber, Bram Braam, Noa Heyne und Marta Dyachenko ausgestellt. Alle vier Künstlerinnen und Künstler haben sich einen eigenen Zugang zu dem Baustoff erarbeitet. Eine kurze Google-Suche verrät der Journalistin: Beton ist nach wie vor beliebter Baustoff, sowohl im Wohnungs- als auch im Nichtwohnbau, in letzterem sogar die mit Abstand am meisten verwendete Substanz. Unsere Welt besteht also zu einem Großteil aus Beton – das sollte Grund genug sein, ihm auch künstlerisch Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen. Überzeugend wird das aber erst, wenn das Material mit menschlichem Leben, mit Begehren und Visionen in Beziehung gesetzt wird. Hier hat Peter Lászlo Péri, der 1967 in London starb, mit seinem Werk ein Exempel geschaffen. »Péris People«, bis zum 28. Januar 2024, Kunsthaus Dahlem, Berlin
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Larissa Kunert
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Peter László Péri, der als Jude, Kommunist und Avantgardist vor den Faschisten in seiner Heimat Ungarn ins Exil hatte fliehen müssen, entdeckte den Beton als einen faszinierende künstlerischen Baustoff.
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Berlin, Ungarn
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Feuilleton
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Kultur Peter László Péri
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2023-10-01T16:46:47+0200
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2023-10-01T16:46:47+0200
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2023-10-03T16:53:28+0200
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1176685.gegen-die-schwerkraft.html
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In Grönland taut Gift auf
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Offiziell sollte die US-Basis auf Grönland mit bis zu 200 Soldaten arktischen Forschungsprojekten dienen. Doch Camp Century beherbergte auch ein geheimes Vorhaben: »Projekt Eiswurm«. Auch im Vertrag der USA mit Dänemark, der einstigen Kolonialmacht Grönlands, wurde der Plan verschwiegen. »Projekt Eiswurm« sah vor, auf der Basis Atomraketen gegen die Sowjetunion in Stellung zu bringen. Doch dann stellten die Ingenieure fest, dass die Eismassen sich weit schneller bewegten als angenommen und die Tunnel einzustürzen drohten. 1967 gaben die USA die Basis auf. Den Reaktor nahm die Armee mit, doch zurück blieb eine Menge giftiger und gefährlicher Stoffe: krebserregende Chlorverbindungen, radioaktives Kühlwasser und verseuchte Abwässer, insgesamt etwa 30 Airbus-Ladungen voll. »Als der Abfall eingelagert wurde, dachte niemand, dass er jemals wieder rauskommen würde«, sagt William Colgan von der York University in Kanada. In seiner Studie legt er dar, wie durch die Erderwärmung Giftmüll in die Umwelt gelangen könnte. »Weder die USA noch Dänemark haben damals grundsätzlich etwas falsch gemacht, aber die Welt hat sich verändert«, sagt der Wissenschaftler. In der Arktis steigen die Temperaturen schneller als im Rest der Welt. 2090 wird die Menge des schmelzenden Eises laut der Studie vermutlich nicht mehr durch neuen Schneefall ausgeglichen werden, die toxischen Hinterlassenschaften kämen zum Vorschein. Doch auch schon vorher könne durch Risse im Eis Schmelzwasser in das verseuchte Tunnelsystem gelangen, das derzeit noch etwa 35 Meter unter der Oberfläche liege, erklären die Forscher. Da es sehr teuer wäre, die Basis freizulegen und den Müll zu entsorgen, könnten die Aufräumarbeiten erst beginnen, wenn die darüberliegende Eisschicht geschmolzen sei, sagt Colgan. Der grönländische Außenminister Vittus Qujaukitsoq nannte die Studie »besorgniserregend«. AFP
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Sören Billing, Kopenhagen
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Dass das ewige Eis schmelzen könnte, dachte 1959 niemand. Damals begannen Ingenieure der US-Armee, in Grönland unter der meterdicken Schneeschicht eine Militärbasis anzulegen. Jetzt taut’s.
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Arktis, Dänemark, Forschung, Klimawandel, USA
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Politik & Ökonomie
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Politik
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1027497.in-groenland-taut-gift-auf.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
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Suizid: Betroffenen helfen statt Absichten fördern
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Die Suizidprävention soll in Deutschland gestärkt werden. Diesem Antrag stimmte am Donnerstag mit 693 Abgeordneten eine übergroße Mehrheit zu. Auf diesen Gemeinschaftsantrag hatten sich die Parlamentarier*innen erst am Vortag geeinigt. Die beiden Gesetzentwürfe von fraktionsübergreifenden Gruppen über eine Neuregelung der Suizidhilfe haben die Abgeordneten dagegen mehrheitlich zurückgewiesen. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2020 war eine gesetzliche Neuregelung erforderlich geworden. Das Gericht hatte das gesetzliche Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe von 2015 aufgehoben, weil das allgemeine Persönlichkeitsrecht auch das Recht auf selbstbestimmtes Sterben umfasse und dabei die Hilfe Dritter in Anspruch genommen werden dürfe. Die am Donnerstag diskutierten Gesetzesentwürfe sollten Rechtssicherheit für Ärzt*innen und Angehörige herstellen. Im Jahr 2021 nahmen sich in Deutschland mehr als 9000 Menschen das Leben. Etwa dreimal mehr Menschen sterben durch Suizid als durch Straßenverkehrsunfälle. Bei Jugendlichen und jungen Menschen zwischen 15 und 29 Jahren ist der Suizid neben Verkehrsunfällen die zweithäufigste Todesursache. Menschen, die an einer psychischen Krankheit leiden, haben ein um 30- bis 50-fach erhöhtes Suizidrisiko, das variiert je nach Erkrankung. Der Entwurf der Abgeordneten-Gruppe um Lars Castellucci (SPD) und Kirsten Kappert-Gonther (Grüne) erhielt 304 Ja-Stimmen und 363 Ablehnungen. Der Vorschlag der Gruppe wollte die sogenannte geschäftsmäßige Sterbehilfe, die unabhängig von einem etwaigen wirtschaftlichen Interesse auf Wiederholung angelegt ist, erneut verbieten. Ausnahmen sollte es geben, wenn die suizidale Person eine*n Facharzt*in für Psychiatrie und Psychotherapie im Abstand von drei Monaten konsultiert und diese*r bestätigt, dass der Sterbewunsch wirklich eine freie und eigene Entscheidung sei. Der zweite Gesetzentwurf war erst am Vortag aus zwei Entwürfen zusammengelegt worden. Dennoch erhielt der Vorschlag der Gruppe um Renate Künast (Grüne) und Katrin Helling-Plahr (FDP) nur 287 Ja-Stimmen, 375 Abgeordnete stimmten dagegen. Dieser Entwurf sah keinerlei strafrechtliche Konsequenzen vor, dafür eine informierende Beratung und eine Wartezeit von drei Wochen, bevor Ärzt*innen ein Suizidmittel hätten verschreiben können. Mehrere Redner*innen wiesen darauf hin, dass es nicht sein könne, dass eine noch aufzubauende Infrastruktur zur Suizidberatung leichter zu erreichen sei als psychotherapeutische Hilfe. Nach Angaben der Bundespsychotherapeutenkammer von Mitte Juni vergehen etwa fünf Monate zwischen einem Erstgespräch und dem Beginn einer Psychotherapie. Je nach Region oder Erkrankung sind auch Wartelisten von einem Jahr nicht ungewöhnlich. Anders als sich viele vorstellen, geht es bei den Regelungen zur Suizidhilfe nicht um Sterbebegleitung für alte und schwerstkranke Menschen, sondern um Sterbehilfe für alle Menschen, die nicht mehr leben wollen. Die Abgeordnete der Linkspartei Kathrin Vogler wies in der Debatte darauf hin, dass solche Fragen nicht nur in Hinsicht auf die individuelle Selbstbestimmung diskutiert werden dürfen. Es gehe »auch um die Frage, in welchem Land, in welcher Gesellschaft wir leben wollen«. Vogler forderte ein realistisches Menschen- und Weltbild ein, Krisen und Existenzängste setzten »viele Menschen unter Druck, der wirkt sich auch auf die Seele aus«. Zudem funktionierten auch die Hilfesysteme nicht immer gut: Vogler nannte den Mangel an Pflege- und Betreuungskräften, lange Wartezeiten bei Schuldenberatungen, fehlende Frauenhäuser und Gewaltschutzeinrichtungen sowie »Jobcenter, die allzu oft den Druck noch erhöhen, anstatt die Menschen, die als Erwerbslose zu ihnen kommen, zu stärken«. Das bringe die Menschen an den Rand ihrer Kräfte, und »sehr, sehr viele Menschen denken in solchen Situationen daran, sich das Leben zu nehmen«. Gegen solche gesellschaftlichen Krisen wird auch ein Präventionsgesetz nicht helfen. Vielen Abgeordneten erschien jedoch offensichtlich ein Ausbau der Hilfsangebote sinnvoller als eine Erleichterung der Selbsttötung. Effektive Präventionsarbeit müsse »der Vielschichtigkeit der Suizidmotive und ihrer Lebensumstände (Adoleszenz, Alter, Perspektivlosigkeit, mangelnde Palliativversorgung) Rechnung tragen«, hält der beschlossene Antrag fest. Die Bundesregierung soll bis Ende Januar des nächsten Jahres ein Konzept vorlegen, wie bestehende Strukturen und Angebote der Suizidprävention unterstützt werden können. Bis Mitte 2024 soll es einen Gesetzentwurf geben, der den »Schwerpunkt auf die Prävention in den Alltagswelten« legt. In dem Antrag werden akute und kurzfristige Hilfen wie Notfalltelefone gefordert oder nachhaltige Mittel, die Menschen vom Suizid abhalten können, wie bauliche Maßnahmen an Brücken oder Hochhäusern. Um das Reden über solche Gedanken zu erleichtern, soll es eine Aufklärungskampagne geben, die der Tabuisierung und Stigmatisierung von Suizidwünschen vorbeugt. Zudem soll die bedarfsgerechte psychotherapeutische, psychiatrische, psychosoziale und palliativmedizinische Versorgung sichergestellt werden. Linkssein ist kompliziert. Wir behalten den Überblick!
Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen. Jetzt abonnieren! Patientenschützer*innen hatten an die Abgeordneten appelliert, beide Gesetzentwürfe zur Neuregelung der Sterbehilfe abzulehnen. »Beide Gesetzentwürfe weisen große Defizite auf«, sagte der Vorstand der Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch. Der freie Wille des Menschen könne nicht durch Pflichtberatungen überprüft werden. Dafür gebe es keine allgemeingültigen Kategorien, der Willkür würden so »Tür und Tor geöffnet«, argumentierte Brysch. Auch der Paritätische Gesamtverband hielt beide interfraktionellen Gesetzentwürfe »für ungeeignet, insbesondere mit Blick auf den dringend erforderlichen Schutz von Personen mit Suizidabsichten vor den privatwirtschaftlichen Profitinteressen Einzelner«. Nach der Sitzung des Bundestages begrüßte der Präsident der Bundesärztekammer, Dr. Klaus Reinhardt, dass es zu keiner Entscheidung gekommen ist. So bleibe Zeit für die bisher »noch nicht ausreichend geführte gesamtgesellschaftliche Debatte«. Außerdem sei es gut, »den ersten Schritt vor dem zweiten zu tun« und ein »umfassendes Gesetz zur Vorbeugung von Suiziden« zu erlassen, bevor man Suizide erleichtere. Wann es einen erneuten Anlauf gibt, den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts gerecht zu werden und die Hilfe zum Suizid rechtssicher zu regeln, ist noch völlig unklar.
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Kirsten Achtelik
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Nach dem Scheitern der Gesetzentwürfe zur Suizidhilfe: Die Verbesserung der Prävention ist dem Bundestag wichtiger als eine Erleichterung der Sterbehilfe
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Selbsttötung, Sterbehilfe
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Politik & Ökonomie
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Politik Sterbehilfe
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2023-07-07T16:22:37+0200
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2023-07-07T16:22:37+0200
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2023-07-07T16:23:23+0200
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1174574.suizid-betroffenen-helfen-statt-absichten-foerdern.html
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Jerusalem: Die geteilte Stadt
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Auf der Jaffa-Straße herrscht wie immer hektischer Trubel. Nichts deutet auf der Flaniermeile im Herzen Westjerusalems darauf hin, dass sich in Gaza, keine 80 Kilometer entfernt, eine blutige Tragödie abspielt. Die Stimmung wirkt ernster als im letzten Frühjahr, als noch Touristen aus aller Welt vor Einzug der Sommerhitze in die heilige Stadt strömten. Nur vereinzelte evangelikale Besuchergruppen haben die Reisewarnungen ignoriert, sie stören sich nicht an den vielen automatischen Waffen, die selbst junge Paare geschultert haben. Bei einer Veranstaltung in Erinnerung an die über 100 in den Gazastreifen verschleppten Hamas-Geiseln sind die Sicherheitsvorkehrungen überraschend lasch. Das junge Team am Eingang des »House of Zion« wirft nur einen kurzen Blick auf die Rucksäcke der geladenen internationalen und israelischen Journalisten. Palästinensische Medien wurden nicht eingeladen. »Angesichts des Kulturkampfes halten alle Israelis zusammen, auch diejenigen die vor dem 7. Oktober politisch verfeindet waren«, erklärt ein israelischer Journalist die für Besucher überraschend ruhige Stimmung in Israel. Ein paar Gehminuten weiter östlich, am Damaskustor, starren Passanten an einer Straßenbahnhaltestelle auf ihre Mobiltelefone. Auch im annektierten Ostjerusalem wirkt der Alltag auf den ersten Blick unspektakulär. Dabei treffen am Damaskustor die Altstadt, das mehrheitlich arabische Ostjerusalem, und der jüdische Westteil aufeinander. Ein orthodoxes Ehepaar steht vor dem Gemüsestand eines Palästinensers, der Umgangston ist bedacht sachlich. Wer in den palästinensischen Gebieten wen dominiert, wird schnell deutlich. Der palästinensische Verkäufer spricht Hebräisch, die Währung ist der Schekel, auch hier wehen zahlreiche israelische Fahnen. Die Währung Israels wird auch in Gaza, dem Westjordanland und in dem nach internationalem Recht ebenfalls nicht zu Israel gehörenden Ostjerusalem verwendet. »Unsere Steuern, unsere Identitätsdokumente, einfach alles wird von Israel kontrolliert«, lacht Mohammad Sbeidi schulterzuckend. Der vierfache Familienvater betreibt einen Falafel-Imbiss am Eingang zur gähnend leeren Altstadt. »Aber viele von uns haben sich über die Jahre mit der Besatzung abgefunden, weil es wirtschaftlich ganz gut lief die letzten Jahre und man seinen Kindern eine bessere Bildung bieten konnte, als dies in den Nachbarländern möglich wäre.« Doch seit dem letzten Oktober bleiben die Touristen aus, Sbeidis Gewinn ist um 80 Prozent gesunken. Aus Angst vor weiteren Terroranschlägen lassen die israelischen Behörden zudem keine palästinensischen Arbeitnehmer mehr ins Land, mindestens 200 000 Palästinenser wurden über Nacht arbeitslos. Im Westjordanland schloss die israelische Armee die Übergänge durch den 760 Kilometer langen Grenzzaun. Doch zwischen Ost- und Westjerusalem gibt es keine Absperrungen. Die nach der zweiten Intifada vor 20 Jahren gebaute Mauer steht inmitten palästinensischen Gebietes und trennt den Ostteil der Stadt vom Westjordanland. »Manchmal weiß ich nicht, ob ich gerade in Ost oder Westjerusalem bin«, sagt Avigail Zadik. Die israelische Sozialarbeiterin ist vor drei Jahren aus Tel Aviv in die Nähe des Damaskustors gezogen. Die Neugier zieht sie immer wieder in die von schwerbewaffneten Armeepatrouillen gesicherte Altstadt. Ihre Lebensmittel kauft sie bei den »arabischen Händlern«, wie sie sagt. Freunde trifft sie jedoch nur in den Cafés abseits der Jaffa-Straße. »Die Angst vor der Rückkehr des Terrors und die verschärften Maßnahmen gegen normale Palästinenser haben neue, noch unsichtbare Mauern in der Stadt geschaffen«, sagt sie. »Palästinenser und Israelis haben sich seit dem 7. Oktober noch weiter entfremdet. Beide Gesellschaften könnten sich unumkehrbar radikaliseren, wenn es nicht bald wieder ein normales Leben gibt.« Auf Avigails Smartphone treffen unentwegt Nachrichten ein. Über Chatgruppen auf sozialen Medien hält man sich in Ost- und Westjerusalem auf dem Laufenden. »Israelis fürchten Messerattacken vor Straßenbahnhaltestellen oder Autos, die in Menschenmengen gefahren werden«, sagt Avigail, »so wie es im Januar in der Nähe von Tel Aviv geschah«. Dass es in Jerusalem seit dem 7. Oktober laut staatlichen Medien nur zu vereinzelten Angriffen auf Juden kam, lässt sie nicht gelten. »Ich glaube die Regierung verheimlicht viele Vorfälle, um keine Panik aufkommen zu lassen. Die Lage in Gaza ist in Westjerusalem hingegen nur selten ein Thema.« Im Ostteil der 1-Million-Einwohner-Stadt leben viele, die Angehörige bei israelischen Angriffen in Gaza verloren haben. Unentwegt treffen Bilder von toten Zivilisten auf den Mobiltelefonen ein. Doch Hauptthema sind die zahlreichen Kontrollpunkte der israelischen Armee zwischen Ramallah und Jerusalem. »Die Mauer trennt ja nicht Juden von Palästinensern«, sagt Schmuckhändler Osama Zaarub, »sondern palästinensische Familien, so wie meine. Und Freunde, die innerhalb und außerhalb der Stadtgrenzen leben.« Der in Jerusalem geborene Vater von vier Kindern kann mit seiner blauen Identitätskarte sogar nach Tel Aviv oder Haifa reisen. Auf seinem für Auslandsreisen gültigen provisorischen Reisedokument haben die israelischen Besatzungsbehörden unter Nationalität »jordanisch« vermerkt. Osamas Frau und seine Söhne dürfen hingegen oft nicht einmal Ostjerusalem besuchen, den Westteil dürfen sie gar nicht betreten. »Wir leben in dem sieben Kilometer von Jerusalem entfernten Ramallah. Aber oft wird der Kontrollpunkt Qalandia urplötzlich geschlossen, dann dauert es bis zu drei Stunden, bis ich zu Hause bin.« Im bald beginnenden Ramadan könnte die Lage eskalieren. Israels Sicherheitsminister Itamar Ben Gvir denkt laut darüber nach, Muslimen den Zugang zur Al-Aqsa-Moschee in der Altstadt zu verwehren, solange noch nicht alle Geiseln frei sind. In den letzten Wochen haben ultranationalistische Jugendliche neben Palästinensern auch noch Christen zu ihrem Feindbild erklärt. Mehrere Priester wurden unter Androhung von Gewalt aufgefordert, ihre Kreuze nicht mehr öffentlich sichtbar zu tragen. »Nach zwei Jahrzehnten relativer Ruhe sind wir an einer Weggabelung angekommen«, sagt Osama Zaarub. »Auf unserer Seite schlägt sich die bisher moderate, aber jetzt arbeitslose Jugend auf die Seite der Hamas oder anderer militanter Gruppen. Bei den Israelis hat die radikale Siedlerbewegung die moderaten Kräfte bereits verdrängt.«
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Marco Keilberth, Jerusalem
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Das Leben in Jerusalem ist geprägt von der Trennung der Stadt in einen jüdischen Westen und einen arabischen Osten. Die Spannungen haben seit Beginn des Kriegs im Gazastreifen weiter zugenommen.
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Gaza, Israel, Jerusalem, Nahost, Palästina
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Politik & Ökonomie
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Politik Gazakrieg
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2024-03-03T17:19:17+0100
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2024-03-03T17:19:17+0100
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2024-03-05T17:34:26+0100
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1180467.jerusalem-die-geteilte-stadt.html
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Europa im rechten Würgegriff
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Erfinderisch sind sie schon, die Rechtsaußenparteien im Europäischen Parlament. Zumindest was die Namen ihrer Fraktionen anbelangt. »Identität und Demokratie« oder »Europäische Konservative und Reformer« – dass sich dahinter extrem europa- und demokratiefeindlichen Parteien verbergen, wissen nur jene, die näher auf die europäische »Volksvertretung« schauen. Demnächst könnte ein weiterer klangvoller Titel hinzu kommen: Die Souveränisten. Die neue Fraktion ist eine Erfindung der am 9. Juni gewählten 15 deutschen AfD-Abgeordneten, die man in der I&D-Fraktion nicht mehr haben will. Nach der Potsdamer »Remigrations«-Konferenz und den Umtrieben des Spitzenkandidaten Maximilian Krah fürchtet man bei I&D Nestbeschmutzung. Wird doch gerade das Ansehen der Fraktion aufpoliert, um insbesondere für die Konservativen kooperationsfähig zu werden. An den politisch-ideologischen Positionen ändern entschärfte Sprache und öffentlich zelebrierter Abstand zu Neonazis freilich nichts. Mit ein paar weiteren rechten Splitterparteien könnte es den Souveränisten gerade so zum Fraktionsstatus reichen, der den Mitgliedern Geld und Einfluss im Parlament garantiert. Denn mit eine Quote von wenigstens 23 Parlamentarier*innen aus mindestens sieben Ländern liegt die Latte recht hoch. Zwar fand die Fraktionsbildung in dieser Woche entgegen den Erwartungen nicht statt, allerdings wurden die Pläne auch nicht dementiert. Wie groß die Gefahr ist, die von den neuen Rechtsfraktionen im Europaparlament ausgeht, lässt sich schwer einschätzen. Alle diese Fraktionen haben bei der Europawahl zwischen 6. und 9. Juni deutlich an Abgeordneten hinzu gewonnen – zwischen neun und 14 Sitzen, wobei der Zuschnitt der Gruppierungen noch nicht endgültig ist. »Die rechten Abgeordneten nutzen zwar ausgiebig die ihnen zustehende Redezeit, um ihre demokratiefeindlichen Positionen vorzutragen«, sagt der Europaexperte Jan Rettig gegenüber »nd«. Die Erfahrung aus den vergangenen Legislaturen sei aber auch, »dass sie in der eigentlichen Sacharbeit dann doch eher weniger präsent sind.« Trotzdem bleibe es eine große Gefahr, dass Rechtsextreme und Rechtspopulisten das EU-Parlament als Bühne nutzen, um sowohl in die europäische als auch in ihre jeweilige nationale Öffentlichkeit zu wirken, betont der Politikwissenschaftler. Offensichtlich wollen es solche Parteien wie der französische Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen oder Giorgia Melonis Partei Fratelli d’Italia (FdI) jedoch nicht bei den verbalen Attacken belassen. Vor allem Italiens Regierungschefin greift offen nach Machtpositionen in der EU. Zugute kommt Meloni & Co. dabei die seit Jahren andauernde Durchsetzung europäischer Regierungen mit Rechtsaußenparteien; teilweise stellen sie sogar die Regierungsspitzen. In den Niederlanden regiert Geert Wilders mit seiner PVV mit, in Finnland sitzt die rechtspopulistische Finnen-Partei am Kabinettstisch, der rechts-autokratische Viktor Orbán scheint das Amt des ungarischen Premiers gepachtet zu haben, der Nationalist Robert Fico absolviert gerade seine dritte Amtszeit als Ministerpräsident der Slowakei. Und selbst dort, wo die Extremrechte keine Minister*innen stellt, diktiert sie zumindest in Teilen die Agenda der Regierungen. So ist der harte Schwenk Schwedens hin zur »Eindämmung der Immigration« nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass die Regierung von den rechtspopulistischen Schwedendemokraten gestützt wird. Letztlich spiegelt sich das auch in der Verschiebung des politischen Diskurses und bei Entscheidungen auf europäischer Ebene wider, insbesondere im Rat, dem entscheidenden Gremium der Regierungen, aber auch in der EU-Kommission. So lobte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ausdrücklich das von Italien Ende 2023 mit Tirana ausgehandelte Abkommen über die Errichtung zweier italienischer Flüchtlingslager auf albanischem Boden als »Modell für Europa«. Ob der nicht nur in der Migrationsfrage sichtbare Anbiederungskurs von der Leyens Zeichen ihrer Rechtsoffenheit ist oder ob Meloni die Kommissionspräsidentin einfach vor sich hertreibt, wird heftig diskutiert. Ein Indiz für Letzteres könnte sein, dass sich Meloni am Donnerstagabend bei der Entscheidung über eine zweite Amtszeit von der Leyens enthielt. Die Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Staaten haben am Donnerstagabend beim EU-Gipfel in Brüssel mit großer Mehrheit den Personalvorschlägen der großen europäischen Parteienfamilien zugestimmt. Die deutsche Konservative Ursula von der Leyen wurde für eine zweite Amtszeit als EU-Kommissionspräsidentin nominiert. Nächster Ratspräsident wird der frühere portugiesische Regierungschef António Costa. Die estnische Regierungschefin Kaja Kallas ist als EU-Außenbeauftragte vorgesehen. dpa/nd Der Rechtsdruck auf Rat und Kommission wird in den kommenden Monaten weiter wachsen. Denn ab Juli übernimmt Ungarn turnusmäßig für ein halbes Jahr die EU-Präsidentschaft – es leitet somit »die Geschäfte« des Rates. Damit drohe der Gemeinschaft »ein halbes Jahr Stillstand, Erpressung oder Blockade – vor allem bei den Themen Migration, Schutz des Rechtsstaats und der Unterstützung der Ukraine«, erklärte der Grünen-Europaabgeordnete Daniel Freund. Das EU-Parlament hatte im vergangenen Jahr mit einer – allerdings nicht rechtsverbindlichen – Entschließung den Rat ersucht, die ungarische EU-Präsidentschaft praktisch unter Vormundschaft zu stellen. Schließlich sei Budapest wegen seiner Verstöße gegen die EU-Grundrechte und -werte sogar verurteilt worden (die Blockade eines Teils von Geldern an Budapest wurde jedoch von der Europäischen Kommission wieder aufgehoben – mit der durch nichts gerechtfertigten Begründung, die Orbán-Regierung halte sich inzwischen wieder an Rechtsstaatlichkeitsprinzipien der EU). Erfolgreich war der Vorstoß im Europaparlament aber nicht. Auch deshalb, weil der Rat diesem Vorhaben hätte zustimmen müssen. Noch verschärfen könnte sich der Rechtsdrall im Rat, wenn tatsächlich Frankreich bei den Neuwahlen am Wochenende – oder in der Stichwahl nächste Woche – einen rechtsextremen Premier bekommen würde. Präsident Emmanuel Macron hatte das Parlament aufgelöst, nachdem demokratische Parteien bei der Europawahl katastrophal eingebrochen waren und die Le-Pen-Partei triumphierte. Für den Fall, dass RN-Mann Jordan Bardella Weneuer Regierungschef Franksreichs wird, hat er schon mal die Instrumente gezeigt: Er wolle die Zahlungen Frankreichs an die EU um jährlich drei bis vier Milliarden Euro reduzieren. Zwar würde Macron solchen Schritten sicher nicht zustimmen, unter Zugzwang dürfte der Staatschef trotzdem geraten. Der Angriff auf die EU kommt aber nicht nur aus deren Inneren. Wenn im November in den USA Donald Trump erneut zum Präsident gewählt würde – wofür nach dem TV-Duell in der Nacht auf Freitag noch mehr spricht – dürfte er unter den Rechten in Europa einige Verbündete finden. So hat Marine Le Pen erklärt, die Politik, die sie vertrete, sei jene von Trump und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Zwar liegt diese Äußerung schon einige Zeit zurück, an deren Inhalt dürfte sich aber kaum etwas geändert haben. Auch Melonis Sympathien liegen wohl eher bei Trump, und Budapest hat sogar Anleihe an einem Trump-Slogan genommen: »Make Europe Great Again!« lautet das offizielle Motto der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft.
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Uwe Sattler
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Rechtsparteien wie der französische RN von Marine Le Pen oder Giorgia Melonis Partei Fratelli d’Italia lassen es nicht bei Verbalattacken gegen Europa. Vor allem Italiens Regierungschefin greift nach der Macht in der EU.
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Antifaschismus, Donald Trump, Einwanderung, Europäische Union, Rechtsradikalismus, Ungarn
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Politik & Ökonomie
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Politik EU-Rechtsdrall
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2024-06-28T15:23:56+0200
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2024-06-28T15:23:56+0200
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2024-07-04T16:42:19+0200
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https://www.nd-aktuell.de/artikel/1183332.eu-rechtsdrall-europa-im-rechten-wuergegriff.html?sstr=Sattler|Rettig
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Streit zwischen Kiew und Minsk
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Es waren sehr freundliche Worte, die der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko bei seiner Jahrespressekonferenz Ende Dezember der Ukraine und Ukrainern widmete. »Ganz persönlich ist für mich der Krieg in der Ukraine vielleicht das wichtigste Problem«, betonte Lukaschenko. Er wünsche sich wirklich sehr, dass dieser Konflikt »in unserem Bruderland« ende. »Ich kenne Ukrainer sehr gut, bereits seit meiner Jugend, seit dem Armeedienst. Es sind hart arbeitende und ehrliche Menschen, mit denen man nur eine gemeinsame Sprache finden muss.« In der Tat ist die Rolle von Belarus im Konflikt zwischen der Ukraine und Russland, der spätestens im März 2014 mit der Annexion der Krim eskalierte, nicht zu unterschätzen. Schließlich bietet sich Minsk als Vermittler in Sachen Donbass an. So tagt in der belarussischen Hauptstadt die sogenannte Dreiseitige Kontaktgruppe, in der Vertreter der Ukraine, der prorussischen Separatisten und der OSZE miteinander kommunizieren. Doch die bilateralen Beziehungen sind keineswegs glänzend. Dass sich die Ukraine wegen der politischen Nähe zwischen Belarus und Russland besorgt zeigt, ist nicht neu. Hat Minsk doch zuletzt auch gegen die ukrainische UN-Resolution über Menschenrechtsverletzungen auf der Halbinsel Krim gestimmt. Nicht selten wurden zudem, oft aus politischen Gründen, von Russland gesuchte Ukrainer verhaftet und an Moskau ausgeliefert. Das Militärmanöver »Sapad 2017« mit Russland auf belarussischem Territorium war ebenfalls kein besonders freundliches Zeichen Richtung Kiew. Endgültig eskaliert sind bilateralen Beziehungen dann Ende 2017, als Minsk die Festnahme gleich mehrerer Ukrainer verkündete. Prominentester Fall: der Journalist Pawlo Scharojko, der wegen angeblicher Spionage vom belarussischen Inlandsgeheimdienst KGB festgenommen wurde. Darauf hat das ukrainische Außenministerium sogar mit der Abschiebung einiger belarussischen Diplomaten reagiert. Bei Scharojko handelt es sich um den Belarus-Korrespondenten des staatlichen Ukrainischen Radios. Laut Minsk soll er ein Netz aus belarussischen Staatsbürgern organisiert haben, die gegen Bezahlung Informationen an Kiew lieferten. »Scharojko war früher bei der Pressestelle der ukrainischen Aufklärung tätig. Wir haben keine Zweifel, dass er nicht hauptsächlich als Journalist in unserem Land arbeitete«, sagte ein Vertreter des KGB. Interessant ist, dass die ukrainische Seite drei Wochen über den Fall geschwiegen hat - offenbar gab es eine interne Vereinbarung zwischen Kiew und Minsk. »Die Anschuldigungen gegen Scharojko sind absurd und inakzeptabel«, betont Kiew nun. Dem Journalisten droht eine lange Haftstrafe - so wie dem ukrainischen Unternehmer Olexander Skyba, dem Korruption vorgeworfen wird. »Wir sind besorgt, weil es für uns sehr wichtig ist, freundliche Beziehungen mit Minsk zu pflegen«, betont das Außenministerium in Kiew. Der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko kontern: »Wir sind stark an guten Beziehungen mit der Ukraine interessiert. Aber wenn man so offen Spionage betreibt, muss man auch mit Konsequenzen rechnen.« Der Streit wirft auf jeden Fall die Frage auf, ob Minsk immer noch der Ort der Verhandlungen im Donbass-Friedensprozess bleiben kann, zumal diese sich zuletzt nicht besonders erfolgreich entwickelten. Da könnte der Vorschlag des kasachischen Präsidenten Nursultan Nasarbajew, die Verhandlungen künftig in Astana stattfinden zu lassen, genau zum richtigen Zeitpunkt kommen. Da das Kiewer Außenministerium die Gelegenheit zugleich nutzt, um Ukrainer auch vor Reisen nach Russland zu warnen, wird die diplomatische Krise im postsowjetischen Raum immer größer.
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Denis Trubetskoy, Kiew
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Belarus gilt als wichtiger Vermittler im Ukraine-Konflikt. Doch zahlreiche Verhaftungen von Ukrainern stellen die Beziehungen zwischen Kiew und Minsk in Frage.
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Belarus, Pressefreiheit, Russland, Ukraine
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Politik & Ökonomie
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Politik
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1077640.streit-zwischen-kiew-und-minsk.html
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90 000 Rohingya fliehen vor Kämpfen
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Grenzwächter versuchen die Menschen zurückzudrängen, doch es sind zu viele. Tausende Rohingya erreichen nach tagelangen beschwerlichen Märschen Bangladesch. Abseits der Weltschlagzeilen ereignet sich in Myanmar eine humanitäre Katastrophe, die allein in den vergangenen Tagen 400 Menschenleben gefordert hat. Rebellen der muslimischen Rohingya-Minorität haben Ende August Dutzende koordinierte Attacken auf Militärposten verübt. Als Vergeltung steckten Regierungstruppen ganze Dörfer in Brand, töteten Hunderte Menschen und trieben ganze Landstriche in die Flucht. So wie Sham Shu Hoque. Der 34-Jährige erreichte Bangladesch zusammen mit 17 Familienmitgliedern nach einem einwöchigen Marsch unter Monsunschwerem Himmel. Truppen hätten sein Dorf angegriffen und »auf Bewohner geschossen, auch mit Panzerfäusten«. Soldaten ließen die Familie fliehen und sagten ihnen, nie wieder zurückzukehren. Myanmars Militärchef schrieb auf Facebook, 29 der Getöteten seien Zivilpersonen und 370 »Terroristen«. Von mehr als 90 bewaffneten Kampfhandlungen war die Rede. Fast 90 000 Menschen sind in der vergangenen Woche nach Bangladesch geflohen, wo es an allem mangelt. 20 000 weitere sollen an der Grenze auf Einlass warten, lässt die UN verlauten. In Camps in Bangladesch leben bereits etwa 400 000 Rohingya-Flüchtlinge. Laut Vivian Tan, der regionalen Sprecherin des UNO-Flüchtlingshilfswerks UNHCR, sind die »Camps zum Bersten voll und die Zahlen schwellen rasch an«. Jetzt schlug auch das UNO-Welternährungsprogramm WFP Alarm, dass seine Hilfe im betroffenen Rakhine-Bundesstaat in Myanmar einstellen muss; eine halbe Million Menschen sind von Hunger bedroht. Die Tragödie wirft ein Schlaglicht auf Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi, die lange Jahre unter Hausarrest stand und nach Myanmars Übergang zu Wahlen zur defacto Regierungsführerin aufstieg. Als sie noch unter Hausarrest stand, hatten die herrschende Junta Gesandten der Vereinten Nationen Besuche bei Suu Kyi verboten. Jetzt ist es Suu Kyis Regierung, die UNO-Vertretern Besuche im Rakhine-Krisengebiet verbietet. Die Demokratie- und Friedensführerin war lange Jahre selber eine Verfolgte. Jetzt weigert sie sich, für Verfolgte ihre Stimme zu erheben. Als Oppositionsführerin zur Ikone stilisiert, erweist sie sich an der Macht als eine Verlängerung der Generäle, die sie einst bekämpfte. Das mehrheitlich buddhistische Myanmar anerkennt die rund eine Million Rohingya nicht als ethnische Minderheit und verweigert ihnen die Staatsangehörigkeit und Bürgerrechte. Daran will offenbar auch Suu Kyi nichts ändern. In der internationalen Gemeinschaft herrscht Unverständnis über die menschenfeindliche Politik der einstmals Gefeierten. Der britische Außenminister Boris Johnson warnte Suu Kyi, die selber den britischen Pass besitzt, dass Myanmars Behandlung der muslimischen Rohingya den Ruf des Landes »beschmutzt«. Das jüngste Aufflammen der Gewalt begann am 25. August, als mit Macheten und Gewehren bewaffnete Rebellen der selbst ernannten Arakan Rohingya Heilsarmee (ARSA) Militärstellungen attackierten. Truppen lancierten großflächige Vergeltungsaktionen und die Staatspresse meldete am Samstag, die »extremistischen bengalischen ARSA-Rebellen« hätten 2625 Häuser niedergebrannt. Was die Frage aufwirft, weshalb Rohingya-Rebellen ihre eigene Bevölkerung auslöschen wollen. Neutralen Beobachtern ist der Zutritt zum Gebiet verwehrt, es ist schwierig, sich ein genaues Bild über diese »Politik der verbrannten Erde« zu verschaffen. In sozialen Medien kursierten mögliche Falschmeldungen mit Fotos, die Leichen zeigen. Die Fotos stammen offenbar von der Wirbelsturmkatastrophe Nargis im Mai 2008 oder von Schiffsunfällen. Beide Seiten verüben Gräueltaten. Erwiesen jedoch scheint, dass Rohingya schlimmere Opferzahlen leiden. ARSA ist eine islamistische Widerstandsgruppe um Atullah Abu Amar Jununi, der in Pakistan geboren in Mekka aufwuchs und laut der Internationalen Krisengruppe ICG militärisches Training in Pakistan und möglicherweise Afghanistan erhalten haben soll. Finanziert von der Rohingya-Diaspora und Gebern in Saudi Arabien und dem Nahen Osten, haben Myanmars Regierungen die Bedingungen geschaffen, die zur Bildung der ARSA führten. Die Gruppe scheint keine jihadistischen Ziele zu verfolgen, verwendete in ihrem ersten Video aber arabische Schriftzüge, was Spekulationen nährte, dass Myanmars Muslimrebellen globalen Terroristengruppen angehören. Es ist unklar, welche Unterstützung ARSA in der eigenen Bevölkerung genießt. Berichten zufolge hat die Gruppe unlängst verdächtigte Informanten hingerichtet, um mit einer brutalen Kampagne Einfluss und Kontrolle zu stärken.
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Daniel Kestenholz, Bangkok
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Eine Woche nach den erneuten Ausbruch von Gewalt gegen die muslimische Minderheit droht eine humanitäre Katastrophe. Die UN warnen vor Hungersnöten, in Bangladesch sind die Camps überfüllt.
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Bangladesch, Myanmar
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Politik & Ökonomie
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Politik
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1062652.rohingya-fliehen-vor-kaempfen.html
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Tunesien zeigt sich reformfreudig
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Tunis (Agenturen/ND). Die tunesische Übergangsregierung unter der Beteiligung von drei Oppositionsführern soll Präsidentschafts- und Parlamentswahlen vorbereiten, wie Ghannouchi am Montag mitteilte. Insgesamt gehören dem Interimskabinett 19 Minister an. Ein Informationsministerium gibt es nicht mehr. Es war als Zensurinstanz für die Medien und Propagandamaschine in der Bevölkerung besonders verhasst. Neben Ghannouchi, der schon unter Ben Ali im Amt war, verbleiben fünf weitere Minister aus dem alten Kabinett auf ihren Posten, darunter die bisherigen Ressortchefs für Äußeres und Inneres. Kurz vor seiner Flucht nach Saudi-Arabien hatte Ben Ali Ghannouchi noch mit der Bildung einer Übergangsregierung beauftragt. Von den am Wochenende geführten Verhandlungen ausgeschlossen waren die unter Ben Ali verbotenen Islamisten und Kommunisten. Nach der tunesischen Verfassung müssten Neuwahlen binnen zwei Monaten stattfinden. Oppositionsvertreter fordern aber eine Frist von sechs Monaten, um das Votum demokratisch zu gestalten. Premier Ghannouchi kündigte eine Reihe von politischen Reformen an, so eine »vollständige« Pressefreiheit. Außerdem würden alle politischen Gefangenen freigelassen. »Wir haben entschieden, dass alle Menschen, die für ihre Ideen, ihre Überzeugungen oder für Äußerungen abweichender Meinungen inhaftiert waren, befreit werden«, sagte Ghannouchi auf einer Pressekonferenz. Unterdessen forderten Demonstranten in mehreren Städten die Auflösung von Ben Alis Partei Konstitutionelle Demokratische Versammlung (RCD). »Die Revolution geht weiter«, skandierten Demonstranten in Tunis bei zwei Kundgebungen mit mehreren hundert Teilnehmern. Sie verlangten auch den Abgang des schon unter Ben Ali amtierenden Ministerpräsidenten Ghannouchi. Die Polizei löste die Kundgebungen mit Wasserwerfern und Tränengas auf. In den Straßen waren Schüsse zu hören, ein Armeehubschrauber überflog die Stadt. Auch in Sidi Bouzid und Regueb fanden Kundgebungen gegen die RCD statt. Die EU sei bereit, »sofortige Unterstützung zur Vorbereitung und Organisation des Wahlprozesses zu geben«, sagte eine Sprecherin von EU-Außenministerin Catherine Ashton. Brüssel stellte Tunesien einen Ausbau der Beziehungen in Aussicht. Zudem berieten die Mitgliedstaaten über Sanktionen gegen Ben Ali und seine Vertrauten. Der prominente tunesische Oppositionspolitiker Moncef Marzouki kündigte seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahl an. Marzouki war bis 1994 Vorsitzender der tunesischen Menschenrechtsliga und gründete 2001 die linksgerichtete Oppositionspartei Kongress für die Republik (CPR), die unter Ben Ali verboten war. Das französische Konsulat in Tunis hat Angaben über den Tod eines deutsch-französischen Fotografen berichtigt. Demnach ist Lucas Mebrouk Dolega noch am Leben. Er befinde sich in einem »kritischen Zustand«, hieß es. Zuvor hatten das Konsulat und der Arbeitgeber des 32-Jährigen, die european pressphoto agency (epa), den Tod des Reporters vermeldet. Wie das Auswärtige Amt mitteilte, wurden in den vergangenen Tagen mehr als 6000 deutsche Urlauber zurückgebracht. Die LINKE im Bundestag kritisierte die »Doppelzüngigkeit deutscher Außenpolitik«. Jahrzehntelang habe die Bundesregierung bei Menschenrechtsverletzungen in Tunesien weggeschaut, »weil der Diktator ein verlässlicher Partner in der Terrorbekämpfung und der Flüchtlingsabwehr war«, so der Abgeordnete Jan van Aken.
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Redaktion nd-aktuell.de
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Nach der Flucht von Präsident Zine el-Abidine Ben Ali hat der amtierende Ministerpräsident Mohammed Ghannouchi in Tunesien eine Regierung der nationalen Einheit unter seiner Führung gebildet.
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Arabische Umbrüche, Pressefreiheit, Reform, Tunesien
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Politik & Ökonomie
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Politik
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/188771.tunesien-zeigt-sich-reformfreudig.html
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Am Anfang war es nur ein lustiges Hitler-Meme
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Der Duden definiert den Einzelfall als »etwas, was eine Ausnahme darstellt, was nicht die Regel ist«. In der Wissenschaft käme niemand auf die Idee, von einem Einzelfall zu sprechen, wenn sich ein Ergebnis bei gleicher Versuchsanordnung wiederholt. Einzelfälle bezogen auf den gleichen Versuch gibt es nicht. Wiederholt sich ein Ergebnis, ist es kein Einzelfall. Also muss dessen Ursache ergründet werden. Die Geschichte vom wiederkehrenden Einzelfall ist allerdings genau das, was Bundesinnenminister Horst Seehofer (CDU) der Öffentlichkeit einzureden versucht, um eine bundesweite Studie über die Verbreitung rechtsextremer Einstellungen bei der Polizei zu verhindern. Indem er jeden neuen Fall zum bedauerlichen Einzelfall deklariert, versucht er davon abzulenken, dass selbst der wissenschaftliche Laie inzwischen Muster im Verhalten der Beamten erkennt. Egal ob der aktuelle Fall bei der Berliner Polizei, die Verfassungsschützer in Nordrhein-Westfalen oder Mitte September bei Beamten, die sich über eine Wache in Mülheim an der Ruhr kennenlernten. Jedes Mal ging es darum, dass sich die Staatsbediensteten in Chatgruppen gegenseitig rassistische, volksverhetzende Inhalte schickten. Einige aktiv, manche sahen sich die Fotos und Videos nur an. Exakt dieses Verhalten ist auch wiederholt aus den Reihen der AfD und rechtsextremer Gruppierungen dokumentiert. Am Anfang ist es nur das Hitler-Meme, worüber in der Gruppe geschmunzelt wird. Bald kommen die ersten Gewaltfantasien hinzu, rechte Einstellungen verfestigen sich immer weiter. Irgendwann wird aus dem stumpfen Konsum und dem Austausch darüber in einigen Fällen eine konkrete Tat. Während Beamte dann leicht ihre Stellung als Exekutive des Staates missbrauchen können, sucht sich der aufgeputschte Nazi von nebenan mit seinen Gleichgesinnten das Opfer auf der Straße oder schmiedet in seinem Wahn immer konkreter Pläne für einen »Tag X«. Es ist noch nicht lange her, da wurden mehrere Fälle bekannt, wie sensible Daten von Menschen aus Politik und Kultur von Polizeicomputern abgerufen und dann für Morddrohungen verwendet wurden. Zur Erinnerung: In der 2017 aufgeflogenen rechtsextremen Gruppe Nordkreuz (die mit den Todeslisten) waren Angehörige der Bundeswehr und ein früherer Beamter des Landeskriminalamtes in Mecklenburg-Vorpommern aktiv. Was die Gruppierung am Ende verriet? Ihre Chatgruppe.
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Robert D. Meyer
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In der Wissenschaft käme niemand auf die Idee, von einem Einzelfall zu sprechen, wenn sich ein Ergebnis bei gleicher Versuchsanordnung wiederholt. Doch die Geschichte vom wiederkehrenden Einzelfall ist genau das, was Innenminister Seehofer der Öffentlichkeit einzureden versucht.
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Horst Seehofer, Nordkreuz, Polizei, Polizeiproblem, Rassismus, Rechtsextremismus
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Meinung
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Kommentare Polizeiproblem
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2020-10-01T09:46:43+0200
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2020-10-01T09:46:43+0200
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2023-01-21T10:07:08+0100
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https://www.nd-aktuell.de/artikel/1142544.polizeiproblem-am-anfang-war-es-nur-ein-lustiges-hitler-meme.html?sstr=polizeiproblem
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Europas Fußball sucht Einigkeit
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DFB-Präsident Reinhard Grindel bleibt vier weitere Jahre »Außenminister« der Europäischen Fußball-Union bei der FIFA. Der 57-Jährige wurde am Donnerstag beim UEFA-Kongress in Rom ohne Gegenkandidat erneut ins Council des Weltverbands gewählt. Als »Oppositionsführer« darf sich nach wie vor Aleksander Ceferin fühlen, der ebenfalls alternativlos bis 2023 im Amt des UEFA-Präsidenten bestätigt wurde - den Auftritt seines »Gegenspielers« Gianni Infantino nahm der slowenische FIFA-Vizepräsident mit einem gequälten Lächeln zur Kenntnis. FIFA-Präsident Infantino, der mit der UEFA-Führung seit Monaten im Clinch liegt, mahnte seine ehemaligen Kollegen durch die Blume zu mehr Kooperation bei seinen wilden Ideen. »Der Fußball ist global und verdient es, global entwickelt zu werden«, sagte der frühere UEFA-Generalsekretär während seiner kurzen und eher nichtssagenden Rede zu Beginn des Kongresses: »Dafür müssen wir zusammenarbeiten, miteinander reden und diskutieren. So sehe ich uns alle auf dem Weg nach vorne.« Infantinos Pläne, die Klub-WM aufzustocken, eine globale Nations League einzuführen, beide Wettbewerbe für eine Milliardensumme an zweifelhafte Investoren zu verkaufen und schon die WM 2022 in Katar mit 48 Mannschaften zu spielen, stoßen bei der UEFA nur auf sehr wenig Gegenliebe. Ceferin gilt als einer der größten Kritiker des Schweizers. »Indem wir der FIFA sagen, dass wir nicht einverstanden sind mit den aktuellen Vorschlägen, zeigen wir ihr und dem Fußball, den wir lieben und den wir schützen müssen, unseren Respekt«, sagte Ceferin: »Und wir hoffen, dass auch die FIFA uns ihren Respekt zeigen wird, indem sie unsere Meinung anhört. Die UEFA und der europäischen Fußball verdienen es, respektiert zu werden.« Daran hat der Jurist aus Slowenien, die die WM 2030 nach Europa holen will, großen Anteil. Nach seiner ersten Wahl im September 2016 führte er die UEFA in deutlich ruhigeres Fahrwasser geführt. »Eine Krise ist auch immer eine einzigartige Chance, die Dinge zum Besseren zu verändern«, sagte Ceferin, dessen Verband für die historische EM 2020 mit einem gewaltigen Gewinn in Höhe von 827 Millionen Euro rechnet: »Wir wollten die Einheit des europäischen Fußballs wiederherstellen, die Einheit, die verloren gegangen war.« Besonders betonte der alte und neue UEFA-Präsident die gute Zusammenarbeit mit den mächtigen Großklubs in Europa. »Der Fußball der Nationalmannschaften und der Klubfußball sind keine Feinde«, sagte Ceferin: »Sie gehören zum gleichen Spiel.« Am Mittwoch hatte die UEFA eine neue Kooperationsvereinbarung mit der Klubvereinigung ECA unterzeichnet, die künftig auch durch Nasser al-Khelaifi im UEFA-Exekutivkomitee vertreten wird. Die ECA-Wahl des katarischen Präsidenten von Paris St. Germain wurde vom UEFA-Kongress ohne Probleme bestätigt. Die Kritik an dem französischen Scheich-Klub, der mutmaßlich mehrfach gegen das Financial Fair Play der UEFA verstoßen hat, spielte in Rom keine Rolle. Auch der DFB segnete die Entscheidung ab. SID/nd
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Jan Mies, Rom
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Wiederwahl des Präsidenten ohne Gegenkandidat, Kuscheln mit den Großklubs und Katar - Europas Fußballverband zeigt sich harmonisch. Nur nicht im Fall der FIFA.
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FIFA, Fußball, Slowenien, UEFA
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Sport
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Sport
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1111785.europas-fussball-sucht-einigkeit.html
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Polizisten, Mörder und Faschisten
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»Damit sie gute Polizisten werden, müssen sie diese Dinge verstehen«, betont Jochen Christe-Zyse. Der Vizepräsident der Fachhochschule der Polizei ist am Dienstag ärgerlich, weil einige im Hörsaal schwatzten und lachten. »Was ich hier gerade erzähle, ist alles andere als lustig.«
An der weitläufigen Fachhochschule direkt neben der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen bildet das Land Brandenburg gewöhnliche Streifenbeamte aus, aber auch Polizisten für den gehobenen Dienst, die ein Fachschulstudium absolvieren müssen.
Niemand glaube, dass die jungen Männer und Frauen hier irgendwann einmal nach Osteuropa geschickt werden, um dort Juden zu erschießen, versichert der Vizepräsident. »Dass Hitler schlimm war, müssen wir Ihnen auch nicht noch einmal erklären. Das wissen Sie!« Trotzdem lernen angehende Polizisten in Brandenburg etwas über das 1940 im Schloss Oranienburg aufgestellte Polizeibataillon 310, das in Polen und in der Sowjetunion Kriegsverbrechen verübte. Warum?
Vizepräsident Christe-Zyse hat eine schlüssige Erklärung: Damit die Polizisten später die Balance wahren zwischen dem, was sie wollen, müssen und dürfen, wenn sich ihr Empfinden von menschlichem Anstand dagegen wehrt. Der Vizepräsident erinnert die künftigen Beamten an Fernsehbilder von den Unruhen in Istanbul und empfiehlt ihnen, an die türkischen Polizisten zu denken und sich zu fragen, ob diese wirklich einfach brutaler sind. »Wenn Sie in einer geschlossenen Einheit sind und Befehle bekommen, dann passiert etwas mit Ihnen«, prophezeit Christe-Zyse seinen Zöglingen. Darauf sollen sie sich einstellen. Dann kommt er wieder auf die Nazizeit zu sprechen und auf die jungen Männer in den Polizeibataillonen. »Ich kann doch meine Kameraden nicht im Stich lassen«, hätten damals einige gedacht. Das sei eigentlich ein positives Gefühl, das jedoch zu etwas Schrecklichem geführt habe.
Nicht alltäglich läuft der Unterricht am Dienstagmittag im Hörsaal 1 für zwei Klassen mit Auszubildenden und eine Klasse mit Studenten. Herbert Brandt ist gekommen, um ein Fotoalbum zur Verfügung zu stellen, das er nach dem Tod seiner Tante in einer Schublade ihres Schreibtisches fand. Darin versammelt sind Aufnahmen seines Vaters und seiner Kameraden vom Bataillon 310.
Bevor Brandt das Wort ergreift, fasst Dozent Wieland Niekisch noch einmal stichpunktartig die Geschichte des Bataillons zusammen. Dazu zitiert er auch aus dem Kriegstagebuch der Einheit. Unter dem 30. Mai 1941 ist vermerkt: 35 Mann abgestellt zur Erschießung von 78 Menschen. Das soll eine Vergeltung dafür sein, dass Partisanen einen SS-Untersturmführer töteten. Niekisch ist von Haus aus Historiker und war früher CDU-Landtagsabgeordneter. Nun leitet er an der Fachhochschule das Zeithistorische Zentrum. Er nennt noch andere Daten aus dem Kriegstagebuch. Immer geht es um die Ermordung von Geiseln. Dörfer werden umstellt und niedergebrannt; Männer, Frauen und Kinder erschossen.
»Auch wenn mein Vater an diesen Taten beteiligt war, es ist eine Schande für Deutschland, dass diese Verbrechen begangen worden sind«, sagt Herbert Brandt und kämpft mit den Tränen. Herbert Brandt kam 1942 in Kyritz zur Welt. Sein Vater Helmuth, ein gelernter Glaser, diente da bereits im Bataillon 310. Man hatte ihn 1940 zum Wehrdienst bei der Polizei eingezogen, wo er lediglich Wachtmeister wurde, also ein kleines Licht blieb. Den Sohn muss er bei einem Fronturlaub gezeugt haben. Ob ihn die Nachricht von der Geburt seines Kindes überhaupt noch erreicht hat, weiß Herbert Brandt nicht. Am 14. Januar 1943, während der Donoffensive, habe ein Haus hinter den deutschen Linien einen Volltreffer bekommen, erzählt Herbert Brandt. Sein Vater Helmuth war in dem Haus und starb.
Einzelheiten über seinen Vater musste Herbert Brandt mühselig recherchieren. Seine Mutter sprach nicht darüber. Sie hatte nach dem Krieg wieder geheiratet - einen Lehrer. Wegen des Stiefvaters seien der leibliche Vater und seine Kriegserlebnisse in der Familie tabu gewesen, erinnert sich Herbert Brandt.
Ab 1936 stand die deutsche Polizei auch offiziell unter dem Kommando des Reichsführers-SS Heinrich Himmler. Polizei und SS waren eng verwoben, und es war Usus, dass Polizeikommandeure der SS angehörten und die SS-Rune an der Uniformjacke trugen. Selbst einfache Polizisten traten oft in die SS ein. Bereits zu Beginn des Zweiten Weltkriegs fielen Polizeibataillone zu je 500 Mann - der Wehrmacht hinterher - in Polen ein. In quasi allen besetzten Ländern sollten sie für Ordnung sorgen. Dazu gehörte es, Juden in Ghettos zu treiben, sie in die Deportationszüge zu verfrachten und auf der Fahrt in die Vernichtungslager zu bewachen. In den berüchtigten Einsatzgruppen im Osten beteiligten sich Polizisten an der Erschießung und an der Erstickung von Juden in Gaswagen. Zahlenmäßig waren Polizisten in den Einsatzgruppen sogar viel stärker vertreten als SS-Leute, was allgemein wenig bekannt ist.
Wenn es der Polizei nicht vor vor der Kapitulation noch gelungen wäre, die meisten Akten darüber zu vernichten, dann hätte das beim Nürnberger Kriegsverbrecherprozess eine Rolle gespielt, ist Historiker Niekisch überzeugt.
Herbert Brandt hat bis zur Wende in der DDR als Elektromeister gearbeitet und sich dann zum Vizebürgermeister von Kyritz wählen lassen. Mittlerweile ging er in Rente. Doch einst leistete er seinen Wehrdienst bei der Bereitschaftspolizei in Potsdam-Eiche. Aus diese Zeit bewahrte er ein Koppelschloss auf. Es trägt noch nicht das DDR-Emblem und wurde vor Ende seiner Dienstzeit 1964 durch eins mit Emblem ersetzt. Neben dem Fotoalbum schenkt Brandt auch dieses Koppel der Fachhochschule. Er habe keinen Nachfolger, der sich für diese Dinge interessiere, erklärt er.
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Andreas Fritsche
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Von deutschen Polizisten in der Nazizeit verübte Kriegsverbrechen gehören zum Lehrstoff an der Fachhochschule der Polizei des Landes Brandenburg. Gestern schenkte Herbert Brandt der Schule eine Fotoalbum seines Vaters, der von 1940 bis 1943 im Polizeibataillon 310 diente.
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Hauptstadtregion
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Brandenburg Brandenburg
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2013-06-18T20:27:31+0200
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2013-06-18T20:27:31+0200
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2023-01-27T09:26:07+0100
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https://www.nd-aktuell.de/artikel/824895.polizisten-moerder-und-faschisten.html?
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Air Berliner werden nicht aufgefangen
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Tausende Mitarbeiter der insolventen Fluggesellschaft Air Berlin stehen womöglich vor der Kündigung. Eine zunächst erhoffte große Auffanggesellschaft für bis zu 4000 Beschäftigte wird nicht zustande kommen. Ein Treffen von Vertretern der betroffenen Bundesländer Berlin, Nordrhein-Westfalen und Bayern mit dem Bundeswirtschaftsministerium im Roten Rathaus blieb ergebnislos. Man habe sich nicht auf eine Lösung verständigen können, sagte Berlins Finanzsenator Matthias Kollatz-Ahnen nach dem Treffen. Berlin werde aber eine »kleine Lösung« für die Beschäftigten in der Hauptstadt unterstützen. Auch Air Berlin drückte die Hoffnung aus, dass zumindest eine Lösung für die rund 1200 Mitarbeiter des Bodenpersonals gefunden wird. Dafür müsste das Land eine verbindliche Finanzzusage machen. Bayern habe kein Geld geben wollen, Nordrhein-Westfalen und der Bund nur in geringem Umfang, sagte Kollatz-Ahnen. Im Vorfeld hatte das Bundeswirtschaftsministerium erklärt, die Einrichtung einer Transfergesellschaft sei grundsätzlich Aufgabe des Unternehmens und der betroffenen Bundesländer, nicht des Bundes. Für eine solche Gesellschaft werden bis zu 50 Millionen Euro benötigt, Air Berlin will selbst 10 Millionen beisteuern. Bayern wie auch die gerade ein »Rekordergebnis« vermeldende Lufthansa, die große Teile der Air Berlin übernimmt, hatten eine finanzielle Beteiligung abgelehnt. In einer Transfergesellschaft werden Mitarbeiter vorübergehend freiwillig angestellt und in neue Jobs vermittelt. Sie bekommen weniger Geld als zuvor, müssen sich aber nicht arbeitslos melden und gewinnen Zeit für die Stellensuche. Air Berlin, die bisher zweitgrößte deutsche Fluglinie, hatte im August Insolvenz angemeldet. Der Flugbetrieb wurde durch einen Kredit des Bundes über 150 Millionen Euro zunächst gesichert. Am Freitag stellt die Airline nun ihren eigenen Flugbetrieb ein. Im Konzern gibt es 6800 Vollzeitstellen, die sich auf 8000 Mitarbeiter verteilen. Die Lufthansa will 3000 von ihnen bei ihrer Tochter Eurowings einstellen: Rund die Hälfte wird mit den Air-Berlin-Töchtern Niki und LG Walter übernommen, auf die anderen Stellen müssen sich Ex-Air-Berliner bewerben. Das sorgt für Unmut bei Gewerkschaften, die große Gehaltseinbußen befürchten. »Die Lufthansa macht enorme Schnäppchen mit Flugzeugen und Slots, aber für die Beschäftigten hat sie kein Geld übrig«, kritisierte ver.di-Vorstand Christine Behle, die eine Beteiligung der Lufthansa an einer Auffanggesellschaft fordert. Die Personalvertretung der Flugbegleiter von Air Berlin will auf dem Rechtsweg Massenentlassungen verhindern. Mit diesem Ziel hat sie beim Arbeitsgericht Berlin eine einstweilige Verfügung beantragt, wie ein Gerichtssprecher am Mittwoch sagte. Darin werde gefordert, Kündigungen zu verbieten, weil es keine Verhandlungen über einen Sozialplan gegeben habe. Das Gericht will am 2. November darüber beraten. Kommentar Seite 4
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Kurt Stenger
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Am Freitag fliegt Air Berlin zum letzten Mal. Am Mittwoch platzte für Tausende Mitarbeiter die Hoffnung, in eine Transfergesellschaft wechseln zu können.
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Berlin, Flugverkehr
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Politik & Ökonomie
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Wirtschaft und Umwelt
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1068165.air-berliner-werden-nicht-aufgefangen.html
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Kaminer meidet Russland
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Der Bestsellerautor Wladimir Kaminer (»Russendisko«) traut sich derzeit nicht, in seine Heimat Russland zu reisen. »Die Russen übersetzen zwar sehr wenig ausländische Medien, aber ich habe mal et... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
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Redaktion nd-aktuell.de
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Angst vor Festnahme
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Russland
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Feuilleton
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Kultur
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1022856.kaminer-meidet-russland.html
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Streit um Arrest für Schulschwänzer
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Sollen unbelehrbare Schulschwänzer in letzter Konsequenz mehrere Tage hinter Gittern sitzen? Darüber gibt es in Sachsen-Anhalts schwarz-rot-grüner Landesregierung unterschiedliche Ansichten. »Wir brauchen diese Ultima Ratio, wenn wir das Thema der Schulverweigerung nicht auf die leichte Schulter nehmen wollen«, sagte Bildungsminister Marco Tullner (CDU) der dpa. »Wir halten das für wenig produktiv«, entgegnete hingegen die bildungspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, Angela Kolb-Janssen. Die Sozialdemokraten versuchen bei den laufenden Gesprächen über ein neues Schulgesetz, den Arrest für Schulschwänzer abzuschaffen. »Im Jugendarrest findet wieder keine Schule statt - und Ziel muss es doch sein, denjenigen wieder zum Mitmachen zu motivieren.« In Sachsen ist die Zahl der Schulverweigerer deutlich gestiegen. Laut Kultusministerium wurden 2016 von den Landkreisen und kreisfreien Städten 6144 Ordnungswidrigkeitsverfahren gemeldet, die eingeleitet wurden, weil Schüler länger unentschuldigt gefehlt haben.
Im Jahr davor waren es lediglich gut 4000 Verfahren. In 4788 Fällen wurden 2016 Bußgelder verhängt. Die meisten Verletzungen der Schulpflicht gab es demnach an Oberschulen und Berufsschulen. Zahlen für 2017 konnte das Ministerium nicht nennen. Wie hoch die Zahl der Schulschwänzer in Sachsen jedoch tatsächlich ist, weiß niemand. Denn es werden lediglich die schweren Fälle gemeldet, bei denen wegen Verletzung der Schulpflicht Verfahren eingeleitet wurden. Heißt: Der Schüler hat fünf Tage unentschuldigt gefehlt, Gespräche mit Erziehungsberechtigten haben nichts gebracht. dpa/nd Die SPD-Politikerin und frühere Justizministerin stützte sich in ihrer Argumentation auch auf einen Passus im Koalitionsvertrag, in dem es heißt: »Schulschwänzer gehören in die Schule, nicht in den Jugendarrest«. Es sei aus Sicht ihrer Fraktion allerdings denkbar, nicht ganz auf Bußgeldverfahren zu verzichten, so Kolb-Janssen. Die Schulpflicht ist gesetzlich festgeschrieben - und gilt in Sachsen-Anhalt von der Einschulung an mindestens neun Jahre, in der Regel jedoch zwölf Jahre. Denn sie gilt nicht nur an allgemeinbildenden Schulen, sondern später für Jugendliche auch an Berufsschulen. Wer wiederholt oder länger unentschuldigt fehlt, handelt ordnungswidrig, wie es im Gesetz heißt. Vorrang habe die Kooperation zwischen Schule und Jugendhilfe, legte das Kultusministerium bereits 2015 fest. Bis die Schulverweigerer tatsächlich im Arrest landen, ist es ein langer Weg: Nutzen Gespräche und das Einschalten der Erziehungsberechtigten nicht, können Geldstrafen verhängt werden. Werden sie nicht gezahlt, folgen Sozialstunden - werden diese nicht abgeleistet, bleibt die Option von bis zu sieben Tagen Aufenthalt im Jugendarrest in Halle. Das traf im Jahr 2016 in Sachsen-Anhalt knapp 200 Schülerinnen und Schüler. Im Vorjahr waren es 166. Wie aus einer früheren Antwort der Landesregierung auf eine Anfrage der LINKEN-Abgeordneten Eva von Angern hervorgeht, war 2016 jeder dritte Jugendliche, der eine Arreststrafe in der Anstalt in Halle absitzen musste, ein Schulschwänzer. (Auch bei jungen Straftätern haben Richter die Möglichkeit, Jugendarrest anzuordnen). »Am Vorrang pädagogischer Mittel im Kampf gegen Schulverweigerer bestehen keine Zweifel«, sagte Bildungsminister Tullner weiter. »Wir werden weiter daran arbeiten, die Schulverweigerung zu bekämpfen. Der Jugendarrest ist und bleibt dabei ein Instrument.« dpa/nd
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Franziska Höhnl, Magdeburg
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Ultima Ratio oder kontraproduktiv? Mit Blick auf ein neues Schulgesetz streiten Sachsen-Anhalts Politiker auch, ob Schulschwänzer weiter im Jugendarrest landen sollten. Der zuständige Minister besteht darauf.
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Bildungspolitik, Sachsen-Anhalt, Schwarz-Rot
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Politik & Ökonomie
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Politik Bildung
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1083495.streit-um-arrest-fuer-schulschwaenzer.html
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Armut in Deutschland weiter verfestigt
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Während die Anzahl der Reichen in Deutschland in den vergangenen zehn Jahren konstant hoch geblieben ist, hat die Armut kontinuierlich zugenommen – trotz rückläufiger Arbeitslosenquote. Das geht aus einer Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung hervor, deren Ergebnisse am Donnerstag vorgestellt wurden. Darin haben die Soziolog*innen Dorothee Spannagel und Jan Brülle die Einkommensverteilung in Deutschland seit 2010 untersucht. Danach lebten im vergangenen Jahr rund 16 Prozent der Menschen hierzulande in Armut. Vor 13 Jahren waren es rund zwei Prozent weniger gewesen. Als arm gilt, wer nicht mehr als 1200 Euro im Monat zur Verfügung hat; von strenger Armut ist bei einem verfügbaren Einkommen unter 1000 Euro monatlich die Rede. Davon war in Deutschland im vergangenen Jahr rund jede*r Zehnte betroffen. »Der Anstieg an Menschen, die unter strenger Armut leiden, ist deutlich stärker als bei anderen Einkommensgruppen«, erklärte Spannagel am Donnerstag die Ergebnisse der Studie. Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen. Von Armut sind überwiegend Arbeitslose und Rentner*innen in Ostdeutschland betroffen, wie aus den Zahlen des WSI hervorgeht. Sie machen über ein Drittel der dauerhaft Armen aus. Als dauerhaft arm gilt, wer seit 2017 kontinuierlich unter der Armutsgrenze lebt. Aber auch Arbeiter*innen in prekären Jobs, wie geringfügiger oder befristeter Beschäftigung, sind einem hohen Armutsrisiko ausgesetzt: 17 Prozent von ihnen leben dauerhaft in Armut. Dies betrifft vor allem Menschen mit Migrationshintergrund stark, vor allem wenn sie nicht in Deutschland geboren sind. »Vor allem verfestigte und dauerhafte Armut ist gestiegen«, erläuterte Brülle die Forschungsergebnisse der Studie. »Das sind Formen von Armut, die besonders gravierende Folgen haben«, warnte er. Die Ursachen für die sich verfestigende Armut in Deutschland seien strukturell und teils auf politische Entscheidungen zurückzuführen, wie die Wissenschaftler*innen am Donnerstag betonten. So kritisieren sie die deutliche Zunahme von Niedriglohnjobs seit der Jahrtausendwende, auch bedingt durch die Hartz-Gesetzgebung der damaligen rot-grünen Bundesregierung. Zudem habe es bis zur Einführung des gesetzlichen Mindestlohns keine Untergrenze für Niedriglöhne gegeben. Dies habe einen flächendeckenden Reallohnverlust verursacht, der durch die kontinuierliche Abnahme der Zahl von Flächentarifverträgen verschärft worden sei. Zugleich wurden in den vergangenen Jahrzehnten die Steuern für hohe Einkommen und Vermögen erheblich reduziert. So sank der Spitzensteuersatz von 56 Prozent Mitte der 80er Jahre auf heute nur noch 42 Prozent, die Vermögenssteuer ist seit 1997 ausgesetzt. Auch darum habe sich der Reichtum in Deutschland deutlich vermehrt, erklären die Forscher*innen, wobei der Anteil Reicher an der Gesamtbevölkerung sich mit knapp acht Prozent kaum verändert hat. Als einkommensreich gilt, wer im vergangenen Jahr über 4000 Euro im Monat zur Verfügung hatte. Den Forschungsergebnissen des WSI zufolge sind die Reichen in Deutschland oft männlich, leben in Westdeutschland und in kinderlosen Paarhaushalten. Sie haben meistens Abitur und gehen einer unbefristeten Vollzeitbeschäftigung nach. Von dauerhafter Armut sind der WSI-Studie dagegen mehrheitlich Frauen betroffen, darunter in erster Linie alleinerziehende Mütter und junge Frauen. Ursächlich sei dafür, dass sie häufiger unregelmäßige Erwerbsbiografien mit Phasen der Arbeitslosigkeit oder atypischen Beschäftigungsverhältnissen wie Teilzeit- oder Leiharbeit durchlebten, erklären die Sozialwissenschaftler*innen. Dabei seien sie sozial kaum abgesichert, was langfristig zu niedrigeren Einkommen und zur Verfestigung von Armut in individuellen Lebensläufen führe. Auch darum sind Frauen unter den sogenannten temporären Armen am stärksten vertreten, also unter der Gruppe, die in den vergangenen fünf Jahren unterhalb der Armutsgrenze lebte, aber davon ein Jahr über 1200 Euro zur Verfügung hatte. Laut WSI sind die Folgen von Armut gravierend. Die Menschen erfahren eine erhebliche Einschränkung im Lebensstandard, sie sind zudem in hohem Maße um ihre wirtschaftliche Situation und Gesundheit besorgt. »Sie heben sich durch eine geringere Lebenszufriedenheit deutlich von allen anderen Gruppen ab«, betonen Spannagel und Brülle in ihrer Studie. Menschen, die dauerhaft arm seien, litten zudem häufiger unter der Geringschätzung durch andere Menschen und mangelnder sozialer Anerkennung. Das Problem erkennt auch das Bundesarbeitsministerium. Auf nd-Anfrage teilte es mit, dass die Hauptursache von Armut in einem fehlenden oder unzureichenden Erwerbseinkommen liege. Das zentrale Anliegen sei demnach, eine stärkere Arbeitsmarktintegration durch eine Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit und durch Qualifikationen, hieß es. Zudem wolle man zukünftig die Perspektiven von Armen stärker berücksichtigen. Die Forderungen der Sozialwissenschaftler*innen vom WSI gehen weit darüber hinaus. Zwar hätten die Entlastungspakete während der Pandemie und der Inflation Armen mit Blick auf die steigenden Energie- und Lebensmittelkosten geholfen. Doch dies sei »ein Tropfen auf dem heißen Stein«, kritisieren die Forscher*innen. Die politischen Ursachen für die wachsende Ungleichheit seien keineswegs beseitigt worden, kritisierte auch der Paritätische Gesamtverband in seinem Armutsbericht im vergangenen Jahr. »Wir leben im Kapitalismus und darin ist ein gewisses Maß an Ungleichheit inhärent angelegt«, erklärte Kohlrausch am Donnerstag zur Präsentation der Studie. »Aber man kann mehr oder weniger Armut haben, auch wenn man sie nicht wird abschaffen können«, unterstrich sie. Darum sei mit Blick auf die laufenden Haushaltsverhandlungen des Bundes wichtig, dass das Bürgergeld und die Rente ein Leben oberhalb der Armutsgrenze ermöglichten, forderte WSI-Direktorin Kohlrausch. Das Bürgergeld müsse ebenso erhöht werden wie der Mindestlohn. Zudem soll die Bundesregierung sozialversicherungspflichtige und sichere Beschäftigungsverhältnisse sowie das Kinderbetreuungsangebot fördern. Zur Finanzierung der Umverteilung müssten Reiche und Superreiche stärker belastet werden. So forderten die Wissenschaftler*innen, dass der Spitzensteuersatz angehoben, eine progressive Vermögenssteuer wieder eingeführt und die Schlupflöcher in der Erbschaftssteuer geschlossen werden. Als superreich gilt, wer ein verfügbares Vermögen von knapp einer Million Euro hat. Sollte die Regierung indes keine Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut einleiten, drohe ein weiterer Vertrauensverlust in die Demokratie, warnen die Forscher*innen. »Die Armut zu bekämpfen, ist darum von gesamtgesellschaftlichem Interesse«, betonte die Direktorin des WSI.
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Felix Sassmannshausen
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Die Klassenunterschiede in Deutschland haben sich in den vergangenen Jahren weiter verschärft. Insbesondere Frauen leiden unter Armut. Ein neuer Bericht fordert umfassende Gegenmaßnahmen.
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Armut, Reichtum
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Politik & Ökonomie
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Wirtschaft und Umwelt Soziale Ungleichheit
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2023-11-02T16:40:07+0100
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2023-11-02T16:40:07+0100
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2023-11-03T16:17:34+0100
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https://www.nd-aktuell.de/artikel/1177462.soziale-ungleichheit-armut-in-deutschland-weiter-verfestigt.html
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Subsets and Splits
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