title
stringlengths
0
166
content
stringlengths
1
74.2k
author
stringlengths
1
236
description
stringlengths
0
1.82k
keywords
stringlengths
0
297
category
stringclasses
8 values
subcategory
stringlengths
0
115
dateCreated
stringlengths
0
24
datePublished
stringlengths
0
24
dateModified
stringlengths
0
24
url
stringlengths
40
262
Martina Voss-Tecklenburg hat das EM-Finale noch im Kopf
Martina Voss-Tecklenburg hat kein Geheimnis daraus gemacht, wo sie ihren Sommerurlaub mit Ehemann Hermann Tecklenburg verbrachte: obligatorisch auf Mallorca, wo sie einerseits gefaulenzt, andererseits aber auch täglich Rad gefahren sei, wie eine bestens erholte Bundestrainerin am Montag in einer digitalen Pressekonferenz in Gravenbruch erzählte. Auf der Fahrt in die Herberge in die grüne Lunge Frankfurts seien ihr noch einmal viele Gedanken durch den Kopf gegangen, die das verlorene Endspiel der Europameisterschaft gegen England betrafen. »Gefühlt war gestern das Finale. Ich bin immer noch nicht fertig damit, wie es gelaufen ist«, gestand die 54-Jährige. Doch alles Hadern hilft ja nichts. Exakt vier Wochen nach dem rauschenden Empfang auf dem Frankfurter Römer versammelte Voss-Tecklenburg die EM-Heldinnen, um sie auf das Kontrastprogramm zu einem Höhepunkt wie das Finale vor 90 000 Fans in Wembley einzustellen: Die letzten beiden Spiele der WM-Qualifikation in der Türkei am kommenden Sonnabend und drei Tage später in Bulgarien werden für die deutschen Fußballerinnen dann wieder vor Mini-Kulissen in provinziellem Ambiente über die Bühne gehen. Auftrag ist es, mit den finalen Pflichtsiegen das Ticket für das nächste Großereignis im Sommer 2023 in Australien und Neuseeland zu lösen, bevor überhaupt die Bundesliga der Frauen wieder angefangen hat. Aus Rücksicht auf die U20-WM in Costa-Rica – wo sich der deutsche Nachwuchs allerdings früh verabschiedete – steigt das Eröffnungsspiel zwischen Eintracht Frankfurt und Bayern München erst am 16. September. In der Frankfurter Arena soll mit einer Rekordkulisse das nächste Ausrufezeichen gesetzt werden, wünscht sich die Bundestrainerin doch, »dass wir die Gunst der Stunde sukzessive nutzen, dass wir die Leute in die Stadien kriegen.« Für Voss-Tecklenburg ist es keine Option, sich nun wieder brav ins stille Kämmerlein zu verkriechen. »Wir dürfen uns nicht zurücklehnen. Wir wollen und müssen viele Dinge anschieben.« Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) hat nun ein gemeinsames Heimtrikot für Frauen und Männer herausgebracht, was dem Verband gut zu Gesicht steht, befand die gewohnt selbstbewusste Bundestrainerin: Ihr Team sei nicht nur sportlich erfolgreich gewesen, sondern »außerhalb des Feldes sehr sympathisch, leistungs- und werteorientiert aufgetreten: Wahrnehmung und Wertschätzung sind angekommen in der breiten Öffentlichkeit – das stimmt mich positiv«. So laufe der Vorverkauf für das Heimspiel gegen EM-Halbfinalist Frankreich am 7. Oktober in Dresden ausgesprochen gut. Für die erste öffentliche Trainingseinheit nach der EM an diesem Dienstag im Stadion am Brentanobad gibt es 1300 Ticketregistrierungen. Autogramme, versprach die Cheftrainerin, gebe es bei freiem Eintritt obendrauf. Dann wird sich erstmals auch ihr neuer Co-Trainer Michael Urbansky zeigen. Der 41-Jährige war lange im Nachwuchsleistungszentrum von Carl Zeiss Jena tätig, arbeitete als DFB-Stützpunktkoordinator und betreute die U19-Juniorinnen. »Er wird uns mit seiner Expertise, seiner tollen Persönlichkeit bereichern. Er ist ein Typ, der gut zu uns passt«, versprach Martina Voss-Tecklenburg. Die Neubesetzung war nötig geworden, weil mit Patrik Grolimund und Thomas Nörenberg zwei charismatische Helfer überraschend ausgeschieden sind. Der 42-jährige Schweizer Grolimund, bislang vor allem für die körperliche Ertüchtigung zuständig, will sich angeblich auf seine Aufgabe bei der Pro Lizenz-Ausbildung konzentrieren. Der gute Fitnesszustand und die geringe Verletzungsquote hatten ursächlich mit dem Schweizer zu tun, dessen direkte Art aber nicht allen Spielerinnen gepasst haben soll. Anders als beim 59-jährigen Nörenberg, der als Einpeitscher enorm geschätzt wurde, aber auf eigenen Wunsch seinen Vertrag auslaufen lässt. Beide Trainer hinterlassen mit ihrer fachlichen Eignung auf jeden Fall eine Lücke. Das größte Bedauern gilt intern jedoch dem Fehlen der dritten Torhüterin Ann-Katrin Berger: Vergangene Woche hat die 31-Jährige selbst öffentlich gemacht, dass bei ihr nach vier Jahren der Schilddrüsenkrebs zurückgekehrt ist. Voss-Tecklenburg verriet, dass es erste Hinweise auf die erneute Erkrankung bei der Torfrau vom FC Chelsea bereits beim laufenden Turnier in England gegeben habe: »Wir hatten das Wissen, dass das Ergebnis nicht positiv sein kann. Am Ende der EM wussten wir dann, dass das Ergebnis nicht gut ist.« Bei der von ihr als Kämpfernatur charakterisierten Berger habe die erneute Behandlung bereits begonnen: »Wir drücken alle die Daumen: Was ich weiß, sind die Prognosen auch eher positiv.«
Frank Hellmann
Wenige Wochen nach dem verlorenen EM-Endspiel stehen die WM-Qualifikation und der Start der Bundesliga an. Die Bundestrainerin möchte den Rückenwind aus England in den Alltag überführen.
Frauenfußball, Fußball
Sport
Sport Fußball der Frauen
2022-08-29T16:47:44+0200
2022-08-29T16:47:44+0200
2023-01-20T17:37:33+0100
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1166479.fussball-der-frauen-martina-voss-tecklenburg-hat-das-em-finale-noch-im-kopf.html
Glückwünsche an Soldatenfrauen
Russlands Präsident hat derzeit viel »um die Ohren«, doch den Frauentag vergaß er nicht. Wladimir Putin gratulierte vor allem den »Müttern, Ehefrauen, Schwestern, Verlobten und Freundinnen der russischen Soldaten und Offiziere«, die mit einer »speziellen Militäroperation« Russland verteidigten. Natürlich versteht er, »wie besorgt ihr um eure Lieben seid«, doch gebe es allen Grund, »stolz« zu sein. Ob derartige patriotische Ansprachen ihren Zweck erfüllen? Putin scheint den wachsenden Unmut in der Bevölkerung zu spüren, denn seine Videobotschaft enthielt die Versicherung, dass weder Wehrpflichtige noch Reservisten an der Militäroperation in der Ukraine beteiligt seien. Die Wahrheit sieht offenkundig anders aus. Vermutlich hätten sich die umworbenen Frauen mehr gefreut, wenn Putin seinen Truppen einen Befehl zum Rückzug erteilt hätte. Vor nunmehr 14 Tagen sind sie wortbrüchig in die Ukraine eingefallen. Nato-Militärs gingen damals – sehr zum Ärger der ukrainischen Führung – davon aus, dass die Widerstandskraft der Verteidiger nach spätestens zwei Wochen erlahmt sein würde. Trotz der immensen westlichen Waffenlieferungen und all der Ausbildung, die Kiews Militärs im Westen erhalten haben. Umso größer ist nun das Erstaunen. Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch. Die ukrainische Armee nutzt geschickt die Schwächen der Angreifer. Punkt eins: die Moral. Während Kiews Soldaten ihre Heimat verteidigen und dabei die Unterstützung der Zivilbevölkerung spüren, wissen die russischen Soldaten zumeist noch immer nicht, warum sie nach einer langen winterlichen Manöverphase nun ihr Leben in der Ukraine opfern sollen. Sie spüren zudem, dass ihre Führung offenkundig nicht in der Lage ist, strategische Erfolge zu organisieren. Lesen Sie auch die Kolumne »Glockengeläut und Kanonendonner« von Frank Schumann Ein wichtiges Ziel der Verteidiger besteht also in einer weiteren Entmutigung der oft müden, frierenden, hungrigen und verängstigten Angreifer. Auch sie sehen die immensen Schäden und das Leid, das sie verursachen. Wie schnell identifiziert man sich da mit den Opfern dieses Krieges, zumal die sich kaum von den eigenen Familien unterscheiden! Die Ukrainer sorgen zudem – zumindest medial – für einen humanen Umgang mit Gefangenen. Das erleichtert manchem eine Entscheidung wider den Befehl. Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass Putins Kämpfer Technik aufgeben. Kampflos. So brutal die Realität ist, die Verteidiger erzielen durchaus taktische Erfolge. Nicht in raumgreifenden Operationen, dazu fehlt die Kraft. Dafür attackieren sie die ohnehin ineffizienten Versorgungslinien der russischen Truppen. Die Aggressoren müssen Vorräte aller Art aus den Tiefen Russlands und aus Belarus heranschaffen. Dies ist besonders schwierig für die Truppen der ersten Staffel, die in einer Entfernung von mehr als 100 Kilometern von der Grenze operieren. Alle Einheiten, egal ob in der Angriffsspitze oder im Nachschub, sind zu gleicher Zeit auf die wenigen gut ausgebauten Straßen angewiesen. Abseits davon ist Feindesland. Da sammeln sich kleine, schlagkräftige ukrainische Kampfgruppen. Sie greifen – ähnlich wie Partisanen – mit hocheffektiven, zum Gutteil aus dem Westen stammenden Panzerabwehrwaffen an. Man verteidigt wichtige Knotenpunkte und bringt so die gegnerischen Truppen zum Stehen. Verheerend ist dann die Wirkung der türkischen Bayraktar-Drohnen. Auch die Sprengung von Brücken ist effektiv, denn jenseits fester Straßen versinkt die russische Kriegstechnik in Schlamm oder Sumpf. Die Truppen, die nun die ukrainische Hauptstadt Kiew einschließen wollen, mögen scheinbar stark sein. Doch dauern die Kämpfe länger, wird es zu Nachschubschwierigkeiten aus Belarus kommen. Dafür reicht es, wenn die Verteidiger die Städte Iwankiv und Tschernikiv behaupten. Simpel war auch die Methode, mit der man eine mögliche russische Amphibienoperation am Schwarzen Meer zumindest »vertagte«. Als sich nächtens die hochmoderne, für normales Radar kaum sichtbare russische Korvette »Vasily Bykov« zu nah an Odessa heranschlich, wurde sie von einer Abteilung Salvenwerfen erwartet. Per »Schrotschuss« gelang es, das Schiff in Brand zu setzten. In solch ein Feuer will man keinen Landungsverband führen. Russlands Generale haben generell noch keine Antwort auf die Verzögerungsgefechte der Ukrainer gefunden. Nicht einmal die Luftüberlegenheit hilft ihnen, denn die zahlreichen Ein-Mann-Abwehrraketen der Bodentruppen halten russische Jagdbomber und Hubschrauber auf Höhe. So sind wirksame Attacken zumal auf die kleinen ukrainischen Verbände fast unmöglich. Umso brutaler werden mit Bomben und Raketen urbane Zentren und damit die Zivilbevölkerung attackiert. Dagegen fordert Kiew mit Unterstützung aus dem Westen eine Flugverbotszone der Nato. Das aber würde bedeuten, den Krieg auch ins restliche Europa zu ziehen oder ihn sogar global auszudehnen. Was ist mit dem Vorschlag vom EU-Außenbeauftragten Josep Borrell und seinem US-Kollegen Antony Blinken, die in den Nato-Staaten vorhandene MiG-29-Jets an die Ukraine übergeben wollen? Polen weigert sich. So sehr Warschau Moskau schaden will, so sehr fürchtet man, noch mehr Kriegspartei zu werden. Nicht verpassen: Jeja Klein meint, »Linke müssen sich mit Militär befassen« Was steckt hinter der »MiG-Idee«? Natürlich könnten ukrainische Piloten diese Jets fliegen, die zum Teil aus NVA-Zeiten stammen. Die Maschinen sind alle auf Nato-Standard umgerüstet, können also unter anderem von Nato-AWACS-Maschinen geleitet werden. Diese fliegenden Gefechtsstände kreisen gerade rund um die Uhr über Polen und blicken weit ins Kriegsgebiet hinein. Will man nicht noch mehr Öl ins Feuer gießen, verbieten sich alle weiteren Überlegungen.
René Heilig
Der Krieg Moskaus läuft anders als geplant, die Ukraine verteidigt sich überaus geschickt. Das aktuelle »Patt« sollte Anlass genug sein für rasche und substanzielle Waffenstillstands- und Friedensgespräche.
AWACS, Bayraktar, Drohne, Kiew, MiG, Moskau, NATO, Ukraine, Vasily Bykov, Wladimir Putin
Politik & Ökonomie
Politik Ukraine-Krieg
2022-03-08T16:11:40+0100
2022-03-08T16:11:40+0100
2023-01-20T19:05:21+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1161941.ukraine-krieg-glueckwuensche-an-soldatenfrauen.html
Rheinisches Revier: Nachhaltiger Strukturwandel gefordert
2030 oder – RWE hält sich das offen – im Jahr 2033 ist es vorbei mit der Kohleförderung im Rheinischen Revier, der Region zwischen Aachen und Mönchengladbach, im Westen von Nordrhein-Westfalen. Mit dem Ende der Kohleförderung werden auch Tausende Jobs in den Kraftwerken und Tagebauen wegfallen. Auch deswegen befassen sich zahlreiche Stellen im Land mit dem Strukturwandel des Reviers. Es gibt eine »Zukunftsagentur«, einen »Zweckverband Landfolge« und regelmäßig kommunale Initiativen. Bisher sind die Strukturwandelprozesse, trotz zahlreicher Formate der Bürgerbeteiligung, von grundsätzlichen Plänen der nordrhein-westfälischen Landesregierung aus CDU und Grünen dominiert. In der Region soll auch in Zukunft die Energiewirtschaft dominieren. Über Batteriezellenfabriken und zahlreiche smarte Lösungen wird nachgedacht. Damit diese Pläne vorangehen, soll das Rheinische Revier zur »Sonderplanungszone« werden, in der Wirtschaftsflächen zügiger ausgewiesen und umgesetzt werden können. Ein Bündnis, in dem unter anderem der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) sowie der Naturschutzbund Deutschland (Nabu), die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL) das Eine Welt Netz NRW, die Klima-Allianz Deutschland und verschiedene kirchliche Gruppen vertreten sind, hat nun einen Zehn-Punkte-Plan für einen klimagerechten und naturverträglichen Strukturwandel im Rheinischen Revier vorgelegt. Dirk Jansen, Geschäftsleiter des BUND in NRW, kritisierte bei der Vorstellung des Plans, dass die Auseinandersetzung um Lützerath gezeigt habe, »wie schwer Nordrhein-Westfalen der notwendige Ausstieg aus der Braunkohlengewinnung fällt«. Dem Energiekonzern RWE werde ein »goldenes Ende« der Braunkohle beschert. Die Planungen für neue RWE-Gaskraftwerke findet Jansen ebenfalls falsch. Diese sollen zwar auf Wasserstoff umgestellt werden können, doch dafür fehle es schlichtweg an diesem chemischen Element. »Wir fürchten, dass das mit der Klimaneutralität nur eine hohle Phrase ist und hier stattdessen alte Strukturen zementiert werden«, erklärte der BUND-Geschäftsleiter. Dem müssten dezentrale Bürgerenergieprojekte entgegengestellt werden, für die Jansen eine bessere finanzielle Förderung verlangt. Jansen sieht die Landesregierung eine Chance verpassen, das Rheinische Revier zur klimaneutralen Modellregion umzugestalten, es regiere das Prinzip »weiter so«. Ähnlich sieht es auch die Landesvorsitzende des Nabu, Heide Naderer. In Bezug auf das Revier fehle der »umfassende Blick für nachhaltige Entwicklung«. Naderer sieht eine Festlegung auf »rein ökonomische Priorisierung« bei den Strukturwandelprojekten. Die Nabu-Vorsitzende fordert, dass jetzt Flächen für den Biodiversitätsschutz festgelegt werden und erinnert an das 30-Prozent-Schutzgebietsziel des internationalen Vertragsabkommens für Biodiversität aus Montréal. Die Schaffung einer Sonderplanungszone kritisiert Naderer. Dadurch drohten »bewährte Umwelt- und Beteiligungsstandards zugunsten beschleunigter Genehmigungsverfahren ausgehebelt zu werden«. Bernd Schmitz, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft, sieht die wertvollen Lössböden im Rheinischen Revier bedroht. Mit Geldern aus dem Kohleausstiegsgesetz drohe »die großflächige Versiegelung« von Ackerböden. Dabei sei es wichtig, die »regionale Ernährungssouveränität« sicherzustellen. Nordrhein-Westfalen wolle einen 20-prozentigen Anteil von Ökolandbau, im Kreis Heinsberg seien es derzeit gerade einmal zwei Prozent. »Kein Quadratmeter« Ackerfläche dürfe mehr zerstört werden, fordert Schmitz.
Sebastian Weiermann
Was soll bei der Umgestaltung des Rheinischen Reviers im Fokus stehen? Darum wird gerungen. Jobs und neue Industrieansiedlungen oder Nachhaltigkeit und die Entwicklung zu einer klimaneutralen Modellregion.
fossile Energie, Landwirtschaft, Nachhaltigkeit, Naturschutz, Nordrhein-Westfalen, Umweltschutz
Politik & Ökonomie
Politik Klimakrise
2023-02-01T15:20:32+0100
2023-02-01T15:20:32+0100
2023-02-02T18:14:21+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1170626.rheinisches-revier-nachhaltiger-strukturwandel-gefordert.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
Ein unsichtbarer Gast namens Sahra W.
Dass Linke sich sogar anlässlich von Erfolgen eher beharken als selbst feiern, ist ein altes Ärgernis – oder wird zumindest so empfunden. Nun hat die Linkspartei seit Längerem nicht mehr viel zu feiern. Hier mal eine Oberbürgermeisterin, da ein Bürgermeister, dort mal eine medienwirksame Aktion. Um das ins Bewusstsein zu rücken, veröffentlicht die Linke-Geschäftsstelle neuerdings einmal im Quartal einen Erfolge-Flyer. Doch die Partei steckt in der Krise, hat viele schlechte Wahlergebnisse kassiert, kommt in den Umfragen nicht auf die Beine und wird von einer anhaltenden Spaltungsdebatte strapaziert. Dabei könnte der Theorie nach alles so leicht sein. Die soziale Spaltung vertieft sich, rechte Kräfte werden stärker, in Europa tobt ein Krieg, die Bundesregierung gibt Unsummen für Militär und Rüstung aus – genügend Reibungsflächen für eine linke Partei, um sich zu profilieren. Aber es gelingt nicht, weshalb es in der Partei grummelt und brodelt. Die Unzufriedenheit ist mit Händen zu greifen, hier und da wurde schon ein Sonderparteitag verlangt. »Ist Die Linke noch retten?«, hieß deshalb eine Veranstaltung, auf der die Problemlage diskutiert werden sollte. Der Titel ist keinesfalls zu dramatisch gewählt, aber über das Podium hängte man dann doch lieber die etwas erbaulichere Losung »Die Linke stark machen«. Die Initiative zu dem Gespräch am Donnerstagabend am Berliner Franz-Mehring-Platz, so hörte man, ging von Ellen Brombacher aus, seit Jahrzehnten einer der wichtigen Köpfe in der Kommunistischen Plattform. Neben ihr saßen Fraktionschef Dietmar Bartsch, die Abgeordneten Gesine Lötzsch und Gregor Gysi. Vier Leute, die seit Beginn der PDS in Ostdeutschland ihre Verdienste um die Partei haben. Aber jetzt diese Runde, mehr als 15 Jahre nach Gründung der gesamtdeutschen Linkspartei? Es ging darum, mit der verunsicherten, zweifelnden, von vielen Fragen bewegten Parteibasis Ost ins Gespräch zu kommen. Wobei eine fünfte Person zwar nicht auf dem Podium saß und auch nicht im Raum war, aber faktisch die Tagesordnung dominierte: Dreh- und Angelpunkt der Debatte war die Haltung der in den Medien omnipräsenten Sahra Wagenknecht zu ihrer Partei und umgekehrt, die Entfremdung und Konfrontation, die Pläne für ein eigenes politisches Projekt. Ein Gespräch über die abwesende Frau Wagenknecht, könnte man frei nach dem Dichter Peter Hacks sagen, auf den Wagenknecht bekanntlich große Stücke hält. Einer der Hauptvorwürfe Wagenknechts, vorgetragen als Dauerschleife in TV-Talks, Interviews, Podcasts und Zeitungskolumnen: Die Linke vernachlässige sträflich ihr Profil als soziale Kraft und Friedenspartei. Bekräftigt auch in ihrem Bestseller »Die Selbstgerechten«. Ein Befund, den viele in der Partei und offenbar auch im Saal teilen, denn es muss ja einen Grund haben, dass es der Partei bei Wahlen und in Umfragen schlecht geht. Ellen Brombacher spricht von Bestrebungen in der Partei nach Regierungsbeteiligung im Bund – »das würde bedeuten, die Staatsräson der BRD anzuerkennen und damit die Nato zu akzeptieren«. »Einfach unwahr« nennt es dagegen Dietmar Bartsch, der Linken ein Abrücken von friedenspolitischen Grundsätzen zu unterstellen: »Die Linksfraktion im Bundestag hat nie einem Auslandseinsatz der Bundeswehr und nie einem Rüstungsexport zugestimmt.« Immerhin: Es gibt offenbar die Erkenntnis, dass die Kernpunkte des linken Selbstverständnisses wieder stärker in den Vordergrund gerückt werden sollten. Für Gysi sind das – statt als Partei der 1000 kleinen Dinge wahrgenommen zu werden – »Frieden, soziale Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit mit sozialer Verantwortung, Gleichstellung von Mann und Frau, Gleichstellung von Ost und West«. Noch knapper sagt es Bartsch: »Wir sind die soziale Kraft, wir sind die Friedenspartei, wir vertreten ostdeutsche Interessen. Punkt.« Die entscheidende Frage lautet: Sind die Differenzen zu Wagenknecht und ihren Anhängern so groß, dass nur noch Rückzug bleibt oder sogar ein neues Parteiprojekt? Wagenknecht hat das für sich teilweise beantwortet – sie will wegen gravierender Meinungsunterschiede nicht mehr für Die Linke kandidieren und erwägt genau darum eine Neugründung. Für sie ist Die Linke nicht mehr zu retten; deren Führung hält sie für unfähig. Der Parteivorstand hat deshalb eine Trennlinie gezogen: »Die Zukunft der Linken ist eine Zukunft ohne Sahra Wagenknecht« ist ein Beschluss von Anfang Juni überschrieben. Das findet Gregor Gysi falsch. »Ich bin gegen eine Spaltung«, sagt er, »aber auch dagegen, Sahra loszuwerden.« Ellen Brombacher meint, die Partei solle nicht aufhören, um Wagenknecht zu kämpfen: »Es ist ein großer Unterschied, ob sie geht oder ob wir sie wegschicken.« Linke-Bundesgeschäftsführer Tobias Bank, der den Abend moderiert, erklärt, dass der Vorstandsbeschluss eine Reaktion auf Wagenknechts Dauerattacke sei und erst gefasst wurde, als es Belege dafür gab, dass in mehreren Landesverbänden Vorbereitungen für eine neue Partei laufen und Leute rekrutiert werden. Mancher im Publikum sieht das anders: »Spaltet Sahra oder spalten wir?« Er meint sogar, die Linke-Führung solle sich bei Wagenknecht entschuldigen. Die Verabredung für diesen Abend war offenbar, Differenzen zwar deutlich zu machen, aber sich nicht im Streit zu verhaken und ein paar grundsätzliche Gemeinsamkeiten zu betonen. Zumindest diese eine jedenfalls: Die Linke muss verteidigt werden. »Wir haben kein Recht, unsere Partei infrage zu stellen. Für die anderen wäre es viel einfacher, wenn es uns nicht mehr gäbe«, sagt Dietmar Bartsch. »Wir werden gebraucht, um zu verhindern, dass die Gesellschaft nach rechts rückt. Das sind wir den Alten schuldig, die den Faschismus noch erlebt haben, und auch den Kindern«, sagt Gregor Gysi. »Eine Spaltung wäre vermutlich das Ende der Linken. Und eine neue Partei hätte keine Chance. Das wäre dem deutschen Imperialismus sehr recht«, sagt Ellen Brombacher. »Was ist denn aus den Linken in Italien, Spanien, Frankreich geworden? Sie sind nach den Spaltungen deutlich geschwächt, zum Teil fast unsichtbar«, sagt Gesine Lötzsch. Viel Zustimmung zu Wagenknechts Positionen; kaum Bereitschaft, ihr in eine neue Partei zu folgen – das ließ sich aus den Reaktionen des Publikums am Donnerstagabend ablesen. Sollte das ein Maßstab für die Stimmung in der gesamten Linken sei, ergeben sich Fragen. Wagenknecht muss sich fragen, mit wem sie ihr Projekt eigentlich betreiben will. Die Linke-Führung muss sich fragen, ob und wie sie die Abspaltung verhindern kann und wie sie auf die vielen in der Partei zugehen will, die Wagenknecht in entscheidenden Punkten recht geben. Mal sehen, ob dazu etwas in einem der nächsten Erfolge-Flyer der Linkspartei zu lesen sein wird.
Wolfgang Hübner
Viele Menschen an der Basis der Linken teilen Sahra Wagenknechts Ansichten oder sympathisieren mit ihnen. In eine neue Partei würden ihr aber wohl nur wenige folgen.
Die Linke, Dietmar Bartsch, Gregor Gysi
Politik & Ökonomie
Politik Die Linke
2023-07-14T17:26:55+0200
2023-07-14T17:26:55+0200
2023-07-17T09:46:56+0200
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1174765.die-linke-ein-unsichtbarer-gast-namens-sahra-w.html
Kim bekräftigt Willen zur Beseitigung der Atomwaffen
Peking. Nordkoreas Staatschef Kim Jong Un hat seinen Willen zur Beseitigung der Atomwaffen auf der koreanischen Halbinsel unter bestimmten Bedingungen bekräftigt. Bei einem überraschenden Besuch in Peking, der erst am Mittwoch bestätigt wurde, tauschte sich Kim mit Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping über den Konflikt um sein Atomwaffen- und Raketenprogramm aus. Er bekräftigte seine Bereitschaft, nicht nur mit dem südkoreanischen Präsidenten Moon Jae In sondern auch mit US-Präsident Donald Trump zu einem Gipfel zusammenzutreffen. Bei den Gesprächen deutete der Nordkoreaner seine Bedingungen für eine Lösung des Konflikts an: »Die Frage der Entnuklearisierung der koreanischen Halbinsel kann gelöst werden, wenn Südkorea und die USA auf unsere Bemühungen mit Wohlwollen reagieren, eine Atmosphäre des Friedens und der Stabilität schaffen, während gleichzeitig progressive und synchrone Schritte in Richtung des Friedens ergriffen werden«, zitierte ihn die amtliche chinesische Nachrichtenagentur Xinhua. Seit Montag gab es Spekulationen um einen dunkelgrünen Sonderzug, der in Peking eingetroffen war. Eine Ehrengarde empfing den hohen Besucher am Bahnsteig. Für seinen Konvoi mit einer Staffel von weißen Motorrädern waren die Straßen abgesperrt worden. Einen solchen Aufwand betreibt Chinas Protokoll normalerweise nur bei Staatsgästen. Erst nach Abfahrt und Rückkehr nach Nordkorea bestätigte China am Mittwoch, dass der hohe Gast Kim war. Es war das erste Mal seit seinem Amtsantritt als Staatsführer 2011, dass er sein Land verlassen und China besucht hatte. Schon sein Vater Kim Jong Il machte 2010 und 2011 ähnliche Geheimbesuche mit dem Zug in China, die erst nach seiner Rückkehr bestätigt wurden. Er fuhr immer mit der Bahn, weil er Angst vorm Fliegen hatte. Kim lud Xi laut der nordkoreanische Nachrichtenagentur KCNA zu einem offiziellen Gegenbesuch in Pjöngjang ein. Die Offerte sei »mit Freuden angenommen« worden. Zuletzt hatte 2005 mit Hu Jintao ein chinesischer Staatschef Nordkorea besucht. Agenturen/nd
Redaktion nd-aktuell.de
China bestätigt den überraschenden Besuch von Kim Jong Un in Peking. Nach Angaben aus Peking hat er während seines Besuchs bei Staatschef Xi erklärt, dass er sich »der Denuklearisierung verpflichtet« fühle.
Atomprogramm, Atomstreit, China, Koreas, Peking
Politik & Ökonomie
Politik Staatsbesuch in China
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1083810.staatsbesuch-in-china-kim-bekraeftigt-willen-zur-beseitigung-der-atomwaffen.html
Der Sprung ins Kommunale
Vor der Metrostation Agua Salud im Westen von Caracas schlängelt sich die Straße einen der Hügel des Stadtviertels »23 de enero« (23. Januar) hinauf. An der Seite ragen breite, 15-stöckige Hochhausblocks empor. Dazwischen erstrecken sich die für Venezuela typischen, als Barrios bekannten Armenviertel aus roten Backsteinhäuschen, von ihren Bewohner*innen einst in Eigenregie erbaut. In den 1950er Jahren hatte der Militärherrscher Marcos Pérez Jiménez den modernistischen Architekten Carlos Villanueva damit beauftragt, 38 große und 57 kleinere Hochhäuser als Sozialbauprojekt zu errichten. Noch vor dem Bezug stürzte der Diktator am 23. Januar 1958, die Gebäude wurden besetzt und nach diesem Tag benannt. Vor Block 26 kündigt ein geschwungener Torbogen die »Sozialistische Kommune Panal 2021« an. Panal bedeutet Bienenwabe. »Die Biene steht für uns als Symbol für die arbeitende Bevölkerung«, erklärt Ana Marín. »Die Königin ist für uns die Versa... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Tobias Lambert
Die venezolanische Linke streitet sich über die Gründe der ökonomischen Krise in ihrem Land. Uneinigkeit gibt es auch über die Wege zu ihrer Bewältigung. Ein Besuch im Stadtviertels »23 de enero«, eine Bastion der Chavistas.
Erdöl, fossile Energie, USA, Venezuela
Politik & Ökonomie
Politik Venezuela
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1130888.der-sprung-ins-kommunale.html
Bannon und Alt-Right
»Der populistische Held kehrt nach Hause zurück« - so war am Sonnabend ein Text des neurechten Nachrichten-Portals »Breitbart News« überschrieben. Zu diesem Zeitpunkt war die Meldung, dass Steve Bannon seinen Posten als Berater von Donald Trump im Weißen Haus verlässt, noch keine 24 Stunden alt. Daraus lässt sich schließen, dass der Abgang des neurechten Chefideologen keine kurzfristige Entscheidung gewesen sei dürfte. Wie es genau dazu kam, ist unklar. In der US-Presse gab es Meldungen, wonach Bannon selbst schon vor Tagen seine Kündigung eingereicht habe. In der offiziellen Mitteilung am Freitag aus Washington hieß es, Bannon und der Stabschef im Weißen Haus, Ex-General John Kelly, hätten sich verständigt, dass »heute Steves letzter Tag« sei. Klar ist, dass Bannon das Weiße Haus zumindest nach außen hin nicht im Groll verließ. Er kündigte an, mit Breitbart wieder für Trump »in den Krieg« zu ziehen. Seine Gegner benannte er klar: Trumps Widersacher »im Kapitol, in den Medien, in Amerikas Unternehmen«. Bannon kann mit der Rückkehr an seine alte Wirkungsstätte - er leitete die Website von 2012 bis 2016 - nahtlos an seinem Kampf für für die Vereinigung der radikalen Rechten in den USA anknüpfen. Für die sogenannte Alt-Right ist Breitbart eines der wichtigsten publizistischen Sprachrohre und erfüllt eine Scharnierfunktion. Unter dem Dach der »Alternativen Rechten« versammelt sich von der Tea-Party-Bewegung bis hin zu rechtsradikalen Gruppen ein breites Spektrum an Nationalisten, völkischen Rassisten und auch Antisemiten. Ihre Einigkeit resultiert vor allem aus dem Hass auf sogenannte politische Korrektheit, Antifeminismus und die Ablehnung der multikulturellen Gesellschaft. rdm
Redaktion nd-aktuell.de
USA
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1061174.bannon-und-alt-right.html?sstr=bannon
Sachsen: Ausschusschef mit Nähe zum Terror
Diesen Mittwoch tagt in dem im September neu gewählten sächsischen Landtag erstmals einer der Fachausschüsse. Das für Inneres zuständige Gremium befasst sich in einer Sondersitzung auf Antrag der AfD mit den Protesten gegen deren Bundesparteitag in Riesa und dem zugehörigen Polizeieinsatz. Leiten wird die Sitzung der neue Ausschussvorsitzende Lars Kuppi. Der AfD-Abgeordnete ist Polizist und war Landesvize der Deutschen Polizeigewerkschaft, aus der er 2020 wegen eines Auftritts mit dem aus der Partei geflogenen Neonazi Andreas Kalbitz ausgeschlossen wurde. 2022 ging er mit Querdenkern auf die Straße. Kuppi ist einer von vier Ausschussvorsitzenden der AfD in der aktuellen Wahlperiode. Die Partei wird in Sachsen vom Landesamt für Verfassungsschutz als gesichert rechtsextremistisch eingestuft; das Oberverwaltungsgericht wies an diesem Dienstag eine Klage der AfD gegen dieses Verdikt ab, wie zuvor schon das Verwaltungsgericht. Dass die Partei im Landtag dennoch Gremien leitet und außerdem mit Carsten Hütter einen Vertreter in die Parlamentarische Kontrollkommission entsenden darf, die den Verfassungsschutz beaufsichtigt, sorgt mancherorts für Empörung. Von einer »schleichenden AfD-Übernahme in Sachsen« spricht der »Volksverpetzer«-Blog und fragt empört: »Und ihr schaut weg?« Allerdings ist in Sachsen der Skandal gewissermaßen schon zum Normalfall geworden. Hütter war auch zwischen 2019 und 2024 schon Geheimdienst-Kontrolleur, und AfD-Vertreter leiteten ebenfalls vier Ausschüsse. Hintergrund ist, dass die Gremien von den Fraktionen nach »Stärkeverhältnis« besetzt werden, wie es in der Geschäftsordnung heißt. Die CDU, die aktuell 41 Abgeordnete stellt, leitet fünf Ausschüsse, die AfD mit 40 Mandatsträgern vier, BSW und SPD mit 15 beziehungsweise zehn Abgeordneten je einen. Grüne und Linke mit nur sieben beziehungsweise sechs Abgeordneten gehen, anders als vor der Landtagswahl, leer aus. Wirbel gibt es im Freistaat nicht wegen der Tatsache, dass die AfD Ausschüsse leitet, sondern wegen der Frage, welche das sind und welche Abgeordneten sie leiten sollen. Die beteiligten Fraktionen einigen sich untereinander auf deren Verteilung. Die AfD erhielt jetzt erstmals Zugriff auf die Ausschüsse für Inneres sowie Verfassung. Beide wurden bisher von der CDU geführt, die aber diesmal dem Sozialausschuss den Vorzug gab. Die Abtretung an Rechtsextreme, schimpfte der Grünen-Politiker Valentin Lippmann, sei »verantwortungslos«. Das gilt vor allem mit Blick auf eine höchst umstrittene Personalie. Ausgerechnet Alexander Wiesner soll nach dem Willen der AfD den Ausschuss für Verfassung, Recht und Europa leiten. Die Vorsitzenden der Gremien werden von den jeweils zuständigen Fraktionen benannt, eine Wahl im Plenum ist nicht vorgesehen. Wiesner, ein 35-jähriger Vermögensberater aus Oschatz, war bis vor Kurzem Landesvorsitzender der Jungen Alternative (JA), die in Bund und Land als rechtsextremistisch eingestuft ist und laut einem Beschluss des Riesaer Parteitags den Status als Jugendorganisation der AfD zum 1. April verlieren soll. »Jetzt rächt sich, dass CDU und SPD den Vorsitz des Innen- und des Rechtsausschusses verantwortungslos der AfD überlassen haben.« Vor allem aber beschäftigte er bis vor Kurzem zwei vormalige Parteifreunde als Mitarbeiter, die inzwischen in Untersuchungshaft sitzen. Sie werden verdächtigt, als Mitglieder der vom Generalbundesanwalt als rechtsterroristisch eingestuften »Sächsischen Separatisten« Umsturzpläne verfolgt zu haben. Sie sollen geplant haben, in Teilen Ostdeutschlands mit Waffengewalt einen Staat nach NS-Vorbild zu errichten und ethnische Säuberungen vorzunehmen. Acht der 15 bis 20 Mitglieder wurden im November festgenommen. Bei den beiden Ex-Mitarbeitern Wiesners handelt es sich um Kurt Hättasch, der im Juni in den Stadtrat von Grimma gewählt wurde, und den ebenfalls kommunalpolitisch engagierten Kevin R. Beide waren in der JA aktiv. Hättasch soll bei seiner Festnahme bewaffnet gewesen sein und erlitt eine Schussverletzung. Der AfD-Landesverband ging umgehend auf Distanz und schloss Hättasch, R. und ein weiteres Mitglied mit sofortiger Wirkung aus. Wiesner kündigte die Anstellungsverhältnisse und gab sich ansonsten ahnungslos. Im Landtag schlagen die Wogen der Empörung dennoch hoch. Die CDU hält Wiesner für »nicht geeignet«, die SPD nennt seine Kür »völlig inakzeptabel«, die Grünen bezeichnen ihn als »nicht tragbar«. Das BSW sieht Wiesner als »nicht tragbar«; laut Fraktionschefin Sabine Zimmermann zeige die AfD damit, dass sie »nicht bereit sind, sich mit den Rechtsextremisten in den eigenen Reihen auseinander zu setzen«. Die Linke erklärt, man könne die Benennung »nicht hinnehmen«. Luise Neuhaus-Wartenberg, deren parlamentarische Geschäftsführerin, sieht das Ansehen des Parlaments beschädigt. Alle Fraktionen fordern die AfD auf, einen neuen Abgeordneten zu benennen, bislang ohne Erfolg. Grüne, Linke und BSW bringen einen Abwahlantrag ins Spiel. Einen solchen müssten laut Geschäftsordnung 45 Abgeordnete beantragen, für einen Erfolg ist eine einfache Mehrheit erforderlich, die CDU, SPD, Grüne und Linke gemeinsam erreichen. Einen ersten Sitzungstermin für den Verfassungsausschuss gibt es noch nicht.
Hendrik Lasch
Abgeordnete der AfD leiten in Sachsens Landtag vier Ausschüsse. Ausgerechnet dem Verfassungsgremium soll mit Alexander Wiesner ein Politiker vorstehen, der bis vor Kurzem mutmaßliche Rechtsterroristen beschäftigte.
AfD, CDU, Rechtsradikalismus, Sachsen, SPD
Politik & Ökonomie
Politik Alexander Wiesner
2025-01-21T15:21:30+0100
2025-01-21T15:21:30+0100
2025-01-23T09:55:32+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1188399.sachsen-ausschusschef-mit-naehe-zum-terror.html
Ziegenhals: Verfahren eingestellt
Königs Wusterhausen. Das Amtsgericht Königs Wusterhausen stellte überraschend das Verfahren gegen drei Männer ein, denen vorgeworfen wurde, sich im Mai 2010 verabredet zu haben, einen Brandanschlag auf einen ... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Peter Kirschey
Das Amtsgericht Königs Wusterhausen stellte überraschend das Verfahren gegen drei Männer ein, denen vorgeworfen wurde, sich im Mai 2010 verabredet zu haben, einen Brandanschlag auf einen Bagger zu verüben.
Ernst-Thälmann-Gedenkstätte, Ziegenhals
Hauptstadtregion
Brandenburg Brandenburg
https://www.nd-aktuell.de//artikel/837778.ziegenhals-verfahren-eingestellt.html
Gericht: ZDF darf rassistischen NPD-Wahlspot ablehnen
Koblenz/Mainz. Das ZDF darf nach einer Eilentscheidung des Bundesverfassungsgerichts die Aussendung eines rassistischen Wahlspots der rechtsextremen NPD zur Europawahl verweigern. Ein Eilantrag der Partei, mit dem die Ausstrahlung eines Beitrags verlangt wurde, lehnte das Gericht in Karlsruhe nach eigenen Angaben vom Samstag ab. Zuvor hatten schon das Verwaltungsgericht Mainz und das Oberverwaltungsgericht Koblenz dem ZDF in dieser Sache Recht gegeben. Diese Gerichtsentscheidungen stellten keinen Verstoß gegen das im Grundgesetz verbriefte Recht auf Meinungsfreiheit dar, eine Verfassungsbeschwerde der NPD in der Hauptsache sei deshalb offensichtlich unbegründet, teilte das Bundesverfassungsgericht mit. Der Spot sollte am Montag und erneut am 15. Mai gesendet werden. Zuerst hatte die »Rhein-Zeitung« über die Zurückweisung des Wahlspots durch das ZDF berichtet. Nach Angaben des Verfassungsgerichts hatte die NPD dem ZDF einen Wahlwerbespot eingereicht, in dem behauptet wird, Deutsche würden »seit der willkürlichen Grenzöffnung 2015 und der seither unkontrollierten Massenzuwanderung fast täglich zu Opfern ausländischer Messermänner«. Auf die sich anschließende Aussage »Migration tötet!« folgt demnach ein Aufruf zur Schaffung von Schutzzonen als Orten, an denen Deutsche sich sicher fühlen sollten. Das Oberverwaltungsgericht in Koblenz hatte festgestellt, der Beitrag mache »in Deutschland lebende Ausländer in einer Weise bösartig verächtlich, die ihre Menschenwürde angreift und geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören«. Parteien haben per Gesetz grundsätzlich ein Anrecht darauf, dass ihre Wahlspots ausgesendet werden. Die Beiträge werden außerhalb der Verantwortung der jeweiligen Sender ausgestrahlt. Das ZDF hatte die Ausstrahlung jedoch mit der Begründung abgelehnt, der NPD-Beitrag erfülle den Straftatbestand der Volksverhetzung, wie das Verfassungsgericht mitteilte. Die Bundes-NPD hatte am Donnerstag auf Facebook betont, sie halte diesen Vorwurf für nicht nachvollziehbar. dpa/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Müssen die Öffentlich-Rechtlichen rassistische Spots der NPD senden? Nein, müssen sie nicht. Nach einer Eilentscheidung des Bundesverfassungsgerichts darf das ZDF die Aussendung eines Wahlspots der rechtsextremen Partei zur Europawahl verweigern.
NPD, ZDF
Politik & Ökonomie
Politik NPD und Europawahl
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1117597.npd-und-europawahl-gericht-zdf-darf-rassistischen-npd-wahlspot-ablehnen.html
Wandlitz
Wandlitz - das war zu DDR-Zeiten ein Synonym für den SED-Machtapparat. Wobei nicht der Ort Wandlitz bei Bernau nördlich von Berlin gemeint war, sondern die dortige Waldsiedlung. Ende der 50er Jahre erbaut, war sie obligatorischer Wohnort für Mitglieder des SED-Politbüros und ihre Familien - ob sie wollten oder nicht. Sprichwörtlich bekannt war die sogenannte Protokollstrecke: der gesicherte Weg der Dienstfahrzeuge aus Wandlitz nach Berlin und zurück. Sagenumwoben war der Luxus, der in der Waldsiedlung herrschen sollte. Ende 1989, als die Macht der SED bröckelte, tauchten erste Reporter in der Siedlung auf. Der Luxus stellte sich schnell als ziemlich kleinbürgerlich heraus. Es war wohl vor allem die Abschottung der SED-Oberen gewesen, die die Fantasie befeuert hatte. Zehntausende Schaulustige pilgerten nach Wandlitz. Mitte Dezember beschloss die DDR-Regierung auf Vorschlag des Runden Tisches, aus der Siedlung ein für alle zugängliches Reha-Zentrum zu machen. Die einstigen Parteifunktionäre mussten bis Ende Januar 1990 ausziehen; kurz danach trafen die ersten Kurgäste ein - Mitte Februar wurde das Reha-Zentrum eröffnet. Seitdem hat sich auf dem Klinikgelände viel getan. Heute befinden sich hier unter anderem medizinische Einrichtungen wie die Brandenburgklinik und Wohnlagen für Senioren. Wolfgang Hübner Fotos: ND/Schmidtke; nd/Winkler
Redaktion nd-aktuell.de
Berlin, DDR, SED
Hauptstadtregion
Berlin Orte der Wende
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1133082.orte-der-wende-wandlitz.html
Requiem für Klimastreiks
Fridays for Future (FFF) Deutschland war beim weltweiten Klimastreik am Freitag wenig aktiv und nicht wirklich laut. Noch im September hatten die Mitglieder der Organisation Gegenteiliges skandiert, diesmal riefen sie nicht einmal in den sozialen Medien zum Streik auf. Stattdessen verwiesen sie auf die Europawahl. Mobilisierte FFF früher in 600 deutschen Städten, veranstalteten jetzt gerade einmal 21 Ortsgruppen Demonstrationen. Die ostafrikanische Aktionskarte des internationalen Bündnisses quoll am selben Tag förmlich über. Dabei hatten das schwache Klimagesetz der Ampel und die Emissionsstatistik diese Woche erneut gezeigt, wie wichtig ein umweltbewusstes Korrektiv in Deutschland ist. Was ist da also los? Ein Grund: Seit Oktober spaltet der Nahost-Konflikt FFF Deutschland und das internationale Netzwerk. Vorrangig geht es hier jedoch um taktische Fragen. Denn so wie die Straßenblockaden der Letzten Generation reißt auch der 14. Klimastreik niemanden mehr vom Hocker. Sowohl die Letzte Generation als auch FFF haben erkannt, dass es neue Organisierungsformen braucht. Erstere Gruppe setzt nun auf »ungehorsame Versammlungen«, kurzzeitige Straßenbesetzungen. FFF konzentriert sich auf die Kampagne »Wir fahren zusammen«, eine Vernetzung mit Beschäftigten des ÖPNV für die Verkehrswende und bessere Arbeitsbedingungen. Das wirkt wie ein schlüssiger Taktikwechsel. Eine Errungenschaft von FFF darf dabei aber nicht in Vergessenheit geraten: die internationale Vernetzung über die Europawahl hinaus.
Sarah Yolanda Koss
Der 14. weltweite Klimastreik reißt inzwischen niemanden mehr vom Hocker. Während er in Deutschland beinahe unbemerkt vonstatten geht, wendet sich die Umweltbewegung anderen Taktiken zu.
Verkehrspolitik
Meinung
Kommentare Kommentar zur Umweltbewegung
2024-04-19T15:25:21+0200
2024-04-19T15:25:21+0200
2024-04-19T15:26:13+0200
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1181620.kommentar-zur-umweltbewegung-requiem-fuer-klimastreiks.html
Ein unerhörtes Ereignis
1791 rief Robespierre der französischen Nationalversammlung zu: »Sollen die Kolonien doch untergehen, wenn ihre Erhaltung uns unser Glück, unseren Ruhm, unsere Freiheit kostet.« In diesem Jahr brach in der reichsten Kolonie Frankreichs, Saint-Domingue, ein Aufstand aus. Beeinflusst durch die Revolution im sogenannten Mutterland griffen die dort lebenden afrikanischen Sklaven zu den Waffen und behaupteten sich in einem zehnjährigen Krieg gegen französische und englische Truppen sowie wider die mehrheitliche Befürwortung der Pariser Abgeordneten zum Erhalt der karibischen Kolonie. Das Land nannte sich später Haiti, schaffte die Sklaverei ab und war der zweite unabhängige Staat Amerikas. Darüber berichtet Philipp Hanke sachkundig und anschaulich. • Philipp Hanke: Revolution in Haiti. Vom Sklavenaufstand zur Unabhängigkeit. PapyRossa, 158 S., br., 13,90 €. Die Haitianische Revolution war ein unerhörtes Ereignis. Die ertragreiche Plantagenwirtschaft der Kolonie hatte viele Franzosen zu reichen Männern gemacht. Für sie war es ein Schock, als die von ihnen als ihr Eigentum betrachteten Menschen gegen sie rebellierten. Sie wollten und konnten nicht glauben, dass es sich um eine geplante Aktion handelte. Unerhört ist die Selbstbefreiung der Sklaven bis heute. In vielen Büchern zur Französischen Revolution wird sie nicht erwähnt, obwohl an ihrer Bekämpfung namhafte Persönlichkeiten wie Napoleon beteiligt waren. Deutschsprachige Literatur zum Thema gibt es kaum. Mit »Die schwarzen Jakobiner« hat der marxistische Theoretiker C .L. R. James zwar ein Standardwerk veröffentlicht, die deutsche Übersetzung ist jedoch seit vielen Jahren nicht mehr erhältlich. Zu Beginn des Aufstandes konnte die Situation für die Sklaven nicht schlechter sein. Unterschiedliche soziale Gruppen und Großmächte versuchten ihre jeweils eigenen Interessen durchzusetzen: Spanier, Briten, arme und reiche Franzosen, Sklaven und Kreolen. Bündnisse bildeten sich und zerfielen ebenso schnell, wie sie geschmiedet worden sind. Der Sklavenaufstand geriet zu einem globalen Ereignis, allein durch seine antirassistische Stoßrichtung, gemäß dem Geist der Französischen Revolution: Alle Menschen sind gleich. Die Universalisierung des Gebots nennt Hanke das wichtigste Ergebnis des Aufstandes. Die Sklaven von Haiti halfen, die Tür zu einem neuen Zeitalter aufzustoßen. Revolutionen haben historisch immer zur Glorifizierung vermeintlich großer Männer eingeladen. Auf Haiti gab es einen schwarzen Spartakus: Toussaint Louverture. Der ehemalige Sklave avancierte im Bürgerkrieg zum General. Vielen gilt er als die entscheidende Figur beim Aufstand gegen die Kolonialherren. Hanke ist es hoch anzurechnen, dass er nicht nur ihn im Blick hat, sondern auch dessen Mitkämpfer würdigt und die Rolle der Frauen während der Unabhängigkeitsbewegung und der Abschaffung der Sklaverei herausstellt. Napoleon erlitt mit seiner Invasionsarmee gegen die Aufständischen von Haiti seine erste große Niederlage. 1805 gaben sich die freien Haitianer eine Verfassung, die Menschenrechte für alle kodifizierte. Der französische Staat verzieh den ehemaligen Sklaven ihren Sieg lange nicht. Die Haitianer mussten für ihren Sieg Reparationen zahlen! Es war wohl die Angst der Kolonialherren vor Nachahmung, die den Sklavenaufstand von Haiti aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängte. Umso verdienstvoller, dass Philipp Hanke die vergessene Revolution in Erinnerung ruft.
Johannes Tesfai
Philipp Hanke berichtet über den Sklavenaufstand in Haiti
Frankreich, Geschenke, Haiti, Revolution, Sklaverei, Weihnachten
Feuilleton
Kultur Bücher zum Verschenken
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1071175.ein-unerhoertes-ereignis.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
»Eine Apokalypse muss nicht das Ende allen Lebens bedeuten«
Kriege, Klimawandel, gesellschaftliche Krisen: Gefühlt standen wir selten so nah am Abgrund wie im Jahr 2024. Sie setzen sich wissenschaftlich mit Apokalypsen auseinander. Was bedeutet der Begriff für Sie? Emily Ray: Viele assoziieren mit dem Begriff Apokalypse nach wie vor jüdische beziehungsweise christliche Weltuntergangserzählungen oder andere Arten der Offenbarung. Wörtlich aus dem Griechischen übersetzt bedeutet der Begriff Enthüllung. In unserer Forschung betrachten wir eine Apokalypse als ein Ereignis, das eine Welt beendet. Es geht um einen unumkehrbaren Bruch mit dem, was ist. Das kann bedeuten, dass wirklich alles ein für alle Mal vorbei ist, beinhaltet aber auch die Möglichkeit, dass aus dem Ende etwas Neues entsteht. In unserem Forschungsbereich herrscht Uneinigkeit darüber, ob es so etwas wie eine Postapokalypse geben kann. Fest steht jedenfalls, dass eine Apokalypse nicht zwangsläufig das Ende allen Lebens bedeutet, vielmehr geht es um eine absolute Zäsur mit dem Bisherigen. Ist die Vorstellung eines »unumkehrbaren Bruchs mit dem, was ist« nicht subjektiv? Ein Beziehungs-Aus kann sich ja auch wie das Ende einer Welt anfühlen. Wie unterscheiden Sie das von einer wahrhaftigen Apokalypse? Ray: Der Begriff der Apokalypse wird oft metaphorisch verwendet. So würde ich Ihr Beispiel auch einordnen. Das Ende einer Beziehung ist vielleicht tragisch, aber nicht apokalyptisch. Apokalypsen sind etwas Kollektives – das Ende einer Lebensweise für eine ganze Gruppe.Robert Kirsch: Wie wir eine Apokalypse kategorisieren, ist auch eng mit sozialen und politischen Kontexten verwoben. Einige Wissenschaftler*innen betrachten beispielsweise Ereignisse wie die Kolonisierung Amerikas oder die Expansion nach Westen in den USA als apokalyptische Zäsuren für die betroffenen Gemeinschaften. Die Vertreibung der Indianer etwa beendete zwar nicht alles Leben, verursachte aber unumkehrbare Veränderungen für diese Gruppen. Das zeigt: Apokalypsen können je nach Perspektive unterschiedlich erlebt werden. Deshalb glaube ich nicht, dass wir immer beurteilen können, was eine »echte« Apokalypse ist und was nicht. Emily Ray und Robert Kirsch sind politische Theoretiker*innen an der Sonoma State University in Kalifornien beziehungsweise der Arizona State University. Zwischen 2022 und 2023 waren beide Fellows am Käte Hamburger Kolleg für Apokalyptische und Postapokalyptische Studien in Heidelberg. Dort arbeiteten sie unter anderem an ihrem Buch »Be Prepared: Doomsday Prepping in the United States«, das im Oktober erschienen ist. Gibt es dann unterschiedliche Grade oder Intensitäten von apokalyptischen Ereignissen? Kirsch: Der italienische Philosoph Giorgio Agamben schrieb in diesem Zusammenhang über die »Zeit, die die Zeit braucht, um zu enden«. Einige Apokalypsen, wie etwa ein ausartender Atomkrieg, können sich sehr schnell entfalten – eine sofortige existenzielle Vernichtung. Andere, wie der Klimawandel, laufen langsamer ab, aber das Endergebnis ist immer noch ein unumkehrbarer Bruch mit dem, was ist. Beim Klimawandel lernen wir, dass die Zeit für sinnvolles Handeln mit jedem Jahr weiter schwindet. Um es mit Agambens Worten zu sagen: Die Zeit, die die Zeit braucht, um zu enden, wird kürzer. In Deutschland wurden Umweltschutzgruppen wie »Extinction Rebellion« und »Letzte Generation« als Weltuntergangspropheten diskreditiert. Aber Sie sagen, der Klimawandel ist in der Tat ein apokalyptisches Ereignis? Ray: Ja, ich denke in diesen Begriffen über den Klimawandel. Die Umweltprobleme, die damit einhergehen, werden die Welt, wie wir sie kennen, zerstören. Wir werden nicht mehr so weiterleben wie bisher. In diesem Sinne ist der Klimawandel apokalyptisch. Ich denke dabei auch an den politischen Theoretiker Timothy Luke. Er prägte den Begriff der »nachhaltigen Degradierung« und kritisiert damit den modernen Nachhaltigkeitsbegriff. Denn Nachhaltigkeit wird meistens innerhalb des kapitalistischen Systems gedacht, Umweltschutz bedeutet dann immer noch, Institutionen und das Wirtschaftssystem so zu erhalten, wie sie sind. Für Luke ist das aber keine nachhaltige Lebensweise, sondern lediglich das Hinauszögern des Endes. Nachhaltige Degradierung bedeutet also: Wir wissen, dass das Ende kommt, aber wir möchten nur noch ein bisschen so weitermachen wie bisher. Und zwar nicht, weil das gut ist, sondern weil die Alternative so viel schlimmer sein könnte. Hierzulande wird die Fraktion innerhalb der Klimabewegung immer lauter, die davon ausgeht, dass ein ökologischer und gesellschaftlicher Kollaps unvermeidbar ist. Es gehe nunmehr darum, widerstandsfähiger zu werden und den Zusammenbruch so gerecht wie möglich zu gestalten, heißt es. Was halten Sie von diesem Ansatz? Ray: Historisch gesehen hat Umweltschutz immer auch Elemente des Survivalismus enthalten (»survival« heißt auf Deutsch »überleben«). Das geht oft einher mit der Idee, unabhängig von der industrialisierten Welt zu sein. Also beispielsweise sich selbst mit Nahrung versorgen zu können oder in der Wildnis zurechtzukommen. Allerdings sind das meistens weiß und männlich dominierte Erzählungen. Für mich ist deshalb eine wichtige Frage, wie diese geschlechtsspezifische und rassifizierte Komponente in der Klimabewegung adressiert wird. Mein Eindruck ist, dass das bisher noch nicht ausreichend geschieht. Dabei sind es gerade indigene Gruppen und schwarze Gemeinschaften, die seit Jahrhunderten durch Formen apokalyptischer Brüche leben. Es ergibt Sinn, sich auf eine Welt vorzubereiten, die nicht mehr so funktioniert wie früher; doch es ist auch wichtig zu erkennen, dass viele Gemeinschaften ähnliche Brüche seit Generationen überlebt haben. Sie haben Weisheit und Erfahrungen zu bieten, die oft übersehen werden. Doch um dieses Wissen einzubringen, müssen wir lernen, Geteiltes zu nutzen, ohne es zu vereinnahmen. Kirsch: In unserem gemeinsamen Buch »Be prepared« haben wir uns genauer mit dem Prepping auseinandergesetzt. Bei einer apokalyptischen Gefahr wie dem Klimawandel, die uns alle betrifft, ist eigentlich klar: Es braucht eine kollektive Antwort auf eine kollektive Bedrohung. Konkret heißt das, dass es auch systemische Veränderungen braucht, Institutionen müssen neu gedacht werden. Aber in unserer neoliberalen Welt werden kollektive Handlungslösungen grundsätzlich abgelehnt, unabhängig von der Größe des Problems. Im amerikanischen Kontext symbolisiert das Bild des Bunkers diese Reaktion: In Anbetracht des bevorstehenden Zusammenbruchs, kommen wir da zusammen und bilden Solidaritätsnetzwerke oder isolieren wir uns und beginnen zu »preppen«? Neoliberale Subjekte tendieren dazu, Letzteres zu wählen – und gewissermaßen die Bunkertür hinter sich zu schließen. Es reicht also nicht, zu erkennen, dass uns die Klimakrise vor ein kollektives Handlungsproblem stellt. Es muss auch darum gehen, diese neoliberale Subjektivität zu überwinden. Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen. Können Sie den Zusammenhang zwischen Neoliberalismus und amerikanischer Prepping-Kultur genauer erklären? Ray: Prepping bedeutet, sich auf eine Unterbrechung der Grundversorgung vorzubereiten, wie etwa Störungen der Wasserleitungen oder Stromausfälle. Das Ziel ist es, unabhängig überleben zu können, ohne auf die öffentliche Daseinsvorsorge angewiesen zu sein. Dass das in den USA als individuelle Aufgabe gesehen wird, hat historische Gründe: Während des Kalten Krieges diskutierte die Regierung, wie man die Bürger auf einen Atomschlag vorbereiten könnte. Sollte man öffentliche Bunker bauen oder den privaten Bunkerbau fördern? Letztlich entschied sich die Regierung gegen die öffentliche Variante, weil sie befürchtete, dies könnte als kommunistisch wahrgenommen werden. Die Angst, sich damit den Kommunismus als Ideologie in die USA einzuladen, war also Teil der Entscheidung, die Menschen als Individuen verantwortlich zu machen.Kirsch: Hinzu kommt, dass die Menschen in den USA ein berechtigtes Misstrauen gegenüber der Fähigkeit des Staates haben, in Krisenzeiten effektiv zu handeln. Das haben die Reaktionen auf die unzähligen Naturkatastrophen gezeigt. Mit dem neoliberalen Aushöhlen des Staates ist ein Teufelskreis angestoßen worden: Ein handlungsunfähiger Staat führt dazu, dass Einzelpersonen für ihr eigenes Leben verantwortlich gemacht werden, sie investieren in den Schutz der eigenen vier Wände und beginnen Lebensmittel zu horten; das wiederum wird Teil einer nationalen Identität, in der der Staat sagt: »Wir müssen diese Dinge den Menschen nicht bereitstellen, denn seht mal, sie machen es selbst. Die Leute reproduzieren amerikanische Werte zu Hause.« Dient die amerikanische Prepping-Kultur also als warnendes Beispiel für Klimabewegungen, die »solidarisches Prepping« in Betracht ziehen? Kirsch: Ja, absolut. Die USA stehen für den schlechtesten Weg, dieses Problem anzugehen. Leider wird diese Kultur auch in andere Teile der Welt exportiert. In Deutschland etwa gibt es einen Survival-Trend auf Youtube: Überwiegend Männer filmen sich dabei, wie sie in der Wildnis überleben, oder unterirdische Schutzräume bauen. Ray: Bunker sind kein Alleinstellungsmerkmal der USA, sie gibt es überall. Was die Situation in den Vereinigten Staaten jedoch besonders macht, ist die Kultur des privaten Bunkers, in der das Zuhause selbst zu einer Art Festung ausgebaut wird. Wir nennen das Bunkerisierung: Es geht nicht nur darum, vorübergehend eine Krise zu überstehen, sondern permanent im Bunker zu leben. Das ist die Botschaft der amerikanischen Prepping-Kultur: Kümmere dich um dich selbst und deine Kernfamilie – aber ja nicht um andere, das sind nur Trittbrettfahrer.
Interview: Anton Benz
Emily Ray und Robert Kirsch erforschen den Kollaps. Sie erklären, warum eine Apokalypse nicht gleich das Ende der Menschheit bedeutet und warum die Prepping-Kultur ein schlechtes Vorbild für die Klimabewegung ist.
Klimawandel, Nachhaltigkeit, Neoliberalismus, USA
Politik & Ökonomie
Politik Prepping-Kultur
2025-01-07T13:17:57+0100
2025-01-07T13:17:57+0100
2025-01-07T13:18:22+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1188029.eine-apokalypse-muss-nicht-das-ende-allen-lebens-bedeuten.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
Fahrer von Schleuser-Lkw kommt vor Gericht
Frankfurt (Oder). Der Fahrer des im September auf der Autobahn A 12 in Richtung Berlin gestoppten Schleuser-Lkw mit 51 Flüchtlingen kommt vor Gericht. Die Anklage wurde zur Hauptverhandlung zugelassen, teilte das Amtsgericht Frankfurt (Oder) mit. Prozessbeginn ist am 20. Februar. Bei der Kontrolle des in der Türkei zugelassenen Lkw hatten Bundespolizisten auf der verschlossenen Ladefläche Kinder, Frauen und Männer aus dem Irak und einen jungen Syrer entdeckt. Dem 46-jährigen türkischen Fahrer wirft die Staatsanwaltschaft das Einschleusen von Ausländern vor. dpa/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Türkei
Hauptstadtregion
Brandenburg
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1077307.fahrer-von-schleuser-lkw-kommt-vor-gericht.html
Angriffe auf UN-Lager in Mali: 17 Tote
Bamako. UN-Generalsekretär António Guterres hat die Angriffe auf UN-Friedenstruppen im westafrikanischen Staat Mali mit 17 Toten scharf verurteilt. In einer Erklärung betonte er, dass Angriffe auf Friedenstruppen nach internationalem Recht als Kriegsverbrechen gelten könnten. Am Montagabend hatten Bewaffnete das Hauptquartier der UN-Mission in Timbuktu im Norden des Landes angegriffen, wie eine Sprecherin der Mission am Dienstag sagte. Dabei seien insgesamt 13 Menschen ums Leben gekommen. Bei einem weiteren Angriff auf einen UN-Stützpunkt in Douentza sind demnach vier Menschen getötet worden. dpa/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Mali, UNO
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1060667.angriffe-auf-un-lager-in-mali-tote.html
Ver.di bestätigt Tarifeinigung - GEW weiter unzufrieden
Berlin (nd-Meyer). Gut 90 Prozent der Mitglieder haben dem Tarifergebnis für die rund 800 000 angestellten Beschäftigten im öffentlichen Dienst der Länder zugestimmt, teilte die Gewerkschaft ver.di am Donnerstag mit. Die Bundestarifkommission nahm das Ergebnis mit einer Gegenstimme an. Löhne und Gehälter steigen rückwirkend zum 1. Januar um 2,65 Prozent, zum 1. Januar 2014 kommen 2,95 Prozent dazu. Auszubildende erhalten mehr Geld, übe... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
GEW, Lehrer, Tarifverhandlung, verdi
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/818454.ver-di-bestaetigt-tarifeinigung-gew-weiter-unzufrieden.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
Hilfe bei Onlinesucht
Tübingen. Erste Hilfe für Internetsüchtige: Ein neues Portal will Menschen mit Onlinesucht bei der Suche nach Beratungs- und Behandlungsstellen unterstützen. Bei der vom Universitätsklinikum Tübingen entwickelte Webseite handelt es sich um die deutschlandweit bisher umfassendste Onlinedatenbank zur Therapiesuche für Menschen mit Internetsucht, wie die Klinik am Montag mitteilte. Das Portal www.erstehilfe-internetsucht.de geht am Dienstag online. Mehr als eine halbe Million Menschen in Deutschland gelten mittlerweile als internetabhängig. Darunter sind rund 270 000 Jugendliche. Deren Zahl verdoppelte sich binnen vier Jahren nahezu, wie aus einer aktuellen Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hervorgeht. AFP/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Neues Portal zur Beratungs- und Therapiesuche
Internet
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1040937.hilfe-bei-onlinesucht.html
Netzentgeltbefreiung für Großkunden war illegal
Brüssel. Die Netzentgeltbefreiung für große Stromverbraucher in Deutschland in den Jahren 2012 und 2013 war nach einer Entscheidung der EU-Wettbewerbshüter illegal. Es habe für die Befreiung keine Gründe gegeben, Deutschland müsse diese Beihilfen zurückfordern, teilte die EU-Kommission am Montag mit. Den Wettbewerbshütern zufolge waren in Deutschland Kunden mit einem Jahresverbrauch von über zehn Gigawattstunden und konstantem Stromverbrauch von der Zahlung von Netzentgelten befreit. Schätzungen zufolge sparten Großverbraucher allein 2012 durch die Befreiung etwa 300 Millionen Euro. Die Kosten wurden aus staatlichen Mitteln gedeckt. dpa/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Europäische Union
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1089440.netzentgeltbefreiung-fuer-grosskunden-war-illegal.html
Ein Orden wider Sinn und Verstand
An Superlativen mangelt es nicht, wenn vom Semperopernball die Rede ist: Von der »schönsten Nacht des Jahres in Dresden« und dem »größten Klassik-Entertainment-Event im deutschsprachigen Raum« schwärmt der Verein, der das Spektakel seit 2006 jährlich ausrichtet. Dieser Tage böte sich ein neuer Superlativ an: dümmste Ehrung des Jahres. Diesen Tenor haben Reaktionen aus Politik und Kulturszene, seit bekannt wurde, dass der Verein einen Phantasieorden an Ägyptens Staatspräsident Abdel Fattah al-Sisi verlieh. Der aus Gold und Brillanten gefertigte und einem Schmuckstück aus dem Grünen Gewölbe nachempfundene St.-Georgs-Orden war am Sonntag, knapp zwei Wochen vor dem am 7. Februar stattfindenden Ball, von dessen künstlerischem Leiter Hans-Joachim Frey in Kairo an al-Sisi übergeben worden. Der Kulturmanager, der unter anderem als Operndirektor der Semperoper und als Intendant in Bremen tätig war, würdigte al-Sisi als »Friedensstifter« und »Mutmacher« und lobte dessen Einsatz für Kultur, etwa durch den Bau eines Opernhauses. Vor Journalisten gestand er später immerhin auch, die Ehrung sei »vielleicht etwas ungewöhnlich«. Die Kritik fällt weniger dezent aus. Von einem »Orden wider Sinn und Verstand« sprach der sächsische DGB-Chef Markus Schlimbach. SPD-Landeschef Martin Dulig, der auch zweiter Stellvertreter des sächsischen Regierungschefs ist, erklärte, der Semperopernball »nimmt sich seine Würde«. Rico Gebhardt, Chef der Linksfraktion im Landtag, fragte sarkastisch, wer den Orden als nächstes erhalte: »etwa Kim Jong-Un, mit der Begründung, dass er in Nordkorea für stabile Verhältnisse sorgt?« Al-Sisi war im Jahr 2013 durch einen Militärputsch an die Macht gekommen und führt seither ein autoritäres Regime, das politische Gegner und kritische Journalisten systematisch verfolgt. Al-Sisi, sagt Mohammad Okasha vom Vorstand des Sächsischen Flüchtlingsrates, sei »kein Hoffnungträger für Ägypten«. Die Opposition sitze im Gefängnis, es werde gefoltert: »Dem Land geht es schlecht.« Dulig nannte al-Sisi einen »Autokraten und Unterdrücker«. Wer einen solchen »aus PR-Gründen« ehre, handle unverantwortlich. Dresdner Semperopern e.V. entschuldigt sich für Ehrung al-Sisis Die umstrittene Verleihung des St.-Georgs-Ordens des Dresdner Semperopernballs an Ägyptens Präsidenten hat für Proteste auf breiter Front gesorgt Mit fragwürdigen Ehrungen sorgt der Opernball nicht zum ersten Mal für Schlagzeilen. 2009 wurde Russlands Präsident Wladimir Putin ausgezeichnet; er bekam den Orden vom damaligen Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich überreicht. Später wurde ein saudi-arabischer Kronprinz bedacht. Die Ehrung al-Sisis sorgt nun erneut für Kontroversen - und wurde in Sachsen zu einer Art Staatsaffäre. Ein Grund: Der vom MDR live übertragene Ball gilt nicht nur als Aushängeschild für die Landeshauptstadt, sondern auch als Bühne für Politiker aus Stadt und Land. Erste Amtsträger drohen mit Konsequenzen. Dirk Hilbert, FDP-Oberbürgermeister in Dresden, sieht »Klärungsbedarf« und erklärte, er behalte sich vor, ob er »wie bisher offiziell im Programm auftreten« werde. Die LINKE im Stadtrat verlangt derweil, kein Steuergeld mehr für den Ball aufzuwenden. Laut Fraktionschef André Schollbach wurden 2019 zwölf VIP-Karten für 6426 Euro erworben - für den OB, dessen Frau und weitere Gäste. Keinen Grund für Konsequenzen sieht bis jetzt CDU-Regierungschef Michael Kretschmer, der den Ball traditionell mit seiner Frau eröffnet. Er nehme »selbstverständlich« teil, sagte er der »Bild«-Zeitung und fügte hinzu: »Das ist eine wunderbare Veranstaltung«. Davon sind indes auch zwei Medienpartner und der Gastgeber nicht mehr überzeugt. Der MDR distanzierte sich, ebenso die »Sächsische Zeitung«, die nachts eine eigene Ballausgabe druckt. Die Missachtung des Rechts auf freie Meinungsäußerung in Ägypten sei unvereinbar mit der eigenen Haltung, hieß es. Der Intendant der Semperoper, Peter Theiler, sagte, man missbillige die Ehrung ausdrücklich. Nach dem Ball werde es unter Einbeziehung der Politik Gespräche mit dem Ballverein geben.
Hendrik Lasch
Dieser Tage böte sich ein neuer Superlativ für den Dresdner Semperopernball an: dümmste Ehrung des Jahres. Der Verein hat den ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi mit einem Orden geehrt. Es hagelt Kritik aus Sachsens Landespolitik.
Ägypten, Die Linke, Dresden, Sachsen
Politik & Ökonomie
Politik Semperopernball e.V.
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1132148.ein-orden-wider-sinn-und-verstand.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
Politisch hängt Irak weiter in der Luft
Bagdad (AFP/ND). US-Präsident Barack Obama, der den Abzug zu einem seiner wichtigsten Wahlkampfversprechen gemacht hatte, wollte sich am Abend (Mittwoch 2 Uhr MESZ) in einer live aus dem Oval Office im Fernsehen übertragenen Ansprache an die Nation eine Bilanz des Krieges ziehen und über das künftige Verhältnis der USA zu Irak sprechen. Kurz vor dem Ende des Kampfeinsatzes besuchte der US-Präsident ein Militärkrankenhaus im Norden der Hauptstadt Washington und traf dort nach Angaben des Weißen Hauses vom Montag mit Soldaten zusammen, die in Afghanistan und Irak im Einsatz waren. Die letzten US-Kampftruppen hatten bereits am 19. August die Grenze zu Kuwait überquert. Nach ihrem Abzug verbleiben knapp 50 000 US-Soldaten in Irak, deren Aufgabe sich auf die Ausbildung... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Siebeneinhalb Jahre nach dem Einmarsch in Irak ist der Kampfeinsatz der US-Armee dort am Dienstag offiziell zu Ende gegangen.
Irak, Sicherheit, USA
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/178680.politisch-haengt-irak-weiter-in-der-luft.html
Alle auf die Cyber-Täter
Cyberspace – das klingt für viele immer noch nach Science Fiction und nach etwas, das es in echt gar nicht gibt. Gibt es aber doch, zumindest nach der Definition der Bundesregierung: »Der Cyber-Raum umfasst alle durch das Internet über territoriale Grenzen hinweg weltweit erreichbaren Informationsinfrastrukturen.« Tatsächlich ist es nicht übertrieben, Computernetzwerke in ihrer Bedeutung für die Infrastruktur mit Wasser und Strom zu vergleichen, wie es Innenminister Thomas de Maizièr... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Regina Stötzel
Datenschutz, Internet, Thomas de Maizière
Meinung
Kommentare kommentiert
https://www.nd-aktuell.de//artikel/191710.alle-auf-die-cyber-taeter.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
Wenn Ausruhen nicht hilft
Die Depression ist eine weitverbreitete Krankheit, sie ist unter den psychischen Leiden jenes, das am meisten Arbeitsunfähigkeitstage in Deutschland bewirkt. Bei der repräsentativen Befragung für das neue Deutschland-Barometer Depression gaben 20 Prozent der Berufstätigen an, dass ihnen schon einmal diese Diagnose gestellt wurde. 5283 Personen zwischen 18 und 69 Jahren wurden dazu im September 2021 online um Auskunft gebeten. Vorgestellt wurden die Ergebnisse am Dienstag in Berlin, und zwar von der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und der Stiftung Deutsche Bahn, von der die Umfrage zum wiederholten Mal gefördert wurde. Die Stiftungen gehen in ihrem Bericht von einer Volkskrankheit aus, welche die meisten Unternehmen betrifft. Diese seien insofern verantwortlich, dass sie den Zugang zu durchaus vorhandenen Therapien erleichtern müssten. Bei der Depression handelt es sich nicht nur um eine häufige, sondern auch um eine schwere Erkrankung - und nicht nur um eine Befindlichkeitsstörung. Acht Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung in Deutschland werden pro Jahr behandelt, Frauen doppelt so häufig wie Männer, wie Ulrich Hegerl erläutert, Vorstand der Stiftung Deutsche Depressionshilfe. Zudem ist eine Depression eine rezidivierende Erkrankung: Sie kann zurückkommen, auch wenn sie einmal ausgestanden scheint. Oft ist sie lebensbedrohlich, im Durchschnitt verlieren die Patienten zehn Lebensjahre. Das hat auch damit zu tun, dass Depressionen die häufigste Ursache für Suizidalität sind. In Deutschland gibt es durchschnittlich 9000 Suizide pro Jahr, von Männern aller Altersstufen etwas häufiger als von Frauen. Auffällig ist der sehr starke Anstieg von männlichen Suiziden im höheren Alter, etwa ab 70 Jahren. Jedoch kann davon ausgegangen werden, dass der offenere Umgang mit Depressionen dazu beigetragen hat, dass sich die Zahl der Suizide von etwa 18 000 im Jahr 1980 bis 2019 halbiert hat. Nur im Coronajahr 2020 hat die Zahl leicht auf 9200 Fälle zugenommen. Bei den Depressionen gibt es aus Sicht von Epidemiologen keine echte Zunahme in der Gesamtbevölkerung. »Aber es holen sich viel mehr Betroffene Hilfe und erhalten dann auch eine Diagnose«, erklärt Psychiater Hegerl. Bei der aktuellen Umfrage hatten nur 31 Prozent der Befragten noch keinen Kontakt mit der psychischen Erkrankung. 23 Prozent hatten schon einmal selbst die Diagnose erhalten, von dieser Gruppe waren wiederum bis zu 20 Prozent aktuell damit krankgeschrieben. Weitere 18 Prozent der insgesamt Befragten vermuten, dass sie die Krankheit haben könnten. 38 Prozent kennen die Diagnose Depression aus ihrem familiären Umfeld, drei Prozent gehörten zu den Behandlern. Nach Meinung der Befragten zählten zu den Ursachen der Depression Belastungen und Konflikte am Arbeitsplatz oder Krankheiten und Schmerzen. Diese Ansichten seien relativ verbreitet, wie Hegerl kommentiert, aber irreführend. So sei es auch nicht hilfreich, wie in der Umfrage als Abhilfe angegeben, mal Urlaub zu nehmen oder sich auszuruhen und mehr zu schlafen. »Die Depression fährt mit in den Urlaub«, so der Psychiater. Außerdem verweist er auf einen Therapieansatz, der auf Schlafentzug setzt und eine Verbesserung der Symptome bringen kann. Wie eine Depression entsteht, ist wissenschaftlich noch nicht endgültig geklärt. Sicher ist, dass ein gestörter Botenstoffwechsel im Gehirn und fehlregulierte Stresshormone neben äußeren und auch genetischen Faktoren einen wichtigen Einfluss haben. Jedoch kann den Patienten geholfen werden: »Mit Antidepressiva und einer Psychotherapie, in der auch nach den Triggerpunkten für die Erkrankung gesucht wird, kann das Risiko eines schweren Verlaufs um 70 Prozent gesenkt werden«, erläutert Hegerl. In den Unternehmen ginge es nun darum, dass Anlaufstellen für Betroffene existierten, etwa Betriebsärzte, eine Sozialberatung oder auch der Betriebsrat. In der aktuellen Umfrage erklärten 22 Prozent der Befragten, dass diese Möglichkeiten in ihrem Fall existierten, fast ein Drittel aus dieser Gruppe habe sie auch schon in Anspruch genommen. Die Erfahrungen damit waren nicht nur, aber vorwiegend positiv. Ein Pluspunkt für die Betroffenen war, dass sie nicht mehr so viel Kraft aufwenden mussten, um eine »gesunde« Fassade aufrechtzuerhalten. Diesen Aspekt betonte auch ein Bahnmitarbeiter, der ebenfalls erkrankt war. Inzwischen ist er bei der Bahn neben seiner fachlichen Arbeit in einem Peer-Netzwerk aktiv, das seit einigen Jahren als Ansprechpartner für Betroffene bereitsteht. Er habe nach monatelangem Ausfall entschieden, dass ihn das Verschweigen seiner Diagnose zu viel Kraft koste und er diese einfach nicht habe. Die Mehrheit der Beschäftigten mit Depression spricht laut der Umfrage am Arbeitsplatz nicht über die Erkrankung. Ein Drittel der Betroffenen geht hingegen offen im beruflichen Umfeld damit um - mit zumeist positiven Erfahrungen. Jeder Vierte hatte allerdings das Gefühl, dass durch den offenen Umgang nicht mehr die eigene Leistung, sondern die Erkrankung im Vordergrund stand.
Ulrike Henning
Bei jedem fünften Beschäftigten in Deutschland wurde schon einmal eine Depression diagnostiziert. Ein besserer Wissensstand zur Erkrankung in Unternehmen könnte den betroffenen Mitarbeitern viel Druck und Leid ersparen.
Bahnverkehr, Depression, Psyche, Psychotherapie, Selbsttötung, Suizid
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt Psychische Krankheiten
2021-11-09T16:05:06+0100
2021-11-09T16:05:06+0100
2023-01-20T20:14:55+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1158451.psychische-krankheiten-wenn-ausruhen-nicht-hilft.html
Mehr China, bitte
Vor ein paar Tagen bot Xi Jinping Gelegenheit für eine kleine Zeitreise. Der chinesische Präsident hatte einen Gastbeitrag in der »Welt« untergebracht, und wer sich die Fertigkeit des »Zwischen-den-Zeilen-Lesens« erhalten hat, bei früheren Zentralorganen hilfreich, war klar im Vorteil. Hinter höflichen Superlativen über die sich »sehr positiv« entwickelnden chinesisch-deutschen Beziehungen und freundlichen Worten zu den Beiträgen, die die G20 angeblich zum »inklusiven Wachstum der Weltwirtschaft« leisten würden, steckten ein paar Botschaften - nicht nur an die Bundesregierung. Xi mahnte Augenhöhe auf internationalem Parkett an, forderte Verständnis für Chinas Kurs ein und sprach über »Multipolarität«. Dass es hier um neue Rollen in der Weltpolitik geht, um die Krise der bisherigen Ordnung, um eine Modellvariante des Kapitalismus, ist so klar, wie viele Fragen unbeantwortet sind. »Fakt ist, dass die Welt durch den Aufsteiger aus Fernost in Teilen neu vermessen wird«, kommentierte die »Frankfurter Allgemeine« unlängst - offen sei aber, »ob China auf diesem Weg auf den Rest der Welt mehr Rücksicht nehmen wird oder weniger«. Dass Rücksichtnahme auch bisher nicht unbedingt zu den Haupteigenschaften von Regierungen mit globalem Führungsanspruch gehörte, ist das eine. Das andere ist die offenkundige Verunsicherung, mit der in der Zeit »großer Entwicklungen, großer Umbrüche und großer Anpassungen« (Xi Jinping) auf China geblickt wird. »Seit Beginn der Präsidentschaft Donald Trumps stellt sich die sozialistische Volksrepublik der internationalen Gemeinschaft als Alternative zur Führungsmacht Amerika vor«, staunt die »Frankfurter Allgemeine« - wohl auch deshalb, weil das mit einigem Erfolg geschieht. Dafür stehen nicht nur ökonomische Großprojekte wie die »neue Seidenstraße«, alternative globale Institutionen wie die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit oder die Asiatische Infrastrukturinvestmentbank, die die Führung in Peking in Konkurrenz zu Weltbank und Internationalem Währungsfonds vorangetrieben hat, weil sich in den »alten« Institutionen das neue Gewicht Chinas nicht ausreichend niederschlägt. Dafür steht auch ein Wandel in der öffentlichen Wahrnehmung eines Landes, in dem eine kommunistische Partei regiert, was bisher ein Garant für schlechtes Image war. Doch die Zeiten ändern sich. Unlängst ergab eine Umfrage, dass hierzulande 36 Prozent China für einen vertrauenswürdigen Partner halten - ein enormer Zuwachs im Vergleich zu früheren Studien. Parallel dazu sackte das Ansehen der USA unter Trump auf ein Niveau, auf dem Russland schon länger steht - 15 Prozentpunkte hinter China. Hat das was mit dem dortigen politischen Modell zu tun? Ist es ein Ergebnis der Suche nach Stabilität in einer Welt, in der man nicht mehr weiß, was der US-Präsident am nächsten Morgen via Twitter anrichtet? Mehr noch soll hier eine andere Frage interessieren: Was sagen eigentlich die Linken in der Bundesrepublik zu China, jene Linken, die sonst gern, laut und mit großer Verve ihre jeweiligen Meinungen zu den großen weltpolitischen Spielern ins Schaufenster stellen? Wer auf die Suche nach Antworten geht, die die Bezeichnung »kritisch« verdienen, sich also sowohl auf ihren Gegenstand ohne ideologische Scheuklappen einlassen als auch von einer universellen Position der Aufklärung aus auf ihn blicken, womöglich noch mit einem an Marx geschulten Rüstzeug der Kritik der politischen Ökonomie - der bleibt derzeit recht allein mit seinen Fragen. In den linksradikalen Aufrufen zum G20-Gipfel taucht China zwar auf, aber höchstens als eine nicht viel Unterschied machende Variante der globalen kapitalistischen Totalität, innerhalb derer um »einen neuen Deal« gerungen wird: »Das sind nicht unsere Sorgen«, sagt die Interventionistische Linke. Die Grünen interessieren sich auch irgendwie für China, meist liegt der Schwerpunkt auf der dortigen Lage der Menschenrechte. Gerade hat Jürgen Trittin davor gewarnt, man dürfe sich was das Reich der Mitte angeht »keinen romantischen Illusionen« hingeben. Der linke Altstar der Ökopartei plädiert trotzdem für engere Kooperation - wenn es »gemeinsame Interessen« gebe, dann auch mit Ländern, »mit denen man in Fragen der Werte wenig gemein hat«. Das ist nicht allzu weit entfernt von Sahra Wagenknecht, die etwas weiter geht und sagt, statt sich »im Kalten-Kriegs-Format der G7 einzumauern«, solle die Bundesrepublik die Beziehungen »insbesondere zu China« verstärken. Bleibt die Frage: Warum? Und was hieße das eigentlich - verstärkte Beziehungen? Mit welchem politischen Ordnungsmodell und mit welcher realkapitalistischen Wirklichkeit hat man es dort eigentlich zu tun? Und welche Konsequenzen für linke Politik werden daraus gezogen? Oder ist es vielleicht so: China wird derzeit in der Debatte gern als weltpolitische Spielmarke genutzt, eine Art symbolischer Behälter, dessen Benutzung mit verschiedenen Bedeutungen kompatibel ist. China fungiert dabei als das Andere, als eine Alternative, als der nicht weiter ausgeführte Beweis dafür, dass es mit dem bisherigen weltpolitischen Kladderadatsch nicht mehr weit her ist. Umso auffälliger ist die Leerstelle, die dort klafft, wo China in der linken und linksradikalen Debatte eigentlich ein Riesenthema sein müsste - gemessen an seiner Größe, an seiner neuen globalen Rolle, an seiner Geschichte, an seinem ökonomischen Gewicht. Natürlich, die Linke ist nicht völlig chinablind, wie man etwa an den Schriften des unlängst verstorbenen Theodor Bergmann sehen kann. Giovanni Arrighi hat zu Lebzeiten auch Bemerkenswertes zu China geschrieben. Hier und da finden sich ausführliche ökonomische Analysen oder solche über die Entwicklung des Rechts in China. Und wer über das historisch gewachsene, schwierige Verhältnis zwischen der Linken hierzulande und China oder über das Echo des Maoismus etwas erfahren will, liest bei Felix Wemheuer nach. Aber eine wirkliche linke China-Debatte gibt es nicht. Es gibt für diese Zurückhaltung einige mögliche Gründe. Da wäre erstens die Geschichte der (west-)linken Beziehungen zum China der Mao-Zeit, die heute zur rückblickenden Abgrenzung Anlass geben könnte, zumal sie auch mit biografischen Erfahrungen einhergeht, mit denen man heute keinen Beifall mehr erzeugen kann. Da wäre zweitens die Geschichte der (ost-)linken Nichtbeziehungen zu einem Land, das aus dem von Moskau kontrollierten Block ausgeschert war und also auch bis heute eher fremd blieb. Hinzu kommt ein dritter denkbarer Aspekt, dass nämlich China den reformsozialistischen DDR-Biografien den Spiegel vorhält: Wäre ein dritter Weg, der 1989 zur Debatte stand, zumindest ökonomisch ähnlich verlaufen? Da wäre viertens zu nennen der nicht einfach auszuhaltende Widerspruch, der sich auftut zwischen der hierzulande und auch in der Linken stark präsenten Betonung von Rechtsstaatsdefiziten in einem Land, das zugleich aber objektiv einen alternativen Pfad jedenfalls innerhalb des Kapitalismus verfolgt. Und schließlich, damit zusammenhängend, mag ein gewisser ökonomischer Analphabetismus hinzutreten: Über China lässt sich schwer reden, wenn man über Handelsbilanzunterschiede, Devisenreserven, Automatisierungsgrade, Profitraten und dergleichen nicht reden will. Auch bei einem der derzeit virulenten linken Themen, der globalen Ungleichheit, spielt China eine entscheidende Rolle - die wird aber kaum in dem hinreichenden Maße ausgeleuchtet, etwa der Klassencharakter der chinesischen Gesellschaft. Es gibt noch einen weiteren Grund, der eher typisch »westlich« zu sein scheint, für Linke aber auch gelten müsste. Selbst für jene, die gern eine antiwestliche Karte ausspielen, weil sie es für einen Akt »antiimperialistischer« Kritik halten, jene unkritischer zu betrachten, die »der Westen« als seine Konkurrenten auserkoren hat. Es geht um die Voraussetzungen für den Blick aufeinander. »Von Europa aus über China nachzudenken bedeutet heute daher nicht zuletzt, über die eigene Beobachterrolle nachzudenken«, schreibt Mark Siemons. »Die Verunsicherung durch China scheint eine Verunsicherung des Westens auch über sich selbst zu sein.« Es ist vielleicht kein Zufall, dass eines der derzeit besten Bücher über China von einem Kollegen der »Frankfurter Allgemeinen« geschrieben wurde, einer Zeitung, die eher selten links einsortiert wird, sich aber anders als andere die Stelle eines Kulturkorrespondenten in Peking leisten kann. »Die chinesische Verunsicherung« beschreibt die kulturellen und intellektuellen Voraussetzungen des Aufstiegs eines Landes, das Fragen aufwirft, die sich so nur in einer staatskapitalistischen Einparteienherrschaft stellen. Es geht um ein Land, in der Politik in »linken Begriffen« besprochen wird. Xi Jinpings Kurs (den Siemons als Abkehr »von zwei Strategien, mit denen Deng Xiaoping die Einführung des Kapitalismus begleitet hatte: die Dezentralisierung der Herrschaft und die Einklammerung der Ideologie« beschreibt) wird »mit der klassischen marxistischen Formulierung« beschrieben, China befinde sich noch in der ersten Phase des Sozialismus. Aber wie »marxistisch« ist dieses China, ist diese Partei, ist deren Politik? Das von hier aus zu begreifen, ist umso schwer, weil die politischen und intellektuellen Diskurse in China eine »frappierende Fähigkeit zum Aushalten von Selbstwidersprüchen« aufweisen. »Wenn der Glaube an den Marxismus zugleich eingefordert und durch einen immer weiter forcierten Kapitalismus täglich unterlaufen wird, wie soll man ihn dann überhaupt in der Geschichte des Kommunismus unterbringen, mit der sich Europa auskennt?« Xi Jinping, so formuliert es Siemons, spricht von der Entwicklung eines »Marxismus-Modells der regierenden Partei«, die sich immer schon dadurch ausgezeichnet habe, dass sie »die Theorie mit den Realitäten des Landes und den Eigenheiten der Zeit verbunden« hat. Die Theorie werde also durch die Partei, die sich auf sie beruft, zugleich relativiert; die Theorie läuft auf die Partei hinaus, nicht umgekehrt. Und das in einer Partei, die zwar die eine und einzige ist, aber alles andere als ein monolithischer Block. Nur: Was weiß die Linke hierzulande überhaupt von den Debatten der chinesischen Partei, der Linken darin, anderen Strömungen? »Die Analyse der weiteren sozialökonomischen und ökologischen Entwicklung Chinas kann wichtige Erkenntnisse zu grundlegenden Problemen einer zukünftigen sozialistischen Transformation ermöglichen«, heißt es in der Einleitung zu einem Sammelband, der vor ein paar Jahren nach einer Konferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung erschienen ist. Der Bundestagsabgeordnete Stefan Liebich, der sich als einer der wenigen Linkspolitiker näher mit China befasst, hat vor einigen Jahren »drei grundlegenden Herausforderungen« beschrieben, mit der Linke konfrontiert sind, wenn sie sich China zuwenden: den Widerspruch zwischen nachholender Entwicklung, der aus Armut befreit hat, und rücksichtsloser kapitalistischer Ausbeutung, die eine tiefe soziale Spaltung in Arm und Reich verursacht; die Doppelrolle, die China einnimmt als Akteur innerhalb des globalen Kapitalismus wie auch mit dem Anspruch, eine Alternative zu ihm zu sein. Und schließlich mit Blick auf die sicherheitspolitischen und demokratischen Fragen, die mit dem Aufstieg Chinas verbunden sind. Hinzu kommt, was Ulrich Brand und Markus Wissen unlängst in dem Buch »Imperiale Lebensweise« nicht zuletzt am Beispiel von China umrissen haben: Die Attraktivität eines kapitalistischen Lebens- und Konsummodells in den so genannten Schwellenländern bringt neue Spannungen hervor. Und neue Fragen für die Linke - etwa nach einem Modell globaler Solidarität, das nachholende Entwicklung auf der »südlichen« Seite und gerechtigkeitspolitische Ziele auf der »nördlichen« miteinander zu verknüpfen mag. Das alles besser zu begreifen, könnte für die hiesige Linke wichtiger sein, als ihre von mancher Polemik behauptete Neigung, die eigenen Kinder schon früh in den Chinesisch-Unterricht zu schicken, weil das im Lichte der globalen Rolle Pekings gute Aufstiegschancen bedeute. Apropos Schwellenländer: China steht nicht mehr an der Schwelle. Es ist längst dabei, über sie hinwegzugehen. Das von links kritisch zu beobachten und die Folgen zu begreifen, weil das die Voraussetzung für eigene Politik und Handlungsfähigkeit ist, reicht die alte Fertigkeit des »Zwischen-den-Zeilen-Lesens« sicher nicht aus. Man könnte es auch als Aufforderung an uns als Linke zu mehr Analyse formulieren: Mehr China, bitte. Mark Siemons: Die chinesische Verunsicherung. Stichworte zu einem nervösen System, Hanser Verlag 2017, 192 Seiten, 22 Euro.
Tom Strohschneider
Allzu eng war die Verbundenheit vieler westdeutscher Linker mit dem kulturrevolutionären China, eher nicht vorhanden die zwischen ostdeutschen Linken und dem Reich der Mitte. Warum ist das so?
China, Kapitalismus
Politik & Ökonomie
Politik Entwicklung Chinas
2017-07-07T14:36:45+0200
2017-07-07T14:36:45+0200
2023-01-22T09:07:07+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1056660.mehr-china-bitte.html
Kai Wegner: Lovestory mit offenem Ende
Jetzt ist es offiziell: Über seinen Anwalt bestätigte der Regierende Bürgermeister Kai Wegner (CDU) am Freitag seine Beziehung zu Schulsenatorin Katharina Günther-Wünsch (ebenfalls CDU). Zuvor hatten mehrere Medien über entsprechende Mutmaßungen berichtet. Wegner habe ihn gebeten, die Beziehung »aus Gründen der Transparenz zu bestätigen, um Klarheit für alle Beteiligten in der professionellen Zusammenarbeit sicherzustellen«, so Medienrechtsanwalt Christian Schertz, den Wegner mit seiner Vertretung beauftragt hat. Schon das Gerücht um Wegners Beziehung hatte Diskussionen um mögliche Interessenkonflikte ausgelöst. Kurz nach Wegners Mitteilung erklärte Bettina Jarasch, Fraktionsvorsitzende der Grünen im Abgeordnetenhaus, dass die Liebe zwischen den beiden Senatsmitgliedern »keine reine Privatsache« sei. »Es gibt absehbar Interessenkonflikte für die Zusammenarbeit im Senat. Das betrifft beispielsweise Konflikte zum Haushalt.« Befürchtet wird etwa, dass Wegner bei der Frage möglicher Kürzungen befangen sein könnte. Finanzsenator Stefan Evers (CDU) hatte alle Senatsverwaltungen aufgefordert, Pläne vorzulegen, wie die Pauschalen Minderausgaben im Landeshaushalt aufgelöst werden können. Wegner selbst hatte im Dezember aber noch erklärt, dass es in den Bereichen Innere Sicherheit und Bildung – also Günther-Wünschs Ressort – keine Kürzungen geben soll. »Unabhängig davon, dass eine derartige Konstellation keinen rechtlichen Bestimmungen widerspricht, ist es natürlich selbstverständlich, dass die Beteiligten im Zusammenhang mit ihrer Amtsführung Privates und Berufliches strikt trennen«, erklärte Wegners Anwalt Schertz zu dieser Frage. Anders als in der Verwaltung gibt es für die Politik tatsächlich keine gesetzliche Regelung zu dieser Frage. Von größerer Bedeutung ist, ob die Beziehung schon vor der Ernennung Günther-Wünschs im Mai bestand. Dann hätte Wegner seine Lebensgefährtin zur Senatorin ernannt, ohne dies transparent zu machen. In der Anwaltserklärung heißt es dazu, die Beziehung bestünde seit Herbst 2023. Verschiedene Medien berichteten dagegen unter Berufung auf Fraktionskreise, dass CDU-Politiker schon zu Beginn des Jahres eine besondere Nähe von Günther-Wünsch und Wegner beobachtet haben wollen.
Marten Brehmer
Jetzt ist es offiziell: Kai Wegner bekennt sich zu seiner Beziehung zu Schulsenatorin Katharina Günther-Wünsch. Die Opposition wittert Interessenkonflikte beim Haushalt und der Richtlinienkompetenz des Regierenden.
Bildungspolitik, Medienkritik
Hauptstadtregion
Berlin Landespolitik
2024-01-07T14:17:47+0100
2024-01-07T14:17:47+0100
2024-01-08T09:43:33+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1179020.landespolitik-kai-wegner-lovestory-mit-offenem-ende.html
Gentechnikverbot soll Ländersache werden
Das Verbot EU-weit zugelassener Genpflanzen soll nach dem Willen des Landwirtschaftsministers Christian Schmidt (CSU) nicht auf Bundesebene umgesetzt werden. Ein nationales Anbauverbot wie es verschiedene Landesagrarminister, aber auch das Bundesumweltministerium fordern, wäre damit vom Tisch. Die Bundesländer seien am besten in der Lage, die EU-rechtlich vorgesehenen Voraussetzungen rechtssicher zu erfüllen, sagte der CSU-Politiker der Deutschen Presseagentur. »Das Verbot soll nicht nur auf dem Papier stehen, sondern auch einer gerichtlichen Überprüfung standhalten.« Kürzlich hatte sich die EU darauf geeinigt, den Mitgliedstaaten mehr Spielraum zu geben, den Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen trotz europaweiter Zulassung auf ihrem Gebiet per Ausstiegsklausel zu verbieten. Bis zum Herbst soll das G... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Haidy Damm
Jetzt scheinen sich die Befürchtungen der Opposition zu bewahrheiten. Das Verbot von Gentechnik soll Ländersache werden.
Gentechnik
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt
https://www.nd-aktuell.de//artikel/962666.gentechnikverbot-soll-laendersache-werden.html
LINKE wirft CDU Verzögerungstaktik bei der Grundrente vor
Berlin. Die LINKE hat der CDU Verzögerungstaktik bei der Grundrente vorgeworfen. »Die CDU versucht mal wieder, die Einführung der Grundrente mit Scheinargumenten zu verzögern«, sagte Parteichef Bernd Riexinger der Nachrichtenagentur AFP am Freitag in Berlin. »Dass sie jetzt die fehlende Finanztransaktionssteuer als Hindernis anführt, ist blanker Hohn.« Seit Jahren ist die Bundesregierung nicht in der Lage, diese Steuer einzuführen, fügte Riexinger hinzu. Bei einem Bundeshaushalt von knapp 360 Milliarden Euro könne nicht behaupten werden, dass die 1,4 Milliarden Euro für eine Grundrente fehlten. Riexinger verwies darauf, dass die Bundesregierung Anfang der Woche einen Haushaltsüberschuss von 13,5 Milliarden Euro für das vergangenen Jahr verkündet hatte. Aus der Union hatte es nach Bekanntwerden des Referentenentwurfs von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) Kritik an dem Vorhaben gegeben. So hatte der Unions-Mittelstandspolitiker Carsten Linnemann (CDU) der »Bild« gesagt, für die Finanzierung gebe es keine Lösung. Die SPD will das Vorhaben mit der geplanten Finanztransaktionssteuer finanzieren. Die Grundrente sollen Geringverdiener bekommen, die mindestens 33 Jahre »Grundrentenzeiten« vorweisen können. Das sind vor allem Zeiten, in denen Pflichtbeiträge aufgrund einer Beschäftigung oder aufgrund von Kindererziehung und Pflegetätigkeit an die gesetzliche Rentenversicherung gezahlt wurden. Der Grundrentenzuschlag soll in einer Staffelung von 33 bis 35 Jahren ansteigend berechnet werden. Riexinger bekräftigte die LINKEN-Forderung nach einer solidarischen Mindestrente von 1050 Euro. Hinzu kommen müsse ein Mindestlohn von 13 Euro und die Anhebung des Rentenniveaus auf 53 Prozent. »Auch brauchen wir ein solidarisches Rentensystem mit einer Erwerbstätigenversicherung, in die alle einzahlen«, fügte der LINKEN-Chef hinzu. AFP/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Die LINKE hat der CDU Verzögerungstaktik bei der Grundrente vorgeworfen. Bei einem Bundeshaushalt von knapp 360 Milliarden Euro könne nicht behaupten werden, dass die 1,4 Milliarden Euro für eine Grundrente fehlten, sagte Parteichef Bernd Riexinger.
Bernd Riexinger, CDU, Grundrente, LINKE
Politik & Ökonomie
Politik Altersarmut
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1131608.altersarmut-linke-wirft-cdu-verzoegerungstaktik-bei-der-grundrente-vor.html
Null Bock auf Puma
Skandale bei der Bundeswehr ziehen sich regelmäßig und verlässlich über Monate und Jahre hin. Umso verdächtiger ist es, wenn jetzt beim Schützenpanzer Puma erst großer Alarm gemacht wird und die Lösung dann quasi umgehend bereit steht. Alle Puma-Panzer, die eigentlich bei der prestigeträchtigen Nato-Speerspitze eingesetzt werden sollten, meldete die Truppe vor Weihnachten defekt. Peinlich nur, dass sich die Masse der Fehler als Lappalien herausstellte und nun auch überprüft werden soll, ob die verantwortlichen Soldat*innen überhaupt den Hersteller angerufen und mit der Fehlerbeseitigung beauftragt haben. Dass die Truppe umgehend den etablierten Schützenpanzer Marder in den Nato-Einsatz melden kann, ist das Ergebnis der Zweigleisigkeit im Verteidigungsministerium. Selbstverständlich klappert man stets mit neuester Technik, wo man sich politisch verkaufen will. In einen möglicherweise echten Krieg, wie er jetzt vor der Haustür steht, will aber wohl niemand mit Material ziehen, das noch fehleranfällig ist und einen hohen zivilen Wartungsaufwand hat. Der eigentliche Skandal steckt nicht im Puma, sondern in solchen Taschenspielertricks der Generäle.
Daniel Lücking
Die besten Probleme sind immer die, für die es längst eine Lösung gibt. Das scheint auch beim Schützenpanzer Puma so zu sein, mit dem die Truppe offensichtlich in keinen Krieg ziehen will.
Meinung
Kommentare Nato
2023-01-01T16:42:35+0100
2023-01-01T16:42:35+0100
2023-01-02T12:26:04+0100
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1169772.nato-null-bock-auf-puma.html
Inkonsequent
Der Vorwurf ist kaum von der Hand zu weisen: Eritrea wird seit geraumer Zeit verdächtigt, die islamistische Shebab-Miliz in Somalia mit Waffen zu unterstützen. Das hat den UNO-Sicherheitsrat nun veranlasst, die Sanktionen gegen Eritrea zu verschärfen, auch wenn Asmara die Anwürfe selbstredend bestreitet. Waffenlieferungen in Konfliktgebiete gehören in der Tat durch den Sicherheitsrat sanktioniert - solange die Utopie einer waffenlosen Welt noch in weiter Ferne ist. Doch dabei sollte konsequent vorgegangen werden. Im Fall Somalia ist das offensichtlich nicht so. Denn dass in den Konflikt dort seit Jahren jede Menge Länder involviert sind und nicht nur Eritrea, ist allseits bekannt. Äthiopien, Jemen und Ägypten zumindest in der Ära Mubarak haben die Übergangsregierungen in Mogadischu mit Waffen in der Auseinandersetzung mit der Union islamischer Gerichtshöfe und ihr nahestehender Milizen wie der Shebab versorgt, während neben Eritrea auch Saudi-Arabien als Waffenlieferant für die Milizen angeprangert wird. Im Gegensatz zu Saudi-Arabien ist es beim säkularen Regime in Eritrea keine ideologische Nähe, die zur Unterstützung der Milizen animiert, sondern der Hass auf den Erbfeind Äthiopien, den das Land mit der Mehrheit der somalischen Bevölkerung teilt. Das Versagen der UNO und des Sicherheitsrates, dem 1991 einsetzenden Staatszerfall in Somalia politisch entgegenzusteuern, lässt sich durch einseitige Sanktionen nicht kompensieren. Es ist eine bittere Ironie der Geschichte, dass islamische Milizen vor 1991 ein weithin unbekanntes Phänomen waren. Sanktionen können sie nicht mildern.
Redaktion nd-aktuell.de
Kommentar von Martin Ling
Bürgerkrieg, UNO
Meinung
Kommentare
https://www.nd-aktuell.de//artikel/212795.inkonsequent.html
Unmut in Potsdam über polnische Ölpolitik
Erst vor wenigen Monaten beschloss der Landtag auch mit Unterstützung der oppositionellen Linksfraktion, die Freundschaft zu Polen in der Landesverfassung zu verankern. Nachdem bekannt wurde, dass Polen entgegen ihrer eigenen Versicherung weiter Öl aus Russland bezieht und Deutschland mit seinem Boykott allein und im Regen stehen lässt, äußerte sich in Potsdam beträchtlicher Unmut. Die Bundesregierung habe Deutschland von der russischen Abhängigkeit in die polnische befördert, tadelte am Dienstag Linksfraktionschef Sebastian Walter. Und sie habe unverbindliche Absichtserklärungen Polens als Vertrag ausgegeben. Polen habe durch diese Politik die Möglichkeit der massiven Erpressung »und tut es an allen Ecken und Enden«, ließ Walter wissen. Nachdem Polen entgegen seiner Zusage nun doch weiter Öl in Russland kaufe, sollte dieser Weg für Deutschland nicht mehr verschlossen bleiben. »Wir haben immer gesagt, wir wollen auf russisches Öl verzichten«, unterstrich Walter. Die Voraussetzung dafür wäre aber eine anderweitige sichere und verlässliche Belieferung von Schwedt mit Rohöl. »Das aber wird auch zu Ostern noch nicht gegeben sein.« Walter sprach von einem »Verwirrspiel«, das mit der für Ostdeutschland enorm wichtigen Raffinerie in Schwedt getrieben werde. Zwar laute die neueste Meldung, dass punktuell eine 70-prozentige Auslastung gegeben sei, doch würde sich das Bild ständig ändern. Die Bundesregierung habe die Versorgung der Raffinerie über den polnischen Hafen Gdańsk bekannt gegeben, doch ein Schiff des Erdölriesen Shell sei dort nicht gelöscht worden, sondern habe umständlich nach Rostock zurückfahren müssen, um dort seine Ladung erst auf kleinere Schiffe und dann in die Speicher zu verteilen. Laut Walter versucht die polnische Regierung auf diese Weise erpresserisch durchzusetzen, dass sie Geschäftsanteile an der Raffinerie erhält. Bevor nicht der polnische Erdöl-Staatskonzern über diese Anteile verfügt, leitet Polen kein Öl nach Schwedt, zeigte sich Walter sicher. Für diese unklare und riskante Situation würden nicht nur Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck und sein Staatssekretär Michael Kellner (beide Grüne) die Verantwortung tragen, sondern auch Brandenburgs Wirtschaftsminister Jörg Steinbach und der Ministerpräsident Dietmar Woidke (beide SPD). Kein Verständnis zeigte Walter dafür, dass der Bund eine weitere Pipeline von Rostock nach Schwedt nicht bezahlen wolle. Schon hätten die ersten 50 Mitarbeiter ihren Job in Schwedt gekündigt, weil sie kein Vertrauen in die Zukunft mehr hätten. Auch der CDU-Fraktionsvorsitzende Jan Redmann zeigte sich »sehr irritiert« hinsichtlich der polnischen Politik. Da Polen nicht dementiert habe, müsse man davon ausgehen, dass es weiter russisches Öl beziehe. An die Bundesregierung richte sich seine Erwartung, »klarzustellen, dass der Verzicht auf das russische Pipeline-Öl kein deutscher Alleingang sein kann«. Eine gemeinsame Position gegenüber Russland sei nur dann wirksam, wenn »wir gemeinsam handeln und uns wechselseitig auf Zusagen der Partner verlassen können«. Entspannter sieht der Grünen-Abgeordnete Clemens Rostock die Lage: Die Grundauslastung für Schwedt sei stabil gegeben. Was zusätzliche Lieferungen von kasachischem Rohöl betreffe, »sind die Gespräche auf gutem Wege«. Sicher, die derzeitige polnische Regierung sei »nicht einfach«, bestätigte er. »Doch werden wir die Freundschaft zu Polen jetzt nicht wieder aus der Verfassung streichen.«
Matthias Krauß
Polens Politik in der Frage des russischen Erdöls wird in Potsdam nicht toleriert. Inzwischen sprechen manche sogar von Erpressung. Das Nachbarland kauft offensichtlich weiterhin in Russland ein.
Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Polen, Rostock, Russland, Schweden
Hauptstadtregion
Berlin Erdöl
2023-02-07T18:08:21+0100
2023-02-07T18:08:21+0100
2023-02-08T15:06:18+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1170800.erdoel-unmut-in-potsdam-ueber-polnische-oelpolitik.html
Unten Links
Es ist doch wohl ein niedlicher Zufall, dass das Hormon Adrenalin in den sogenannten sympathischen Ganglien gebildet wird. Eigentlich dazu gedacht, auf der Flucht vor dem Säbelzahntiger noch mal die letzten Energiereserven zu mobilisieren, statt bräsig in der Höhle seines Schicksals zu harren, ist es heute, wie so vieles, seiner eigentlichen Funktion beraubt. In Fachkreisen spricht man deshalb auch vom »Action-Hormon«. Wir stürzen uns an Seilen von Brücken, rasen auf frisierten Dreirädern im Urlaub in Abu Dhabi durch die Wüste und überall ist Adrenalin im Spiel. Überlebensnotwendig ist inzwischen nur der Spaß. Adrenalin wird auch bei Alkoholkonsum ausgeschüttet. Die »Tagesschau«-Moderatorin Judith Rakers hat kürzlich gestanden, dass sie schon mal angetütert die Nachrichten moderiert hat, weil sie sich im Schichtplan geirrt und vorher beim Italiener ordentlich einen reingeschnäppert hatte. Innerhalb von neun Minuten sei sie ins Studio gerast und habe souverän die News wegmoderiert, keiner hat was gemerkt. Und warum: Adrenalin sei Dank! Vielleicht lag es aber auch schlicht am Grappa. cod
Redaktion nd-aktuell.de
Unten links
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1153318.unten-links.html
Eine Woche vor Ostern: Auftakt der Ostermärsche in Potsdam
Mahnwachen für den Frieden gibt es irgendwo in Deutschland alle Tage. Doch der erste Ostermarsch des Jahres, den das Netzwerk Friedenskooperative in seinem Terminkalender verzeichnet, findet am 23. März in Potsdam statt. Das ist keine Überraschung. Denn in dieser Stadt gibt es den Ostermarsch traditionell schon am Wochenende vor Ostern, damit die Teilnehmer auch zum Berliner Ostermarsch fahren können. Früher wollte man insbesondere dem Ostermarsch in der Kyritz-Ruppiner Heide keine Konkurrenz machen. So komme es, dass der Potsdamer Ostermarsch der Auftakt zu den bundesweiten Ostermärschen sei, erklärt Michael Meixner, Sprecher der Friedenskoordination Potsdam (Friko). Die Friko gründete sich 1999, als die Nato Restjugoslawien angriff. In Potsdam fühlt die Friedensbewegung eine besondere Verantwortung. Schließlich hatte 1945 von hier aus US-Präsident Harry S. Truman den Abwurf von Atombomben auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki angeordnet. Heutzutage sehen manche die Gefahr, dass sich der Krieg in der Ukraine zu einem Dritten Weltkrieg ausweitet und in eine atomare Vernichtung der Erde mündet. Im vergangenen Jahr waren trotz Regen 350 Menschen zum Potsdamer Ostermarsch gekommen. Das seien gut 150 mehr gewesen als in den Jahren zuvor, sagt Meixner. Den bevorstehenden Ostermarsch hat er nach eigener Auskunft für 300 Teilnehmer bei deBei einem der Ostermärrsche im vergangenen Jahr Polizei angemeldet. Bei der Auftaktkundgebung am 23. März um 15 Uhr am Brandenburger Tor in Potsdam soll der China-Experte Wolfram Adolphi sprechen – obwohl sich der Kreisverband der Linken im vergangenen Jahr aus der Friedenskoordination verabschiedete. Es war seit 2021 zu einer Entfremdung gekommen. Besiegelt wurde die Trennung dann am 9. Februar 2023 durch einen einstimmigen Beschluss des Kreisvorstands. nd.Muckefuck ist unser Newsletter für Berlin am Morgen. Wir gehen wach durch die Stadt, sind vor Ort bei Entscheidungen zu Stadtpolitik – aber immer auch bei den Menschen, die diese betreffen. Muckefuck ist eine Kaffeelänge Berlin – ungefiltert und links. Jetzt anmelden und immer wissen, worum gestritten werden muss. Der Vorwurf der Linken: Bei Veranstaltungen der Friko sei es immer wieder zu problematischen Aussagen gekommen. So sei die Corona-Pandemie geleugnet, dem serbischen Präsidenten und Kriegsverbrecher Slobodan Milošević (1941-2006) Repekt gezollt und Solidarität mit dem belarussischen Diktator Alexander Lukaschenko bekundet worden. Außerdem gebe es Kräfte, die vom Frieden sprechen, aber die russische Attacke auf die Ukraine von Februar 2022 »leugnen, relativieren und legitimieren«. Auch vor dem diesjährigen Ostermarsch ist es zu keiner Wiederannäherung gekommen. Der Kreisvorstand habe zwar auf seiner Sitzung am 7. März ausführlich über das Thema gesprochen, aber dazu keinen neuen Beschluss gefasst, berichtet Kreisgeschäftsführer Steffen Lehnert. Es habe dazu aber auch keinen Antrag gegeben, über den der Vorstand hätte abstimmen können. Lehnert ist noch wichtig zu bemerken, dass Wolfram Adolphi zwar Mitglied der Potsdamer Linken sei, aber auf dem Ostermarsch nicht für den Kreisverband spreche. Adolphi ficht das nicht an. »Ich bin von 1971 bis 1975 am DDR-Institut für internationale Beziehungen in Potsdam-Babelsberg als Diplomat für Frieden, Entspannung und Abrüstung ausgebildet worden, habe bis 1989 unter anderem in Paris, Peking und Tokio beruflich genau in diesem Sinne gearbeitet und mich seither immer wieder in ebenfalls genau diesem Sinne öffentlich geäußert«, erinnert Adolphi. Dass der Kreisvorstand seiner Partei damit nichts anfangen könne, bedauere er sehr. Aber er fühle sich den Bürgern der Stadt Potsdam und seinen 15 Enkelinnen und Enkeln verpflichtet, für einen sofortigen Waffenstillstand, Friedensverhandlungen und Abrüstung einzutreten, sagt der 73-Jährige. Dass der von der Linken zur neuen Wagenknecht-Partei BSW gewechselte Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko gegen 17 Uhr bei der Abschlusskundgebung des Ostermarschs am Brandenburger Tor sprechen soll, stört Adolphi keinesfalls. »Mit Andrej Hunko habe ich seit langem friedenspolitisch übereinstimmende Positionen. Ich freue mich, dass er nach Potsdam kommt«, erklärt Adolphi. »Ich habe Wichtigeres zu tun, als mich in Gegnerschaft zu BSW-Mitgliedern zu ergehen.« Es ist auch nicht so, dass Adolphi als Linker beim Ostermarsch allein wäre. Die vor einigen Wochen gegründete Arbeitsgemeinschaft Frieden des Kreisverbandes unterstützt den Aufruf. »Auf lange Sicht gelingt eine friedliche Welt nur mit Russland und China«, heißt es darin. Gefordert werden eine Beendigung der Kampfhandlungen in der Ukraine und in Nahost, ein Stopp sämtlicher Waffenlieferungen in Kriegsgebiete, der Abzug aller Atomwaffen aus Europa, die Aufhebung der gegen Russland verhängten Sanktionen und der Verzicht auf eine Wiedereinführung der in Deutschland ausgesetzten Wehrpflicht. Investiert werden soll nicht in Rüstung und Militär, sondern in Bildung, Soziales, Gesundheit, Pflege und Infrastruktur.
Andreas Fritsche
Am 23. März dreht der Potsdamer Ostermarsch eine Runde durch die Innenstadt. Die Linke bleibt nur in Teilen auf Abstand. Anders als der Kreisvorstand unterstützt die AG Frieden im Kreisverband den Aufruf.
Brandenburg, Friedensbewegung, Ostermarsch
Hauptstadtregion
Berlin Friedensbewegung
2024-03-14T16:49:44+0100
2024-03-14T16:49:44+0100
2024-03-15T16:43:30+0100
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1180707.friedensbewegung-eine-woche-vor-ostern-auftakt-der-ostermaersche-in-potsdam.html?sstr=Ostermärsche
Wie Rassismus und Sexismus
Ableismus ist ein Begriff, der in Deutschland weitestgehend unbekannt ist. Wenn ich ihn benutze, blicke ich in den meisten Fällen in fragende Gesichter oder schiebe sofort eine Erklärung hinterher: Ableismus beschreibt die systematischen Diskriminierungserfahrungen behinderter Menschen. Also Erfahrungen, die in Deutschland Millionen von uns tagtäglich machen müssen. Wenn wir dann darüber reden wollen, fällt jedoch oft nur der Satz: »Wir sind doch alle ein bisschen behindert.« Es wird der Versuch unternommen, unser Erleben unsichtbar zu machen, indem unsere Erfahrungen schlicht individualisiert werden. Nach dem Motto: »Das ist nicht schlimm, das passiert jedem einmal.« Ja, jede*r verpasst einmal die Bahn, aber nicht jede*r muss regelmäßig mit kaputten Fahrstühlen oder nicht barrierefreien Zügen kämpfen und grundsätzlich für alle Wege 30 Prozent mehr Zeit einplanen. Um solchen Individualisierungsversuchen entgegenzutreten, kann der Begriff Ableismus hilfreich sein. Es ist wichtig, ihn bekannter zu machen. Ableismus beschreibt ein System, das Menschen aufgrund ihrer (vermeintlichen) Fähigkeiten bewertet. Nichtbehinderung wird dabei als erstrebenswerte gesellschaftliche Norm verstanden, an der sich behinderte Menschen zu orientieren haben. Ganz praktisch kann das für uns bedeuten, dass - sollten wir es nicht schaffen, uns den gesellschaftlichen Anforderungen anzupassen - wir in Sondersystemen wie Heimen, Förderschulen oder Behindertenwerkstätten landen. Wir also systematisch ausgebeutet und uns Bildungschancen verwehrt werden. Ableismus ist wie Rassismus und Sexismus ein System, in welches wir alle hineingeboren werden. Es prägt von Kindheit an unser Denken, Fühlen und Handeln. Deshalb kann auch niemand frei von Ableismus sein. Gleichzeitig heißt das, dass im Gegensatz zur Behindertenfeindlichkeit, die explizit feindliches Verhalten gegenüber behinderten Personen beschreibt, Ableismus nicht unbedingt explizit feindlich sein muss. Wenn mich fremde Menschen ungefragt duzen, oder mir flüchtige Bekannte zum Abschied wie bei einem Kind über den Kopf streicheln, hat das nichts offensichtlich Feindliches, wie etwa eine Beleidigung. Ableistisch ist das Verhalten jedoch trotzdem, weil es mich als Mensch aufgrund meiner Behinderung abwertet. Ich werde nicht als erwachsene Person wahrgenommen, sondern in die Rolle eines unmündigen Kindes gedrängt, welches offensichtlich ungefragt angefasst werden darf. Ähnlich ist es mit Gehbehinderungen. Sie werden nahezu immer als individuelles Problem einer Person betrachtet, das es mit Hilfe von geeigneten Therapien zu lösen gilt. Die Nutzung eines Rollstuhls wird hierbei dann oft als Schicksalsschlag oder dramatischer Bruch in der Biografie der betroffenen Person beschrieben; als ein Ereignis, welches zu Abhängigkeit führt, und was es unbedingt zu vermeiden gilt. Auch das ist ableistisch, weil gesellschaftliche Normen teils systematisch über die Gesundheit und die Freiheit der oder des Einzelnen gestellt werden. Denn für mich bedeutet der Rollstuhl gerade das: ein freies und unabhängiges Leben nach meinen Vorstellungen und in Abwesenheit von Schmerzen führen zu können. Zum Vergleich: Autofahren wird im Gegensatz zum Rollstuhl als Mittel der Fortbewegung sozial absolut akzeptiert, denn das Auto wird auch von nichtbehinderten Personen selbstverständlich genutzt. Niemand würde also auf die Idee kommen, die Nutzung eines Autos als Einschränkung zu betrachten und zu problematisieren. Allein die Vorstellung ist geradezu absurd. Behindert arbeiten. Mehr als 300 000 Menschen mit Behinderung arbeiten in Deutschland für sehr wenig Geld in sogenannten Werkstätten. Um Diskriminierung und persönliche Abwertung zu erkennen und sich den dahinterstehenden Normen bewusst zu werden, ist der Begriff Ableismus also sehr wichtig. Er kann behinderten Menschen dabei helfen zu erkennen, dass die alltäglichen Erfahrungen, die sie machen, nicht einfach individuelle Erlebnisse sind, sondern, dass es sich um strukturelle Diskriminierung handelt. Nichtbehinderten Menschen hingegen bietet sich so die Chance, ihr Verhalten in einem anderen Licht zu betrachten und das eigene Denken und Handeln vielleicht einmal kritisch zu überdenken.
Verena Borchert
Diskrimierungserfahrungen behinderter Menschen dürfen nicht individualisiert werden, denn dahinter steckt wie bei Rassismus und Sexismus ein System. Der Begriff Ableismus kann das deutlich machen. Wir sollten ihn mehr nutzen, meint Verena Borchert.
Ableismus, Antidiskriminierung, Behinderung, Rassismus, Sexismus
Meinung
Kommentare Ableismus
2021-04-26T16:36:01+0200
2021-04-26T16:36:01+0200
2023-01-20T22:54:57+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1151248.wie-rassismus-und-sexismus.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
Streikende in Hollywood: Gegen die Ausbeutung
Es ist nicht ganz einfach, sich Brad Pitt und Katie Holmes Fahnen schwenkend und Arbeiterlieder schmetternd im Gewerkschaftsoutfit vor Hollywood-Studios vorzustellen. Überhaupt erschien der Darsteller*innenstreik, der seit Monaten die Traumfabrik lahmlegte, für Film- und Serienverschiebungen und in den USA für ausgefallene Fernsehshows sorgte, vielen eher surreal, hat doch der geneigte Netflix-Konsument eher Glamour und Jetset vor Augen, wenn er an Hollywood-Schauspieler*innen denkt. Dennoch kam es genau dazu: Es waren zwar nicht die ganz großen Stars beteiligt, aber zu regelmäßigen Demonstrationen vor den Firmensitzen der milliardenschweren Produktionsfirmen versammelten sich die Gewerkschaftsmitglieder und Arbeitskämpfer*innen durchaus. Naturgemäß ging es bei der Arbeitsniederlegung der US-amerikanischen Schauspieler-Gilde weniger um die Millionengehälter der Superstars, als vielmehr um die zum Teil durchaus mickrigen Honorare von Nebendarsteller*innen und Statist*innen, deren Existenz in dem schillernden Business prekärer ist, als man sich das vorstellt. »Die meisten unserer 160 000 Mitglieder kämpfen ums Überleben. Sie verdienen keine 26 000 Dollar im Jahr, um sich eine Krankenversicherung zu leisten«, erklärte etwa Duncan Crabtree-Ireland, einer der Verhandlungsführer der Schauspielergewerkschaft SAG-AFTRA, wie tagesschau.de berichtete. Schon angesichts der schieren Anzahl der vertretenen Künstler*innen – von den Streikmaßnahmen waren rund 65 000 Gewerkschaftsmitglieder betroffen – lässt sich erahnen, dass es hier um eine ganze Branche geht, deren Protagonist*innen auf faire Lohnregelungen und Verwertungsrechte angewiesen sind. Zuletzt lieferte hierzulande im Jahr 2022 der Film »The Case You« einen Einblick in die prekären Verhältnisse von Schauspielerinnen und die Art, wie diese ausgenutzt werden. Noch prominenter wurde im Metoo-Skandal um Harvey Weinstein deutlich, dass die missbrauchten Künstlerinnen sich die Avancen und Übergriffe des Moguls zum Teil gefallen lassen mussten, weil vom Wohlwollen des Kapitalisten ihre Existenz abhing. Der nun mit einer Einigung zu Ende gegangene Schauspieler*innenstreik richtete sich auch gegen genau solche Zustände und zugleich ist der in aller Öffentlichkeit ausgetragene Disput zwischen Mehrwertproduzentinnen und Produktionsmittelbesitzerinnen in diesem Fall ein beeindruckender und überaus erfreulich medienpräsenter Klassenkampf. Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen. Das Film- und Unterhaltungsgeschäft ist bekanntlich ein Milliardenbusiness, und wo Geld gescheffelt wird, ist Ausbeutung der basalen Produzent*innen nicht weit. Insofern funktionieren Film- und Serienproduktionen letztlich nach den gleichen Regeln wie die Herstellung von Autos oder Smartphones. Es mag zu Recht eingewendet werden, dass der Verkauf der Ware Arbeitskraft im Kunstbereich etwas voraussetzungsreicher ist als bei Arbeitskräften am VW-Fließband, da hier Talent, also Fähigkeiten, die nicht ohne weiteres erlernbar und reproduzierbar sind, eine Rolle spielen. Aber auch in der Unterhaltungsindustrie gibt es »stille Reserven« an Arbeitskräften, die den Produktionsmittelbesitzern umfängliche Macht und die Möglichkeit verleihen, Löhne zu drücken. Auch im sogenannten Entertainment geht es unter kapitalistischen Bedingungen also um nichts anderes als um Mehrwertakkumulation. Allein Netflix erzielte im dritten Quartal 2023 einen Umsatz von über 8,5 Milliarden US-Dollar und machte dabei 1,7 Milliarden Dollar Gewinn. Wie üblich sind diese Gewinne nichts anderes als von Kapitalisten einbehaltene Wertproduktion der Arbeiter*innen am Set und in der Produktion. Dieses Milliardengeschäft ist inzwischen hart umkämpft und wie in allen anderen Bereichen kapitalistischen Wirtschaftens findet die Konkurrenz auch hier in erster Linie durch Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft statt. Obwohl es in den Verhandlungen wie erwähnt durchaus auch um den Einsatz von KI ging, mit der Schauspieler*innen ersetzt werden können, ist es recht einsichtig, dass deren Arbeit nur eingeschränkt durch effektivere Produktionsprozesse veredelt werden kann, sodass die Ausbeutung hier hauptsächlich über den Lohn stattfindet. Und wie in allen anderen Wirtschaftszweigen können die Beschäftigten dagegen nur vorgehen, wenn sie sich gegen das Kapital organisieren. Nichts anderes haben die Hollywood-Schauspieler*innen nun getan. Die Darsteller*innen der zweiten und dritten Reihe zeigten, unterstützt durch Millionenspenden von Stars wie Leonardo Di Caprio oder Steven Spielberg, dass es auch in einer Branche, in der man es kaum erwartet, um Ausbeutung und existenzielle Zukunftsängste geht und dass man dagegen nur solidarisch vorgehen kann. Mit Erfolg, wie es aussieht. Denn offenbar wurden in dem ausgehandelten Vertrag mit den großen Studios deutliche Verbesserungen für die Kunstarbeiter*innen und ein besserer Schutz vor der Aneignung durch Künstliche Intelligenz erzielt. Die finanziellen Risiken für die Studios, die ohne fortwährende Film- auch auf Mehrwertproduktion verzichten müssen, wurden offenbar so groß, dass sie sich auf den Deal einlassen mussten. Es bleibt die Hoffnung, dass sich auch die Angestellten anderer Branchen von den klassenkämpferischen Leinwandheld*innen inspirieren lassen. Denn die große Fetisch-Metapher des unbewusst in der eigenen Hand befindlichen Revolvers aus dem 90er-Jahre-Klassiker »Fight Club« gilt im Kapitalismus überall und immerzu: ohne menschliche Arbeit keine Wertproduktion, ohne Arbeit kein Kapital, ohne Arbeiter keine Kapitalisten und auch keine Milliardengewinne.
Nicolai Hagedorn
Wie in allen anderen Wirtschaftszweigen können die Beschäftigten gegen ihre Ausbeutung nur vorgehen, wenn sie sich gegen das Kapital organisieren. Nichts anderes haben die Hollywood-Schauspieler*innen nun getan.
Film, Kapitalismus, Kapitalismuskritik, Klassenkampf, Streik, Theater
Feuilleton
Kultur Klassenkampf und Hollywood
2023-11-10T14:23:30+0100
2023-11-10T14:23:30+0100
2023-11-12T12:13:44+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1177660.streikende-in-hollywood-gegen-die-ausbeutung.html
Punkrock war mal ein Versprechen
Punkrock hat – wie eigentlich jede linke Strömung – auch ein sehr bürgerliches Moment. In all dem Polemisieren gegen System, Herrschaft und Bullenschweine liegt nicht nur der Rausch des Sozialrebellentums, sondern auch das Versprechen des Nonkonformismus: frei und ohne Bedrängnis leben zu können. Deshalb ist es wohl auch so gekommen, dass die Tragik und auch Komik der Kämpfe um Unangepasstheit ihre eigenen Wege gegangen ist. Einer dieser Wege wurde von der längst vergessenen Hamburger Band ROH beschritten. Vor 25 Jahren legten sie vom tragikomischen Moment des Punkrock ein unscheinbares Zeugnis ab: Mit ihrem Debütalbum »Wie krieg ich die Zeit bis zu meiner Beerdigung noch rum«, das sie 1996 veröffentlicht hatte, ging die Band im Herbst 1997 auf Tour – in klassischer Dreimannbesetzung bespielten sie kleinste Bühnen. Das dilettantisch anmutende Video-Tourtagebuch, das damals im Auftrag des NDR zusammengeschnitten wurde, erzählt, was zum Ende der Neunzigerjahre aus dem Versprechen des Punk geworden war: Es gibt durchaus die »Wir gegen die Welt«-Stimmung des Banddaseins, Exzesse und übertriebene Rebellengesten, aber auch die Traurigkeit leerer Bühnen ebenso wie den Rausch, wenn das Publikum die Texte mitsingen kann, die persönlichen Notlagen, die den banalsten Songs zugrunde liegen, die unerfüllten Träume und der Trotz, daran festzuhalten. Den Film gibt es in widrigster VHS-Qualität auf Youtube zu sehen, die Band hat sich wenige Jahre später aufgelöst und könnte einfach so vergessen werden – wenn deren Geschichte in ihrer Unscheinbarkeit nicht so spektakulär wäre. Sie reicht von der Neuen Deutschen Welle bis nach Hollywood. Auf der Wikipediaseite der Band heißt es, ROHs Debut sei »ein recht typisches Album einer Rockband«, mit »Songs über Tod, Schokolade und die Kelly Family«. Tatsächlich beginnt es damit, dass Sänger Lukas Hilbert den spärlichen Erfolg der Band ironisch damit kommentiert, dass er »nicht mehr mit der Kelly Family verwechselt werden« möchte. Diese Absurdität und das Verspotten der Bürgerlichkeit zieht sich durch die Tour, in deren Mittelpunkt die beiden Frontmänner Hilbert und Carsten Pape stehen. Pape ist Exzentriker und ein alter Hase auf der Bühne, der hier seinen zweiten Frühling erlebt, für den er das bürgerliche Familienleben hinter sich lassen wollte. Später sieht man ihn seine Kinder besuchen, zu denen er nun eine viel bessere Beziehung habe, seitdem er nicht mehr zu Hause sei, wie er meint. Ein wenig väterlich betreut er auch Lukas Hilbert, der beständig über die Stränge schlägt und wieder in depressiven Episoden zu versinken scheint. Hilbert springt mit schriller Stimme wie ein Kobold von der Bühne, schreit das Publikum an und will sich prügeln. Oder er spielt fragil seine Liebeslieber wie »Du brennst immer noch in mir« am Klavier. Die zahlreichen Konzertschnipsel des Tourtagebuchs vermitteln unfreiwillig etwas von der Katerstimmung des Punkrock, der eigentlich nur noch eine halbironische Anspielung auf sich selbst war. Aber immerhin eine, die ein bisschen gesellschaftlichen Freiraum versprach. Hilbert zerschlägt hier und da mal eine Gitarre, kreischt in die Menge und verharrt manchmal unangenehm lange in der Verkörperung des destruktiven Nihilisten. Beim damals großen Musikhandel World of Music macht die Band Radau, um auf ihre Platte aufmerksam zu machen, und zieht Passanten unfreiwillig mit ins Gespräch. Durch die U-Bahn laufen sie singend oder pöbeln Leute an. Die Bilder sind eine Erinnerung an eine Unangepasstheit, die heute nur noch als Übergriffigkeit oder im Wahnsinn existiert. Aber auch bei der Band hat es etwas Gezwungenes. Man merkt ihr an, dass sie diese Antihaltung unbedingt durchziehen wollen, dass es existenzielle Bedeutung hat. Ihre Songs sind hingegen trivial, tendieren zum Schlager (was sie auf dem dritten Album dann auch tatsächlich werden) und biedern sich der Gesellschaft an, mit der und ohne die man doch nicht kann. Der albumtitelgebende Song besingt die Sinnlosigkeit des gesellschaftlichen Daseins, in dem man seine Zeit bis zur Beerdigung noch rumkriegen müsse. Aber nichts bewahrt die eigene Musik davor, nicht auch nur eine dieser Belanglosigkeiten zu sein. Außer, dass sie den Bandmitgliedern mehr ermöglicht: mehr Freiraum und mehr Träume. Wenn die Band nachts auf der Reeperbahn aus dem Studio kommt und sich über ihre Platte freut, so ist klar, auch sie wollen den Erfolg haben. Das alles könnte jede beliebige Rockband oder jeder Kleinjungentraum gewesen sein. Aber die Geschichte von ROH hat skurrile Kapriolen geschlagen und sich damit über die Band selbst verlängert. Der bürgerliche Traum überlebt hier gewissermaßen das Rockerrebellentum. Carsten Pape etwa war bereits Ende der 1980er Jahre Frontmann der NDW-Band Clowns & Helden gewesen, deren damaliger Hit »Ich liebe Dich« von Lukas Hilbert dann auf ROHs drittem Album »ROHmantisch« (2000) gecovert wurde. Aus einer solchen Perspektive ist klar, dass die Musik hier weniger Ausdruck des Unangepassten, sondern ein individueller Weg zu Anerkennung ist. Die No-Future-Attitüde des Punk ist Koketterie. Pape hat eine Vergangenheit, und wer könnte es ihm verübeln, dass er auch eine Zukunft haben will? Ist er dafür nicht mit Anfang 40 noch einmal auf Tour gegangen? Die Band ist ihren Anleihen beim Punkrock keinesfalls treu geblieben, vermutlich, weil sie sich etwas anderes davon versprochen hatten. Die Distanzierung von der falschen Hoffnung auf Freiheit in der Unangepasstheit verläuft daher konsequent über die Selbstironie. Bereits auf ihrem ersten Album schrieben sie den Song »Heut ist mein Tag«, der nur durch die Coverversion der Happy-Hardcore-Popsängerin Blümchen berühmt wurde. ROHs zweites Album hingegen bestand zu großen Teilen aus der Vertonung von Briefen an das Dr. Sommer-Team der »Bravo«, wie etwa »Onanie ist voll in Ordnung, egal wie alt du bist«. Das dritte Album schließlich war musikalisch wie textlich im Pop gelandet und fand mit androgyner Doppelbödigkeit auch Anklang in queeren Kreisen. Aber die Band war weder erfolgreich noch in irgendeiner Szene angekommen. Einer der Songs auf »ROHmantisch« veralbert die Verbrüderung der Bands der damals in Indie-Kreisen populären »Hamburger Schule«, etwa, wenn Hilbert davon singt, er habe in dieser Schule sein »Handy verloren« und würde nun deren Zorn spüren, weil er gelästert habe. Selbst dieser Club der Außenseiter will ROH nicht aufnehmen. Für die künstlerische Avantgarde waren ROH aber auch zu unintellektuell, zu wenig mit Weltschmerz und stattdessen mit einfachen Sorgen wie Liebeskummer und Sex befasst. ROH beschreiten deshalb konsequent den Weg in die Populärkultur, wo zwischen aller Massenware und Konformismus immer auch Raum für Unangepasstheiten ist. Wenn Lukas Hilbert über seinen Liebeskummer singt, dieser sei »wie ein kleines Licht, das man nie ganz auskriegt«, gilt das auch für seine Suche nach Erfolg. ROH verschwinden von der Bildfläche. Zuletzt waren sie mit Peter Maffay im Studio und hatten mit dem Musikerkollegen Lotto King Karl noch hier und da ein Projekt absolviert, wie die Teilnahme am Grand Prix-Vorentscheid im Jahr 2000. Lukas Hilbert ging alleine den Weg weiter, den ROH gewissermaßen vorgezeichnet hatte. Wie das Promi-Magazin »Gala« im Dezember 2012 diesen Werdegang zusammenfasste, habe er »den amerikanischen Traum« gelebt. Sprich, er hat sich im Bestehenden hochgearbeitet. 2004 saß er in Jury des Castingformats »Popstars«, streichelte seinen Mops und wirkte wie ein schratiger Emo. Dazu schrieb er Songs für Maffay, Nena oder Yvonne Catterfeld, nahm an Viva- oder Stefan Raab-Shows teil und sang an der Seite von Oli P. Mittlerweile lebt Hilbert unter dem Namen Lukas Loules in Los Angeles als Produzent und Songwriter für die zu Musik gewordene Mittelmäßigkeit. Auf den ersten Blick passen diese Dinge nicht zusammen: Einerseits der offensichtliche Drang nach Erfolg und der Wunsch, irgendwo mitmischen zu können und seien es nur die kulturindustriellen Abfallprodukte von Big Brother-Soundtracks, Alex C.-Pornomusikproduktionen oder dem Rockausverkauf der Udo Lindenbergs und Peter Maffays. Andererseits die Wut und der Schmerz, den sich Hilbert als 25-Jähriger von der Seele schreit, und die Zerbrechlichkeit, mit der sich der Schnulze hingegeben wird. Vielleicht ist beides der Ausdruck des Wunsches, ein Leben zu haben, das man führen kann. Als die Band von ihrer 97er Tour zurück nach Hamburg kam, sagt Hilbert im Video zu seinen Bandkollegen, dass er mit sich selbst nicht klarkomme. »Wir lieben deine Schwächen«, entgegnet ihm Pape daraufhin. Es ist sehr einfach, die Entwicklung Hilberts als Beweis dafür zu nehmen, dass ROH eben nie wirklich Punkrock waren, dass es nur ein beliebiges Image war, das eine Zeit lang etwas Erfolg versprach und mit den Moden verging, wie die Billigohrwürmer in den Single-Charts. Oder man gesteht sich ein, dass etwas vom Wunsch nach Unangepasstheit und Freiheit – trotz der Beschissenheit der Verhältnisse – in der bürgerlichen Gesellschaft immer noch besser aufgehoben ist, als im Wahnsinn, sich für abstrakte Ideale aufzuopfern. Und sei es eben für den Punk.
Alex Struwe
Punkrock, wie haste dir verändert! Aber früher war es auch nicht so gut: Ein Rückblick auf die Hamburger Band ROH, die vor 25 Jahren »Wir gegen die Welt«-Stimmung verbreitete. Ihr Scheitern war exemplarisch.
Musik, Punk
Feuilleton
Kultur Punk
2022-12-05T16:28:23+0100
2022-12-05T16:28:23+0100
2023-01-20T16:48:45+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1169088.punk-punkrock-war-mal-ein-versprechen.html
Der große Afghanistan-Schwindel
Ihre Antwort ist blanke Ironie, dabei verzieht Mariam Rawi keine Miene: Auf die Frage, was der Sturz der Taliban gebracht hat, antwortet sie: »Früher kamen nur fünf Prozent der globalen Opiumproduktion aus Afghanistan, jetzt sind es über 90 Prozent. Von 30 Millionen Menschen im Land sind drei Millionen drogensüchtig und acht Millionen erwerbslos. Alle 30 Sekunden stirbt eine Frau wegen mangelnder medizinischer Versorgung. Laut einigen Studien ist Afghanistan für ein weibliches Kind der schlimmste Ort, geboren zu werden. In manchen Dingen, auch bei Korruption, sind wir also Weltspitze.« Rawi arbeitet für die Revolutionäre Vereinigung der Frauen Afghanistans (RAWA). Vor Kurzem reiste sie mit zwei weiteren Mitgliedern der afghanischen Zivilgesellschaft durch Deutschland, um einen alternativen Blick auf die Lage im Land zu geben. Nach dem, was sie erzählen, haben die Darstellungen der Bundesregierungen der letzten Jahre nur einen Titel verdient: der große Afghanistan-Schwindel. Um das Bild eines Landes auf dem richtigen Weg aufrecht zu erhalten, werden die kritischen Stimmen ausgeblendet. So hatten die Regierungsfraktionen beispielsweise am 11. November die afghanische Präsidentengattin Rula Ghani in den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung eingeladen, es aber abgelehnt, Rawi und eine andere Frau zu empfangen, deren Organisation sich für die Familien Ermordeter und gegen Straflosigkeit engagiert. »Rula Ghani repräsentiert die kleine Elite Afghanistans, die mit der Lebenssituation und den täglichen Gefahren und Bedrohungen der Mehrheit der Frauen wenig zu tun hat«, kritisierte die LINKE-Bundestagsabgeordnete Heike Hänsel. Ghani sei erst 2001 nach Afghanistan gekommen. Bis dahin hatte sie mit ihrem Mann in den USA gelebt. Mariam Rawi bestätigt diese Kritik. »Sie hat keine Wurzeln in Afghanistan«, lebe »wie eine Gefangene« im Präsidentenpalast, den sie aus Sicherheitsgründen kaum verlassen kann. Die meisten Afghanen würden nicht mal ihren Namen kennen, sagt die RAWA-Aktivistin, deren Organisation sich seit 1977 für die Rechte der Frauen im Land einsetzt. Die Aktivistinnen der auch heute noch vor allem im Verborgenen arbeitenden Organisation dokumentierten schon zu Zeiten der Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 unter großen Gefahren Verbrechen an Frauen. RAWA arbeitet nicht mit den großen ausländischen Hilfsorganisationen zusammen, ist ein Synonym für Fundamentalopposition und dementsprechend verhasst. Deshalb werden nicht einmal ihre Lesekurse für Frauen unter dem Namen RAWA angeboten, und deshalb möchte auch Mariam Rawi, die eigentlich anders heißt, unerkannt bleiben. Wie gefährlich es für sie ist, verdeutlicht Hafiz Rasikh von der Solidaritätspartei Afghanistans: »Nach einem Interview, in dem ich mich auf RAWA berief, wurde ich tätlich angegriffen.« Regimegegner im Allgemeinen würden als »RAWA-Anhänger« gebrandmarkt. Die Solidaritätspartei arbeitet ausschließlich außerparlamentarisch. Sie habe 30 000 Mitglieder in 24 Provinzen, sagt Rasikh, aber ins Parlament wollen sie nicht. Es ist eine Frage der Glaubwürdigkeit. »Wir haben gesehen, wie Malalai Joya, die jüngste Parlamentsabgeordnete, wegen ihrer Kritik an der Regierung rausgeworfen wurde. Zudem haben sich viele Abgeordnete die Sitze erkauft oder bekamen sie, weil sie Kriegsfürsten waren. Jeder weiß, dass die Wahlen gefälscht sind und dass überall Korruption ist.« Die 2004 gegründete säkulare Partei setzt sich für Frauenrechte ein und erklärt sich solidarisch mit dem kurdischen Kobane. In Kurdistan wie in Afghanistan unterstütze die NATO Fundamentalisten, lautet ihre Kritik. Auf Veranstaltungen erinnert die oppositionelle Organisation auch an die Regierungsübernahmen des sozialistischen Regimes (1978 bis 1992) und der folgenden Mudschaheddin-Clique (bis 1996), die beide für jeweils Tausende Tote verantwortlich sind. Dieser Aufarbeitung ist die Arbeit von Weeda Ahmad gewidmet. Sie leitet die Vereinigung für afghanische Gerechtigkeitssuchende, die regelmäßig Demonstrationen und Gedenken für die im Laufe der Jahrzehnte unter verschiedenen Regimes ermordeten Menschen veranstaltet. »Im Amnestiegesetz von 2008 steht, über die Verbrechen der Vergangenheit zu sprechen, störe den Frieden«, sagt sie. In Wahrheit sei der Grund ein anderer: »Der Staat wird vor allem von Leuten geführt, die für solche Verbrechen verantwortlich sind.« Deshalb mag Ahmad ihre Regierung nicht als demokratisch bezeichnen. Ihre allererste Maßnahme sei gewesen, »die Kriegsfürsten und Kriminellen« wieder an die Macht zu bringen, die da schon zwischen 1992 und 1996 waren. Mit ihnen an der Spitze seien die Missachtung von Frauen und die Armut größer geworden. Die Tötung von Zivilisten habe zugenommen – sei es durch Militär, Taliban oder staatsnahe Milizen, ein neues Phänomen, eingesetzt von der Regierung. Da sie nicht überall Polizei und Militär installieren konnte, habe sie lokale Milizen als Sicherheitskräfte verpflichtet, berichtet Ahmad. Rawi, Rasikh und Ahmad sind gegen diese mächtigen Cliquen wie auch gegen ausländisches Militär im Land. Mit ihrer Kritik an der Regierung stehen sie nicht allein. Mitte November demonstrierten in Kabul mehr als 10 000 Menschen, um Druck auf die Regierung auszuüben, etwas gegen den Islamischen Staat zu unternehmen. Es war die größte Demonstration seit Jahrzehnten. Anlass war eine grausame Bluttat einige Monate zuvor. Dabei waren sieben Reisende in einer unsicheren Gegend des Landes aus einem Bus geholt und geköpft worden. »Es war das erste Mal, dass auch Frauen und ein Kind so entführt und getötet wurden«, sagt Rawi. »Das hat die Menschen sehr betroffenen gemacht.« Manche von ihnen versuchten, den Präsidentenpalast zu stürmen, einige wurden dabei angeschossen.
Ralf Hutter
Afghanistans Bevölkerung leidet noch immer. Nichts sei besser geworden seit dem Sturz der Taliban, kritisieren linke Organisationen und arbeiten bewusst außerhalb des Parlaments »aus Verbrechern«.
Afghanistan, Krieg gegen den Terror, Menschenrechte, Taliban, USA
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de/artikel/993123.der-grosse-afghanistan-schwindel.html?sstr=Mudschaheddin
Tänzer Banzhaf hört auf
Michael Banzhaf, langjähriger Solotänzer des Staatsballetts Berlin, verlässt das Ensemble. Nach fast 20 Jahren wolle sich der 39-Jährige künstlerisch neu orientieren, teilte das Staatsballett am Montag mit. Als eine der prägenden Persönlichkeiten des Ensembles tanzte Banzhaf große Rollen wie den Siegfried in Maurice Béjarts »Ring um den Ring« und den Dichter Lenski in John Crankos »Onegin«. Am 1. März werde er seinen Abschied in Nacho Duatos »Vielfältigkeit. Formen von Stille und Leere« feiern. Banzhaf startete seine Karriere 1998 im Ensemble der Staatsoper Unter den Linden. 2001 stieg er dort zum Demi-Solotänzer auf, 2005 zum Solotänzer beim neu formierten Staatsballett Berlin. dpa/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Berlin, Tanz
Feuilleton
Kultur
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1041891.taenzer-banzhaf-hoert-auf.html
Folterhelfer melden sich
Bukarest. Der frühere Chef des rumänischen Auslandsgeheimdienstes SIE, Ioan Talpes, schließt nicht aus, dass der US-Geheimdienst CIA in seinem Land Gefängnisse betrieben hat. Kurz nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 habe Rumänien dem CIA Orte zur Verfügung gestellt, die dieser ohne Einmischung der rumänischen Behörden »verwaltet, kontrolliert und bewacht« habe, sagte Talpes der rumänischen Zeitung »Adevarul«. Talpes sagte, es habe sich um Transit-Zentren für Aktionen im Anti-Terror-Kampf außerhalb des US-Gebiets gehandelt. Allerdings wisse er nichts über genaue Anzahl und Standort dieser Zentren. Auch hätten die rumänischen Behörden nicht gewusst, was dort geschehen sei - und schon gar nicht, ob dort Gefangene festgehalten wurden. Rumänien habe als Kandidat für einen NATO-Beitritt beweisen wollen, »dass wir vertrauenswürdige Alliierte sind«, sagte Talpes, der von 1992 bis 1997 Geheimdienstchef und 2000 bis 2004 Sicherheitsberater des damaligen Staatspräsidenten Ion Iliescu war. Am Dienstag waren Teile eines US-Senatsberichtes veröffentlicht worden, wonach die CIA nach den 9/11-Anschlägen Terrorverdächtige mit diversen Methoden gequält hat, um Aussagen zu erzwingen. Demnach wurden viele Gefangene an geheimen Standorten im Ausland gefoltert. Das britische Parlament verlangt Informationen über mögliche Verstrickungen britischer Geheimdienste in den US-Folterskandal. Der Vorsitzende des Ausschusses für Geheimdienste und Sicherheit, Malcolm Rifkind, kündigte im Gespräch mit der Zeitung »The Observer« am Sonntag an, das Gremium werde von den USA Einblick in die geschwärzten Passagen des US-Folterberichts fordern. Zugleich räumte er ein, dass der Vorstoß möglicherweise erfolglos bleiben werde. Offenheit der britischen Regierung über Mitwirkung bei Folterpraktiken der CIA forderte der »Independent«. Die britische Regierung scheine alles erlaubt zu haben, mit Ausnahme einer ausdrücklichen Genehmigung von Folterpraktiken, schreibt die linksliberale Zeitung. Dies sei nie öffentlich eingestanden worden. »In unserem Land wurde eine Untersuchung über die Behandlung von Festgenommenen vor fast drei Jahren mit dem kaum überzeugenden Argument eingestellt, dass polizeiliche Ermittlungen im Gang seien.« Premierminister David Cameron müsse einsehen, dass »jetzt die Zeit für eine unabhängige Untersuchung reif ist.« AFP/dpa/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Der frühere Chef des rumänischen Auslandsgeheimdienstes SIE, Ioan Talpes, schließt nicht aus, dass der US-Geheimdienst CIA in seinem Land Gefängnisse betrieben hat. Kurz nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 habe Rumänien dem CIA Orte zur Verfügung gestellt, die dieser ohne Einmischung der rumänischen Behörden »verwaltet, kontrolliert und bewacht« habe, sagte Talpes der rumänischen Zeitung »Adevarul«.
CIA, Folter
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/955501.folterhelfer-melden-sich.html
Mahnmal soll endlich fertig gebaut werden
Auf einer Wiese zwischen Brandenburger Tor und Reichstag befindet sich hinter einem Zaum ein großes weißes Zelt. Die Umrisse einer Bodentafel sind ebenfalls zu sehen. Die zahlreichen Passanten, die hier täglich vorbeigehen, können nun erfahren, dass sich unter den Planen das unvollendete Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma befindet. Auf Deutsch und Englisch informiert darüber ein großes weißes Banner, das am Samstag im Rahmen einer Kundgebung am Zaum befestigt wurde. Daneben behandeln kleine Tafeln Angriffe auf Sinti und Roma seit 2010. Viele Übergriffe, auch mit tödlichem Ausgang, fanden in osteuropäischen Ländern statt, andere in Italien. Es war allerdings keine staatliche Stelle, die diese Informationen bereitstellte, sondern die kürzlich im Rahmen des Kunstfestivals Biennale gegründete »Bürgerinitiative für das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma«. Der ... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Peter Nowak
Neue Initiative für das unvollendete Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma
Denkmal, Gedenkstätte, Roma und Sinti
Hauptstadtregion
Brandenburg
https://www.nd-aktuell.de//artikel/228602.mahnmal-soll-endlich-fertig-gebaut-werden.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
Mindestlohn muss nicht für die Bereitschaftszeit gelten
Das gilt zumindest dann, wenn ein Monatsverdienst ohne konkreten Stundensatz gezahlt wird und damit die Gesamtvergütung den Mindestlohnanspruch erfüllt, entschied das Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz in einem am 20. April 2017 veröffentlichten Urteil (Az. 8 Sa 313/16). Die Richter schlossen sich der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) an und billigten im Reformtarifvertrag des Deutschen Roten Kreuzes tarifliche Vorschriften zu Bereitschaftsdiensten. Im konkreten Fall ging es um einen beim DRK angestellten Rettungsassistenten, der Lohnnachschlag forderte. Er arbeitete wöchentlich durchschnittlich 45,75 Stunden. Darin waren geleistete Bereitschaftszeiten enthalten. Laut DRK-Reformtarifvertrag betrug die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit 38,5 Stunden, konnte aber inklusive von Bereitschaftszeiten auf die gesetzliche wöchentliche Höchstarbeitszeit von bis zu 48 Stunden ausgedehnt werden. Einen konkreten Stundenlohn erhielt der Rettungsassistent nicht. Stattdessen war eine feste monatliche Gesamtvergütung im Tarifvertrag vorgesehen. Der DRK-Beschäftigte meinte, dass die tarifliche Gesamtvergütung sich nur auf die reguläre Arbeitszeit von 38,5 Stunden pro Woche beziehe. Im Tarifvertrag hätte aber auch der Stundenlohn für die Bereitschaftszeiten festgelegt werden müssen. Es sei gar nicht klar, dass diese Zeiten überhaupt vergütet werden. Die Vorschrift sei intransparent und somit unwirksam. Ihm müsse daher die »übliche Vergütung« und damit der gesetzliche Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde Bereitschaftszeit (seit 2017 beträgt der Mindestlohn 8,84 Euro) zustehen. Insgesamt forderte er für das Jahr 2015 Lohnnachschlag von 3215 Euro. Der Arbeitgeber lehnte die Forderung ab. Selbst wenn man den Monatsverdienst auf die wöchentliche Höchstarbeitszeit von 48 Stunden umrechnen würde, würde der Verdienst immer noch deutlich den Mindestlohnanspruch erfüllen. Das LAG schloss sich der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts an. Das BAG hatte am 29. Juni 2016 (Az. 5 AZR 716/15) entschieden, dass Bereitschaftszeiten rechnerisch geringer als der Mindestlohn vergütet werden können. Das gelte zumindest dann, wenn tariflich oder im Arbeitsvertrag kein konkreter Stundensatz festgelegt wurde und der monatliche Gesamtverdienst geringer vergütete Bereitschaftszeiten wieder ausgleicht. Hier sei der Anspruch des Klägers auf den gesetzlichen Mindestlohn erfüllt worden, so das LAG. Die Gesamtvergütung sei so hoch, dass sie selbst bei einer 48-Stunden-Woche über dem gesetzlichen Mindestlohn liegt. Der DRK-Reformtarifvertrag verstoße auch nicht gegen den verfassungsrechtlichen Gleichheitsgrundsatz. Zwar würden Beschäftigte mit einer 48-Stunden-Woche umgerechnet pro Stunde weniger verdienen als Kollegen, die nur die reguläre Arbeitszeit und keine Bereitschaftszeiten ableisten. Diese Ungleichbehandlung sei aber sachlich gerechtfertigt. Denn ansonsten müssten der Anteil von Vollarbeit und Arbeitsbereitschaft und die sich daraus ergebende Vergütung aufwendig ermittelt werden, was »betrieblich kaum handhabbar« sei. Angesichts dieser Situation müssten die Tarifvertragsparteien Ungerechtigkeiten und Härten im Einzelfall hinnehmen. epd/nd Bei freiwilliger Arbeit kein Verletztengeld Arbeiten Beschäftigte nach einem Arbeitsunfall freiwillig weiter, erklären sie sich damit selbst für arbeitsfähig. Ein Anspruch auf Verletztengeld besteht dann nicht. So urteilte das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg in Stuttgart in einem am 13. April 2017 veröffentlichten Urteil (Az. L 6 U 1655/16). Arbeitnehmer sollten zunächst ihre Ansprüche gegen den gesetzlichen Unfallversicherungsträger klären, bevor sie wieder freiwillig starten. Geklagt hatte ein ehemaliger Polizeibeamter, der seit 1983 wegen einer angeborenen Fehlbildung seiner rechten Hand in den vorzeitigen Ruhestand ging. Rumsitzen wollte der Mann jedoch nicht. Er arbeitete daher auf Minijobbasis für ein Sicherheitsunternehmen weiter. 2011 stürzte er beim Übersteigen einer Sperrkette und verletzte sich an Knie und Schulter. Seitdem arbeitet er im Pförtnerdienst. Erst 2015 forderte er wegen dieses Unfalls Verletztengeld von der gesetzlichen Unfallversicherung. Die Kasse lehnte den Anspruch ebenso ab wie nun das LSG. Voraussetzung für das Verletztengeld sei die Arbeitsunfähigkeit. Hier habe der Kläger nach seinem Unfall aber weitergearbeitet. Dass er nur leichtere Tätigkeiten im Pförtnerdienst übernahm, spiele keine Rolle. Arbeitsfähigkeit trete nämlich ohne Weiteres (fiktiv) dadurch ein, dass freiwillig eine andere Arbeit aufgenommen werde. epd/nd Arbeitnehmer behalten bei Firmenübernahme alte Rechte Arbeitnehmer können beim Wechsel des Firmeninhabers auch dann Rechte aus ihrem Arbeitsvertrag behalten, wenn sich diese Rechte auf künftige Tarifverträge beziehen. So urteilte der Europäische Gerichtshof (EuGH) am 27. April 2017 (Az. C-680/15 und Az. C-681/15). Geklagt hatten zwei Krankenhausmitarbeiter, deren Klinik im hessischen Dreieich-Langen vom Asklepios-Konzern übernommen wurde. Die beiden hatten unter dem früheren Besitzer Arbeitsverträge mit einer dynamischen Verweisungsklausel. Das Arbeitsverhältnis sollte sich dabei nach bestimmten Tarifverträgen richten und deren Änderungen nachvollziehen. Der neue Besitzer ging gegen die Klausel vor und berief sich dabei auf ein EU-Gesetz. Danach sei er zwar an die bisherigen Arbeitsbedingungen gebunden, müsse aber künftige Änderungen nicht mitmachen. Der EuGH urteilte nun, dass die dynamische Verweisung auf die Tarifverträge dem EU-Gesetz zufolge durchaus weiter gilt. Allerdings gebe es dafür eine Bedingung, nämlich dass der neue Klinikträger dem nationalen Recht zufolge Möglichkeiten hat, einseitig die Arbeitsbedingungen wieder zu ändern. Hintergrund ist der Schutz der unternehmerischen Freiheit. Dass diese Bedingung im deutschen Recht gegeben sei, legt das Urteil nahe. Der EuGH verwies den Fall an die deutsche Justiz zurück. epd/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Nach einem Gerichtsurteil darf die Bezahlung von Bereitschaftszeiten beim Deutschen Roten Kreuz (DRK) unter bestimmten Bedingungen auch unter dem gesetzlichen Mindestlohn liegen.
Arbeitsverhältnis, DRK, Mindestlohn, Tarifvertrag
Ratgeber
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1052640.mindestlohn-muss-nicht-fuer-die-bereitschaftszeit-gelten.html
Die Elenden und der Säufer
Die sowjetischen »Freunde«, die hinter Mauern und Zäunen lebten, blieben für die meisten Einheimischen zumeist Fremde. So wie umgekehrt Kontakte zu DDR-Bürgern die Ausnahme blieben. Dabei halfen Sowjetsoldaten voller Freude bei der Ernte, machten im Winter Versorgungsstraßen frei. Der Dank, den sie dafür verspürten, wärmte die Seelen. Kulturensembles der Sowjetarmee begeisterten Hunderttausende. Zu Feiertagen lud man Rotarmisten der Gruppe der in Deutschland stationierten Streitkräfte (GSSD) in Arbeitskollektive, in Schulen oder in Kasernen der Waffenbrüder von der NVA ein und beschwor die »unverbrüchliche Freundschaft«. Die Dauer des Wehrdienstes in der Sowjetarmee betrug zunächst drei, später zwei Jahre. Der Soldatenalltag war geprägt von militärischem Drill und oft von Gewalt. Die »Dedowschtschina«, die »Herrschaft der Großväter«, stand für ein Unterdrückungssystem der Rekruten durch Dienstältere. Die Verpflegung war bescheiden. Ähnlich schlecht war es um die gesundheitliche Betreuung bestellt. Tausende Sowjetsoldaten sind in der DDR ums Leben gekommen - durch Unfälle, Gewaltexzesse, Suizid. Exakte Zahlen gibt es wohl nicht einmal in russischen Archiven. Immer wieder gab es auch Übergriffe von Sowjetsoldaten außerhalb der Kasernen. In den Akten der Staatssicherheit sind allein für die Jahre 1976 bis 1989 etwa 27 500 Delikte sowjetischer Militärangehöriger verzeichnet: Verkehrsdelikte, Diebstähle, aber auch Mord, Körperverletzung, Raub und Vergewaltigung. Straffällig gewordene Soldaten konnten nicht von der DDR-Justiz belangt werden. Wie ihre Vorgesetzten sie bestraften, ist in der Regel nicht bekannt. Die Ereignisse des Jahres 1989, die offene Mauer, die bevorstehende Vereinigung der DDR-Deutschen mit denen im imperialistischen Feindesland stellten die Sowjetsoldaten vor eine unerwartete Situation. Anders als 1953, als mit ihrer Hilfe ein Aufstand gestoppt und Ruhe in den ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaat gebracht wurde, befahl Moskau nun: Stillhalten. Eigensicherung. Abzug. Vor den Kasernen tauchten Bundeswehrsoldaten auf. Ganz legal beobachteten sie, was sich tat. Noch bis zum endgültigen Abzug der »Russen« hatte man in den westlichen Stäben Angst vor dem Undenkbaren. Mehrfach kam es zu Zusammenstößen. Verunsicherte Wachposten schossen auf die »feindlichen Spione«. Echte Spione verhalfen Sowjetsoldaten zur Flucht, als Deserteure brachten die wertvolle Geschenke mit. Der Rückzug mehrerer kampfstarker Armeen wurden zu einer logistische Großaufgabe. In drei Jahren und elf Monaten brachte man 546 200 Soldaten und Offiziere sowie deren Angehörige heim. Dazu kamen mehr als 120 000 schwere Waffen und sonstiges militärisches Gerät - insgesamt eine Last von 2,7 Millionen Tonnen. Die meisten Rotarmisten kamen in ein zerfallendes Reich zurück. Der Sozialismus, den sie an vorderster Front verteidigt hatten, löste sich in Anarchie auf. Man nahm aus »Feindesland« mit, was man tragen konnte. Generaloberst Matwej Burlakow, der Chef der sogenannten Westgruppe, schreibt in seinen Aufzeichnungen: »Ich forderte von den Kommandeuren, sorgsam mit materiellen Werten umzugehen und nach Möglichkeit alles mitzunehmen, weil man praktisch alles am neuen Stationierungsort in Russland gebrauchen könnte.« Und er selbst war ein Vorbild. Von Sperenberg, dem Flugplatz, der dem Oberkommando in Wünsdorf am nächsten lag, hob so manche Transportmaschine ab, gefüllt mit dem »Eigentum« korrupter Kommandeure. Andere Berufssoldaten bauten mafiaähnliche Organisationen auf. Sie handelten mit allem: Diesel, Kaviar, Waffen, Gerät und kauften dafür zumeist alte Westautos. Was die Westgruppe an ihren Standorten zurückließ, war eine Last, an der das wiedervereinigte Deutschland noch lange tragen muss: kontaminierte Grundstücke, Müll, vergrabene Munition. Doch all das war kein Grund, die sowjetischen Soldaten derart zu demütigen. Statt sie mit Anstand, also gemeinsam mit den Truppen der drei anderen in Berlin stationierten Alliierten zu verabschieden, gestattete man ihnen nur, sich auf dem Areal des Treptower Ehrenmals, wo über 7000 in den letzten Kriegstagen 1945 gefallene Rotarmisten ruhen, zu verabschieden. »Wir bleiben Freunde - allezeit! Auf Frieden, Freundschaft und Vertrauen sollten wir uns’re Zukunft bauen. Die Pflicht erfüllt! Leb’ wohl, Berlin! Uns’re Herzen heimwärts zieh’n.« So lautet ein von einem russischen Soldaten für den Abzugstag geschriebener Liedtext. Was von diesem Tag wirklich bleibt? Bei vielen sicher das Bild des sturzbetrunkenen russischen Präsidenten Boris Jelzin, der dem Kapellmeister des Berliner Polizeiorchesters den Taktstock entriss, um sich - und damit sein Land - dem Gespött der letztendlichen Sieger preiszugeben.
René Heilig
Sie lebten isoliert von der DDR-Bevölkerung, wurden immer wieder auch straffällig und litten unter Gewalt in den eigenen Reihen: die bis zu 500.000 Rotarmisten in Deutschland. Zum Ende der DDR wurde ihr Abzug zur logistischen Großaufgabe.
DDR, Russland
Politik & Ökonomie
Politik Rotarmisten in der DDR
2018-02-09T12:45:53+0100
2018-02-09T12:45:53+0100
2023-01-21T23:34:25+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1078954.die-elenden-und-der-saeufer.html
Repräsentieren in Parlamenten ist nicht alles
In der LINKEN sind diejenigen, die eine Regierungsbeteiligung im Bund befürworten, in der Mehrheit, und das quer durch alle Lager. Auch die ehemalige Vorsitzende der Linksfraktion, Sahra Wagenknecht, einst eine vehemente Kritikerin des Koalierens mit SPD und/oder Grünen, spricht sich mittlerweile dezidiert dafür aus. Von roten Linien, die nicht überschritten werden dürften, war zuletzt auch von ihr nichts mehr zu hören. Doch es gibt sie noch, die Genossen, die vor der Fixierung auf die Arbeit in den Parlamenten einerseits und vor dem an wenige Bedingungen geknüpften Mitregieren warnen. Im »Netzwerk für eine bewegungsorientierte Linke«, kurz Bewegungslinke, sind sie in der Mehrheit. Jetzt wollen die bislang rund 350 dort Engagierten aus dem Netzwerk eine Bundesarbeitsgemeinschaft der LINKEN machen. Es sind überwiegend jüngere, in Gewerkschaften, Klimaschutz- und antirassistischer Bewegung aktiven Genossen, die die Bewegungslinke ins Leben gerufen haben. Sie wollen mehr Menschen für die aktive Mitarbeit in Gewerkschaften und Bewegungen wie auch in der LINKEN gewinnen, um der gesellschaftlichen Linken wieder mehr Gewicht zu verschaffen. Das Netzwerk Bewegungslinke war Ende April 2018 in Abgrenzung zu den migrationspolitischen Forderungen Sahra Wagenknechts und der Verfasser eines Thesenpapiers zum Thema Migration um das LINKE-Bundesvorstandsmitglied und den Bundestagsabgeordneten Fabio De Masi gegründet worden. Im Rahmen der Gründungsversammlung sollen unter anderem Arbeitsgruppen zu Klima- und Klassenpolitik, zur Mieterbewegung, zu Gewerkschaften und anderen Themen gegründet werden. Sie sollen »strategische Vorschläge in ihren Feldern« erarbeiten und sie zugleich in ihren lokalen Zusammenhängen ausprobieren. Außerdem will sich die Bewegungslinke mit eigenen Beiträgen an der im Oktober vom LINKE-Bundesvorstand initiierten Strategiedebatte beteiligen. Infos und Anmeldung zur Gründungsversammlung der Bewegungslinken am 14./15. Dezember in Berlin: bewegungslinke.org Beiträge zur LINKE-Strategiedebatte siehe strategiedebatte.die-linke.de
Jana Frielinghaus
Das »Netzwerk für eine bewegungsorientierte Linke« hat sich im April 2018 gegründet. In ihm arbeiten überwiegend jüngere Mitglieder des linken Flügels der Partei Die LINKE zusammen.
Die Linke, Einwanderung, linke Parteien
Politik & Ökonomie
Politik Linkes Netzwerk
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1129957.linkes-netzwerk-repraesentieren-in-parlamenten-ist-nicht-alles.html
Vertrauens-Crash
Wem kann man bloß noch trauen? Das wird sich jetzt wohl in dem einen oder anderen Wohnzimmer gefragt werden. Denn ausgerechnet Deutschlands beliebtester Verein, der ADAC, hat bei des Deutschen liebster Sache, dem Auto, getrickst. Der Vertrauensverlust dürfte immens sein. Eigentlich könnte man sich fragen, warum das so schlimm sein soll. Schließlich gilt das Sprichwort: »Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast.« Doch an irgendetwas will man doch glauben können und alle Statistiken kann man nicht selbst fälschen. Und genau damit macht der ADAC seine Geschäfte. Milliardenschwere Umsätze macht der Verein damit, dass Deutschlands Autofahrer ihm vertrauen. Ob Autokosten und -vergleiche, Fragen zum Verkehrsrecht oder die Planung mit dem Pkw-Auto - bei so ziemlich allem, was mit der motorisierten Fortbewegung zu tun hat, schauen die Deutschen zuerst darauf, was der ADAC empfiehlt. Deswegen sind die »geschönten« Zahlen zur Umfrage bezüglich des »Lieblingsautos der Deutschen« nicht nur etwas hochgerechnete Daten. Viele Menschen werden sich nun fragen, wo der Verkehrsclub ansonsten nicht ganz die Wahrheit gesagt hat. War ihr neuer Viertürer etwa doch nicht der Beste seiner Klasse? Die Frage ist, was den Autofahrern nach diesem Vertrauenscrash noch bleibt. Vielleicht nur noch die Bahn, das Rad oder eigenen Beine.
Redaktion nd-aktuell.de
Simon Poelchau über geschönte Statistiken beim ADAC
ADAC, Betrug
Meinung
Kommentare
https://www.nd-aktuell.de//artikel/921345.vertrauens-crash.html
Berlin braucht wohl ein Dreier-Bündnis
Berlin. Gut eine Woche vor der Wahl in Berlin zeichnet sich für die Hauptstadt immer deutlicher ab: Zum Regieren reicht dort nur ein Dreier-Bündnis. Wie aktuelle Zahlen der ARD ergaben, liegt die regierende SPD von Bürgermeister Michael Müller mit 21 Prozent vorn - das wäre ein Verlust von über 7 Prozent. Die SPD käme damit auf ihr schlechtestes Ergebnis seit 1946 und rutschte noch unter ihren Tiefststand von 1999 mit 22,4 Prozent. Auch CDU (19 Prozent) und Grüne (16 Prozent) würden im Vergleich zu 2011 verlieren, die Linkspartei steht gegenüb... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Gut eine Woche vor der Wahl in Berlin zeichnet sich für die Hauptstadt immer deutlicher ab: Zum Regieren reicht dort nur ein Dreier-Bündnis. Die SPD erwartet laut der Zahlen ein historisches Tief. Auch CDU und Grüne würden verlieren.
Abgeordnetenhaus, AfD, Berlin, LINKE, SPD, Umfrage, Wahlen 2016
Hauptstadtregion
Berlin
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1024928.berlin-braucht-wohl-ein-dreier-buendnis.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
Und demnächst ist China dran
Sehr geehrter Mr. Stoltenberg, im Namen des russischen Volkes und seiner Regierung übersende ich Ihnen stellvertretend für alle Mitglieder der North Atlantic Treaty Organization (NATO) aufrichtige Glückwünsche zum 70. Jahr des Bestehens. Ich wünsche uns Erfolge bei den kommenden Gesprächen zur Minderung des Wettrüstens und bei der Ausarbeitung einer gemeinsamen Strategie zur Bekämpfung des Klimawandels sowie der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten in der Welt. Gemeinsam und insbesondere im Verbund mit China kann es uns gelingen, der Menschheit eine erstrebenswerte Zukunft zu sichern. Hochachtungsvoll Wladimir Wladimirowitsch Putin, Präsident der Russischen Föderation Die NATO entstand im Zuge des sich verschärfenden Ost-West-Konflikts, der mit der Blockade der Westsektoren Berlins 1948 einen ersten Höhepunkt erreicht hatte. Gründungsmitglieder waren zehn westeuropäische Staaten sowie die USA und Kanada. Die Bundesrepublik Deutschland trat 1955 bei. Seit 2017 gehören der NATO 29 Staaten an. Laut Präambel zum NATO-Vertrag sind sie verpflichtet, in Übereinstimmung mit der UNO-Charta »ihre Bemühungen für die gemeinsame Verteidigung und die Erhaltung des Friedens und der Sicherheit zu vereinigen«. Diverse Kriegseinsätze – auch mit deutscher Beteiligung – künden vom Gegenteil. Wie schön könnte die Welt sein! Doch so ein Schreiben wird es nicht geben. Wohl aber eine NATO-Geburtstagsfeier. Man hat bewusst auf ein angemessenes Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs verzichtet. Nur die Außenminister der Mitgliedsstaaten treffen sich in Washington. Allein das sagt viel über den Zustand der Gemeinschaft. Der ist schlecht und das hat aus Sicht vieler Mitglieder einen Grund. Er heißt: Donald Trump. Der US-Präsident hat die beiden NATO-Gipfel, an denen er bislang teilgenommen hat, wahrlich nicht zu einem Symbol der Geschlossenheit werden lassen. Zugleich verbannte er in Washington alle Fürsprecher halbwegs vernunftbegabter Außen- und Sicherheitspolitik aus seinem Umfeld: Außenminister Tillerson, Sicherheitsberater McMaster, Stabschef Kelly, Pentagonchef Mattis ... Noch immer betrachtet Trump die NATO je nach Tageslaune als «obsolet». Im Januar kam es in Washington zu einem einzigartigen Vorfall: Das US-Repräsentantenhaus forderte Trump mit überwältigender Mehrheit auf, nicht aus der NATO auszutreten. Haben die Abgeordneten vor der Ansetzung des Themas gekifft? Nein, sonst hätten sie jetzt auch nicht demonstrativ den NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, dessen Amtszeit gerade bis 2022 verlängert wurde, eingeladen, vor beiden Häusern des Parlaments zu sprechen - beides ist ein Votum gegen den US-Präsidenten, der beim NATO-Gipfel im Juli vergangenen Jahres einen Austritt der USA aus der Allianz nicht ausgeschlossen hat, sollten die Bündnispartner nicht umgehend zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung für die Verteidigung ausgeben. Stoltenberg, der auch von Trump empfangen wird, versucht zu vermitteln. Er verstehe, dass es für eine Regierung schwerer sei, Geld für die Verteidigung auszugeben anstelle für Straßen, Schulen und Krankenhäuser. Aber man erhöhe die Verteidigungsausgaben ja nicht, um Trump zu gefallen, «sondern aus europäischem Interesse. Wir sehen ein stärkeres Russland, wir sehen Terroristen an unseren Grenzen, müssen Cyberattacken befürchten», sagte Stoltenberg jüngst dem «Spiegel». Die Bundesregierung hat den Bündnispartnern bislang nur zugesagt, die deutschen Militärausgaben bis 2024 auf 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu steigern. Doch die jüngsten Planungen von Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) sehen die dafür notwendigen Mehrausgaben bislang nicht vor. Ressortchefin Ursula von der Leyen (CDU) bekommt zwar Jahr für Jahr mehr Geld, doch nicht so viel, wie sie fordert. Das muss in Washington wie ein Affront nicht nur gegenüber der NATO sondern speziell gegenüber den USA ankommen. Schon vor zwei Jahren hatte Trump der deutschen Kanzlerin unmissverständlich klar gemacht: «Viele Nationen schulden aus den vergangenen Jahren massive Summen. Das ist sehr unfair gegenüber den USA. Die Nationen müssen bezahlen, was sie schulden.» Anfang des vergangenen Monats berichteten US-Medien, der Präsident habe bei Gesprächen mit Beratern nun auch noch verlangt, die Verbündeten müssten sämtliche Kosten für die Stationierung von US-Soldaten in ihren Ländern - mit einem Aufschlag von 50 Prozent - tragen. Immerhin handele es sich beim US-Truppenexport ja um eine Dienstleistung, so der Immobilienmogul. Richard Grenell, US-Botschafter in Berlin, hat den Haushaltsplan der deutschen Regierung als «inakzeptabel» kritisiert - was man in Berlin mehrheitlich als unfeine Einmischung betrachtet hat. Aber, so meint auch der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, ein erfahrener Diplomat mit einer intensiven Dienstzeit in Washington: «Wir unterschätzen, welchen Frust unsere 1,5-Prozent-Ansage in Washington und Brüssel auslöst.» Trump pocht gegenüber Verbündeten auf Verabredungen - oder erzwingt sie. Ihm selbst gelten Abkommen wenig. Insbesondere Deutschland hat der US-Präsident auf dem Kieker. Nach Belieben kündigt er Verträge, und auch bei militärischen Entscheidungen, die das Bündnis insgesamt tangieren, trifft er - siehe Kündigung des Iran-Abkommens, des INF-Vertrages, oder bei den Truppenstationierungen in Afghanistan oder Syrien - Entscheidungen ohne Konsultation mit den anderen. So schwindet das bislang - bei allen Problemen - stets vorhandene Grundvertrauen. Die geduldige Bundeskanzlerin hat offenbar nach ihrem letzten Washington-Besuch alle Hoffnung aufgegeben, mit der gegenwärtigen US-Führung könne man eine Politik verfolgen, die auf gemeinsamen Werten und Idealen basiert. «Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei ... Und deshalb kann ich nur sagen: Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in unsere eigene Hand nehmen.» Wobei klar ist, die EU ist meilenweit davon entfernt, in der Außen- und Sicherheitspolitik geschlossen aufzutreten. Selbst zwischen den engsten Freunden - Deutschland und Frankreich - knirscht es, kaum dass neue Freundschaftsverträge unterschrieben sind. Zudem wäre eine gemeinsame EU-Verteidigungspolitik keine Alternative zur NATO. Sie wird allenfalls als Ergänzung gesehen. Wie auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen beherrscht Trump ein «Spiel» besonders gut: Teile und herrsche. Nach diesen Regeln gestaltet er unter anderem die Beziehungen zu Polen, das sich als treuer Vasall erweist. Warschau lobt - ohne das Wenn und Aber anderer Bündnisstaaten - den US-Ausstieg aus dem INF-Vertrag. 2020 wird in dem Land eine Basis des umstrittenen US-Raketenschutzschildes einsatzbereit sein. Warschau wirbt zudem für eine dauerhafte Präsenz von starken US-Truppen in Polen. Präsident Andrzej Duda schlug bereits einen Namen für die zu bildende und von Polen mit Milliardensummen bezahlte US-Garnison vor: «Fort Trump». Der NATO bleibt nichts anderes übrig, als sich an diese Entwicklung anzuhängen. Sie wird 231,4 Millionen Euro für den Aufbau eines Stützpunktes in Powidz bereitstellen, wo nach einer zwischen Warschau und Washington geschlossenen Vereinbarung, das Material für zusätzlich einzufliegende US-Truppen bereitgestellt werden soll. Vor ein paar Tagen erst wurde probeweise eine gepanzerte Brigade aus Texas nach Polen verlegt. Dabei erfüllte Deutschland, als einstiger Frontstaat im Kalten Krieg eine neue Funktion: die als Logistikdrehscheibe. 70 Jahre nach ihrer Gründung ist die NATO in einer höchst differenzierten Krise. Womit kittet man Risse im Bündnis? Indem man ein Feindbild pflegt. Dabei ist Russland sehr hilfreich, das seinerseits innenpolitische Schwierigkeiten durch martialische Aufrüstung überdeckt. Man liegt nicht falsch, wenn man auf beiden Seiten Politiker identifiziert, die geradezu Lust an einem neuen Kalten Krieg erkennen lassen. Der findet derzeit vor allem an der russischen Westgrenze statt. Doch auch in der Schwarzmeerregion rüsten NATO und Russland auf. Während Moskau die Krim nach dem Vorbild der Exklave Kaliningrad zu einem weitreichenden Abwehrstützpunkt gestaltet, beschloss die NATO «Maßnahmen zur Verbesserung unserer Lageerfassung. Gemeint sind mehr Übungen in der Region, mehr »Besuche« von NATO-Schiffen und die Ausbildung von ukrainischen und georgischen Streitkräften. Die 70-jährige NATO denkt nicht an Ruhestand. Um schneller als bislang agieren zu können, wird sich die NATO strukturell verändern. Derzeit können Entscheidungen nur einstimmig gefasst werden, künftig soll eine Dreiviertel-Mehrheit ausreichen. Den Streit mit Russland bewerten Experten nur als temporäre Episode im Kampf um die geopolitische Herrschaft. Im Fokus Washingtons und damit der NATO liegt China. Auch deshalb wird die NATO ihre ursprüngliche geografische Begrenzung auf Nordamerika und den größten Teil Europas noch zielstrebiger als bislang überwinden wollen. Pekings Rüstung, sein Engagement in Afrika, vor allem aber Investitionen in die europäische Infrastruktur sowie die Einbindung westlicher Staaten in die Seidenstraßen-Initiative werden in Washington wie Brüssel als Kampfansage verstanden.
René Heilig
Das Selbstverständnis der NATO hat sich gegenüber den Gründerjahren entscheidend verändert. Einstige Gegner wurden Mitglieder, die NATO operiert nicht mehr nur in den Grenzen des Bündnisgebietes.
China, Donald Trump, NATO, Polen, Russland, USA
Politik & Ökonomie
Politik 70 Jahre NATO
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1116015.jahre-nato-und-demnaechst-ist-china-dran.html
»Der Ausschuss wurde massiv behindert«
Das Europaparlament hat am Dienstag über den Abschlussbericht des Luxleaks-Sonderausschusses beraten und am Mittwoch darüber abgestimmt. Sind Sie zufrieden mit seiner Arbeit? Nein. Der Ausschuss wurde massiv behindert. EU-Kommission, Europäischer Rat und die Mitgliedstaaten haben uns wichtige Dokumente vorenthalten. Manche wurden geschwärzt. Und auch die Anhörungen von Politikern wie Jean-Claude Juncker oder von Konzernvertretern haben wenig gebracht. Die Arbeit ist also noch nicht zu Ende? Eine Verlängerung des Ausschusses ist nötig. Zum Beispiel muss EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker ein zweites Mal vorgeladen werden, da es bezüglich seiner Rolle neue Enthüllungen gibt. Als langjähriger Ministerpräsident und Finanzminister von Luxemburg war er der Pate des Steuerkartells in der EU. Doch es wird eine Verlängerung wohl nicht geben. Die Koalitionsspitzen von Konservativen und Sozialdemokraten haben ein... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
EU-Abgeordneter Fabio De Masi (LINKE) erhebt schwere Vorwürfe gegen Brüssel
EU, Luxemburg
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt
https://www.nd-aktuell.de//artikel/992556.der-ausschuss-wurde-massiv-behindert.html
Bundeswehrposten endet
Pul-i-Khumri (dpa/nd). Die Schließung des Außenpostens in der Unruheprovinz Baghlan und danach auch des größeren Feldlagers in der Nachbarprovinz Kundus im Laufe des Jahres hatte die Bundesregierung bereits im November angekündigt. ... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Die Bundeswehr will ihren Außenposten OP North nahe der nordafghanischen Stadt Pul-i-Khumri noch in diesem Frühjahr schließen. Das sagte Verteidigungsminister Thomas de Maizière beim Truppenbesuch auf dem Observation Post (OP).
Afghanistan, Bundeswehreinsatz
Politik & Ökonomie
Politik Pul-i-Khumri
https://www.nd-aktuell.de//artikel/814876.bundeswehrposten-endet.html
BSW: Kein Magnet für AfD-Klientel
Sahra Wagenknecht hatte die Schaffung ihrer neuen Organisation maßgeblich damit begründet, dass enttäuschte und wütende Bürger eine Alternative zur AfD brauchen. Doch der Zulauf von Ex-AfD-Sympathisanten oder Personen zum BSW, die zuvor aus Protest der AfD ihre Stimme gegeben hatten, hielt sich bei der Europawahl am Sonntag in Grenzen. Die mit Abstand meisten Stimmen für das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), das ein halbes Jahr nach seiner Gründung erstmals zu einer bundesweiten Wahl antrat, kamen dagegen von Ex-SPD- und Ex-Linke-Anhängern. Laut Meinungsforschungsinstitut Infratest Dimap wechselten 580 000 SPD- und 470 000 Linke-Wähler zur neuen Partei. Dagegen entschieden sich mit 160 000 vergleichsweise weniger AfD-Anhänger jetzt fürs BSW. Auch frühere Unterstützer von Union und FDP gewann die Wagenknecht-Partei hinzu (260 000 bzw. 230 000), aus dem Nichtwählerlager immerhin 140 000. Das BSW ist mithin die Kraft, die ihre Herkunftsorganisation Die Linke entscheidend geschwächt hat. Denn diese konnte insgesamt nur knapp 1,1 Millionen Stimmen auf sich vereinigen, das BSW dagegen 2,45 Millionen. Die Linke konnte allerdings auch so gut wie keine neuen Wählerschichten erschließen. Zudem nahmen 380 000 Unterstützer aus dem Jahr 2019 gar nicht mehr an der Wahl teil. Zur AfD wechselten geschätzt 150 000 ehemalige Linke-Wähler. Dagegen gewann die Partei nur 40 000 Ex-Grünen-Wähler für sich. All das zeige, ebenso wie die relativ vielen Stimmen für die Kleinstgruppen, darunter die Satirepartei Die Partei oder Volt, die »Unattraktivität und Schwäche« der Linken, heißt es in einer ersten Wahlanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS). Dort wird auch vermerkt, dass die Partei selbst in vier der fünf ostdeutschen Bundesländer weniger als 5 Prozent der Stimmen erhalten hat. Welche selbst gemachten Gründe das schlechte Ergebnis der Linken hat, darüber dürften sich Bundesspitze und Landesvorstände jetzt die Köpfe zermartern. In den sogenannten sozialen Medien fordern Genossen schonungslose Aufarbeitung und personelle Konsequenzen. Die einen meinen, die Partei habe sich zu wenig für Verhandlungen im Ukraine-Konflikt starkgemacht, die anderen sehen sie weiter als Partei der »Putin-Knechte«. Die einen finden sie zu solidarisch mit den Palästinensern, die anderen werfen ihr Unterstützung für »Islamismus« vor. Eine große Rolle spielt in der Kritik die vermeintlich alleinige Fokussierung auf die Unterstützung außerparlamentarischer Bewegungen statt der »Arbeiter«. Dem Parteivorstand wird dabei insbesondere die Aufnahme der parteilosen Ökologin, Umwelt- und Klimaschutzaktivistin Carola Rackete ins Spitzenkandidatenteam angelastet, mit dem dieser auf eine vermeintlich abgehobene Klientel gesetzt habe. Dabei hatte sich die Partei in ihrem Europawahlprogramm und im Wahlkampf ausgesprochen stark auf die soziale Frage konzentriert und Klimaschutz unter die Prämisse gestellt, dass dafür Superreiche und Konzerne zur Kasse gebeten werden müssten. Ein Podcast, der dich anlässlich der Europawahl 2024 ins »Herz« der EU mitnimmt. Begleite uns nach Brüssel und erfahre mehr über Institutionen wie das Europäische Parlament, was dort entschieden wird und warum dich das etwas angeht. Der Podcast ist eine Kooperation von »nd«, Europa.Blog und die-zukunft.eu. Alle Folgen auf dasnd.de/europa Rackete, die eines der drei Linke-Mandate im Europaparlament gewonnen hat, hatte ebenfalls ihren Einsatz für einen Klimaschutz herausgestellt, der nicht zulasten der arbeitenden Bevölkerung und der Armen gehen dürfe. Prominente wie der Liedermacher Konstantin Wecker, die Rapperin Sookee und der Regisseur Volker Lösch hatten sich an einer Unterstützerkampagne für Die Linke beteiligt. Moritz Warnke geht in seiner Analyse für die RLS davon aus, dass das infolge der internen Querelen vor der Abspaltung des BSW lädierte Image trotz aller Anstrengungen nicht bis zu dieser Wahl reparabel war. Eine gewisse Chance sieht er, dass sich dies bis zur Bundestagswahl 2025 ändern könnte. Dagegen dürfte sich die Situation bis zu den Landtagswahlen im September nicht nennenswert stabilisieren.
Jana Frielinghaus
Das BSW zog bei der Europawahl jeweils eine halbe Million Menschen an, die 2019 ihr Kreuz noch bei Sozialdemokraten oder Die Linke gemacht hatten. Dagegen stimmten nur 160 000 Ex-AfD-Wähler für die neue Partei.
AfD, Die Linke, Klimaschutz
Politik & Ökonomie
Politik Wählerwanderung
2024-06-10T17:42:22+0200
2024-06-10T17:42:22+0200
2024-06-11T17:20:11+0200
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1182846.waehlerwanderung-bsw-kein-magnet-fuer-afd-klientel.html
Geboren in der UdSSR und heimatlos
»Mist«, schimpft Inna Kolesnitschenko. Wieder einmal streikt der Fahrstuhl. Sie wohnt im sechsten Stock eines Elfgeschossers nahe der Metrostation Kunzewskaja. Ohne »Sturmgepäck« wären die 108 Stufen - Frau Kolesnitschenko hatte schon mehrfach zum Zählen Gelegenheit - kein Problem. Heute sind sie es. Neben den eigenen 64 Kilo Gewicht muss sie zwei volle Taschen nach oben schleppen. Sie enthalten die Einkäufe für die Feier zu ihrem 60. Geburtstag. Seit 25 Jahren, sagt sie, habe sie an ihrem eigenen Ehrentag keine Freude mehr. Er fällt auf den 8. Dezember: den Tag, an dem Sowjetunion 1991 endgültig ihr Leben aushauchte. »Seither bin ich heimatlos«, sagt sie. Sie sei ein typisches UdSSR-Produkt, sagt die Fachärztin für Orthopädie und Sportmedizin. In der Tat: Ihr Vater ist Armenier, die Mutter Russin. Beide lernten sich 1955 auf einer Großbaustelle des Kommunismus kennen: in Turkmenistan beim Ausschachten des Karakum-Kanals, der dem Aralsee in Usbekistan das Wasser stahl. Aufgewachsen ist sie in Belorussland, beim Studium in der dortigen Hauptstadt Minsk lernte sie ihren späteren Mann kennen: einen Ukrainer. Das Ende der Sowjetunion erlebten beide in Moskau. »Es lag ja irgendwie in der Luft«, sagt Frau Doktor. »Als es dann soweit war, konnten wir es dennoch nicht fassen.« Ihr Ehemann habe sich fürchterlich aufgeregt und wollte anfangs sogar Verfassungsbeschwerde einlegen. Seit 1989 gab es ein Komitee, das die Einhaltung des Grundgesetzes überwachte. In der sowjetischen Verfassung gab es einen Passus, der den Austritt einzelner Republiken regelt. Aber von Auflösung des Unionsvertrags stand da nichts. »Nichts! Sie hatten nicht nur kein Mandat dafür, sondern ein völlig anderes«, sagt Inna Kolesnitschenko und meint das Referendum vom März 1991 - das erste und einzige, das in der Sowjetunion je stattfand. 78 Prozent der Stimmberechtigten sprachen sich dabei für den Erhalt der Sowjetunion aus. Ihre Hymne besang den »unverbrüchlichen Bund« der Bruderrepubliken, »auf ewig zusammengeschweißt von der mächtigen Rus«. Dem ersten gemeinsamen Staat der Ostslawen: Russen, Weißrussen, Ukrainer. Ausgerechnet deren Staatschefs - Boris Jelzin, Stanislaw Schuschkewitsch und Leonid Krawtschuk - rissen den gemeinsamen Sakralbau 1000 Jahre später bis auf die Grundmauern ein. In tiefer Nacht und im Nebel der Wälder Belorusslands. Von dort bekam auch UdSSR-Präsident Michail Gorbatschow die Entlassungsurkunde zugestellt. Pro Forma und per Telefon. Denn 13 der insgesamt 15 Unionsrepubliken hatten sich bereits für souverän erklärt. Treu zur Fahne hielten nur noch Kasachstan und Russland. Die Unterzeichnung eines neuen Unionsvertrags, der den Republiken mehr Rechte gibt, war im August an einem Putschversuch von Altstalinisten gescheitert, dann an Jelzin. So jedenfalls behauptet es Ruslan Chasbulatow, damals als Parlamentschef engster Vertrauter des russischen Präsidenten, diesem seit der Auflösung des Obersten Sowjets 1993 mit Panzerbeschuss jedoch in herzlicher Feindschaft zugetan. Jelzin, sagt Chasbulatow, habe seine junge Macht nicht erneut mir seinem alten Widersacher Gorbatschow teilen wollen. Das wäre in einer erneuerten Union unvermeidlich gewesen. Ähnliche Beweggründe hätten auch die anderen »Aktiven« der Nacht- und Nebelaktion umgetrieben. Doch auch die Zuschauer - die Nichtgefragten - hätten schnell Geschmack an unumschränkter Macht und vor allem an deren Insignien gefunden: Präsidentenpalast, Präsidenten-Karosse, Präsidentenmaschine. Allein schon daran würden alle Reintegrationsversuche scheitern. Wer es dennoch versuche, sei hoffnungslos größenwahnsinnig oder ebenso hoffnungslos naiv. Russlands Präsident Wladimir Putin sieht das offenbar ähnlich. Zwar erklärte er einst den Zerfall der Sowjetunion zur größten Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Der Kremlchef sagte aber auch, die von der UdSSR-Abriss-Kolonne entworfene Nachfolgegemeinschaft GUS sei kein Instrument zur Reintegration der einstigen Unionsrepubliken, sondern eines ihrer »zivilisierten Scheidung«. Putins eigene Trennung von Ehefrau Ludmilla ist in Russland ein Tabu. Das Ehepaar, so die Standardfloskel von Kremlsprecher Dmitri Peskow, habe beim letzten gemeinsamen Fernsehauftritt im Sommer 2014 alles gesagt, was dazu zu sagen gewesen sei. Basta. Die Scheidung der Sowjetrepubliken ist auf dem besten Weg, ebenfalls ein Tabu zu werden. Dabei ist sonst kein Jahrestag zu banal, um nicht in olympischer Dimension gewürdigt zu werden - zwecks Herstellung historischer Kontinuität gilt das auch für umstrittene. Den 25. Jahrestag des UdSSR-Endes indes erwähnte Putin in seiner Jahresbotschaft an das Parlament letzte Woche mit keiner Silbe. Wie schon der 25. Jahrestag des Augustputsches, der das faktische Ende der UdSSR einläutete, steht er weder im Terminkalender des Kremlchefs noch in dem von dessen Juniorpartner Dmitri Medwedew als Regierungschef. Für die Medien ein guter Grund, das Thema, anders als noch zum 20. Jahrestag, niedrig zu hängen oder ganz auszublenden. Die Wissenschaft bleibt ebenfalls merkwürdig stumm. Kein runder Tisch, keine Podiumsdiskussion, kein Symposium. Einzige Ausnahme die Gorbatschow-Stiftung. Sie richtete Mitte Oktober die Konferenz »25 Jahre ohne UdSSR - moderne Wahrnehmung« aus. »25 Jahre ohne Gorbatschow« wäre treffender gewesen, hämte ein Berichterstatter. Die Diskussion habe sich über weite Strecken darum gedreht, was wohl gewesen wäre, wenn Gorbatschows neuer Unionsvertrag seine Wirkung hätte entfalten können. Es sei wie bei Facebook gewesen, wo man stets nur auf Friends trifft, auf Gleichgesinnte, die, statt gegenzuhalten, nur Lob nach allen Seiten austeilen. In der Hoffnung auf umfassende Würdigung eigener Verdienste durch die so Gelobten: fast ausnahmslos Männer der Generation 70 plus. Die heutige Sicht habe daher kaum eine Rolle gespielt Aber der Filterkaffee - in Russland nicht Standard - sei gut gewesen. Schon die Aufarbeitung der jüngeren Geschichte ist problematisch in Russland. Die letzten Täter und Opfer der Stalinschen »Säuberungen« sind noch am Leben. Jeder mit seiner Sicht. Die Auseinandersetzung mit der jüngsten Geschichte ist noch problematischer. Zwei Drittel aller heute lebenden Russen haben das Ende der Sowjetunion 1991 miterlebt, mindestens die Hälfte bewusst. 56 Prozent bedauern bis heute den Zerfall der UdSSR. 31 Prozent vermissen das Gefühl, überall im postsowjetischen Raum zu Hause zu sein, 43 Prozent auch das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Großmacht. 28 Prozent bedauern den Zerfall nicht, 29 Prozent halten ihn für unvermeidlich. 23 Prozent machten dafür eine »Verschwörung ausländischer Mächte« verantwortlich, 14 Prozent die Hochrüstung, 13 Prozent den Kommunismus, dessen Potenzial erschöpft war. So jedenfalls die Ergebnisse der jüngsten Umfrage des Lewada-Zentrums, derzeit Russlands einziges kritisches Meinungsforschungsinstitut. Nichts, so die Demoskopen, habe die russische Gesellschaft so tief gespalten wie der mit dem Ende der Sowjetmacht zwangsläufig einhergehende Systemwechsel. Der Manchester-Kapitalismus, der als Folge einer verkorksten Privatisierung von Staatseigentum zum Markenzeichen wurde, sorgte dafür, dass sich 95 Prozent des Kapitals in den Händen von maximal fünf Prozent der Bevölkerung konzentrieren. Nicht nur in Russland, sondern auch in den anderen UdSSR-Spaltprodukten. An den krassen Einkommensunterschieden scheiterte meist auch die Suche nach nationalen Ideen als Dämpfer für den Phantomschmerz. Denn der Weg, den Russland nach Machtantritt Putins ging, scheidet für Moskaus Ex-Partner mangels Masse aus: Wiederaufstieg zur Weltmacht. Vor allem der so genannte Krim-Konsens, bei dem sogar die Mehrheit der Liberalen mit im Boot ist, habe die Gräben nivelliert, glauben Soziologen. Dafür würde die Masse sogar billigend in Kauf nehmen, dass Russland der Sowjetunion auch innenpolitisch zunehmend ähnlicher werde. Liberalisierung rangiere weit unten auf der Werteskala. Das kollektive Gedächtnis assoziiere sie mit Chaos, der frühen Jelzin-Ära, inzwischen auch mit den Entwicklungen in der Ukraine und vor allem mit der Perestroika. Politische Liberalisierung sei richtig gewesen, sagt Historiker Andrei Kolesnitschenko, der ukrainische Ehemann der Sportärztin, der einen russischen und einen ukrainischen Pass hat. Sie werde jedoch als destruktiv und nicht als konstruktiv wahrgenommen, weil die Zeit nicht reichte, Kompromissbereitschaft zu üben. Die Eigendynamik, die der Zerfall der Sowjetunion entwickelte, sei bereits zu groß gewesen. Das räche sich bis heute. Nicht nur das Ende der Union und die daraus resultierenden Konflikte - Karabach, Südossetien, Transnistrien - hätten viel mit Unfähigkeit zu Kompromissen zu tun. Auch die Verwerfungen in der Ostukraine.
Irina Wolkowa, Moskau
Die Auflösung der Sowjetunion vor 25 Jahren war nicht nur ein historisches Weltereignis, sondern auch ein ganz persönliches.
Belarus, Ehe, Russland, Ukraine
Politik & Ökonomie
Politik
2016-12-08T18:24:23+0100
2016-12-08T18:24:23+0100
2023-01-22T11:18:40+0100
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1034851.geboren-in-der-udssr-und-heimatlos.html?sstr=medwedew
Geteilte Erinnerung
Dieses Erinnerungsbuch schließt eine Lücke. Das beginnt bereits mit dem Cover: Eine namibische Frau – sie heißt Uakondjisa Kakuekuee Mbari – spaziert selbstbewusst in traditioneller Kleidung zwischen den Gleisen des Bahnhofs von Swakopmund. Ihr Kleid ein leuchtend roter Farbtupfer im tristen Grau-Braun des Bahnhofgeländes. »Remembering Those Who Built This Line« nennt die Künstlerin Nicola Brandt, selbst Namibierin, ihre Fotografie. Der Betrachter wird eingesaugt in einen Gedenk- und Erinnerungsort. Die Gleise sind von den Vorfahren der indigenen Völker Namibias, den Herero und Nama, auf Befehl der deutschen Kolonialherren und in Zwangsarbeit unter menschenunwürdigen Bedingungen verlegt worden, darunter viele Frauen. Noch heute findet man dort Knochen der verscharrten, an Erschöpfung gestorbenen Sklavenarbeiter. Auch wenn die Bundesregierung inzwischen, nach jahrzehntelangem unerträglichem Leugnen, die Schuld am Genozid im damaligen so genannten Deutsch-Südwestafrika anerkennt: Die Aufarbeitung deutscher Kolonialgeschichte steht noch am Anfang. Dazu leistet das Buch von Bernd Heyl einen bemerkenswerten Beitrag. Der einleitende Teil behandelt sensibel die Problematik von Fern-Reisen und kolonialem Blick des Nordens auf den Süden, hier konkret am Beispiel von Namibia. Gleichsam wie ein Kommentar lesen sich die fotografischen Zeugnisse von Helga Roth, etwa eine Bierflasche mit der Aufschrift »Windhoek Premium Lager«, das noch heute nach deutschem Reinheitsgebot gebraut wird, oder die Frontansicht vom »Alten Amtsgericht in Swakopmund«. Heyl fragt: »Welche Gedanken ruft es bei Betrachterinnen und Betrachtern wach?« Nostalgische Erinnerungen? Vor dem Hintergrund eines Völkermordes? Unter dem schlagkräftigen Titel »Kolonisieren heißt transportieren« findet sich hier auch ein Kapitel über den Eisenbahnbau, das »trojanische Pferd der ›Zivilisation‹«. Ab 1890 wurde darüber in Deutschland diskutiert, 1902 wurde die Staatsbahn Swakopmund-Windhuk in Betrieb genommen – gebaut mit dem Schweiß und Blut von 800 afrikanischen Lohnarbeitern und Gefangenen. Diente die Strecke zunächst dem schnelleren Warentransport vom Landesinneren ans Meer, so im Deutsch-Namibischen Krieg für Militärtransporte. Dabei unterstand die Bahn bis 1907 dem »kaiserlichen Eisenbahnkommando«. Helga Roth hat passend dazu ein Bahnhofsgebäude mit restaurierten Loren fotografiert, in denen dereinst Erzvorkommen transportiert worden waren. Jeder Hinweis, unter welchen Bedingungen hier gearbeitet wurde, fehle jedoch, merkt die Fotografin kritisch an. Erneut verstellt der nostalgisch-koloniale Blick die Sicht auf die wahren Hintergründe. Den Hauptteil des Buches macht die präzise Beschreibung von zwanzig Erinnerungsorten aus, von Windhoek über Lüderitz bis zum »Hererofriedhof« in Okahandja. Alle werden mit einer Landkarte zur besseren Orientierung eingeführt, reich bebildert und, wenn nötig, mit Hintergrundinformationen in farbig unterlegten Texten versehen. Exemplarisch sei der Beitrag über den Waterberg hervorgehoben, für den Heyl den renommierten Namibia-Forscher Henning Melber gewinnen konnte. In Stuttgart geboren, kam dieser als junger Mann nach Namibia, wo er sich der Befreiungsbewegung SWAPO anschloss. Heute lehrt er an der Universität von Pretoria, Südafrika. Das Tafelberg-Massiv, so Melber, sei nicht nur eine landschaftlich-attraktive Sehenswürdigkeit, sondern auch eine historisch bedeutsame Stätte. Dort fanden die entscheidenden Kämpfe zwischen den militärisch weit überlegenen »Schutztruppen« der deutschen Kolonialmacht und den Herero statt. Deren Vertreibung in eine wasserlose Wüstenlandschaft, was zu elendem Verdursten Tausender führte, sowie der »Vernichtungsbefehl« erhellen für Melber die Grausamkeit des deutschen Kolonialismus. Der Waterberg sei bis heute ein Symbol für einstiges Grauen. Und mehr noch: Auch eine historische Stätte für die Nachfahren der Herero. Und obendrein ein Nationalpark, in dem man Breit- und Spitzmaul-Nashörner sowie Büffel bewundern kann. Erinnerung, die einer auch heute noch gepflegten Kolonialromantik entzogen und der Natur zur Seite gestellt ist. Heyl, langjähriger Lehrer, politischer Aktivist und Organisator von Studienreisen nach Namibia für die Bildungsgewerkschaft GEW, hat in dieses beeindruckende Buch all sein pädagogisches Gespür und seine Erfahrungen gesteckt. Wer nach Namibia reist, muss diesen »postkolonialen Reisebegleiter« mit im Gepäck haben. Solange Fernreisen unter den Bedingungen der Pandemie erschwert bleiben, kann er aber auch zu Hause als ein lebendiges antikoloniales Geschichtsbuch gelesen werden. Bernd Heyl: Namibische Gedenk- und Erinnerungsorte. Postkolonialer Reisebegleiter in die deutsche Kolonialgeschichte. Brandes & Apsel, 282 S., geb., 29,90 €.
Tom Beier
Auch wenn die Bundesregierung inzwischen die Schuld am Genozid im damaligen so genannten Deutsch-Südwestafrika anerkennt: Die Aufarbeitung deutscher Kolonialgeschichte in Namibia steht noch am Anfang.
Afrika, Genozid, Namibia
Feuilleton
Kultur Kolonialgeschichte
2022-06-02T12:57:19+0200
2022-06-02T12:57:19+0200
2023-01-20T18:20:40+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1164248.geteilte-erinnerung.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
460 Kommunen gegen Insektensterben
Berlin. Die Zahl der pestizidfreien Kommunen hat sich nach Angaben des Bunds für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) im vergangenen Jahr mehr als verfünffacht. Verzichteten im Dezember 2017 deutschlandweit 90 Städte und Gemeinden bei der Pflege ihrer Frei- und Grünflächen auf den Einsatz von chemisch-synthetischen Pflanzenschutzmitteln, sind es aktuell mehr als 460, wie der Umweltverband mitteilte. Viele Kommunalpolitiker wollten etwas gegen das Insektensterben tun. epd/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Pestizide
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1108274.kommunen-gegen-insektensterben.html
Rückendeckung für Maduro
Berlin (nd). Am Sondergipfel des südamerikanischen Staatenbündnisses UNASUR zu den Spannungen nach den Wahlen in Venezuela konnte Ecuadors Präsident Rafael Correa wegen seiner Europa-Reise nicht teilnehmen; auch bei der für heute in Caracas geplanten Amtseinführung von Nicolás Maduro fehlt er. Im nd-Interview ließ Correa am Donnerstag in Berlin jedoch keinen Zweifel daran, dass Maduro trotz des knappen Vorsprungs rechtmäßig neuer Präsident Venezuelas wird: »Herausforderer ... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Im nd-Interview ließ Ecuadors Präsident Rafael Correa am Donnerstag in Berlin keinen Zweifel daran, dass Maduro trotz des knappen Vorsprungs rechtmäßig neuer Präsident Venezuelas wird. Auf dem Sondergipfel der UNASUR in Lima wurden u.a. die Venezuela-Wahlen diskutiert.
Lateinamerika, Nicolás Maduro, Präsidentschaftswahl, Venezuela
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/819202.rueckendeckung-fuer-maduro.html
Facebook drohen 50 Millionen Euro Bußgeld
Berlin. Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) will die von ihr geplante Meldepflicht für schwere Straftaten im Internet mit hohen Bußgeldern untermauern. Am Freitag präsentierte die Ministerin in Berlin ihre Pläne. Lambrecht plant eine Verschärfung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes, nach der soziale Netzwerke künftig bestimmte Straftaten nicht nur löschen, sondern auch dem Bundeskriminalamt (BKA) melden müssen. Kommen sie dem nicht nach, drohen Bußgelder bis zu 50 Millionen Euro. Lambrecht sagte, 77 Prozent aller beim BKA registrierten politischen Straftaten seien rechtsextremistisch motiviert. Es gebe eine Spirale, bei der aus Hass in Worten Taten werden. »Genau diese Spirale wollen wir stoppen«, sagte Lambrecht. Die Meldepflicht soll unter anderem folgende Straftaten erfassen: das Verbreiten von Propagandamitteln, Vorbereitung staatsgefährdender Straftaten, Volksverhetzungen, Gewaltdarstellungen und Morddrohungen. Auch die Verbreitung von Kinderpornografie soll meldepflichtig werden. Lesen Sie auch: Nichts zu lachen. Ein Zeichen, ein Bild, ein Meme, ein Krieg: Die Rechten und ihre Symbole im Netz Beleidigungen, üble Nachrede und Verleumdungen fallen nicht unter die Meldepflicht. Sie sind sogenannte Antragsdelikte. Auch künftig soll es den Betroffenen überlassen bleiben, ob sie Anzeige erstatten wollen, erläuterte Lambrecht. Um die Meldepflicht umzusetzen, sollen Hunderte neue Stellen beim Bundeskriminalamt geschaffen werden. Dafür ist Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) zuständig. Eckpunkte der Gesetzespläne gegen Hass im Netz hatte Lambrecht mit Seehofer bereits im Oktober abgestimmt, als die Bundesregierung nach dem antisemitisch motivierten Anschlag in Halle ein Maßnahmenpaket beschlossen hatte. Der von Lambrecht vorgestellte Referentenentwurf muss noch in der Bundesregierung abgestimmt werden und soll nach bisherigem Zeitplan im Februar vom Kabinett beschlossen werden, bevor der Bundestag darüber abstimmen muss. Die Pläne umfassen auch Änderungen im Strafgesetzbuch, um Beleidigungen im Netz schärfer zu bestrafen, weil ihre Wirkung dort viel höher ist. Geplant sind auch Strafverschärfungen für Drohungen und die Billigung von Straftaten. Mit dem Gesetz umgesetzt werden soll auch der bereits angekündigte bessere Schutz von Kommunalpolitikern. Der Paragraf gegen Verleumdung und üble Nachrede gegen »im politischen Leben stehenden Personen« umfasst sie bislang nicht. Das soll geändert werden. Außerdem sollen antisemitische Motive ausdrücklich im Strafgesetzbuch als strafverschärfend erwähnt werden. Gerichte können sie als Teil der Hasskriminalität schon jetzt bei der Zumessung des Strafmaßes gewichten. Die Aufnahme ins Strafgesetzbuch soll nach Auffassung von Lambrecht aber nochmals zu einer Sensibilisierung dafür führen. Teil der Maßnahmen gegen Rechtsextremismus war auch eine Verschärfung des Waffenrechts. Eine Regelabfrage beim Verfassungsschutz soll dafür sorgen, dass Extremisten nicht an Waffen kommen. Diese Änderung wurde bereits am Freitag im Bundestag beschlossen. »Waffen gehören nicht in die Hände von Extremisten«, erklärte Seehofer. epd/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Justizministerin Lambrecht hat ihre Pläne gegen Hass im Netz konkretisiert. Plattformen sollen schwere Straftaten künftig dem BKA melden. Zudem plant Lambrecht Änderungen im Strafrecht. Sie zielen vor allem auf rechtsextreme Straftaten.
Hass, Internet, Soziale Netzwerke
Politik & Ökonomie
Politik Meldepflicht im Netz
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1130113.facebook-drohen-millionen-euro-bussgeld.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
Eiserne Verhandlungen
»Brexit bedeutet Brexit - und wir werden einen Erfolg daraus machen«, sagte die bereits als zweite Eiserne Lady gehandelte neue britische Premierministerin. Dass Theresa May entgegen den ursprünglichen Plänen der Tories und von David Cameron bereits Mittwoch die neue britische Premierministerin wird, ist dem Sog des unerwarteten Brexit-Votums zu verdanken. Der innen-... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Guido Speckmann
»Brexit bedeutet Brexit - und wir werden einen Erfolg daraus machen«, sagte die bereits als zweite Eiserne Lady gehandelte neue britische Premierministerin Theresa May. Die EU kann sich auf harte Verhandlungen einstellen.
Brexit, EU, Großbritannien
Meinung
Kommentare
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1018514.eiserne-verhandlungen.html
Die Rechte der anderen
Wie können Geflüchteten die deutschen Werte nahe gebracht werden? Erprobte Maßnahmen sind das Grundgesetz etwa auf Arabisch und Integrationskurse zum Thema Gleichberechtigung. Die beste und weniger paternalistische Variante wäre aber, wenn Flüchtlinge die Vorzüge des Grundgesetzes zu spüren bekämen, nicht in erster Linie dessen Einschränkungen. Der diesjährige Grundrechtereport zeigt auf, wi... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Josephine Schulz
Josephine Schulz über Grundrechtseinschränkungen bei Flüchtlingen
Asylpolitik, Flüchtlinge, Grundgesetz, Integration, Polizei
Meinung
Kommentare
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1015470.die-rechte-der-anderen.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
Jetzt schon mehr als 900 Ebola-Tote
Berlin. Der Ebola-Epidemie sind nach neuen Angaben der Weltgesundheitsorganisation wahrscheinlich bereits mehr als 900 Menschen zum Opfer gefallen. Aus den betroffenen Ländern in Westafrika seien bis zum 4. August insgesamt 1.711 Fälle von Ebola sowie Ebola-Verdacht gemeldet worden. 932 dieser Patienten seien gestorben, teilte die WHO am Mittwoch mit. Bei 603 der Toten sei Ebola bestätigt, bei den anderen wahrscheinlich, aber noch nicht eindeutig nachgewiesen. Mit fast 700 Fällen ist Sierra Leone am stärksten betroffen. Neun Fälle sind inzwischen für Nigeria gemeldet, das bevölkerungsreichste Land Afrikas. Hier wurde inzwischen der zweite Todesfall durch die Tropenkrankheit bestätigt. Nigeria ist nach Guinea, Liberia und Sierra Leone das vierte Land, in das sich Ebola ausgebreitet hat. In Saudi-Arabien starb nach Angaben des Nachrichtensenders Al-Dschasira ein Mann mit Ebola-ähnlichen Symptomen. In Genf berät seit Mittwochmittag das Notfall-Komitee der WHO über weitere Dringlichkeitsmaßnahmen zur Eindämmung der Epidemie. Von dem zweitägigen Krisentreffen werden neue Notfallpläne zur Bekämpfung der Epidemie erwartet. Die UN-Organisation hatte 100 Millionen US-Dollar für den Kampf gegen Ebola bereitgestellt, die Weltbank 200 Millionen. »Ärzte ohne Grenzen« forderte weit mehr internationale Unterstützung für die betroffenen Länder. Die Nothilfe-Koordinatorin der Organisation, Anja Wolz, bezweifelte in einem Interview des US-Nachrichtensenders CNN, dass Sierra Leone die tödliche Infektion unter Kontrolle bekommen kann. Die Vorbeugemaßnahmen greifen aus ihrer Sicht noch überhaupt nicht. »Wir haben immer noch ungeschützte Bestattungen, Menschen, die die Beisetzung ohne Desinfektion der Leiche vornehmen«, erläuterte die Krankenschwester aus Würzburg, die in einem Ebola-Zentrum in Kailahun im Osten Sierra Leones tätig ist. Auch versteckten sich immer noch Ebola-Patienten, aus Angst liefen auch ihre Kontaktpersonen davon. Die Virus-Infektion wird über Körperflüssigkeiten übertragen. Die Berührung eines Toten gilt als hoch ansteckend. Die Direktorin des Deutschen Instituts für Ärztliche Mission (Difäm), Gisela Schneider, warnt Entwicklungshelfer, Missionare und Geschäftsleute dringend vor Reisen in die betroffenen Staaten. »Wer sich dort ansteckt, kommt nicht mehr raus«, sagte Schneider in Tübingen dem Evangelischen Pressedienst. Infizierte könnten nicht damit rechnen, ausgeflogen zu werden. Der Hamburger Tropenmediziner Rolf Horstmann hält das Risiko allerdings für minimal, dass Ebola nach Deutschland eingeschleppt werden könnte. Nach den Worten der Ärztin ist der Kampf gegen das Ebola-Virus in der afrikanischen Gesellschaft besonders schwierig. Erkrankte dort hätten vor einer Isolierung viel mehr Angst als Menschen in Deutschland. Auch gehöre es dort zur Abschieds- und Totenkultur, die Gestorbenen noch einmal anzufassen oder zu umarmen. Dadurch komme es immer wieder zu Neuansteckungen. Die Kirchen in Westafrika seien gefordert, alternative Abschiedsriten zu entwickeln. Führende Epidemiologen riefen die WHO derweil dazu auf, vielversprechende Medikamente, die sich noch in der Testphase befinden, beschleunigt zuzulassen. Einen entsprechenden Appell verfassten der frühere Leiter des UN-Aids-Programms und Mitentdecker von Ebola im Jahr 1976, Peter Piot, sowie die Professoren David Heyman und Jeremy Farry. Die beiden ausgeflogenen US-Amerikaner, ein Arzt und eine Missionarin, waren mit dem Serum MZapp behandelt worden und zeigten eine Besserung. Das Mittel wurde bisher nur an Affen getestet. Agenturen/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Der Ebola-Epidemie sind bereits mehr als 900 Menschen zum Opfer gefallen. In Genf berät seit Mittwochmittag das Notfall-Komitee der WHO über weitere Dringlichkeitsmaßnahmen zur Eindämmung der Krankheit.
Afrika, Ebola, Genf, WHO
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/941541.jetzt-schon-mehr-als-ebola-tote.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
Trotz mehr Masern-Fälle kein Impfzwang in NRW
Düsseldorf. Der neue nordrhein-westfälische Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) sieht derzeit keine rechtliche Handhabe für verpflichtende Impfungen. Bislang wäre eine Impfpflicht in Deutschland wohl nur im Seuchenfall möglich, sagte Laumann der »Rheinischen Post«. In den vergangenen Monaten sind die Masern-Fallzahlen in NRW stetig gestiegen. Das Landesamt für Gesundheit hatte kürzlich für das laufende Jahr schon fast 500 Masernfälle vermeldet. Angesichts dessen könne er den Ruf nach einer Impfpflicht nachvollziehen, sagte Laumann. Es stelle sich aber die Frage, ob dies mit dem Grundgesetz vereinbar wäre. »Wir müssen vor allem auf Aufklärung setzen.« dpa/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Impfung, Nordrhein-Westfalen
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1057658.trotz-mehr-masern-faelle-kein-impfzwang-in-nrw.html
Medizinische Berufsausbildung: Wer pflegt, soll nicht leiden
Dass an einem der provisorischen Standorte des Berliner Bildungscampus für Pflegeberufe die Auszubildenden im Sommer schwitzen und im Winter frieren müssen, das ist ein unhaltbarer Zustand. Genauso dürfte es nicht sein, dass es in den Klassenräumen an Steckdosen mangelt. Wir leben im 21. Jahrhundert. Tafel und Kreide reichen nicht mehr aus. Die Geräte brauchen Strom. Auf dem Gelände des Wenckebach-Krankenhauses könnte ein moderner Bildungscampus entstehen. Junge Leute lernen natürlich lieber in einer coolen Umgebung. Man kann gerne schimpfen, dass die Jugend nicht genügsamer ist. Aber das hilft hier nicht weiter. Angesichts der Tatsache, dass mehr Kollegen in den Ruhestand treten als Schulabgänger ins Berufsleben nachrücken, haben die Mädchen und Jungen die Wahl, wo und wie sie sich ausbilden lassen. nd.Muckefuck ist unser Newsletter für Berlin am Morgen. Wir gehen wach durch die Stadt, sind vor Ort bei Entscheidungen zu Stadtpolitik - aber immer auch bei den Menschen, die diese betreffen. Muckefuck ist eine Kaffeelänge Berlin - ungefiltert und links. Jetzt anmelden und immer wissen, worum gestritten werden muss. Es mangelt nicht an Berufen, die besser bezahlt und weniger körperlich und seelisch belastend sind, als es ein Job in der Pflege ist. Patienten versorgen und Senioren betreuen, das ist schon bei angemessener Personalausstattung der Krankenhäuser und Pflegeheime ein hartes Stück Arbeit. Wir wissen aber, dass ein Pflegenotstand herrscht und alles sehr viel schlimmer macht. Die hohe Abbrecherquote spricht Bände. Wir sollten auch wissen, dass nicht jede als Krankenschwester und nicht jeder als Krankenpfleger geeignet ist. Die eine hält es einfach nicht aus, was sie da auf der Station zu sehen bekommt. Der andere ist nicht klug oder fleißig genug, um sich das notwendige Fachwissen anzueignen. Angesichts dieser Tatsachen braucht es für die Pflegeberufe noch viel mehr Wertschätzung und endlich wieder anständige Arbeitsbedingungen – und bei der Schaffung eines modernen Bildungscampus darf keine Zeit vertrödelt werden. Schließlich ist der Umgang mit Alten und Kranken ein Gradmesser für die Humanität einer Gesellschaft – und wie wir mit Alten und Kranken umgehen, das zeigt sich vor allem daran, ob wir heute und in Zukunft für ausreichend Pflegekräfte sorgen.
Andreas Fritsche
Berlin könnte pro Jahr 4800 Absolventen der medizinischen Berufsausbildung gebrauchen. Doch bei einem modernen Bildungscampus geht es nicht schnell genug voran.
Berlin, Bildungspolitik
Meinung
Kommentare Pflegenotstand
2023-11-22T17:25:43+0100
2023-11-22T17:25:43+0100
2023-11-22T19:38:45+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1177973.pflegenotstand-medizinische-berufsausbildung-wer-pflegt-soll-nicht-leiden.html
Zweifel an Motiv Habgier
»Wurde in alle möglichen Richtungen ermittelt?« und »Jeder Femizid ist politisch« steht auf Schildern, die eine Handvoll Frauen am Mittwochmorgen vor dem Landgericht Berlin in Moabit hochhalten. Die Aktivistinnen sind Teil der »Homa und Tajala Aufklärungsinitiative«, die mit ihrer Aktion auf offene Fragen im seit September 2020 laufenden Gerichtsprozess sowie dem Ermittlungsverfahren zu einem brutalen Doppelmord in Marzahn aufmerksam machen wollen. Dann beginnt der Prozesstag um den Mord an der 38-jährigen Afghanin Homa Z. und ihrer neun Jahre alten Tochter Tajala. Die beiden wurden im Februar 2020 in ihrer Wohnung in Marzahn auf grausame Weise mit Dutzenden Messerstichen getötet. Angeklagt ist ein Nachbar der Familie, Ali H. Er soll in der Wohnung eine große Summe Bargeld vermutet und die Frau und das Mädchen deshalb umgebracht haben. Die Aktivistinnen kritisieren die Anklage. Andere mögliche Tatmotive seien im Verfahren nicht genug thematisiert, zu schnell sei in eine Richtung ermittelt worden. »Auch im Gerichtssaal selbst hat eine Reproduktion von Rassismus und Frauenfeindlichkeit durch die Verfahrensbeteiligten stattgefunden. Damit wird neue Gewalt produziert«, sagt eine Sprecherin, die den Prozess seit seinem Beginn mitverfolgt, zu »nd«. Die Initiative ist Teil des »Netzwerks gegen Feminizide«, das sich gegen Gewalt an Frauen einsetzt. »Feminizid« steht für den gewaltsamen Tod von Mädchen und Frauen aufgrund ihres Geschlechts, der eine staatliche Verantwortung für geschlechtsspezifische Gewalt - durch unterlassene Hilfeleistung oder aktives Handeln - sichtbar machen soll. Das Netzwerk fordert die Aufnahme von Feminiziden als schwere Straftat ins Strafgesetzbuch. Beim 28. Hauptverhandlungstag am Mittwoch verkündet die Vorsitzende Richterin, dass sich der Verdacht gegen den Angeklagten durch den Prozess erhärtet habe und es keine Argumente für die Überprüfung anderer möglicher Täter*innen gebe. Die Verteidigung kritisiert das. So sei Habgier als Tatmotiv angesichts der brutalen Art der Tötung der Mutter und ihrer Tochter nicht schlüssig, zumal kein Raubgut festgestellt worden sei. Homa Z., die seit einigen Jahren mit ihrer Familie in einer Mietwohnung in Marzahn lebte, hatte immer wieder von rassistischen Anfeindungen durch Nachbar*innen berichtet, ebenso wie Zeug*innen aus dem Umfeld der Familie. Ein Nachbar soll laut Initiative dem extrem rechten Umfeld angehören, und auch die Verfahrensbeteiligten sprechen von dessen »klarer politischer Gesinnung«. Anwältin Nadija Samour, die den Vater und Ehemann der Ermordeten als Nebenkläger vertritt, plädiert derweil für weitere Zeug*innenbefragungen. »Es handelt sich hier um einen Indizienprozess, bei dem konkrete Beweise fehlen, und es gibt noch viele offene Fragen. Ich war überrascht, dass der Anregung, die direkten Nachbar*innen als Zeugen zu laden, mit Ablehnung begegnet wurde«, sagt Nadija Samour zu »nd«. »Das Gericht hat die Begründung einer rassistischen Motivation der Nachbar*innen ausgeschlossen. Aber selbst wenn man eine solches Tatmotiv als unerheblich betrachtet, so ist es dennoch notwendig, die Nachbar*innen als Zeugen zu hören«, so Samour weiter. Denn die Wände in dem Mietshaus seien dünn. Weitere Befragungen aus der Nachbarschaft könnten genauere Hinweise über Tatzeitpunkt und Verlauf geben. Der Prozess soll noch mehrere Monate andauern. Die Aktivist*innen wollen ihn weiter begleiten. Zum Jahrestag des Mordes im Februar organisierten sie eine Trauerkundgebung in Marzahn, bei der eine anonyme Künstlerin einen Gedenkstein für Homa und Tajala Z. errichtete. Schon ein paar Wochen nach der Kundgebung fanden Mitglieder der Initiative diesen Stein zerstört vor. Sie vermuten einen rassistischen Tathintergrund. Momentan laufen Gespräche mit dem Bezirksamt mit dem Ziel, einen offiziellen Gedenkstein für die beiden Frauen zu errichten.
Josefine Körmeling
Rassismus und Frauenfeindlichkeit würden im Prozess um einen Doppelmord an Mutter und Tochter in Berlin-Marzahn reproduziert, so die Kritik. Anwältin fordert mehr Zeug*innenbefragungen.
Berlin, Feminismus, Femizid, Marzahn-Hellersdorf, Rassismus
Hauptstadtregion
Berlin Feminizide
2021-06-30T17:38:49+0200
2021-06-30T17:38:49+0200
2023-01-20T21:58:21+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1153926.zweifel-an-motiv-habgier.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
Phantasieloser Protest ohne Pappsarg
Ein deutscher Innenminister spricht, wie ein deutscher Innenminister spricht. Stets ist es dasselbe schneidige Vokabular, das unverändert seit Jahrzehnten verwendet wird, nicht nur von Politikern der CDU/CSU. Das sollte einen nicht verwundern. Von »kriminellen Schleppern« ist da die Rede und von »Armutsflüchtlingen«, die »unter dem Deckmantel des Asyls« einreisen, um »kriminellen Machenschaften nachzugehen«. Dass man die Suada, die Hans-Peter Friedrich (CSU) routiniert herunterleierte und mit der pauschal alle Flüchtlinge diskriminiert werden, auch ungestraft auf einem Symposium vortragen kann, das sich ausdrücklich dem Schicksal von Flüchtlingen widmet, sollte einen hingegen stutzig machen. Auf dem bis heute dauernden »Berliner Symposium zum Flüchtlingsschutz«, zu dem jedes Jahr Menschenrechts- und Wohlfahrtsverbände in die Französische Friedrichstadtkirche einladen, war gestern jedoch nicht nur Regierungspropaganda zu hören. Wenn es sich auch um eine zumindest fragwürdige Veranstaltung handelte, zu der rituelles Händeschütteln mit dem Minister ebenso gehörte wie das immergleiche salbungsvolle Gerede von der »Verantwortung« gegenüber politisch Verfolgten, war doch auch eine kritische Stimme zu hören. Als eine Art menschliche Gegenfigur zum Minister hat man etwa den Filmemacher Dagmawi Yimer zu Wort kommen lassen, der nicht nur seine lebensgefährliche Flucht aus Äthiopien schilderte, sondern auch von einer Wirklichkeit sprach, von welcher der Innenminister offenbar nichts wissen will: »Solange die europäischen Regierungen die Diktatoren Afrikas unterstützen und finanzieren, müssen sie auch anerkennen, dass es Flüchtlinge gibt«, sagte er und sprach von der »Verlogenheit« der europäischen Politik, mit der »Flüchtlingsströme erst produziert werden«. Yimer, der politisch verfolgt wird, wurde in Bengasi festgenommen und zusammen mit 120 anderen Flüchtlingen in einem Container in den Sudan verfrachtet. Nach einer Odyssee, die ein halbes Jahr dauerte, schaffte er es schließlich auf die italienische Insel Lampedusa. Heute arbeitet er in Italien mit Flüchtlingskindern. Vermutlich ist Yimer einer derjenigen, die Günter Burkhardt, der Geschäftsführer von Pro Asyl, meinte, als er – ganz in der Diktion des CSU-Ministers – davon sprach, dass auf den kenternden Flüchtlingsbooten auch Leute seien, »die wir brauchen können, nicht nur Leute, die uns ausnutzen«. Vor der Kirche wollte eine Hand voll Menschen ihrem Protest gegen die deutsche Flüchtlingspolitik auf die bewährte Art Ausdruck verleihen: Sie hatten eine selbst gebastelte Skulptur aufgestellt, die einen Pass darstellen sollte. Davor standen zwei Menschen, die mit roten Overalls bekleidet waren und jeweils mit einem Paddel in der Hand, das wohl ein Gewehr symbolisieren sollte, versuchten, Menschen fernzuhalten, die blaue T-Shirts trugen. Gelang es den beiden, mit ihren Paddeln dem Träger eines blauen Hemdes den Weg zu versperren, musste der solcherart Ferngehaltene sich auf einen Stuhl setzen, den Kopf hängen lassen und ein Schild mit der Aufschrift »Abschiebung« hochhalten. Vor 30 Jahren mag derlei albernes Treiben einer Laienschauspielgruppe noch als »phantasievoller« Protest gegolten haben. Den Menschen, die auf der Flucht vor Verfolgung den Weg nach Europa suchen, ist mit derlei Possenspiel jedoch wenig geholfen. Schließlich hat bis heute kein einziger der zahllosen Pappsärge, mit denen auf Demonstrationen »die Bildung zu Grabe getragen« wurde, auch nur eine einzige Kürzung im Bildungswesen verhindert.
Thomas Blum
Neben einem äthiopischen Flüchtling war auch der Innenminister eingeladen, der sagte, was er immer sagt.
Flüchtlinge
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/200261.phantasieloser-protest-ohne-pappsarg.html
Exzentriker
Seit 1995 ist Kirsan Iljumschinow Präsident des Weltschachbundes (FIDE). Der Millionär aus Kalmückien möchte es auch bleiben. Weil der Kreml entschieden hat, dass er im Oktober sein politisches Amt als Staatschef der südrussischen Republik verliert, will Iljumschinow zumindest den Schachverband weiter leiten. Darüber abgestimmt wird bei der morgen in Chanty-Mansijsk beginnenden Schacholympiade. Die Wahl wird aber kein Spaziergang für den Amtsinhaber. In Ex-Weltmeister Anatoli Karpow hat Iljumschinow einen ernsthaften Rivalen aus dem eigenen Land. Beide führten monatelang einen erbitterten Wahlkampf. Karpow wirft dem Kontrahenten schlechtes Manageme... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Dagobert Kohlmeyer
Kirsan Iljumschinow / Der Präsident des Weltschachbundes sorgt für Kopfschütteln
Schach
Sport
Sport Personalie
https://www.nd-aktuell.de//artikel/179988.exzentriker.html
Gespalten
Das Vertrauen in die Medien in Deutschland nimmt einer Studie zufolge deutlich ab. Ostdeutsche sehen die Medien dabei kritischer als Westdeutsche, heißt es in einer am Freitag veröffentlichten Studie der gewerkschaftsnahen Otto-Brenner-Stiftung. Besonders groß ist demnach das Misstrauen auch bei AfD-Wählern. Diejenigen Milieus, die sich durch Ablehnung der demokratischen Grundwerte auszeichneten, seien »auch durch ein starkes Misstrauen gegenüber allen Medien geprägt«, stellen die Experten der Wissenschaftsstiftung der Gewerkschaft IG Metall fest. »Wer die Glaubwürdigkeit der Medien hoch einschätzt, ist auch mit dem Funktionieren der Demokratie zufrieden.« Von denen, die das Vertrauen in die Medien verloren hätten, sei mehr als die Hälfte auch nicht mit der Idee der Demokratie zufrieden. Grundsätzlich gilt dies für alle Medien, aber mit Unterschieden. Tageszeitungen und öffentlich-rechtlicher Rundfunk erzielen demnach im Westen Deutschlands Glaubwürdigkeitswerte zwischen 54 und 56 Prozent, weit mehr als der Privatfunk (35 Prozent), das Internet (18,5 Prozent) oder die Boulevardpresse (neun Prozent). Deutlich geringer sind die Vertrauenswerte im Osten Deutschlands. Dort Vertrauen der Studie zufolge nur 45 Prozent dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk, 41 Prozent den Tageszeitungen, 30 Prozent dem Privatfunk und fünf Prozent der Boulevardpresse. Nur das Internet kommt mit 26 Prozent auf einen höheren Wert als im Westen. Auch der soziale Status spielt eine Rolle: Bei Arbeitslosen sind die Vertrauenswerte in ganz Deutschland deutlich niedriger als bei Berufstätigen. AFP/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Vertrauen in die Medien
Internet, Medienkritik, Öffentlich-Rechtlicher Rundfunk
Feuilleton
Kultur
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1066019.gespalten.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
Frech zugegriffen statt höflich gefragt
Eigentlich geht es nicht mehr ohne die Navigator-App, sobald eine längere Reise mit der Deutschen Bahn (DB) ansteht. Ansagen am Bahnsteig und die Gleisanzeige mögen noch recht routiniert funktionieren. Doch spätestens, wenn der Zug auf einem anderen Gleis einfährt, fehlt der ausgehängte Wagenstandsanzeiger am neuen Gleis. Mit Gepäck gilt es dann, im vollen Zug den gebuchten Sitzplatz zu finden, gern auch noch unter erschwerten Bedingungen, wenn die Wagenreihung wieder einmal verändert wurde. Ein Klick in die DB-Navigator-App liefert nicht nur Informationen über Gleiswechsel und Verspätungen, sondern bietet auch die Option, Fahrkarten zu buchen oder schnell ein Anschlussticket zu lösen, wenn es einmal aus einer Tarifzone hinaus geht. Der unangenehme Beigeschmack: Die App kennt reichlich Daten der Reisenden. »Viele Menschen sind auf die Bahn als Verkehrsmittel angewiesen – und wir alle sind auf sie angewiesen, damit eine Klimawende gelingen kann«, sagt Julia Witte von Digitalcourage. Nicht nur Witte ist der Ansicht, dass Bahnfahren zur Grundversorgung gehört und mit Apps eine wichtige Stellung einnehmen kann. »Dass ausgerechnet diese App massenhaft Informationen über uns weitergibt, ist ein inakzeptabler Übergriff«, so Witte. Die Datenschützer*innen vom Verein Digitalcourage machen gegen den Navigator mobil, denn einige seiner Funktionen verstoßen gegen die Datenschutzgrundverordnung DSGVO sowie das Telekommunikation-Telemedien-Datenschutz-Gesetz TTDSG. Sicherheitsforscher Mike Kuketz hat die App unter die Lupe genommen und dabei eine Reihe sogenannter Tracker ausfindig gemacht, die Daten über das Nutzungsverhalten sammeln und weiterleiten. Und zwar nicht nur an die DB AG, sondern auch an den US-Software-Produzenten Adobe und die App-Stores von Google oder Apple. Die Deutsche Bahn hat die Kritik von Digitalcourage an der App unterdessen »entschieden« zurückgewiesen. Es würden »keine identifizierenden personenbezogenen Informationen, sondern nur pseudonymisierte Daten« verarbeitet, heißt es in einer Pressemitteilung des Konzerns. Man lege großen Wert auf die sparsame Erhebung und den sorgsamen Umgang mit den Daten der Kund*innen. Doch angesichts der großen Datenmenge, die allein die zehn Millionen Nutzer der Android-Version des Navigators produzieren, liegen reichlich Daten vor, die zumindest theoretisch eine Deanonymisierung und damit eben doch wieder Rückschlüsse auf personenbezogene Informationen ermöglichen können. Kernpunkt des Streits um die App ist, dass sie Daten an zehn Dienstleister übermittelt, ohne die der Navigator angeblich nicht funktioniert. Statistische Zwecke, personalisierte Angebote und Funktionstest zur Nutzungsverbesserung zählen dazu. »Für den Abruf von Zugverbindungen in einer Fahrplan-App und die Buchung von Tickets ist die Weiterverwertung der personenbezogenen Daten der Reisenden zu Analyse- und Marketingzwecken nicht unbedingt erforderlich«, sagt Anwalt Peter Hense, der der Bahn zusammen mit Mike Kuketz und dem Datenschutzativisten Padeluun von Digitalcourage im April ein Ultimatum zur Überarbeitung der App gesetzt hatte. »Durch die Einordnung der Tracker in diese Kategorie will sich die Bahn ihrer Verpflichtung entziehen, Nutzer*innen um eine informierte Einwilligung bitten zu müssen. Kurz: Die Bahn greift bei den Daten ihrer Fahrgäste frech zu, obwohl sie höflich fragen müsste«, sagt Peter Hense. Zwar reagierte die Bahn auf das Ultimatum. Sie habe aber in ihrer Antwort deutlich gemacht, »dass sie nicht vorhat, etwas an den Trackern zu ändern«. Deshalb werde von den Datenschützer*innen eine Klage eingereicht.
Daniel Lücking
Seit Monaten mahnt Digitalcourage die Beseitigung von Datensammelfunktionen der DB-App an. Weil der Konzern ein Ultimatum des Vereins verstreichen ließ, wird nun geklagt.
Bahn, Bahnverkehr, Datenschutz, Digitalisierung
Politik & Ökonomie
Politik Datenschutz
2022-07-26T17:51:33+0200
2022-07-26T17:51:33+0200
2023-01-20T17:53:34+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1165620.datenschutz-frech-zugegriffen-statt-hoeflich-gefragt.html
Wasserwerfer zum Jahrestag
Auf den Straßen der ägyptischen Städte sind Zehntausende Polizisten und Soldaten aufgezogen. Schon am Sonntag waren Kontrollpunkte errichtet sowie Einsatzfahrzeuge und Wasserwerfer in Stellung gebracht worden. Im Fernsehen hielt derweil Präsident Abdelfattah al-Sisi eine Rede: »Das heutige Ägypten ist nicht das von gestern. Zusammen bauen wir einen zivilen, modernen und fortgeschrittenen Staat auf, der die Werte der Demokratie und der Freiheit aufrecht erhält und seinen Pfad der Entwicklung der Wirtschaft weiter beschreitet.« Für Youssef ist das »blanker Hohn«: Ägypten sei heute unfreier als je zuvor. Youssef ist nicht sein richtiger Name. Vor fünf Jahren hatte der junge Mann zu jenen gehört, die über Facebook und Twitter die Massenproteste organisiert hatten, die ausgerechnet am »Tag der Polizei«, der in Ägypten am 25. Januar abgehalten wird, begannen. 18 Tage später musste Staatschef Husni Mubarak nach 30 Jahren an der Macht zurücktreten; die Demonstranten wähnten sich am Ziel. Aber aus dem »arabischen Frühling« wurde schnell der »ägyptische Sommer«. Mitte 2013 setzte das Militär unter Führung seines Generalstabschefs Sisi den zwar frei gewählten, aber der Muslimbruderschaft nahestehenden Präsidenten Mohammed Mursi ab - zum Schutz der Demokratie, wie es damals immer wieder zur Begründung hieß. »Doch viel übrig geblieben ist davon nicht«, sagt Youssef: Er selbst wird heute von der Polizei gesucht; die meisten seiner einstigen Mitstreiter sitzen bereits in Haft. Nach der Machtergreifung Sisis folgte eine Verhaftungswelle, die nach Ansicht der Bürgerrechtsanwältin Ragia Omran beispiellos ist: »Wir befinden uns in einer schlechteren Lage als zu Mubaraks Zeiten. Die Lebensbedingungen in den Gefängnissen sind miserabel. Dort, aber vor allem in Polizeistationen wird gefoltert.« Grund dafür, da sind sich internationale Menschenrechtsorganisationen einig, ist vor allem, dass die sogenannte Sicherheitspolizei wiederbelebt wurde, die nach Mubaraks Sturz aufgelöst worden war. Es ist einfach, heute in Ägypten in die Mühlen von Polizei und Justiz zu geraten. So verbrachten mehrere Journalisten des Fernsehsenders Al-Dschasira gut zwei Jahre im Gefängnis, weil sie »falsche Nachrichten« verbreitet haben sollen; ein Tatbestand, der sich in keinem ägyptischen Gesetzbuch findet. Und 2014 wurden mehrere hundert Menschen in einem Prozess zum Tode verurteilt; das erste solcher Massenverfahren. Unter den Verurteilten ist ein Anwalt, der seinen Mandanten besuchen wollte und vom Gefängnispersonal auf die falsche Liste gesetzt wurde. Im November wurde der in Frankfurt am Main arbeitende Chirurg Ahmed Said fest genommen und später zu zwei Jahren Haft verurteilt. Er hatte an einem stillen Protest für die Opfer eines Zusammenstoßes zwischen Demonstranten und Militär Ende 2011 teilgenommen, bei dem 42 Menschen ums Leben kamen. Der Vorwurf: Er soll den Verkehr behindert haben; laut Gesetz ist dies eigentlich eine Ordnungswidrigkeit. »Ja, einige Praktiken der Sicherheitsorgane verletzen die Menschenrechte«, gab Innenminister Abdel Ghaffar gegenüber CNN offen zu. »Wegen der Realität, in der wir leben, sind sie aber notwendig. Wir sehen uns mit einer beispiellosen Welle des Terrorismus konfrontiert.«
Oliver Eberhardt
Vor fünf Jahren begann damals die ägyptische Revolution. Erfüllt haben sich die Erwartungen nicht: Zwar trat Staatschef Mubarak zurück. Doch unter den neuen Machthabern wurde Ägypten unfreier als je zuvor.
Ägypten, Polizei
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/999401.wasserwerfer-zum-jahrestag.html
Ein nützlicher Krieg
Es ist ein typisch postsowjetischer Konflikt, vergleichbar mit dem Tschetschenienkrieg, den Kämpfen im georgischen Abchasien oder in Nordossetien sowie der Ostukraine: Seit dem 12. Juni liefern sich armenische und aserbaidschanische Truppen schwere Grenzgefechte, mindestens 16 Menschen, darunter Zivilisten, kamen dabei ums Leben. Mehrere Dutzend wurden verletzt. Beide Seiten beschuldigen sich gegenseitig, die Waffenruhe gebrochen zu haben. Der Feind habe »provokative Handlungen wiederaufgenommen«, hieß es aus dem armenischen Verteidigungsministerium. »Truppen der armenischen Armee haben eine adäquate Antwort gegeben.« Beinahe gleichlautende Erklärungen kommen von der Gegenseite. Hintergrund der Gewalteskalation ist der ungelöste Konflikt um Bergkarabach. Zu Sowjetzeiten war die Region eine mehrheitlich armenisch besiedelte Enklave in der Aserbaidschanischen Sozialistischen Sowjetrepublik (ASSR). 1988 beschloss der Oberste Sowjet Bergkarabachs formell den Austritt aus der ASSR, im Zuge dessen kam es auch zu den ersten Vertreibungen ethnischer Aserbaidschaner. Die Regierung in Baku reagierte darauf mit einer bis heute anhaltenden Wirtschaftsblockade gegen Armenien, die anfangs sogar die Unterstützung Michail Gorbatschows fand. Dies änderte sich nach einer Reihe von Pogromen in mehreren aserbaidschanischen Städten gegen die ansässige armenische Bevölkerung im Januar 1990, die von der sowjetischen Zentralregierung gewaltsam niedergeschlagen wurden. Als die aserbaidschanische Regierung das bis dahin gültige Autonomiestatut der Region aufhob, kam es zum offenen Konflikt: Truppen aus Bergkarabach eroberten - ab März 1992 unterstützt durch armenische Freischärler - einen Landweg nach Armenien. Mit dem im Mai 1994 unterzeichneten Waffenstillstandsabkommen wurde Bergkarabach de facto unabhängig, doch kein Staat erkennt die proklamierte Republik Arzach und die damit einhergehenden Grenzverschiebungen an - nicht einmal Armenien, obwohl es Bergkarabach politisch und finanziell unterstützt. Die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Armenien und Aserbaidschan forderten schätzungsweise 25 000 bis 50 000 Todesopfer, über 1,1 Million Menschen wurden vertrieben. Eine politische Lösung des Konfliktes ist auch 26 Jahre später nicht in Sicht. Im Gegenteil: Wissenschaftler sprechen von einem »eingefrorenen Konflikt« - keine sonderlich zutreffende Beschreibung, denn an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze kommt es immer wieder zu »heißen« Kämpfen, zum Teil über mehrere Tage wie etwa 2016. Die aktuellen Auseinandersetzungen sind zweifellos die größte Krise seit Mitte der 1990er Jahre, denn anders als sonst finden sie dieses Mal nicht entlang der Region Bergkarabach statt, sondern in der nördlichen Grenzregion, die in Armenien Tawusch und in Aserbaidschan Towus genannt wird. Der Konflikt könnte rasch weiter eskalieren: Ein Sprecher des aserbaidschanischen Verteidigungsministeriums erklärte am Donnerstag, die Armee sei dank moderner Raketensysteme in der Lage, das armenische Kernkraftwerk Mezamor zu beschießen. »Ich habe mehrfach gesagt, dass unsere Diplomatie offensiv, nicht passiv und defensiv sein muss«, so der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew. Der Historiker Stanislaw Pritschin vom Institut für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen in Moskau sieht den Grund für die aktuelle Konfliktverschärfung in der wachsenden ökonomischen Krise. »Unzufriedenheit und Spannungen existieren in beiden Ländern«, so der Wissenschaftler. Tatsächlich haben sich die Eliten in Aserbaidschan und in Armenien mit dem Konflikt bestens arrangiert, denn das allgegenwärtige äußere Feindbild lenkt das Volk ab von der sozialen Ungleichheit im Inneren. Trotz der wiederkehrenden innenpolitischen Krisen und Regierungsumstürze ist in Armenien die anti-aserbaidschanische Stoßrichtung eine Konstante in der Außenpolitik des Landes. Dies änderte sich auch nicht, als der autoritäre Präsident Sersch Sargsjan im Zuge der »Samtenen Revolution« 2018 gestürzt wurde. In Aserbaidschan ist die Situation ähnlich: Wenige Tage vor den Grenzgefechten hatte Alijew kritisiert, die Gespräche zur Konfliktlösung seien festgefahren und eine neue militärische Auseinandersetzung mit Armenien nicht ausgeschlossen. Doch in dem Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan mischen längst regionale Großmächte mit. Armenien ist Mitglied in dem russisch dominierten Militärbündnis Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) und der Eurasischen Wirtschaftsunion. Zudem unterhält Russland in Armenien eine Militärbasis mit 3000 Soldaten. Aserbaidschan verfolgt dagegen - nicht zuletzt dank der hohen Öl- und Gasvorkommen - eine Außenpolitik, die geschickt zwischen Russland und den USA sowie der Europäischen Union balanciert. Enge politische und wirtschaftliche Interessen pflegt das Land jedoch mit der Türkei - und die treibt aktuell die Konfrontation voran, indem sie Alijew offiziell den Rücken deckt, während Russland, die USA und die EU die Konfliktparteien zu Zurückhaltung aufrufen.
Felix Jaitner
Der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach ist typisch für den postsowjetischen Raum: ungelöste Nationalitätenkonflikte, Autoritarismus und anhaltende Wirtschaftskrisen sorgen für Spannungen. Die Regierungen nutzen das für ihre Zwecke.
Armenien, Russland
Politik & Ökonomie
Politik Bergkarabach
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1139299.bergkarabach-ein-nuetzlicher-krieg.html
Ausnahmezustand in Chile landesweit beendet
Santiago de Chile. Nach den Massenprotesten der vergangenen Tage ist der landesweite Ausnahmezustand in Chile am Montag beendet worden. Zuvor hatte Präsident Sebastián Piñera die entsprechenden Dekrete für die Aufhebung des Ausnahmezustandes in allen Regionen unterzeichnet. In einigen Städten kam es am Sonntag erneut zu Großkundgebungen mit mehreren Tausend Demonstranten. Piñera sieht sich seit dem 19. Oktober mit beispiellosen sozialen Protesten konfrontiert. Die Demonstranten fordern seinen Rücktritt und eine grundlegende Änderung der Wirtschaftspolitik der chilenischen Regierung, die sie für die soziale Misere weiter Bevölkerungskreise verantwortlich machen. Am Freitag hatte es in der Hauptstadt Santiago de Chile und mehreren anderen Städten Massenproteste mit mehr als einer Million Teilnehmern gegeben. Die Demonstrationen gehörten zu den größten in der Geschichte Chiles. Entzündet hatten sich die Proteste vor mehr als einer Woche an einer Erhöhung der Preise für U-Bahn-Tickets. Piñeras Regierung reagierte zunächst mit Ausgangssperren und der Verhängung des Ausnahmezustandes in der Hauptstadt Santiago und weiteren Regionen Chiles. Am Samstag ging der Präsident schließlich auf die Protestbewegung zu und kündigte eine komplette Neuaufstellung seines Kabinetts an, um »die neuen Herausforderungen bewältigen zu können«. Im Verlauf der politischen Unruhen wurden mindestens 20 Menschen getötet und fast 600 weitere verletzt. Es gab mehr als 3000 Festnahmen. Eine UN-Sondermission wird voraussichtlich am Montag im Land eintreffen, um Vorwürfen wegen Menschenrechtsverletzungen nachzugehen. Menschenrechtsorganisationen haben in den vergangenen Tagen von zahlreichen Übergriffen durch Sicherheitskräfte berichtet. Nach Angaben des nationalen Instituts für Menschenrechte (INDH) wurden bei der Organisation 88 Anzeigen eingereicht, darunter fünf wegen Mordes und 17 wegen der Anwendung von Folter und sexualisierter Gewalt. AFP/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Nach den Massenprotesten der vergangenen Tage hat Präsident Sebastián Piñera den landesweiten Ausnahmezustand in Chile am Montag beendet. In einigen Städten kam es am Sonntag erneut zu Großkundgebungen mit mehreren Tausend Demonstranten.
Ausnahmezustand, Chile, Demonstration, Neoliberalismus, Protestbewegung
Politik & Ökonomie
Politik Chile
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1127793.chile-ausnahmezustand-in-chile-landesweit-beendet.html
Klicks mit Ullrich
Es gibt viele Prominente, die der Boulevard liebt. Jene, die ganz oben stehen, bereitwillig Einblicke in ihr Leben geben, das Blitzlichtgewitter gezielt suchen. Noch lieber sind den Klatschreportern nur die Stars, deren Stern am Verglühen ist, die sich auf dem Weg nach ganz unten befinden - so wie Jan Ullrich. Seit der frühere Profiradrennfahrer vor zwei Wochen auf Mallorca vorübergehend festgenommen wurde, weiß die Öffentlichkeit dank eines sogenannten guten Freundes namens Til Schweiger, dass Ullrich inzwischen zum zweiten Typ der Promi-Welt gehört. Anstatt mit seinem Kumpel zum Psychologen zu gehen, packte der Schauspieler ganz unsportlich über den »Ulle« und dessen Suchtproblem in der »Bild am Sonntag« aus. Und bekanntermaßen ist das kein Blatt, dass für rücksichtsvolle Berichterstattung bekannt ist. Allerdings ist es längst nicht nur das Bild.de-Imperium, dass die Geschichte über den gestürzten Radstar mit exzessiver Gier verfolgt. Bildblog.de hat nachgezählt, welche Relevanz große deutsche Medien dem Thema Ullrich zumessen. Focus.de, in Fachkreisen auch als Nachrichtenschleuder bekannt, die es für nötig hielt, über den Rennfahrer Michael Schumacher nach dessen schwerem Unfall über Wochen einen Newsticker zu befüllen, brachte es in nur zweieinhalb Wochen auf 65 Texte über den kranken Radsportler. Bild.de veröffentlichte im gleichen Zeitraum 43 Artikel, selbst die »Frankfurter Allgemeine« fand auf faz.net noch genug Gründe, um mit ihrem Gewissen 19 Beiträge zu vereinbaren. Christian Meier beschreibt auf welt.de den Grat zwischen Medienhetze und der »Wahrung der Sorgfaltspflicht« in der Berichterstattung. »Fraglos haben Medien eine Verantwortung gegenüber Jan Ullrich. Genauso, wie sie eine Verantwortung gegenüber jeder einzelnen Person haben, über die sie berichten«, so Meier. Von den Medien dürfe Ullrich Fairness erwarten, gleichzeitig habe er den Rummel um seine Person selbst mit geschaffen. In besseren Zeiten hätten Sportstars wie er »gerne das Licht der Öffentlichkeit« gesucht. Zu bemängeln sei laut Meier »der übertriebene Kult, der in der Öffentlichkeit um so manchen Weltmeister oder Olympiasieger betrieben wird. Daran beteiligen sich aber nicht nur Medien, sondern auch PR-Agenten, Sponsoren, Funktionäre.« Selbige üben sich nicht einmal am Tiefpunkt in Zurückhaltung. So wissen wir dank der »Hamburger Morgenpost«, dass Ullrichs Ex-Manager Ole Ternes vermutet, der Ex-Radstar werde »komplett von fremden Menschen ferngesteuert«. Apropos Vermutungen: Eben diese bestimmen große Teile der Berichterstattung, da nur Ullrich, seine Ärzte und er engste Bekanntenkreis wissen, wie es ihm geht. Und weil es über den eigentlichen Fall wenig Berichtenswertes zu melden gibt, steigt ein »Focus«-Autor notfalls im Hotel ab, wo Ullrich eine Sexarbeiterin gewürgt haben soll. Nur um anschließend schreiben zu können, dass er vielleicht im selben Bett gelegen habe, wie der ehemalige Radsportler.
Robert D. Meyer
Es gibt viele Prominente, die der Boulevard liebt. Jene, die ganz oben stehen, das Blitzlichtgewitter gezielt suchen. Noch lieber sind den Klatschreportern nur die Stars, deren Stern am Verglühen ist - so wie Jan Ullrich.
Medienkritik
Aus dem Netz gefischt Jan Ullrich
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1098269.jan-ullrich-klicks-mit-ullrich.html
Beste Spielverderberin: Schwedens Zećira Mušović gegen Spanien
Die Abläufe im Eden-Park von Auckland werden sich jetzt erneut wiederholen. Bevor Zećira Mušović vor den Nationalhymnen den Rasen betritt, umklammert sie mit der linken Hand ihre Handschuhe, mit der rechten wird ein Einlaufkind geführt, dann den Kopf heben, rausgehen und lächeln. Es sind Momente, in denen die schwedische Nationaltorhüterin genießt, was ihr bei der Weltmeisterschaft in Australien und Neuseeland gefällt: Sie hat für die aufregendste Zeit ihrer Karriere ihre beste Form. Dass die unbeugsamen Skandinavierinnen im Halbfinale gegen die spielstarken spanischen Fußballerinnen an diesem Dienstag die Endspieltür aufstoßen können, um nach 20 Jahren wieder in ein Endspiel einzuziehen, ist auch ihrer tüchtigen Torhüterin zu verdanken. Im Finale von 2003 in den USA zerstörte der Golden-Goal-Kopfball von Nia Künzer den schwedischen Traum vom Titel. Bei dieser WM hätten die Schwedinnen ohne die 27-jährige Zećira Mušović schon früher wieder heimfliegen müssen. Trotz aller kämpferischen Qualität, defensiven Disziplin und taktischen Raffinesse, die dieses Team auszeichnen. 55 Paraden listen die Statistiker des Weltverbandes Fifa bei der bislang besten Nummer eins dieses Turniers auf, die fast im Alleingang im Achtelfinale gegen die USA den Rekordchampion eliminierte. »Ich kann mir keinen anderen Grund als die Torhüterin vorstellen, warum wir das Spiel nicht gewonnen haben«, meinte US-Trainer Vlatko Andonovski zerknirscht. Wenn der schwedische Beton mal brüchig wird, ist immer noch die 1,80 Meter große Spielverderberin zur Stelle, die mit starken Reflexen, sicheren Grundtechniken und gutem Stellungsspiel besticht. Erstaunlich nur, dass diese Qualitäten erst jetzt international auffallen. In Schweden war Hedvig Lindahl mit ihrer Zuverlässigkeit, Ruhe und Ausstrahlung zur zeitlosen Institution geworden, an deren Wachablösung sich lange niemand wagte. Erst mit 39 Jahren und nach 189 Länderspielen räumte die Ikone im vergangenen Jahr nach der EM in England ihren ewigen Platz im Tor. Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen. Mušović folgte nicht sofort. Und das lag daran, dass sie seit ihrem Wechsel zum FC Chelsea kaum spielt. Stammtorhüterin dort ist die Deutsche Ann-Katrin Berger, die auch nach ihren Ausfallzeiten durch die Krebsbehandlung immer wieder zurückkam. Die Ersatztorhüterin der DFB-Auswahl verfolgt die WM auch nach dem Aus der deutschen Fußballerinnen weiter. »Man ist nicht so oft in Australien«, nennt sie einen Grund. Ein anderer: Ihre Lebensgefährtin Jessica Carter ist mit Englands Team noch im Turnier, beim Viertelfinalsieg gegen Kolumbien war Berger in Sydney dabei. Über ihre Teamkollegin Mušović vom FC Chelsea sagt sie: »Gegen die USA ist Zećira richtig herausgestochen. Sie hat bewiesen, dass sie eine Mannschaft zum Sieg führen kann.« Es wird eine spannende Frage, wie sich Chelseas Trainerin Emma Hayes für die neue Saison entscheidet. Kann sie die Schwedin wirklich auf der Bank lassen, die von der WM vielleicht als beste Torhüterin mit dem »Goldenen Handschuh« zurückkommt? Im Nationalteam schreibt Mušović schon jetzt ein berührendes Kapitel. »Ich bin in meiner eigenen Geschichte gelandet und habe verstehen müssen, dass es niemals einfach ist«, sagte sie vor der WM. Ihre Vita ist geprägt davon, Widerstände überwinden zu müssen. Ihre serbischen Eltern flohen in den 90er Jahren vor dem Jugoslawien-Krieg. Während zwei Schwestern und ein Bruder noch nahe der bosnischen Grenze geboren wurden, kam sie bereits in Schweden zur Welt. Als Kind begeisterte sie sich früh für den Fußball, bekam aber immer wieder zu hören, lieber etwas zu tun, was »für ein Mädchen angemessen ist«. Doch beirren ließ sie sich nicht: Bereits mit 17 Jahren ging sie zum Topklub FC Rosengard. Irgendwann musste sie sich für ein Nationalteam entscheiden – und sie gab dem schwedischen Verband die Zusage, weil »die Schweden meine Familie mit offenen Armen empfangen haben«. Die intelligente Torfrau spricht auch sehr gut Deutsch, weil sie es in der Schule gelernt hat. Und so staunte ARD-Reporter Patrick Halatsch nicht schlecht, als ihm Mušović nach dem schwedischen 2:1-Sieg im Viertelfinale gegen die favorisierten Japanerinnen einige Passagen auf Deutsch antwortete. Und obwohl der Gegner im Halbfinale mit seiner Spielanlage Japan ähnelt, sagte sie: »Spanien ist der nächste aufregende Kontrahent mit einem anderen Stil. Wir werden wieder das Beste tun, um auch dieses Spiel zu gewinnen.« Zu verlieren hat speziell sie nicht mehr viel. Deshalb wird beim Einlaufen auch gelächelt.
Frank Hellmann, Sydney
Die 27-Jährige ist die beste Torhüterin des Turniers. Auf sie wird es gegen die starken spanischen Fußballerinnen wieder besonders ankommen. Aber Widerstände zu überwinden, das kennt die Tochter serbischer Einwanderer.
Australien, Fußball, Schweden, Spanien, USA
Sport
Sport Fußball-WM der Frauen
2023-08-14T13:54:37+0200
2023-08-14T13:54:37+0200
2023-08-14T18:47:21+0200
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1175498.fussball-wm-der-frauen-beste-spielverderberin-schwedens-zećira-musović-gegen-spanien.html
Skandalöse Kriminalisierung
Der türkische Ministerpräsident war bei Merkel zu Besuch. Man kann finden, dass das Timing für ein Pläuschchen mit Repräsentanten des Erdoğan-Regimes ganz schön schlecht ist und deutsche Appeasement-Politik kritisieren. Man kann auch die Haltung haben, Diplomatie schade nie. Ganz egal aber, was man zu dem Yıldırım-Besuch denkt - dass in Deutschland inzwischen mehrere Demos gegen den Afrin-Krieg verboten wurden, ist ein Skandal. Als am vergangenen Wochenende in Köln dem linken kurdischen und - trotz einer ihm nachgesagten PKK-Nähe - legalen Verein Nav-Dem der Protest untersagt wurde, vermuteten viele noch den Karneval als Grund. Doch nun hat die Kölner Polizei weitere Demos mit der Begründung verboten, dass zu erwarten sei, dort würden verbotene PKK-Symbole gezeigt. Was für eine unglaubliche Argumentation! So könnte jeder Pegida-Marsch von vorn herein untersagt werden, weil man annehmen muss, dass dort volksverhetzende Äußerungen getätigt werden. Der ganze Vorgang verweist auf ein grundlegendes Problem: Das PKK-Verbot fungiert immer wieder zur Kriminalisierung. Und unabhängig davon, was man von der PKK politisch hält, sie hat sich vor mehr als 20 Jahren von gewalttätigen Aktionen in Deutschland glaubhaft losgesagt. Dennoch wirkt sich ihr Verbot sogar auf legale Vereine wie Nav-Dem aus. Yıldırım wird’s freuen, demokratiepolitisch ist der Umgang mit den Afrin-Soli-Protesten indes eine Katastrophe.
Nelli Tügel
Ganz egal, was man zu dem Yıldırım-Besuch denkt – dass in Deutschland inzwischen mehrere Demos gegen den Afrin-Krieg verboten wurden, ist ein Skandal. Der ganze Vorgang verweist auf ein grundlegendes Problem: Das PKK-Verbot fungiert immer wieder als Kriminalisierungs-Knüppel.
Köln, Nordrhein-Westfalen, PKK
Meinung
Kommentare Demos gegen Afrin-Krieg
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1079639.skandaloese-kriminalisierung.html
Warum der Mord an Ken Saro-Wiwa ohne Konsequenzen blieb
Eine größtmögliche Öffentlichkeit war da sicher nicht das Ziel: Zum Jahresausklang hat Großbritanniens Regierung zuvor geheime Dokumente freigegeben, die belegen, wie Premierminister John Major 1995 zugunsten von Ölkonzernen Sanktionen gegen die Militärdiktatur in Nigeria blockierte. Die Hinrichtung des Umweltschützers und Menschenrechtlers Ken Saro-Wiwa nahm London hin, den südafrikanischen Präsidenten Nelson Mandela log Major dreist an. Saro-Wiwa war Anfang der 1990er Jahre weltweit bekannt geworden. Sein Movement for the Survival of the Ogoni People (MOSOP) leistete friedlichen Widerstand gegen die Zerstörung des Niger-Deltas durch internationale Ölkonzerne, die der Bevölkerungsminderheit der Ogoni die Lebensgrundlage nahm. Als Kopf der Bewegung brachte der Schriftsteller 1993 etwa 300.000 Menschen zu Protesten auf die Straße, mehr als die Hälfte der Ogoni-Bevölkerung. Nigerias Militärregime reagierte mit Repressionen. Nach den... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Christian Selz, Kapstadt
Ken Saro-Wiwas war Anfang der 1990er Jahre ein bekannter Umweltschützer und Menschenrechtler in Nigeria. Nach seiner Ermordung vergoss Londons Premier John Major lediglich Krokodilstränen.
Großbritannien, Nigeria
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt Nigeria
2020-01-26T14:39:36+0100
2020-01-26T14:39:36+0100
2023-01-21T12:18:55+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1131992.warum-der-mord-an-ken-saro-wiwa-ohne-konsequenzen-blieb.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
Wenn Mieter rebellieren
Wenn die Modernisierungsankündigung des neuen Hausbesitzers in den Briefkasten flattert und sich die Miete massiv erhöhen soll, ist es für die Mieter oft schon zu spät. Ist das Wohnhaus erst einmal verkauft, will der neue Besitzer in der Regel auch Rendite sehen. In Kiezen mit überwiegend niedrigem Mietstandard sind mögliche Gewinne für Spekulanten überdurchschnittlich hoch. Die »Basisgruppe Reuterkiez« der Neuköllner Linkspartei möchte das Thema nun angehen und hatte am Montag zu einer Veranstaltung im Kiez geladen. Die Menschen in Nord-Neukölln seien »besonders betroffen« und der Bezirk stehe zunehmend »im Visier von Investoren mit kurzfristigen Renditeinteressen«. Ebenfalls anwesend sind Vertreter der Mietergruppe »Unser Block bleibt!«, das »Bündnis bezahlbare Mieten Neukölln« und »Genossenschaft von unten« - insgesamt knapp 30 Personen drängen sich in dem Raum in der Reuterstraße. Die Mieter zwischen Pflüger- und Framstra... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Tim Zülch
Zuletzt hat »Unser Block bleibt« in Neukölln gezeigt, dass man etwas gegen Spekulanten erreichen kann. Doch wie können Mieter es schaffen, endlich nicht mehr nur Abwehrkämpfe zu führen?
Berlin, LINKE, Mieten
Hauptstadtregion
Berlin
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1018546.wenn-mieter-rebellieren.html
Kein Durchblick bei der Riester-Rente
Die Zentrale Zulagenstelle für Altersvermögen der Deutschen Rentenversicherung ist bestens vernetzt. In Zusammenarbeit mit den Meldebehörden, der Rentenversicherung, den Familienkassen und dem Finanzamt überprüft sie, ob es mit den staatlichen Zuschüssen zur Riester-Rente seine Richtigkeit hat. Nach Informationen des Wirtschaftsmagazins »Geld & Leben« des Bayerischen Rundfunks forderte der Bund eine halbe Milliarde Euro von rund 1,5 Millionen Riester-Sparern zurück, die »unberechtigt« Zulagen erhalten hätten. Das wäre bei 14,5 Millionen Verträgen mehr als jeder Zehnte. Wie der Bericht nahelegte, handelte es sich dabei häufig um Personen, denen kein Fehlverhalten bewusst war. So reiche es für eine Rückforderung aus, dass ein Umzug oder die Geburt eines Kindes nicht gemeldet wurden. Den unwissentlichen Vertragsbruch nachträglich wieder gut zu machen, sei zumindest im geschilderten Fall einer Hausfrau und Mutter mit drei Kindern – ... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Regina Stötzel
Ohne Vorwarnung holt sich der Bund in großem Umfang Riester-Sparzulagen von Bürgern zurück, die sich keiner Schuld bewusst sind. Das legt ein Medienbericht nahe. Das Finanzministerium behauptet dagegen, die Sparer hätten ihre Guthaben mehrheitlich für Autos oder Urlaubsreisen ausgegeben.
CDU, Riester-Rente
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/195396.kein-durchblick-bei-der-riester-rente.html
Per Mausklick für mehr Datenschutz
»Abkürzungen sind bei uns verboten«, erklärt Sven Giegold der Sprecherin vom Verband EDRi gleich zu Beginn ihres Auftritts. In schnellen Worten stellt Kirsten Fiedler darum ihre Organisation mit dem vollen Namen European Digital Rights vor, ein Zusammenschluss mehrerer europäischer Bürgerrechtsorganisationen mit Sitz in Brüssel. Über Europa und die neue Datenschutzverordnung wird der Grünen Abgeordnete Giegold mit ihr und seinen anderen Gästen diskutieren. Das Besondere: die Gesprächsrunde ist ein technisches Experiment, um »Europa dichter an die Bürgerinnen und Bürger zu rücken«. Der Moderator und seine Gäste saßen am Montagabend in verschiedenen Teilen Europas und waren nur über eine Webcam und Mikrofone miteinander verbunden. So auch die über hundert EU-Bürger, die der Einladung zur Teilnahme gefolgt waren. Auch sie konnten per Mausklick ihre Hand heben und in die Diskussion mit einsteigen. Denn Giegold will die Hürden zur Bete... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Noah Wintzer
Was wissen Google und Co. über die Internetsurfer? Sind deren Daten genug geschützt? Via Internet wurde über solche Fragen diskutiert.
Datenschutz, EU
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1000306.per-mausklick-fuer-mehr-datenschutz.html
COP 28 findet Kompromiss zu fossilen Energien
Schließlich war es etwas weniger als 24 Stunden Verspätung, mit der am Mittwoch die 28. UN-Klimakonferenz in Dubai (COP 28) mit der Annahme des »UAE-Konsenses« zu Ende ging. Das Kürzel bezieht sich auf die englische Bezeichnung für die Vereinigten Arabischen Emirate, das Gastgeberland der Konferenz. COP-28-Präsident Sultan Ahmed Al-Jaber betonte auf dem Schlussplenum, dass zum ersten Mal ein Abschlusstext die Worte »fossile Energien« enthalte. In der langen Geschichte der Klimakonferenzen war es bislang tatsächlich nicht möglich, den Hauptgrund für die stark gestiegenen Treibhausgasemissionen und die daraus resultierende Klimaerwärmung zu nennen. Nur »Kohle« schaffte es vor zwei Jahren in Glasgow in den Abschlusstext, während Öl und Gas noch unerwähnt blieben. Der »UAE-Konsens« verpflichtet die Länder allerdings nicht zum Ausstieg aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe, worauf viele Länder und auch die Klimabewegung gedrängt hatten. Das einstimmig beschlossene Dokument »ruft die Länder auf, zur globalen Anstrengung beizutragen«, um die Welt auf einen 1,5-Grad-Pfad zu bringen. Der Text sagt auch, was das bedeutet: Die globalen Emissionen müssen vor 2025 ihren Höhepunkt erreichen und bis 2030 um 43 Prozent im Vergleich zum Jahr 2019 fallen. Der Text listet dann eine Reihe von insgesamt acht Maßnahmen auf, die die Länder ergreifen sollen, um dazu beizutragen. Eine davon ist eben »der Übergang weg von fossilen Energien in den Energiesystemen«. Diese etwas umständliche Formulierung war nötig, um einen Konsens zu erzielen, den sowohl progressive Staaten als auch öl- und gasexportierende Länder mittragen konnten. Im ersten Entwurf, der bei vielen Teilnehmern auf Entrüstung oder Fassungslosigkeit stieß, war nur nebulös von Reduzierung die Rede gewesen. Die im »UAE-Konsens« genannten Maßnahmen beinhalten zudem eine Verdreifachung der Erneuerbaren-Kapazität, eine Verdoppelung der Verbesserungsrate bei der Energieeffizienz und eine »substantielle« Reduktion der Methanemissionen bis 2030. Es werden auch kontrovers diskutierte Optionen zu deren Umsetzung genannt. Dazu gehören etwa die Nutzung von fossilem Gas als Übergangslösung, von Atomkraft und der CCS-Technologie zur Abscheidung und Einlagerung von CO2. Mehrere Umweltorganisationen lobten den »UAE-Konsens« dennoch als »Anfang vom Ende der fossilen Ära«. Gleichzeitg gab es Kritik an der Erwähnung von Gas und vor allem von CCS. Linda Kalcher, die Chefin des paneuropäischen Thinktanks Strategic Perspectives, ist dennoch optimistisch: »Die wirtschaftlichen Realitäten werden einige der falschen Lösungen, die in diesem Text noch immer enthalten sind, zunichtemachen.« Die schärfste Kritik kam indes von Vertretern kleiner Inselstaaten. Sie fühlten sich bei der Vorlage und Annahme der Abschlusserklärung auch überrumpelt. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock sagte dazu: »Wie sehen euch und fühlen mit euren Kindern, für die der Text nicht genug sein kann.« Und dann betonte sie, dass der UEA-Konsens nur »ein Startpunkt« sei. Letzteres ist mit Blick auf die Klimadiplomatie eine Binsenweisheit, denn es kommt nicht auf die Verabschiedung eines – letztlich unverbindlichen – Textes an, sondern auf dessen Umsetzung. Aber es ist auch ein Verweis auf das weitere Vorgehen, wie es ohnehin im Pariser Klimaabkommen geregelt ist: Die Länder müssen bis Anfang 2025 neue Klimaziele für das Jahr 2035 einreichen, die nicht zuletzt auf dem UAE-Konsens beruhen. Diese nationalen Pläne sollen künftig auch Ziele für die Anpassung an die Erwärmung enthalten. Das Kapitel zu diesem Thema im »UAE-Konsens« wurde indes unterschiedlich aufgenommen: »Ursprünglich war die Anpassung an den Klimawandel ein Randthema, doch schließlich spielte sie eine Schlüsselrolle in den Ergebnissen der COP 28«, sagte Ana Mulio Alvarez vom britischen Umweltthinktank E3G. Es könne aber nur den »Beginn einer koordinierten globalen Anstrengung für Anpassung und Widerstandsfähigkeit markieren«. Rixa Schwarz von der deutschen Umweltorganisation Germanwatch kritisierte hingegen, dass für diese Anstrengung nicht genug Geld für den globalen Süden zur Verfügung stehe. Die vereinbarten Maßnahmen seien daher »zu schwach«. Kritik gab es auch an den Passagen zur Klimafinanzierung allgemein. Die meisten Diskussionen darüber wurden ins nächste Jahr vertagt, wenn die Industriestaaten offenlegen wollen, wie es mit den jährlich zugesagten 100 Milliarden Dollar an Klimahilfen ab 2025 weitergehen soll. Allerdings sind die Klimakonferenzen für viele Finanzströme mittlerweile weit weniger wichtig als das Verhalten von internationalen Entwicklungsbanken. Der »UAE-Konsens« unterstreicht daher nur »die Bedeutung der Reform der multilateralen Finanzarchitektur, unter anderem der multilateralen Entwicklungsbanken«. Ein Dämpfer bei den Finanzfragen war zudem die Zurückhaltung von Staaten mit hohen Pro-Kopf-Emissionen wie etwa Saudi-Arabien, die in den UN offiziell noch den Entwicklungsländern zugeordnet werden. Nachdem die Emirate 100 Millionen Dollar für den neuen Fonds für Verluste und Schäden zugesagt hatten, bestand die Hoffnung, dass andere nachziehen würden, was jedoch nicht passiert ist. Lob von NGOs gab es schließlich für einen Verhandlungsstrang, der erneut ohne Ergebnis blieb. Dabei geht es um Regeln für den Handel mit Zertifikaten, die die Übertragung von Emissionsreduktionen von einem Land auf ein anderes Land ermöglichen sollen. »Das Fehlen einer Einigung verhindert, dass die Fehler des freiwilligen Kohlenstoffmarktes wiederholt werden«, sagte Gilles Dufrasne von Carbon Market Watch. »Wie die zahlreichen Skandale im Zusammenhang mit diesem Markt in den letzten zwölf Monaten gezeigt haben, erfordert der Handel mit Zertifikaten strenge Umwelt- und Menschenrechtsvorschriften.«
Christian Mihatsch, Dubai
Die Klimakonferenz wäre beinahe an der Formulierung zur Zukunft der fossilen Energien gescheitert. In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch fand sich dann aber ein Kompromiss.
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt Klimakonferenz in Dubai
2023-12-13T16:35:30+0100
2023-12-13T16:35:30+0100
2023-12-13T16:56:45+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1178490.klimakonferenz-in-dubai-cop-findet-kompromiss-zu-fossilen-energien.html
Den Peiniger überlebt
Er ist durch den spanischen Bürgerkrieg gekommen, wurde in Auschwitz fast zu Tode geprügelt - aber er hat den faschistischen Terror überlebt. Alter Fajnsilber erinnert sich: »Als am 8. Mai ’45 der russische Kommandant uns mitteilte, dass wir nun endgütig frei seien, fragte er mich, warum ich nicht glücklich sei und mit den anderen lache. Ich antwortete: ›Lachen - warum?‹ Und er: ›Nun, Sie sind doch frei.‹ Ich sagte: ›Wenn Sie mir vor zwei Jahren gesagt hätten, der Krieg sei aus, dann wäre ich glücklich gewesen. Aber jetzt? Es gibt keine Juden mehr, es ist aus mit ihnen. Worüber also sollte ich glücklich sein? Er hat mich verstanden und mir zugestimmt. Für die anderen gab es Grund zu feiern, zu tanzen und zu singen. Für uns nicht, denn wir wussten, dass es in Europa keine Juden mehr gab.« Die Freude über die Befreiung war bei allen Überlebenden der Konzentrationslager zwiespältig. War sie doch immer mit der Erinnerung an ihre Verwandten und Freunde verbunden, die im Krieg gefallen waren oder die Lager nicht überlebt hatten. So gab es für Alter Fajnsilber keine Familie mehr, zu der er zurückkehren konnte, keinen Ort, an dem er sich hätte heimisch fühlen können. Ähnlich erging es auch den Gebrüdern Roman und Leon Kent aus Łódź. Ihr Vater war vor dem Krieg Fabrikbesitzer. Sie hatten eine behütete Kindheit erlebt. Aber dann brach über sie, so Roman Kent, ein sechsjähriger Albtraum herein: erst im Ghetto von Łódź, dann in Auschwitz, danach in etlichen anderen Lagern, zuletzt in Flossenbürg. Von dort aus ging es auf einen scheinbar endlosen Todesmarsch - bis sie irgendwo im Westen Deutschlands auf ihre US-amerikanischen Befreier trafen. Roman berichtet: »Es war der vierte Tag auf dem Todesmarsch. Ich sagte zu Leon, der wie ein Zombie neben mir daherschlich: ›Vielleicht ist das mein letzter Tag, ich kann nicht mehr. Wie lange noch, und ich liege auch am Straßenrand?‹« Und dann geschah das Unerwartete: Panzer rollten ihnen entgegen. Aus den Luken grüßten Soldaten. »In diesem Moment war ich zu betäubt, um zu verstehen, dass ich frei war. Ich gehörte noch nicht zu dieser Welt. Es war wie im Traum, alles um mich herum war vollkommen irreal. Der Übergang vom Terror im Konzentrationslager zur Freiheit geschah so plötzlich, dass mein Verstand seine Bedeutung nicht ganz fassen konnte. Leon und ich standen da am Rande der Straße, vollkommen überwältigt davon, wie Essen auf uns herabregnete. Um uns herum versuchten die Häftlinge möglichst viel davon zu ergattern. Eine kafkaeske Szene.« Roman Kent war damals 16 Jahre alt, Leon 14. Sie erwogen kurz, in ihre polnische Heimat zurückzukehren, aber die mit einer Rückkehr verbundenen düsteren Erinnerungen wogen zu schwer. Blieb die Wahl zwischen Palästina und den USA. Sie entschieden sich für Amerika und wandten sich an die Nothilfe- und Wiederaufbauverwaltung der Vereinten Nationen, UNRRA. Roman Kent wurde in der »Neuen Welt« ein erfolgreicher Geschäftsmann. Wenn er seinen Kindern und Enkeln Einblick in sein früheres Leben gibt, spricht er vor allem über den geliebten Familienhund Lala. Als die Familie aus einer großen Villa in eine winzige ungeheizte Zweizimmerwohnung im Ghetto umziehen musste, ließ sie die trächtige Hündin bei Freunden zurück. Doch kaum hatte Lala geworfen, kam sie hinterher. Die treue Hündin wollte bei den Ihren sein, versorgte tagsüber ihre Welpen und kratzte abends an der Tür der Kents. Sie war nicht der einzige Hund im Ghetto. Eines Tages jedoch erließen die Deutschen einen Befehl, dass alle Haustiere abgegeben werden müssen. Jeder wird verstehen, dass daran ein Kinderherz zerbrechen kann. Die Tragödie der Trennung von einem geliebten Tier vermag die Jüngsten die Verbrechen der Nazis eindringlicher nacherleben lassen als alle anderen Erzählungen, dachte sich Roman Kent, Vorsitzender des Internationalen Auschwitz-Komitees, und schrieb daher ein Kinderbuch: »Mein Hund Lala«. Sein Vorgänger an der Spitze des Internationalen Auschwitz-Komitees war Noah Flug. Auch er stammte aus Łódź. Zwei Tage vor Kriegsende befand er sich im österreichischen Ebensee, einem Nebenlager des KZ Mauthausen, wo er im Steinbruch arbeiten musste. Die SS plante dort riesige Stollen für die Rüstungsindustrie. Noahs Leidensweg glich dem der Gebrüder Kent: erst Ghetto, dann Auschwitz, wo seine ganze Familie ermordet wurde, und schließlich Todesmarsch nach Ebensee, wo die Häftlinge vollkommen entkräftet eintrafen. Empfangen wurden sie von einem Spalier der Kapos, die mit Stöcken auf sie einschlugen. Am 5. Mai, drei Tage vor der Kapitulation der Wehrmachtsführung in Berlin-Karlshorst, trieb die SS die Häftlinge in einem Steinbruch zusammen, um sie dort mit Dynamit zu liquidieren. Diese setzten sich jedoch zur Wehr - die SS floh. Und die Häftlinge nahmen Rache an den Kapos. Eine schreckliche Erinnerung: »Ich konnte die anderen verstehen, aber ich konnte es nicht ertragen, dass wir uns nicht besser benahmen als unsere Peiniger.« 33 Kilo wog Noah Flug bei seiner Befreiung. Er kehrte nach Łódź zurück, kam in einer Wohngemeinschaft für elternlose Jugendliche unter, lernte Dorothea kennen, heiratete sie und ging mit ihr 1958 nach Israel. Er wurde dort Diplomat, sie Kinderärztin. Der diplomatische Dienst führte Noah Flug für zwei Jahre zurück nach Deutschland, in die Bundesrepublik. Das Paar hat versucht, ein normales Leben zu führen. Doch es blieb für beide ein Leben im Schatten von Auschwitz. Lesen Sie auch: Staatsziel: Massenmord - Vor 80 Jahren wurde mit Hitlers Segen der faschistische Unabhängige Staat Kroatien gegründet Alter Fajnsilber wiederum hatte sein ganzes Leben dem politischen Kampf und der Kommunistischen Partei gewidmet, war schon vor dem Krieg immer wieder verhaftet worden. In Auschwitz war er dem sogenannten Sonderkommando zugeteilt, dessen Aufgabe es war, die Leichen der vergasten Juden nach verwertbaren Gegenständen zu durchsuchen, bevor sie verbrannt wurden. Alter wusste, dass auch er und seine Kameraden dem Tode geweiht waren. »Wir haben mit dem Rabbiner in unserem Kommando gesprochen, warum Gott das zulässt ... ›Was haben diese Menschen getan, dass sie vergast werden. Was haben sie Gott getan - oder ihre Kinder, was haben sie getan?‹ Darauf der Rabbiner: ›Wenn wir wüssten, dass wir noch lange leben, dann würden wir nicht mehr an Gott glauben. Aber da wir wissen, dass wir bald sterben werden, wollen wir sterben, so wie wir gelebt haben: als Juden, die an Gott glauben.‹« Alter blieb Atheist, nahm am fehlgeschlagenen Aufstand des Sonderkommandos teil, konnte aber der »Vergeltung« der SS entkommen. Nach der Befreiung ging er nach Paris. Richtig glücklich sei er nie geworden, erzählte er, obwohl er geheiratet hat und Vater wurde. Mit 75 Jahren besuchte er 1985 zum ersten Mal wieder Polen, seine einstige Heimat, um in der Gedenkstätte Auschwitz Zeugnis abzulegen. Damals wurden die internationalen Gäste in den ehemaligen Büros der SS untergebracht. Und so saß Alter Fajnsilber in einem Ohrensessel, in dem sich einst Rudolf Höß gelümmelt hatte, 1940 bis 1943 Kommandant des KZ Auschwitz und 1947 von den Polen als Kriegsverbrecher zum Tode durch den Strang verurteilt und am Ort seiner Verbrechen, im ehemaligen Stammlager, mit dem Strang exekutiert. Der Antifaschist Alter Fajnsilber hat seinen einstigen Peiniger, den mörderischen Nazi, um Jahrzehnte überlebt.
Ingrid Heinisch
Die Überlebenden faschistischer Konzentrationslager konnten sich am Tag ihrer Befreiung kaum freuen, hatten sie doch zu viel Schmerz erlitten und teils ihre ganze Familie im Holocaust verloren.
Auschwitz, Flugverkehr, Holocaust, Juden, Konzentrationslager, Literatur, Nationalsozialismus, Roma
Politik & Ökonomie
Politik Auschwitz-Häftlinge
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1151757.den-peiniger-ueberlebt.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
Länger als acht Stunden in der Kita
In Brandenburg wird die Kitabetreuung nur für sechs Stunden täglich finanziert. Tatsächlich verbringen aber 65 000 Mädchen und Jungen mehr als acht Sunden am Tag in der Krippe oder im Kindergarten. Das ist ein sehr großer Anteil, denn insgesamt besuchen im Bundesland 170 000 Kinder eine Kita. Viele Eltern haben gar keine andere Möglichkeit, als ihre kleinen Kinder lange in der Kita zu lassen. Denn wenn Mutter und Vater berufstätig und acht Stunden beschäftigt sind, kommt ja noch der Weg zur Arbeit und zurück zur Kita hinzu. Die unzureichende Finanzierung führt dazu, dass der Personalschlüssel auf dem Papier steht, die Gruppen aber tatsächlich viel größer sind als es nach den statistischen Angaben aussieht. Hier müsse etwas getan werden, meinte die Landtagsabgeordnete Gerrit Große (LINKE) am Dienstag. Ihre Fraktion hatte sich vom 10. bis zum 14. Juli auf eine Kita-Tour begeben. Die Abgeordneten besuchten Kitas, absolvierten dort zum Teil Praktika und kamen mit Erziehern und Eltern ins Gespräch. Dabei sei der Linksfraktion dieses Problem mit auf den Weg gegeben worden, erzählte Große. Auf die inzwischen längeren Betreuungszeiten müsse im Doppelhaushalt 2019/2020 reagiert werden. Der gegenwärtige Betreuungsschlüssel sieht vor, dass eine Erzieherin auf fünf kleine Krippenkinder kommt und eine Erzieherin auf zwölf größere Kindergartenkinder. Bei den Großen soll der Betreuungsschlüssel ab August 2017 auf eins zu 11,5 verbessert werden und ab 2018 auf eins zu elf. Allein dadurch werden in Brandenburg 500 zusätzliche Erzieherinnen gebraucht, rechnete die Abgeordnete Große vor. Damit auch genug Erzieherinnen gefunden werden, wünscht sich Gerrit Große eine Regelung, dass den Frauen - oder auch den Männern - bei der privat organisierten Ausbildung wenigstens das Schulgeld erlassen wird.
Andreas Fritsche
65 000 von insgesamt 170 000 Kitakindern in Brandenburg verbringen mehr als acht Stunden in den Einrichtungen. Finanziert werden nur sechs Studen. Die LINKE will das ändern.
Brandenburg, Kita
Hauptstadtregion
Brandenburg
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1057803.laenger-als-acht-stunden-in-der-kita.html
Wohnkosten für Flüchtlinge sollen sinken
Der Senat will die Kosten für die Flüchtlingsunterbringung ab dem 1. März »deutlich« absenken. Überteuerte Tagessätze für die Flüchtlingsunterbringung von bis zu 50 Euro hatten in der Bundeshauptstadt in den vergangenen Wochen Kritik ausgelöst. Gewarnt wurde vor einer Ungleichbehandlung von Flüchtlingen und Hartz-IV-Empfängern, für die deutlich geringere Tagessätze zur Verfügung stehen. Der Senat habe »aufgrund der extremen Notlage« auf gewerbliche Anbieter zurückgegriffen und in Einzelfällen auch extrem hohe Mietpreise gezahlt, so ein Sprecher der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales. Ziel des Senats sei es gewesen, Obdachlosigkeit unter Flüchtlingen zu vermeiden. Wie oft überteuerte Tagessätze gezahlt worden seien, konnte der Sprecher nicht sagen. In Einzelfällen sei Strafanzeige wegen Betrugs gestellt worden. So hätten etwa vereinzelt Vermieter dem Landesamt für Soziales und Gesundheit (LAGeSo) Rechnungen für die Unterbringung von Flüchtlingen in nicht existierenden Wohnungen gestellt. Es sei möglich, dass vereinzelt Flüchtlinge aus ihren bisherigen Unterkünften in billigere Unterkünfte ziehen müssen. epd/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Asylpolitik, Flüchtlinge, Flüchtlingsunterkunft, Rundfunkabgabe
Hauptstadtregion
Brandenburg
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1001591.wohnkosten-fuer-fluechtlinge-sollen-sinken.html
Helden auf Zeit
(ND). Die Ausstellung »Helden auf Zeit – Porträts aus dem Kunstarchiv Beeskow« wurde gestern eröffnet. Die Schau, die bis 11. März in der Wandelhalle des Berliner Abgeordnetenhauses, Niederkirchnerstraße 5, zu sehen ist, präsentiert künstlerische Porträts aus der DDR. Die Ausstellung war zuvor unter anderem auf der Burg Beeskow zu sehen. Im Kunstarchiv Beeskow befinden sich rund 300 Porträts aus der DDR, darunter vor allem Gemälde und Kleinplastiken. Gezeigt werden unter anderem Werke von Bert Heller, Lutz Friedel, Ronald Paris oder Walter Womacka. Die Ausstellung fragt laut Initiatoren nach dem Stellenwert dieser Porträts in der Kunst der DDR. Die Exposition wolle zudem die Wege der Werke nach ihrer Fertigstellung bis ins Jahr 1989 verfolgen, so die Veranstalter. Für die Ausstellung wurden 34 Gemälde und 10 Kleinplastiken ausgewählt. Das Bild zeigt »Erika Steinführer« (1981) von Walter Womacka.
Redaktion nd-aktuell.de
Ausstellung, DDR
Hauptstadtregion
Brandenburg
https://www.nd-aktuell.de//artikel/189373.helden-auf-zeit.html
Eine internationalistische Alternative am Hamburger Hafen
Diesen Juli findet der G20-Gipfel in Hamburg statt. Dort kommen drei Phänomene von Weltmaßstab zusammen: Populismus, Protektionismus und Logistik. Die entscheidende Frage lautet dabei: Wird der Gipfelprotest wieder »business as usual« oder wird die Linke etwas Innovation ins Spiel bringen? In diesem Zusammenhang sollte eine Absicht linksradikaler Gruppen besonders begrüßt werden: die narrative Beschränkung des zügellosen Populismus und Protektionismus zu überwinden durch den Fokus auf Logistik zu erweitern. Schließlich muss die Linke ihre Einschätzung über die Macht der populistischen Übernahme von Staatsmacht präzisieren und deren tatsächliche Errungenschaft gegenüber den Versprechen abwägen: Der Populismus konnte das Spar- und Kürzungsdiktat nicht beenden. Aber die Tatsache, dass Populismus nicht die erhoffte Alternative bringt, heißt keineswegs, dass die Welt automatisch empfänglicher für universelle, linke Gesellschaftsideen ist. Das zeigt nicht zuletzt der Anstieg des Nationalismus quer über das politische Spektrum. Dieser Nationalismus definiert sich u.a. über eine reaktionäre Kritik an der Globalisierung im Sinne von Reichtumsverteilung anhand bestehender Grenzen. Die Kritik der kapitalistischen Bedingungen für die Produktion dieses Reichtums bleibt auf der Strecke. Stichwort öffentliche Resonanz: Es stimmt zwar, dass rechtem und rechtsradikalem Nationalismus mehr medialer Aufmerksamkeit geschenkt wird. Dennoch muss man feststellen, dass entgegen jeglicher Versprechen die kapitalistische Globalisierung keineswegs durch die nationalistische Reaktion herausgefordert wurde – egal, welche Form diese Globalisierung annimmt. Dazu muss man sich nur europäische Städte wie Hamburg, Frankfurt, Dundee (Schottland) oder Hull (England) vergegenwärtigen. Alle haben sich in den letzten Jahren im Zuge der Globalisierung massiv verändert – doch ihre Schicksale könnten nicht unterschiedlicher sein. Während die ersten beiden Sinnbilder des gegenwärtigen Kapitalismus darstellen und boomen – Hamburg als logistischer, Frankfurt als Finanzstandort – wurden die britischen Hafenstädte zunehmend deglobalisiert und deindustrialisiert. Die radikale Linke hat es gewiss nicht versäumt, Analyse und Kritik dieses Phänomens hervorzubringen. Aber wie die Mobilisierung zum Hamburger G20-Gipfel zeigt, ist ihre Organisationsfähigkeit innerhalb des Logistikbereichs stark unterentwickelt. Ob wie einst schwere Maschinerie oder neuerdings »Gig Economy« – im Grunde genommen geht es immer noch um effizientere Ausbeutung und Umschichtung von Arbeit. In etwa so, wie wenn Uber und Deliveroo zunächst tausende Arbeiter*innen einstellen müssen, bevor sie voll und ganz in fahrerlose Autos investieren. Die Lehre für die Linke bleibt: Menschliche Arbeitskraft steht nach wie vor im Zentrum. Daher sollte auch und vor allem eine Mobilisierung gegen die G20 über das übliche Gipfel-Hopping hinausgehen, das zwar ein großes Momentum für die internationale Linke kreiert hat, aber einen signifikanten Teil längerfristig erschöpft und demoralisiert hat. Daher ist der nächste logische Schritt, für den Sommer auf den Hamburger Hafen zu fokussieren. Der Anspruch muss gar nicht so hoch sein. Diese Aktion kann ein erster Schritt zu einem transnationalen Netzwerk von Streiks und Störaktionen in der Logistik sein, konkret in Häfen auf der ganzen Welt. Dafür ist eine Kooperation mit den Arbeiter*innen im Logistikbereich unabdingbar. Ein Grundstein in diese Richtung wurde Mitte März in Hamburg gelegt. Antiautoritäre Gruppen aus ganz Europa haben für den G20-Gipfel eine transnationale Mobilisierungsplattform mit dem Fokus auf Logistik gegründet. Doch dieser Anspruch kann schnell scheitern, nämlich wenn sich auf altbekannten, bequemen Formen in Politik, Organisation und Praxis verlassen wird. Oder, wenn man einfach nur eine wutgeladene, identitätspolitische, coole Intervention hinlegen will, um einige Wenige für die eigenen Reihen zu rekrutieren. Stattdessen müssen ernst gemeinte Debatten geführt werden, welchen theoretischen sowie praktischen Aufwand es bedarf, um ein wirksames kritisches Narrativ gegen die bestehende Realität zu etablieren oder: eine internationalistische Alternative zum Kapitalismus. Der Autor lebt und arbeitet in Birmingham und ist Mitglied des antikapitalistischen Bündnisses »Plan C« aus Großbritannien. Das Bündnis entstand 2012 im Rahmen der Krisenproteste in Großbritannien und setzte sich den Anspruch, die Lücke zwischen altbewährtem Parteisozialismus und organisierungsfeindlichen Anarchismus zu überwinden. Der Plan ging auf, mittlerweile existieren acht Ortsgruppen. Plan C organisiert Festivals, gibt ein Magazin heraus und ist Teil der europaweiten, logistikkritischen Plattform »Transnational Social Strike« sowie dem antiautoritären Bündnis gegen Kapitalismus »Beyond Europe«. Dieses organisierte vom 10. bis 12. März ein Mobilisierungswochenende zum G20-Gipfel. Aus diesem Wochenende ist eine noch namenslose Plattform hervorgegangen, die während der G20-Proteste zu Aktionen im Hamburger Hafenbereich aufruft. Weitere Informationen finden sich auf: www.weareplanc.org Übersetzung: Hamid Mohseni
Elio Di Muccio, Plan C, Birmingham
Zu den Protesten gegen den G20-Gipfel werden Demonstranten aus vielen Ländern erwartet. Ein antikapitalistisches Bündnis aus Großbritannien ruft zu transnationalen Streiks und Störaktionen am Hafen auf.
G20, Großbritannien, Hafen, Hamburg
In Bewegung G20 Hamburg
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1045743.eine-internationalistische-alternative-am-hamburger-hafen.html
Entwürdigende Praxis
Manche Bundesländer nutzen Spielräume, die ihnen geltendes Recht einräumt, um Flüchtlingen das Leben in Deutschland so schwer wie möglich zu machen. Bayern ist so ein Fall. Hier werden Schutzsuchende vorzugsweise in Sammellagern weit ab vom Schuss untergebracht, wo sie Essenspakete geliefert und Kleidungsgutscheine zur Verfügung gestellt bekommen. Auch die Residenzpflicht, also das Verbot für Flüchtlinge, den ihnen zugewiesenen Landkreis zu verlassen, wird im Freistaat besonders restriktiv gehandhabt. Dass sich nun der bayerische CSU-Mann Hans-Peter Uhl gegen die Forderung aus der FDP nach Abschaffung des Sachleistungsprinzips stellt, ist also nur logisch. Die Liberalen tun gut daran, dieses Prinzip in Frage zu stellen. Es ist entwürdigend und herablassend. Flüchtlingen ist nicht einmal gestattet, selbst zu entscheiden, was mittags auf den Tisch kommt. Spaghetti mit Bolognesesoße für die Kinder gibt's nur, wenn das Amt es auch erlaubt. Zum Anziehen kann unter diesen Voraussetzungen nur das gekauft werden, was der Gutschein hergibt. Da wird das Paar Winterstiefel auch dann noch getragen, wenn die Sohle bereits undicht ist. Geld- statt Sachleistungen würde den Flüchtlingen ein bisschen mehr Freiheit und Selbstständigkeit zubilligen. Und ein Stück mehr Menschlichkeit.
Redaktion nd-aktuell.de
Kommentar von Christian Klemm
Asylpolitik, Flüchtlinge, Residenzpflicht, Sachleistungen
Meinung
Kommentare
https://www.nd-aktuell.de//artikel/234307.entwuerdigende-praxis.html
Aus der Krise in den Krieg: Kosovaren werden Dschihadisten
Die Aufnahmen des grausamen Schnitts schockierten die Nation. Stolz hatte der kosovarische Dschihadist Lavdrim Muhaxheri aus Syrien Ende Juli Fotos von der Enthauptung eines gefesselten Gefangenen mit der Unterzeile »Gott ist groß« per Facebook verbreitet. Die ganze Gesellschaft müsse sich von dem »brutalen Akt« distanzieren, forderte Kosovos Staatschefin Atifete Jahjaga. Vor Jahresfrist hatte der Jugendliche Blerim Heta seine Heimatstadt Ferizaj verlassen, um angeblich in Syrien Islamwissenschaften zu studieren. Ein gutes halbes Jahr später wurde er auf islamistischen Internetseiten als Abu al-Khabab Kosovo und »Märtyrer« gefeiert: Bei einem Selbstmordanschlag in Bagdad hatte er am 25. März 52 Menschen und sich selbst getötet. »Mein Sohn wurde verführt«, reagierte sein Vater Remzi auf die Todesnachricht: »Wir sind eine Familie der europäischen Werte - und keine Extremisten.« Die Rekrutierung für den Dschihad erfolgt oft... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Thomas Roser, Belgrad
Die Terrororganisation »Islamischer Staat« rekrutiert ihre Kämpfer verstärkt in Kosovo. Auch wegen der tiefen Wirtschaftskrise gewinnen islamistische Heilsprediger unter jungen Albanern an Einfluss.
Irak, Islam, Kosovo, Syrien
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/944144.aus-der-krise-in-den-krieg-kosovaren-werden-dschihadisten.html
Sofortprogramm gegen dicke Luft im Südwesten
Mainz. Die drei Städte mit der höchsten Luftverschmutzung in Rheinland-Pfalz erhalten drei Millionen Euro vom Land, um mit schnell wirksamen Maßnahmen drohende Fahrverbote für Dieselautos zu verhindern. Dies ist das Ergebnis eines Treffens der Landesregierung mit den Oberbürgermeistern von Mainz, Ludwigshafen und Koblenz. »Das ist ein Sofortpogramm, um die Kommunen darin zu unterstützen, sehr schnell agieren zu können«, erklärte Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) am Mittwoch in Mainz. Für die drei Städte werde jetzt geprüft, welche Maßnahmen am wirksamsten seien, sagte Dreyer. Dabei geht es etwa um die Umrüstung von Bussen mit Dieselantrieb. dpa/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Diesel, Mainz, Rheinland-Pfalz, Verkehr
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1062299.sofortprogramm-gegen-dicke-luft-im-suedwesten.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
Ein Stück Alltag mitnehmen
Frühstücken, danach im Gemüseladen ein paar Möhren für den Eintopf kaufen, dann zu Hause das Mittagessen zubereiten. Während es kocht, frische Handtücher im Bad aufhängen. Alltägliche Verrichtungen. Für viele alte Menschen sind sie kleine, aber wichtige Rituale, die dazugehören zum normalen Tageslauf. Fallen sie weg, weil Demenz ins Pflegeheim führt, verlieren die Erkrankten ein Stück ihrer vertrauten Lebensstruktur. Diesen Verlust, diese zusätzliche Belastung zu vermeiden, ist das Ziel des Demenzdorfes in Hameln. Für gut sechs Millionen Euro ist es am Rande der 58 000 Einwohner zählenden Stadt im Weserbergland gebaut worden. »Tönebön am See« nennt sich die Siedlung, in der 52 Menschen ein neues Zuhause finden. Der Name besagt: Das Dorf gehört zur Tönebön-Stiftung. Sie ist dem 1940 verstorbenen Ziegeleibesitzer Julius Tönebön zu verdanken. Testamentarisch hatte er verfügt, dass sein gesamtes Vermögen der Altenpflege zugute kom... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Hagen Jung
Deutschlands erste Dorfanlage für Demenzkranke ist im niedersächsischen Hameln eröffnet worden. Es soll den Erkrankten ein weitgehend selbst bestimmtes Leben in Gemeinschaft ermöglichen.
Demenz, Niedersachsen
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/928096.ein-stueck-alltag-mitnehmen.html
Mehr Anträge auf Haftbefehle gestellt
Beim Amtsgericht Tiergarten landen immer mehr Anträge für Haftbefehle. Beantragte die Staatsanwaltschaft im Jahr 2010 noch 1006 Haftbefehle, waren es 2016 genau 1491, wie aus der Antwort der Justizverwaltung auf eine parlamentarische Anfrage des FDP-Abgeordneten Marcel Luthe hervorgeht. In dem gesamten Zeitraum wurden rund 7900 Haftbefehl-Anträge bei dem Gericht gestellt. Nicht erfasst wurde aber laut Justiz, wie viele Verdächtige tatsächlich in Untersuchungshaft kamen und wie hoch die Zahl der abgelehnten Anträge war. Drastisch gestiegen ist die Zahl der Anträge der Ermittler auf Abhören von Telefonaten und Mitlesen von Nachrichten. 2010 wurden solche Anordnungen beim Gericht 842-Mal beantragt. 2016 gab es dann bereits 1503 solcher Ersuchen an das Gericht. dpa/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Justiz, Kriminalität
Hauptstadtregion
Berlin
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1061557.mehr-antraege-auf-haftbefehle-gestellt.html
Die pazifistische Utopie
Mehr als ein Jahrhundert nach seiner Entstehung ist der legendäre Barkenhoff, die jugendstilgerechte Landkommune des Malers und Designers Heinrich Vogeler im Künstlerdorf Worpswede, wieder in aller Munde. Seine Wiederauferstehung im Geiste beginnt bereits in den 70er Jahren. Der Lyriker Johannes Schenk machte den Hof zum vorläufigen Wohnsitz der »Genossin Utopie«. Walter Kempowski baute sich in bewusster Anlehnung an Vogelers Traumhaus in Nartum nahe dem Teufelsmoor seinen »Kreienhoop«. Wolfgang Beutin verband in seinem Roman »Knief«, benannt nach einem linken Gewerkschaftsführer, den Aufstieg und Fall der Bremer Räterepublik mit den revolutionären Gedankengängen und -sprüngen in Vogelers Idyll. Peter Schütt macht einen Besuch in Worpswede zum Ausgangspunkt seiner »Lebensreise von Basbeck am Moor über Moskau nach Mekka«. Moritz Rinkes Groteske »Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel« verschiebt die Fantastereien der Worpsweder Kommun... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Michael Baade
Zur erstaunlichen Renaissance des Malers und Sozialisten Heinrich Vogeler aus der Künstlerkolonie Worpswede
Ausstellung, DDR, Frieden, Literatur, Malerei, Pazifismus, Sozialismus
Feuilleton
Kultur
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1000168.die-pazifistische-utopie.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
Leutheusser will statt Vorratsdatenspeicherung leichteren Zugriff
4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Berlin, 16. Januar (AFP) - Der Streit zwischen Union und FDP um die Vorratsdatenspeicherung geht in eine neue Runde. Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) will nach einem Bericht der »Süddeutschen Zeitung« (Montagsausgabe) einen Gesetzentwurf vorlegen, der keine anlasslose Speicherung von Telefon- und Internetdaten mehr vorsieht. Stattdessen sollen Strafverfolgungsbehörden bei einem »hinreichenden Anlass« die Löschung der bei den Providern vorhandenen Daten über ganz be...
FDP, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Vorratsdatenspeicherung
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/188616.leutheusser-will-statt-vorratsdatenspeicherung-leichteren-zugriff.html
Gericht riet Flüchtling Bestechung an
Birgit von Criegern Fragwürdig argumentierte ein Gericht bei der angeordneten Abschiebung für einen Flüchtling in Niedersachsen, berichtete die Antirassistische Initiative Berlin e. V. (ARI). Der syrische Kurde Delgash A. sollte am Mittwoch per Polizei zum Flugzeug nach Syrien gebracht werden. Wie andere syrische Flüchtlinge war er ins Visier der Behörden geraten, die seit Beginn 2009 auf rascherem Wege Abschiebungen durchführen, gemäß dem umstrittenen deutsch-syrischen Rückübernahmeabkommen. Der 30-Jährige, der seit 2001 in Deutschland lebte, fürchtet, in seinem Herkunftsland politisch und ethnisch verfolgt zu werden. Mit einem Eilantrag beim Verwaltungsgericht Osnabrück versuchte seine Anwältin am Mittwoch vergangener Woche, die Abschiebung zu stoppen. Der Negativ-Bescheid des Gerichts verblüffte: Man gestand ein, dass Herr A. als Kurde möglicherweise in Syrien »kurzfristig« in Haft genommen werden könnte. Und riet für diesen Fall zum Freikauf durch Bestechung: »Überdies ergibt sich aus dem vom Antragsteller zitierten Bericht des Syrian Human Rights Committee, dass die Freilassung am Flughafen in Damaskus bei der Einreise Festgehaltener in der Praxis durch die Zahlung von Bestechungsgeldern erreicht werden könne.« Der Bruder des Betroffenen Fakhri A. nannte die Begründung »nicht angemessen und äußerst unmoralisch«. Gemeinsam mit dem Flüchtlingsrat Niedersachsen intervenierte er, nachdem Delgash A. am Frankfurter Flughafen einen Nervenzusammenbruch erlitt, und in Abschiebehaft überführt worden war. Am Freitag sei er vorerst wieder freigelassen worden, so Fakhri A. Schäubles Rückführungsabkommen mit dem syrischen Außenminister wird von Menschenrechtsgruppen stark kritisiert. Pro Asyl nennt es ein »Damoklesschwert über in Deutschland lebenden, oft langjährig geduldeten Flüchtlingen – nicht nur Syrern, sondern auch Palästinensern und Staatenlosen. Syrien wird als Vertragspartei behandelt. Dabei gehört es seit Jahrzehnten zu den menschenrechtlichen Problemfällen.«
Redaktion nd-aktuell.de
Flüchtlingsrat
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/151295.gericht-riet-fluechtling-bestechung-an.html
Proteste mit Knüppeln und Messern
Monrovia. In Westafrika verschärfen sich die Spannungen wegen der Ebola-Epidemie. In Liberia hatte die Quarantäne eines riesigen Slums heftige Proteste ausgelöst - jetzt hob die Regierung die Isolierung nach fast zwei Wochen auf. Unter Quarantäne hatten Tausende Menschen keinen Zugang mehr zu Lebensmitteln und Trinkwasser. Bei den Protesten war ein 15-Jähriger umgekommen. In Nigeria nahm die Polizei aus Furcht vor Ebola in Hotels Dutzende Menschen aus anderen Ländern fest. In Guinea hatten wütende Menschen mit Knüppeln und Messern Gesundheitsexperten attackiert. Dutzende Menschen wurden verletzt. Die Angreifer glaubten Gerüchten, dass bei der Desinfektion eines Marktes in N'Zerekore Menschen mit Ebola infiziert worden seien. Der Ebola-Erreger tauchte zuerst in Guinea auf. Inzwischen sind Liberia, Sierra Leone, Nigeria und Senegal betroffen. Bis 26. August registrierte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) 3069 bestätigte... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Proteste wegen der Quarantäne eines Slums, Angriffe nach der Desinfektion eines Marktes, Festnahmen von Hotelgästen: In westafrikanischen Ländern liegen die Nerven wegen Ebola blank.
Ebola, West
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/944260.proteste-mit-knueppeln-und-messern.html
Jeder zweite rechte EU-Abgeordnete kassiert Nebeneinkünfte
Brüssel. Deutsche EU-Abgeordnete gehören bei ihren Nebeneinkünften zu den Topverdienern im Europäischen Parlament. Im Ländervergleich liegen sie auf Platz drei, wie aus einem am Dienstag veröffentlichten Bericht der Anti-Korruptions-Organisation Transparency International hervorgeht. 40 Prozent der deutschen EU-Abgeordneten gaben demnach an, in der aktuellen Legislaturperiode bezahlte Nebenjobs gehabt zu haben oder immer noch zu haben. Sie verdienten in den vergangenen vier Jahren insgesamt mindestens rund 1,4 Millionen Euro extra. Aktuell stellt Deutschland 96 Abgeordnete in Straßburg. Die höchsten Nebeneinkünfte bezogen laut der Studie französische EU-Parlamentarier (mindestens rund 4,6 Millionen Euro). Auf Platz zwei folgen die Italiener mit mindestens rund 2,6 Millionen Euro. Am wenigsten verdienten Abgeordnete aus Estland, Ungarn und Irland nebenher. Auch bei den Fraktionen gibt es laut dem Bericht große Unterschiede bei den Nebeneinkünften: So weisen die Rechtspopulisten der ENF-Fraktion den höchsten Anteil an Abgeordneten mit Extra-Jobs auf: 54 Prozent. Danach folgen mit einigem Abstand die Christdemokraten (37 Prozent) und die EFDD-Fraktion um den britischen Rechtspoplisten Nigel Farage (36 Prozent). Insgesamt verdient fast ein Drittel (31 Prozent) der EU-Abgeordneten Geld mit Jobs außerhalb des Parlaments. EU-Parlamentarier müssen ihre Nebeneinkünfte offenlegen. Transparency International untersuchte für den Bericht die diesbezüglichen Angaben aller 751 EU-Abgeordneten zwischen Juli 2014 und Juli 2018. Insgesamt verdienten die Politiker zwischen 18 und 41 Millionen Euro. Genauer ließ sich das nicht sagen, da die Abgeordneten ihre Einkünfte nur in ungefähren Höhen angeben mussten. Transparency International kritisierte die Regeln, die in Bezug auf die Nebeneinkünfte der Parlamentarier gelten, als zu lasch. Es drohten Interessenskonflikte mit der politischen Arbeit. Die Angaben der Parlamentarier zu ihren Nebenjobs müssten detaillierter werden. Außerdem müsse es den Abgeordneten verboten werden, nebenher als Lobbyisten tätig zu sein. Aktuell arbeiten laut dem Bericht drei EU-Abgeordnete in Organisationen, die im EU-Lobbyregister gelistet sind. Darunter ist die Luxemburgerin Viviane Reding, die im Kuratorium der deutschen Bertelsmann-Stiftung sitzt. Auch bei der Durchsetzung der Ethik-Regeln des EU-Parlaments gebe es gravierende Mängel. In den vergangenen fünf Jahren seien diese Regeln in 24 Fällen verletzt worden, heißt es in dem Bericht. Aber kein einziges Mal sei ein Abgeordneter dafür bestraft worden. Über die Einhaltung wacht der Präsident des Parlaments - heute ist das der Italiener Antonio Tajani, bis Februar 2017 hatte der SPD-Politiker Martin Schulz das Amt inne. Diesem System mangele es an Unabhängigkeit. Auch im Bundestag verdienen sich einige Parlamentarier etwas nebenher. Zwar war der Anteil der Abgeordneten mit Nebenjobs in Berlin zuletzt geringer als bei den deutschen EU-Parlamentariern in Straßburg: In der vergangenen Legislaturperiode hatten nach Angaben der Organisation abgeordnetenwatch.de 178 von 655 Bundestagsabgeordneten Nebeneinkünfte; das entspricht rund 27 Prozent im Vergleich zu den 40 Prozent in Straßburg. Dafür sind die Extra-Einkünfte im Bundestag wesentlich höher. Dort bezogen die Abgeordneten mit Nebenjob in der Legislaturperiode 2013 bis 2017 im Schnitt mindestens rund 149.000 Euro. In Straßburg liegt der Durchschnittswert der vergangenen vier Jahre bei etwa einem Viertel davon: bei mindestens rund 37.700 Euro pro deutschem Abgeordneten mit angemeldeten Nebeneinkünften. dpa/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Wenn Parlamentarier neben ihrem Mandat Geld verdienen, weckt das bei vielen ein ungutes Gefühl. Sind die Abgeordneten am Ende käuflich? Ein neuer Bericht zeigt: Besonders Rechte und Konservative kassieren gerne nebenher.
EU, EU-Parlament, Nebeneinkünfte, Rechte
Politik & Ökonomie
Politik Europaparlament
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1093789.jeder-zweite-rechte-eu-abgeordnete-kassiert-nebeneinkuenfte.html
Politik der Gewöhnung
Das Problem an Verschwörungstheorien ist, dass ein kleiner Teil immer stimmt. Es gibt ein Tunnelsystem unter Mitteleuropa: die Kanalisation. Es gibt Mächtige, Lobbyisten, Geheimdienste. Manchmal lesen sie sogar die Zeitung, wie wir vom Verfassungsschutz wissen. Virologen haben keine Ahnung: Wenn das Politiker*innen mit Anzug sagen, ist es gleich ein bisschen wahrer. Vor allem aber führt die mediale Aufmerksamkeitskulisse, die jetzt von schamanischen und glatzköpfigen Demonstrationstänzern mal wieder gekonnt als Lügengebilde entlarvt wird, tatsächlich gar nicht unbedingt dazu, dass alle besser informiert sind. Viel eher: dass sie sich daran gewöhnen. Das ist in weniger ansteckenden Zeiten ganz praktisch, wenn noch der größte Asylrechtsfaschismus nach ein paar Wochen schon vergessen oder, schlimmer noch, irgendwie akzeptiert ist. »Feuer«, wird geschrien, »Feuer« - aber schon nach dem dritten Mal regt sich niemand mehr auf. Weil entweder die Einsicht abhandenkam oder schlichtweg die Aufmerksamkeit. Doch es brennt trotzdem. In ähnlicher Weise fällt den auf der Seite der Vernunft stehenden Politiker*innen nun mal wieder genau jener Anti-Elitarismus auf die Füße, mit dem sie sonst so gerne von ihren Sozialkürzungen und Umweltverschmutzungen ablenken. Nachdem inzwischen sogar wieder die Mundspuckereien ihre Geschäfte (natürlich unter strengen Hygieneauflagen) öffnen durften, bleibt für alle, die an die letzten 250 Jahre Biologie glauben, nur, in Anspannung bis zur sogenannten zweiten Welle zu warten. Der bekanntlich ein gespenstisch leeres Wellental vorangeht. Bis dahin nämlich wird es dauern: bis zur zweiten Welle. Bis dahin wird die mit viel Aufwand eingeleitete Gewöhnung anhalten. Sie ist träger Natur. Man fragt sich, wie entspannt die Leute wären - ich nehme mich da nicht aus -, wenn die schon längst wie der Wetterbericht absorbierte Tödlichkeitsrate nicht bei einem halben oder einem Prozent läge, sondern bei zwei, fünf oder zehn Prozent. Wie tödlich wäre tödlich genug? Und wie lange bräuchte es, bis sie sich auch daran gewöhnt hätten? Würde ein sächsischer Ministerpräsident kurz nach der ersten Welle einer, sagen wir, Ebola-Epidemie immer noch gemütlich zu seinen Lieblingsnazis radeln? Vielleicht könnte man die Krankheit ja sponsern lassen, schlüge er dann möglicherweise vor, von Vita-Cola oder Riesa-Nudeln? Dann klänge sie gleich gar nicht mehr so schlimm. Eitrige Wunden, blutiger Durchfall, Organversagen? Pest? Pocken? Superkrebs? So leicht lässt sich der Deutsche nicht von seinem Restaurantbesuch abbringen. Da muss schon der Russe höchstpersönlich vor der Tür stehen.
Adrian Schulz
Warten auf mehr Lockerungen oder auf die zweite Welle? Man fragt sich, wie entspannt die Leute in der Pandemie wären, wenn die Tödlichkeitsrate bei fünf oder zehn Prozent liegen würde. Wie tödlich wäre tödlich genug?
Corona, Gesundheit
Feuilleton
Kultur Corona
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1137176.corona-politik-der-gewoehnung.html
Polen gedenken der Flugzeugkatastrophe von Smolensk
Warschau. Begleitet von Anschlagstheorien hat Polen an die Opfer der Flugzeugkatastrophe von Smolensk vor fünf Jahren erinnert. Er hoffe, dass das Gedenken die polnische Gesellschaft einen könne, sagte Präsident Bronislaw Komorowski am Freitag in einem Rundfunkinterview. Dazu könne auch ein neues Denkmal beitragen, das im Zentrum der Hauptstadt Warschau gebaut werden soll. Am zentralen Gedenken am Freitagmorgen auf dem Warschauer Militärfriedhof Powazki nahmen Komorowski und Regierungschefin Ewa Kopacz teil. Die Regierungsmaschine war am 10. April 2010 beim Landeanflug auf das russische Smolensk abgestürzt. 96 Menschen starben, darunter der damalige Präsident Lech Kaczynski. Ermittlungen zur Ursache dauern noch immer an. Kaczynski-Anhänger gehen von einem Mordanschlag aus, bisherige Untersuchungen des Innenministeriums von Piloten-Versagen. Bei der Feier auf dem Militärfriedhof wurden die Namen der Opfer vorgelesen, anschließend wurde ihrer in einer Schweigeminute gedacht. Eine polnische Regierungsdelegation reiste an den Unglücksort, um Kränze niederzulegen. Die nationalkonservative Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), deren Vorsitzender Jaroslaw Kaczynski der Zwillingsbruder des verunglückten Präsidenten ist, organisierte eine eigene Gedenkfeier vor dem Präsidentenpalast. Am Nachmittag zogen Hunderte Demonstranten in einem Gedenkmarsch durch die Warschauer Innenstadt zum Präsidentenpalast. Viele trugen Porträts des toten Präsidenten und anderer nationalkonservativer Politiker. Viele PiS-Anhänger sind überzeugt, dass der Absturz ein Mordanschlag auf Kaczynski war. Der PiS-Abgeordnete Antoni Macierewicz schürte die Anschlagstheorien mit einem weiteren Untersuchungsbericht, in dem er am Freitag von mehreren Explosionen an Bord der Unglücksmaschine sprach. Am 10. April 2010 habe der »Ansturm aus dem Osten« begonnen, sagte er. Kaczynski und die Elite Polens seinen ein »Bollwerk der westlichen Zivilisation« gewesen. Forderungen eines Teils der Opferfamilien nach einer neuen, internationalen Untersuchungskommission wies Komorowski zurück. »Ich kann mich nur wundern, wenn jemand der ganzen Welt beweisen will, dass die Polen nicht in der Lage sind, ihre eigenen Angelegenheiten zu klären und Ratgeber und Experten von außen brauchen«, sagte er in dem Rundfunkinterview. dpa/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Fast 100 Menschen sterben 2010 beim Absturz einer polnischen Regierungsmaschine. Um die Ursache ranken sich Theorien. Staatsoberhaupt Komorowski hofft, dass die Feierlichkeiten die Polen zusammenrücken lassen.
Flugzeugabsturz, Polen
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/967545.polen-gedenken-der-flugzeugkatastrophe-von-smolensk.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
Die Schönheit der Nützlichkeit
In den 1980er Jahren wurde der Welthandels- und Industrieriese Japan zum Hightech-Weltmeister - für Nippontopia war kein Ziel zu hoch gesteckt. Die Fortschrittsgläubigkeit erfuhr durch die Nuklearkatastrophe vom März 2011 im japanischen Atomkraftwerk Fukushima Daiichi eine Zäsur. Wegen der aktuellen Corona-Pandemie schrumpft die japanische Wirtschaft, was vielen Betrieben schwer zusetzt - darunter auch zahlreiche kleine traditionelle Handwerksbetriebe, von denen viele arge Probleme haben und vor dem Ruin stehen. Da viele Mitarbeiter dieser Betriebe schon recht alt sind, wird mit einer Zunahme von Schließungen gerechnet, wenn die Wirtschaft sich nicht erholt. Das bedeutet jedoch, dass so manche Tradition verschwinden wird. • Buch im nd-Shop bestellen Irwin Wong & Gestalten (Hg.): Das Streben nach Vollkommenheit. Japanisches Handwerk zwischen Tradition und Moderne. Verlag Gestalten, 320 S., geb., 45 €. So betrachtet könnte das Buch »Das Streben nach Vollkommenheit. Japanisches Handwerk zwischen Tradition und Moderne« eine Art papiernes »Denkmal« werden - für die Produkte hoch spezialisierter und äußerst geschickter Handwerkerinnen und Handwerker, die den Spagat zwischen Handwerk und Moderne beherrschen. In diesem exzellent gestalteten und bebilderten Buch wird die Leserschaft auf eine Reise durch die Regionen Japans mitgenommen und mit Werkstätten vertraut gemacht, in denen jahrhundertealte Techniken auf hohem Niveau weitergeführt werden. Und dabei wird kaum etwas ausgelassen: Sumo-Gürtel, maßgeschneiderte Hausschuhe, die aufwendige Lackkunst, Samurai-Rüstungen, handgeschöpftes Papier, dessen sich einst schon Rembrandt bediente, Masken für das No-Theater, Pinselherstellung, die kunstvolle Bemalung von Seidenkimonos und nicht zuletzt die Produktion des japanischen Nationalgetränks Sake, deren Techniken sich bis in die Nara-Zeit (710-784) zurückverfolgen lassen. Einige dieser Handwerkskünste werden der »Volkskunst« (Mingei) zugerechnet, die Soetsu Yanagi (1889-1961) schon in seinem Buch »Die Schönheit der einfachen Dinge« beschrieben hat. Für ihn ist die Schönheit nicht von der Nützlichkeit zu trennen. In dem von Irwin Wong herausgegebenen Buch »Streben nach Vollkommenheit« beginnt die Vorstellung der Handwerkskünste mit der zeitaufwendigen Herstellung der traditionellen Langbögen, die aus zwei Schichten von getrocknetem Sumachholz bestehen, um das fünf verkohlte Bambusstreifen geleimt werden. Mit 80 bis 100 Bambuskeilen wird die Leimverbindung unter Spannung gesetzt. Die Konstruktion hat sich seit dem 17. Jahrhundert nicht verändert, und die Wettkämpfer des modernen Kyodo, des japanischen Bogenschießens, verwenden weitgehend die gleichen Bögen wie vor 200 Jahren. Berühmt für die Bogenherstellung ist die Burgstadt Miyakonojō in der Region Kyūshū. Katana heißt das traditionelle japanische Schwert, das bis zum Beginn der Meiji-Zeit im Jahre 1868 die meistverbreitete Kriegswaffe und zudem das Statussymbol der Samurai, ja deren »Seele« war. Nur der japanischen Kriegerklasse stand das Recht zu, ein Katana zu besitzen und zu tragen. Die Heimat vieler moderner Schwertschmiede ist der Ort Seki, der auch für seine Küchenmesser bekannt ist. Einer Überlieferung nach war der erste Schwertschmied von Seki ein Mann namens Motoshige, der in der Kamakura-Ära (1185-1333) in die Gegend zog. Der heute in Seki wirkende Schwertschmied Fujiwara Kanefusa ist der 26. Meister in einer Reihe von Kanefusa-Schwertschmieden, die bis 1400 zurückreicht. Zum schwierigen Prozess des Schmiedens eines Katanas sagt er: »Die Flammen lehren einen alles - ihr Knistern, ihre Farbtöne, das Orange, Gelb und Rot.« Die Herstellung von Katanas unterliegt einer strengen Reglementierung. Jedes gefertigte Schwert muss bei der Regierung registriert werden, und jeder Schmied darf pro Monat nur zwei Schwerter produzieren. In der Stadt Miki werden traditionelle Metall-Werkzeuge für die Verarbeitung von Holz oder zum Verputzen hergestellt - Holzhobel, Handsägen, Meißel und Kellen. Auch im japanischen Tee-Zeremoniell wurden Metallutensilien beliebt, wie etwa der Eisenkessel. Porzellan und Töpferwaren gewannen ebenfalls im Rahmen des Tee-Zeremoniells an Bedeutung. In »Das Streben nach Vollkommenheit« werden mehrere Handwerker vorgestellt, die sich der Keramikkunst verschrieben haben. Der junge Töpfer Naoe Koide wirkt in der Präfektur Okayama, früher als Bizen bekannt, und widmet sich den Bizen yakimono, Keramikprodukten, deren Charakteristikum natürliche Erdtöne sind. Diese Stücke sind durch eine Ästhetik gekennzeichnet, »die in starkem Kontrast zum hochtechnologischen Auftreten des modernen Japan steht. Die Spontaneität, die jedem Bizenyaki-Stück innewohnt, ist Sinnbild für die schlichte Schönheit der Natur.« Wirklich zufrieden ist Naoe Koide jedoch nur mit einem von tausend Stücken. Unabdingbares Zubehör zum Tee-Zeremoniell ist der Teebesen, der aus einem einzigen Stück Bambus geschnitzt wird. In Takayama stellt Tango Tanimura diese kleinen Kunstwerke her. Er ist der Spross einer langen Reihe von Teebesen-Herstellern, die über 500 Jahre zurückreicht. »Traditionelles Handwerk«, so der Sumo-Gürtel-Hersteller Ono, »ist nur eine Kopie (...) Der Schüler lernt, indem er den Meister kopiert. Wenn sich inmitten dieses Prozesses nichts verändert, dann hört das Handwerk auf, lebendig zu sein, und gehört ins Museum.« Die anhaltende Corona-Pandemie könnte den Prozess der Museifizierung trotz dieses Veränderungswillens beschleunigen.
Jürgen Schneider
Ein Buchtitel, der nicht übertreibt: »Das Streben nach Vollkommenheit« über japanische Handwerkskünste
Bücher, Geschenke, Handwerk, Japan, Literatur, Weihnachten
Feuilleton
Kultur
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1145332.die-schoenheit-der-nuetzlichkeit.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
Gisèle Pelicot - Du bist kein Subjekt
Der Fall Gisèle Pelicot hält Frankreich in Atem. Die 72-Jährige ist durch ihren Mut und ihre Stärke im Kampf gegen ihren ehemaligen Ehemann und langjährigen Vergewaltiger zu einer feministischen Ikone avanciert. Dieser hatte sie jahrelang unter Betäubung nicht nur selber missbraucht, sondern auch anderen Männern zur Vergewaltigung angeboten. Vergangenen Montag forderte die Anklage dafür die Höchststrafe von 20 Jahren Haft. Gisèle Pelicot hatte auf ein öffentliches Gerichtsverfahren bestanden mit der Begründung, die Scham müsse »die Seiten wechseln« – von der Seite des Opfers auf die der Täter. Doch ist das wirklich passiert? Was braucht es dazu? Dass die meisten Männer – Journalisten, Intellektuelle, Politiker, Aktivisten – bisher zu diesem Fall geschwiegen haben, zeugt jedenfalls nicht von einem Schamgefühl für die Taten ihrer Geschlechtsgenossen. Im Gegenteil offenbart sich darin eine tiefgreifende individuelle sowie strukturelle Komplizenschaft mit den Vergewaltigern. Dass der Hauptangeklagte Dominique Pelicot relativ unumwunden gestanden hat, selbstverständlich ein Vergewaltiger zu sein, ebenso wie seine Mitangeklagten, zeugt auch nicht von spät einsetzenden Schuld- oder Reuegefühlen. Es handelt sich dabei eher um eine Tatsachenbeschreibung – auch wenn einige der Mittäter aussagten, nicht davon gewusst zu haben, dass sie eine Straftat begehen würden. In den Medien staunte man über diese vorgebliche Naivität oder Ignoranz ebenso wie über die Tatsache, dass es sich bei den Tätern um »ganz normale Männer« aus allen gesellschaftlichen Schichten und Alterskohorten handelt. Dabei ist das gar nicht so bemerkenswert. Außergewöhnlich an diesem Fall ist eher, dass er ans Licht kam – dank Dominique Pelicot selbst, der jede der Vergewaltigungen gefilmt und akribisch dokumentiert hat, vorgeblich, um sich selbst nicht erpressbar zu machen. Hat der Fall in Frankreich zumindest eine öffentliche Diskussion über männliche sexuelle Gewalt und die vorherrschende Kultur der Vergewaltigung ausgelöst, fokussierte sich die deutschsprachige Debatte wieder einmal eher auf die vermeintliche Unfassbarkeit der Taten und die »Monströsität« des Tathergangs. Nur am Rande wurde auf die strukturelle Dimension des Falls eingegangen. Dieses Desinteresse an männlicher Täterschaft ist einer tief verwurzelten gesellschaftlichen Realität geschuldet: Normalität ist unter patriarchalen Lebensbedingungen eben die Allgegenwart männlicher Gewalt. Fälle wie der von Gisèle Pelicot, die an die Öffentlichkeit gelangen und skandalisiert werden können, sind nur die Spitze eines Eisberges tagtäglicher Gewalt gegen Frauen und FLINTA*. Trotz dieser ernüchternden Tastsache lehnen die meisten Männer nach eigener Aussage sexuelle Gewalt ab und erleben sich selbst auch nicht als sexistisch oder gar frauenfeindlich. Das fehlende Bewusstsein oder Empfinden für die eigene Partizipation an patriarchaler Gewalt oder gar für die eigene (potenzielle) Täterschaft ist aber zentraler Bestandteil der stetigen Reproduktion dieser Verhältnisse. Die Ignoranz der Täter gegenüber ihren Taten ist ein essenzieller Aspekt männlicher Täterschaft. Unter patriarchal-kapitalistischen Bedingungen ist der Kern männlicher Subjektivität notwendig auf die Fiktion der eigenen Souveränität und Autonomie angelegt. Der Publizist Kim Posster spricht in seinem Buch »Männlichkeit verraten!« (2023) in dieser Hinsicht von »Souveränitätsphantasmen«: Diese basieren auf der vehementen Verdrängung jeglicher interpersonaler Abhängigkeitsverhältnisse, besonders wenn es sich dabei um Abhängigkeiten von Frauen oder FLINTA* handelt. Um also sich selbst als unabhängig imaginieren zu können, müssen Männer Frauen als eigenständige Subjekte negieren. Nur so ist es ihnen möglich, mit Frauen Beziehungen führen zu können. Dieses Dominanzbedürfnis resultiert zwar nicht in jedem Fall in der unmittelbaren Ausübung von Gewalt und Zwang, schließt diese aber implizit als letzte Mittel zum Zweck ein. Aus dem Drang nach Unabhängigkeit und der tatsächlich erfahrenen Abhängigkeit entsteht bei Männern ein bedrohliches Gemisch aus dem Verlangen nach Nähe und Intimität und dem Bedürfnis, Frauen zu unterdrücken und zu beherrschen. Auf der Ebene der Sexualität wird dieser Unterwerfungsdrang noch einmal besonders virulent. Das (cis-)heterosexuelle Begehren nach der physischen Verschmelzung mit dem weiblichen Objekt verspricht auf der einen Seite die Erlösung von dem Autonomie-Konflikt, indem dieses angeeignet wird, führt aber andererseits auch zur besonders deutlichen Vergegenwärtigung der Abhängigkeit von dem weiblichen Anderen. Die Aggression auf die weibliche Unabhängigkeit wird so letztlich auf einer körperlich-sexuellen Dimension reproduziert. Die Unterwerfung von Weiblichkeit wird zur Quelle sexueller Lust überhaupt. Auch wenn nicht alle Männer zu Gewalttätern werden, wird diese Ausgangslage gesellschaftlich permanent reproduziert. Eine Studie des »Office of the Children’s Commissioner for England« (2023) weist zum Beispiel darauf hin, dass beinahe die Hälfte der unter 18-jährigen Pornokonsumenten davon ausgeht, dass Mädchen Gewalt beim Sex »erwarten« würden. Eine andere Studie zu männlicher Gewalt in der Prostitution, »Men who buy sex« (2009), kam zu dem Ergebnis, dass die Hälfte aller Freier davon ausgeht, Vergewaltigungen seien natürliche Folge männlicher Erregung. Beide Ergebnisse überraschen nicht, wenn man sich klarmacht, dass sowohl Pornografie als auch Prostitution auf der Reinszenierung von weiblicher Objektivierung und männlicher Dominanz beruhen. Damit bilden sie eine Schablone für die Fiktion der männlichen Souveränität. Das Schweigen der Männer ist insofern kein Zufall. Es ist Ausdruck einer tiefgreifenden strukturellen Verwobenheit mit den patriarchalen Verhältnissen, letztlich männliche Komplizenschaft mit männlicher Täterschaft. Gerade eine Linke, die mit Überforderung auf diese Verflechtungen reagiert oder klassisch marxistisch als Nebenwiderspruch abtut, kann den faschistischen »Your body, our choice«-Allmachtsphantasien kaum etwas entgegensetzen. Genau das ist jedoch in einer Zeit, in der mit Donald Trump gerade erst wieder ein frauenverachtender Populist zur mächtigsten Person der Welt gewählt wurde, unverzichtbar.
Julius Twardowsky
Ungewöhnlich am Fall Gisèle Pelicot ist nicht, dass »ganz normale« Männer abscheuliche Taten verübten – sondern dass er ans Licht kam. Die Normalität sexueller Gewalt steht im Zusammenhang mit männlicher Subjektbildung.
Sexualisierte Gewalt
Feuilleton
Kultur Sexuelle Gewalt
2024-12-01T11:54:52+0100
2024-12-01T11:54:52+0100
2024-12-03T17:51:41+0100
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1187192.sexuelle-gewalt-gisele-pelicot-du-bist-kein-subjekt.html?sstr=pelicot
»Wir sind die Avantgarde der Unterdrückten«
Die Wahlen werden von einer Pandemie und von politischer Repression überschattet. Wie geht ACT damit um? Die aktuelle Kampagne konzentriert sich auf unsere Leidenschaft und unseren Patriotismus, der auf der Gründungsideologie unseres Landes von Menschlichkeit, Integrität, Freiheit und Gerechtigkeit basiert. Tansanier*innen für Demokratie und Entwicklung unterstützen uns in Massen in allen Gebieten, in denen wir trotz all der Drohungen unseren Wahlkampf geführt haben. In Sansibar ist Ihr Kandidat Maalim Seif Sharif Hamad sehr beliebt und des Sieges sicher. Wie sieht der Kampf gegen Korruption, für Arbeit und Bildung aus, den er führen will? Seit der Wiedereinführung des Mehrparteiensystems ins Sansibar ist Hamad wie ein Fels. Wir haben ein Manifest, das die Vision für das Sansibar erhält, das wir wollen. Wir wollen unsere Ideen auf der vollen Souveränität einer stabilen Nation in einer gerechten Union aufbauen, in der es zuerst um die Menschen geht. Gestützt auf Respekt für die Menschenwürde, eine wachsende inklusive Wirtschaft, die vernünftige Jobs und Möglichkeiten für alle schafft. Wir wollen für universelle soziale Absicherung sorgen. Die Wahlen finden zwei Wochen nach dem Nationalfeiertag für den ersten Präsidenten, Julius Nyerere (1961-85), statt. Wie können Sie sich auf seine Ideen beziehen, während seine alte Partei der Revolution (CCM) an der Macht ist? Unsere Partei wurde gegründet mit der starken Entschlossenheit, die Gründungsprinzipien unserer Nation wiederherzustellen, die seit Dekaden verloren sind. Die Regierenden haben im Namen des freien Marktes, ohne Rücksicht auf die Interessen des Volkes, neoliberale Werte vertreten und so Vertrauen verloren. Das hat uns zu unserer Forderung nach der Wiederherstellung der Arusha-Deklaration gebracht, auf deren Grundlage wir eine demokratisch-sozialistische und selbstständige Nation aufbauen wollen, die den Interessen der arbeitenden und unterdrückten Massen in Stadt und Land dient und sie als Hoffnungsschimmer dabei in ihrem täglichen Kampf anleitet, die Härten ihres Lebens zu überwinden. Um die bedeutenden Produktionsmittel zu demokratisieren und die Ungleichheit zwischen Besitzenden und Besitzlosen zu verringern. Öffentliche Ämter dienen den Massen, nicht den wenigen im Amt. Wir können uns kritisch auf Nyereres Ideen beziehen, wo sie als Fahrplan für die Gesellschaft dienen, die wir aufbauen wollen. Diese Vision lebt weiter und kann die Arbeiter*innenklasse daran erinnern, dass seine Partei und die Regierung die Arusha-Deklaration verraten haben. Wir haben keine Angst davor, seine Ideen in unsere Zeit zu übersetzen. Die Politik der Regierung widerspricht den Prinzipien Nyereres. Wir sehen mehr und mehr Proteste an den Universitäten, aber auch von Minenarbeiter*innen, Bäuer*innen, Fischer*innen, Leuten, die auf der Straße Handel treiben, gegen die Kommerzialisierung von Grundbedürfnissen. Ihr ursprünglicher Kandidat für das Festland war Bernard Membe, bis 2015 Außenminister und bis Anfang des Jahres noch Mitglied der CCM ... Die zehn leitenden Prinzipien der Partei mit vier Grundsäulen zeugen von den großen Unterschieden zwischen uns und der Regierungspartei. Die Leitlinien unserer Politik sind in der Tabora-Deklaration festgehalten. ACT ist eine radikal linke Bewegung, geleitet von einer demokratisch-sozialistischen Perspektiv, verankert in der Basis. Wir sind die Avantgarde der Unterdrückten und immer auf ihrer Seite, indem wir die Stimmen der Arbeiter*innen und Bäuer*innen verstärken. Wir verteidigen internationale Solidarität, beispielsweise mit den Sahrauis aus der Westsahara. Bernard Membe hat mit der CCM gebrochen und sich unseren Prinzipien verpflichtet. In den 1960er Jahren war Dar es Salaam der Mittelpunkt des antiimperialistischen Widerstandes um Personen wie Abdulrahman Mohamed Babu aus Sansibar und den marxistischen Historiker Walter Rodney aus Guyana. Braucht es eine Widerbelebung dieser Zeit? Ja, im Kontext des gegenwärtig ungezügelten Neoliberalismus ist es zentral für Afrika, diesen revolutionären nationalistischen Geist wiederzubeleben, um diese Probleme anzugehen und den Pfad wirklicher Entwicklung für unser Volk einzuschlagen. Ich sehe eine generelle Notwendigkeit, Widerstand und alternative Perspektiven reaktionären Kräften in unserem Land und in Afrika entgegenzusetzen. Doch dafür ist es notwendig, die momentanen regressiven Entwicklungen, die wir aufhalten wollen, und die Vision einer besseren Gesellschaft und wie man sie erreicht, zu verstehen. Deshalb haben wir die Tabora-Deklaration verabschiedet, die als Grundlage für Programme und strategische Ziele auf dem Weg zu einer gleichen und gerechten Nation dient, die ein glückliches und anständiges Leben für alle Tansanier*innen ermöglicht.
Kofi Shakur
Es ist notwendig, den reaktionären Kräften in Tansania und in Afrika Widerstand und alternative Perspektiven entgegenzusetzen, meint Dorothy Semu. Ein Gespräch mit der Vorsitzende der linken ACT Wazalendo über die Wahlen in Tansania.
Tansania, Wahlen 2020
Politik & Ökonomie
Politik Tansania
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1143684.tansania-wir-sind-die-avantgarde-der-unterdrueckten.html
Die Nacht des Milliarden-Pokers
An Warnungen und Drohgebärden hat es im Vorfeld nicht gemangelt, jetzt beginnen die Stunden der Wahrheit: Heute Abend treffen sich die EU-Staats- und Regierungschefs in Brüssel zum Pokern um Milliarden. Es geht um das Geld, das der Union zwischen 2014 und 2020 zur Verfügung stehen soll. Etwa eine Billion Euro stehen zur Debatte, und in dem Wörtchen »etwa« steckt der Kern des Streits. Die EU-Kommission, die den ersten Vorschlag für den so genannten Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) der EU auf den Tisch legen durfte, fordert 1033 Milliarden Euro. Das sind 40 Milliarden Euro mehr als im auslaufenden Etat für die Jahre 2007 bis 2013. Die Kommission begründet die Steigerung vor allem mit einem notwendigen Inflationsausgleich. Dagegen stellen sich vor allem die Nettozahler quer, also jene Länder, die mehr Geld an die EU überweisen, als sie durch EU-Programme zurückerhalten. Neben Deutschland gehören dazu unter anderem Großbritannien und Frankreich (siehe Grafik). Ihr Argument: In Zeiten der Krise, in denen alle Staaten ihre nationalen Ausgaben beschneiden, könne es nicht sein, dass die EU mehr Geld bekomme. Ihnen stehen die Empfängerländer wie Polen, Rumänien oder Spanien gegenüber. Sie plädieren dafür, das Budget aufzustocken, da sie sind in vielen Bereichen auf EU-Gelder angewiesen sind. In Lettland etwa werden 90 Prozent der öffentlichen Investitionen mitfinanziert. Es profitiert vor allem vom größten Ausgabenbereich »Nachhaltiges Wachstum«. Die Nettozahler wollen den Kommissionsvorschlag um mindestens 100 Milliarden Euro zusammenstreichen, der britische Premierminister David Cameron gar um 200 Milliarden Euro. Obwohl er bereits den Erhalt des »Briten-Rabatts« durchsetzen konnte. Mit dieser aus den 80er Jahren stammenden Regelung sparte Großbritannien allein im letzten Jahr rund 3,6 Milliarden Euro EU-Mitgliedsbeitrag. Cameron droht nun mit einer Blockade des MFR. Bei der Entscheidung im Rat ist Einstimmigkeit erforderlich. Sollte es tatsächlich zu einem Veto eines oder mehrerer Länder kommen, gibt es aber einen Plan B. So ist aus Brüsseler Diplomatenkreisen zu hören, dass die verbleibenden 26 oder weniger Staaten einen eigenen Haushalt »ohne x« verabschieden. Das würde zwar gegen geltendes EU-Recht verstoßen. Doch die EU bliebe handlungs- und planungsfähig. Daran hat auch die Bundesregierung Interesse. So ist zu hören, dass sich Kanzlerin Angela Merkel mit dem Kompromissvorschlag des EU-Ratspräsidenten Herman Van Rompuy anfreunden kann. Er sieht 80 Milliarden Euro weniger als die EU-Kommission vor. Allein bei den Geldern für die Landwirtschaft sollen 25 Milliarden, bei den Strukturhilfen 29 Milliarden Euro eingespart werden. Proteste der Empfängerländer sind programmiert, aber auch Frankreich und Italien werden Einsparungen im zweitgrößten Ausgabenblock Agrarpolitik nur schwer schlucken. Mit einer schnellen Einigung rechnet in Brüssel deshalb keiner. Van Rompuy hat in seinem Einladungsschreiben schon vermeldet, dass alles für eine Verlängerung des Gipfels über Freitag hinaus vorbereitet sei. Ein Abschluss der Verhandlungen müsse das oberste Ziel bleiben. Zumal das Ergebnis dann noch mit dem Europäischen Parlament (EP) abgestimmt werden muss. Es hat in Haushaltsfragen ein Mitentscheidungsrecht und fordert deutlich mehr Geld als die EU-Kommission. Der Präsident des EP, Martin Schulz (SPD), sagte am Mittwoch in Straßburg, er sei sich nicht sicher, »dass der Rat die Dramatik der Situation bereits begriffen hat«. Die von den Regierungschefs selbst beschlossenen Ziele müssten finanzierbar bleiben. Gabi Zimmer, Vorsitzende der Linksfraktion GUE/NGL, forderte den Rat zur Aufgabe seiner Blockade auf. Beim MFR gehe es um »das Funktionieren, das Überleben, um die Zukunft der EU«. EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso, der mit den Staats- und Regierungschefs zunächst im »Beichtstuhlverfahren« verhandeln will, betonte sein Nein zu Kürzungen. 94 Prozent des Etats kämen direkt den EU-Bürgern zugute. Falls es bis Jahresende keine Einigung geben sollte, würden die Obergrenzen für 2013 plus einem Inflationsausgleich gelten und die Beträge Monat für Monat ausgezahlt werden.
Kay Wagner, Brüssel
Im Streit um eine Billion Euro beginnt heute Abend ein Sondergipfel der 27 Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten. Die Verhandlungen um das Budget für die Jahre 2014 bis 2020 stehen vor ungewissem Ausgang. In der Finanzkrise wollen die großen Geldgeber wie Deutschland weniger für die EU ausgeben. Eine Entscheidung über neue Hilfen für Griechenland wurde bereits auf Montag vertagt.
EU, Eurokrise, Griechenland, Schuldenkrise
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt
https://www.nd-aktuell.de//artikel/805083.die-nacht-des-milliarden-pokers.html
Die Macht des Films
Im Juni 2014 wurde die 19-jährige Pakistanerin Saba Qaiser von ihrem Vater ins Gesicht geschossen, in einen Jutesack gesteckt und in einen Fluss geworfen. Der Anlass: Sie hatte gegen den Willen ihrer Familie geheiratet. Weil Saba im letzten Moment ihren Kopf zur Seite neigte, überlebte sie diesen »Ehrenmord«-Versuch. Über ihren Fall wurde in Medien berichtet. Nicht weil die Gewalttat besonders brutal war oder weil ein »Ehrenmord« in Pakistan etwas Seltenes ist - im Gegenteil: rund 1.000 Morde aus Ehre werden jährlich in Pakistan begangen -, sondern weil nur wenige Opfer überleben. Als die Filmemacherin und J... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Guido Speckmann
In Pakistan gibt es jedes Jahr rund 1.000 Ehrenmorde. Die Journalistin Sharmeen Obaid-Chinoy hat einen besonders dramatischen Fall einer 19-jährigen dokumentiert. Das Mädchen überlebte den Versuch ihres Vaters sie zu töten.
Film, Oscar-Verleihung, Pakistan
Feuilleton
Kultur
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1003542.die-macht-des-films.html
Das Frauenproblem der Linkspartei
Ungefähr 7150 Mitglieder zählt die märkische LINKE, 44 Prozent von ihnen sind Frauen. Das Verhältnis ist also gegenwärtig relativ ausgeglichen. Unter den Hochbetagten, die schon älter als 85 Jahre sind, gibt es sogar mehr Genossinnen als Genossen. Kein Wunder: Frauen leben in der Regel länger. Übrigens stellte sich heraus, dass märkische Sozialistinnen älter werden als die durchschnittliche Brandenburgerin. »Links zu sein, ist gesund«, bemerkt Landesgeschäftsführerin Andrea Johlige lächelnd. Trotzdem registrierte Wahlkampfchef Matthias Loehr ein heraufziehendes Frauenproblem. Das ist möglicherweise ernster zu nehmen als die Nachwuchssorgen, über die schon seit vielen Jahren geredet wird. Denn es kommen durchaus junge Menschen zur Partei. 161 Eintritte hat es im vergangenen Jahr gegeben. Das kann zwar die Zahl von 214 gestorbenen Genossen nicht aufwiegen, zumal es auch noch 140 Austritte gab - aber es bewegt sich etwas. In vielen Kreisvorständen vollzog sich ein Generationswechsel und auch im Landesvorstand deutet sich dies nun an. Die Schwierigkeit besteht darin, dass zu wenig junge Frauen zur Partei stoßen. Nur rund ein Drittel der Neueingetretenen sind Frauen, informiert Geschäftsführerin Johlige. Das Durchschnittsalter der weiblichen Mitglieder liegt bei 70,6, das männlichen bei 66,5. Bei der Suche nach geeigneten Kandidatinnen für die Kommunalwahl am 25. Mai bereitete dies schon Schwierigkeiten. Bei der Landtagswahl am 14. September macht sich der Frauenmangel noch nicht so deutlich bemerkbar. Für die Landesliste, die am 24. und 25. Januar in Potsdam aufgestellt wird, liegen 21 Bewerbungen von Frauen vor. Sie verteilen sich ziemlich gleichmäßig auf die Geburtsjahrgänge 1951 bis 1991. Auch die Mitte 40-Jährigen, unter denen die LINKE weniger Mitglieder und weniger Wähler hat als in anderen Altersgruppen, sind mit vier Bewerberinnen vertreten. Fähige Politikerinnen und interessante Persönlichkeiten, starke Frauen. Die Mischung stimmt: Junge Bewerberinnen wie die Physiklehrerin Tina Lange (25) neben erfahrenen wie Umweltministerin Anita Tack (62). Die jüngste, Juliane Pfeiffer (23), begründet ihre Bewerbung so: »Auch wenn nach 200 Jahren Frauenbewegung viel erreicht wurde, gibt es leider immer noch gesellschaftliche Diskriminierung von Frauen.« Klassische Frauenberufe wie Altenpflegerin und Erzieherin werden schlecht bezahlt und auch bei gleicher Arbeit erhalten Frauen 20 Prozent weniger Lohn als männliche Kollegen, argumentiert die Soziologiestudentin. Die Debatten »um alltäglichen Sexismus« im Jahr 2013 haben nach ihrer Ansicht gezeigt, »dass Feminismus immer noch tagesaktuell ist und zu sein hat«. Es gebe noch viel zu tun - »auch in der Geschlechterfrage«. Frauen bringen eine spezielle Sichtweise ein und sind darum in der Politik eigentlich unverzichtbar. Ganz abgesehen davon, dass gleichberechtigtes Mitgestalten von Politik durch Frauen sich für eine sozialistische Partei von selbst versteht. Die LINKE weiß das und quotiert streng. Jeder zweite Platz auf der Landesliste ist traditionell für Genossinnen vorbehalten. Andere Parteien könnten sich eine Scheibe abschneiden. So stehen auf der 45 Namen umfassenden CDU-Landesliste nicht einmal ein Dutzend Frauen, und auf der FDP-Liste finden sich Frauen nur auf den Plätzen fünf, sieben, neun und zehn. Da nimmt sich die LINKE regelmäßig mehr vor. Doch Anspruch und Wirklichkeit klaffen zuweilen auseinander. 2009 erhielt die LINKE 21 Direktmandate. Ob es nun gerade Männer oder Frauen sind, die Wahlkreise gewinnen, lässt sich vorher nicht exakt planen. So wird es auch bei der bevorstehenden Wahl am 14. September sein. Mit einem leichten Übergewicht von Männern in der neuen Fraktion muss gerechnet werden, da die Partei für die insgesamt 44 Wahlkreise bislang nur zwölf Frauen aufstellte. In drei Wahlkreisen steht die Nominierung noch aus. Derzeit befinden sich 26 Sozialisten im Landtag, darunter bloß neun Frauen. Immerhin rückt demnächst noch eine nach, wenn Linksfraktionschef Christian Görke am 22. Januar zum neuen Finanzminister ernannt wird und dann sein Abgeordnetenmandat niederlegt. Nachrückerin Karin Weber ist eine alte Bekannte. Sie saß bereits von 2004 bis 2009 im Parlament. Sie machte sich einen Namen im Kampf gegen neofaschistische Heldengedenken am Soldatenfriedhof Halbe.
Andreas Fritsche
Die märkische LINKE hat fähige Kandidatinnen für die Landtagswahl am 14. September. Trotzdem zeichnet sich für die Zukunft ein Frauenmangel ab.
Frauenquote, Gender, LINKE
Hauptstadtregion
Brandenburg Brandenburg
https://www.nd-aktuell.de//artikel/921007.das-frauenproblem-der-linkspartei.html
Tatort Theater
Der Intendant der Berliner Volksbühne, Klaus Dörr, ist zurückgetreten, nachdem sich mehrere Frauen nicht nur an die Vertrauensstelle Themis und damit wiederum an die Senatsverwaltung für Kultur, sondern auch an die Öffentlichkeit wandten. Sie warfen dem 60-Jährigen vor, seine Macht missbraucht und sich übergriffig verhalten zu haben. Dörr hat die Vorwürfe bestritten. Nun sind sich die Feuilletons der Republik einig, wie der Vorgang einzuordnen ist. Die Ära das alten weißen Mannes ist nun endgültig vorbei, das Modell der Intendanz ein Überbleibsel des 19. Jahrhunderts. Neue Führungskräfte braucht das Land, möglichst unbelastet - jung, weiblich, divers. Das ist zwar eine ansprechende Erzählung. Sie hat allerdings das Problem, dass sie kaum dazu beiträgt, die heutige Lage zu begreifen. Denn die hat mehr mit dem 21. als dem 19. Jahrhundert zu tun. Als vor ein paar Jahren zahlreiche Fälle sexueller Belästigung im Silicon Valley bekannt wurden, war das ein Einbruch in die schöne neue kalifornische Welt. Wie war das möglich, obwohl große Tech-Konzerne sich »Don’t be evil« als Selbstverpflichtung gaben? Obwohl dort die neue Achtsamkeits- und Diversitätskultur propagiert wurde? Aufmerksame Beobachter stellten damals fest, dass das Problem in der Arbeitswelt der Start-ups selbst liegen dürfte. Beschäftigte haben kaum Sicherheit, die Arbeit ist entgrenzt. Abhängig ist das Prekariat der Digitalökonomie vor allem von sogenannten Risikokapitalgebern und ihren Agenten, den Vermittlern zwischen dem großen Kapital und den Kopfarbeitern, die nichts zu verkaufen haben außer ihrer Idee für eine tolle neue weltverändernde App. Diese Leute sind im hohen Maße abhängig und erpressbar. Und genau an dieser Schnittstelle kam es gehäuft zu sexueller Belästigung, zu Übergriffen und ähnlichem. Das viel gescholtene deutsche Stadt- und Staatstheater hat sich dem in den vergangen Jahren angeglichen, so dass man es mitnichten einfach der Vergangenheit zuschlagen kann. Festanstellungen gehen allerorten zurück, Projektarbeit nimmt zu. Intendanten sind meist gewiefte Kulturmanager städtischer GmbHs. Von ihnen wird keine künstlerische Idee, sondern ökonomische Kennzahlen zur Auslastung verlangt. Sie verwalten große Etats und regeln den Zugang dazu. Ihnen gegenüber steht eine Masse mittelloser Künstler, die schon allein deswegen, weil sie auch von etwas leben müssen, ihre Ideen in Kontakt mit dem lieben Geld bringen müssen. Und jedes Jahr strömen von den staatlichen und zahlreichen Privaten Schauspielschulen und Kunstakademien mehr und mehr Absolventen auf den Markt, wo sie ihre Arbeitskraft - also Körper und Geist - feilbieten müssen. Gleichzeitig geht die Zahl der Stellen Jahr für Jahr zurück. Die Konkurrenz ist erbarmungslos. Und die Erpressbarkeit und Abhängigkeit der Einzelnen enorm. Am deutschen Stadttheater verbindet sich hierarchische Führung mit neoliberaler Projektebörse. Alternative Wege der unabhängigen Institutionalisierung für Künstler und Künstlergruppen sind kaum möglich, in der »freien Szene« kann man sich von Projektantrag zu Projektantrag hangeln. Die unmittelbare persönliche Abhängigkeit ist zugunsten anonymer Förderkriterien gelockert, durchs Raster fallen kann man hier aber auch. Es herrscht zudem ein nicht zu unterschätzender Konformitätsdruck. Wenn man also über die Strukturen hiesiger Theaterhäuser spricht, muss man über die Veränderungen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte sprechen - über die Verschlechterung der Situation der Beschäftigten (die paar Stars der Branche mal beiseite gelassen, die auch keine Stars wären ohne all jene, die für sie arbeiten), über den Konkurrenzdruck, über Erpressbarkeit und ökonomische Prekarität. Neu ist das nicht, so hat der linke Dramaturg Bernd Stegemann schon vor ein paar Jahren für das Modell eines Künstlertheaters plädiert. Nur hat sich seitdem aber kaum etwas geändert. Und die Stadttheater mit neuem Personal und ein paar Projekten in Kooperation mit der freien Szene auszustatten, ändert eben das grundlegende Problem nicht: Dass die Produzenten in den Theatern beständig an Produktionsmacht verlieren, die sich dann bei den Kulturmanagern konzentriert. Und das kennt man - beispielsweise unter den Namen Neoliberalismus. Eine Passage des Artikel wurde aufgrund einer rechtlichen Auseinandersetzung nachträglich geändert.
Jakob Hayner
Das Problem sind die alten weißen Männer und das Stadttheater aus dem 19. Jahrhundert. So heißt es nach dem Rücktritt des Intendanten der Berliner Volksbühne. Doch die wirklichen Probleme sind grundlegender und neueren Datums.
Metoo, Theater, Volksbühne Berlin
Feuilleton
Kultur Kultur
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1149862.tatort-theater.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
Komplettes CETA-Abkommen geleakt
Nur noch wenige Wochen sind es, bis das kanadisch-europäische Freihandelsabkommen offiziell bekannt gegeben werden soll. Darüber, dass das im Geheimen verhandelte Abkommen neben Handelsliberalisierungen und Urherberrechtsnovilierungen vor allem die Position privater Unternehmen gegenüber Staaten stärkt, erfuhr die Öffentlichkeit auf offiziellem Wege bisher kaum etwas. So sollen Konzerne vor privaten Schiedsgerichten gegen EU-Staaten klagen können; eine Klausel soll verhindern, dass einmal durchgeführte Privatisierungen jemals wieder rückgängig gemacht werden. Der Geheimniskrämerei von EU-Kommission und kanadischer Regierung kam bereits vor etwas über einem einem Monat das ARD-Hauptstadtstudio in die Quere und veröffentlichte das Hauptdokument des Vertrags. Nun hat das Netzpolik-Portal netzpolitik.org 19 weitere Dokumente mit insgesamt 1602 Seiten Text veröffentlicht. Dabei soll es sich um sämtliche Vertragsunterlagen handeln, die von der EU-Kommission an die deutsche Bundesregierung geschickt wurden, einschließlich aller »Kapitel, Anhänge, Erklärungen, Vereinbarungen sowie Nebenabreden.« Ende Oktober wollen die Handelsminister im kanadische Ottawa über den finalen Vertragstext entscheiden. Bis dahin können die Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten und das Europarlament noch Änderungsanträge einbringen.
Fabian Köhler
Seit fünf Jahren verhandeln EU und Kanada über das Freihandelsabkommen CETA. Über den Inhalt erfährt die Öffentlichkeit kaum etwas. Nun hat netzpolitik.org die kompletten 1.600 Seiten des Vertrages veröffentlicht.
CETA, EU-Kommission, Freihandelsabkommen, Kanada
Feuilleton
Kultur
https://www.nd-aktuell.de//artikel/945971.komplettes-ceta-abkommen-geleakt.html
Die Fratze des Dutertismo
Erst am späten Montagabend meldete sich der philippinische Präsident Rodrigo R. Duterte nach zweiwöchigem Abtauchen wieder zu Wort. In einer aufgezeichneten Fernsehansprache beschied er seinen Landsleuten: »Würde das Militär mir erlauben zu regieren, wenn ich die Dinge so führe – ohne dass ich etwas tue?« Inmitten der schwersten Krise des Landes schürte Dutertes Abwesenheit neuerlich Gerüchte über seinen Gesundheitszustand. Statt jedoch der zunehmend an Hunger, Elend und Verzweiflung leidenden Bevölkerung endlich konkrete Schritte zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie aufzuzeigen, hofierte der Präsident wieder ungeniert das Militär. Ihm und der Nationalpolizei hatte er nämlich am 5. März unmissverständlich klar gemacht, was in seinem letzten Amtsjahr prioritär die Agenda bestimmt. »Kill, kill, kill« lautete die präsidiale Order, um »die Kommunisten fertigzumachen.« Dieser Text stammt aus unser Wochenendausgabe. nd.Die Woche nimmt Geschehnisse in Politik und Gesellschaft hintergründig unter die Lupe. Politische und wirtschaftliche Analysen, Interviews, Reportagen und Features, immer ab Samstag am Kiosk oder gleich mit einem Wochenendabo linken Journalismus unterstützen. Seitdem verging kein Tag, an dem nicht Regimegegner unterschiedlicher Couleur erschossen, festgenommen oder deren Büros durchsucht wurden. Die antikommunistische Paranoia geht so weit, dass jetzt auch Mitarbeiter und Angestellte des Senats als »subversiv« gebrandmarkt werden. Besonders betroffen ist die Guerillaorganisation der Kommunistischen Partei der Philippinen (CPP), die Neue Volksarmee (NPA), ein militärischer Verband, der jüngst seinen 52. Geburtstag feierte. Die Herrschenden im Lande – darunter zuvörderst Duterte in Personalunion Präsident und Oberbefehlshaber der Streitkräfte – sähen die NPA am liebsten sofort »ausradiert«. In der gesamten Region Südostasien sind die Philippinen das Land mit dem am Längsten währenden bewaffneten kommunistischen Widerstand. Als die NPA am 29. März 1969 – drei Monate nach Gründung der CPP – in Zentralluzon (nördlich der Metropole Manila gelegen) aus der Taufe gehoben wurde, umfasste der Trupp gerade einmal 60 Kämpfer. Von der Provinz Tarlac aus begann eine langsame Ausbreitung der Massenbasis im Sog eines agrarrevolutionären Kampfes, dem es in der Endphase der Diktatur unter Ferdinand E. Marcos (1965-86) Mitte der 1980er Jahre gelungen war, landesweit verankert zu sein und nunmehr in seinen Reihen annähernd 30 000 Kombattanten zu vereinen. Zu der Zeit war die NPA die weltweit am Schnellsten wachsende Guerilla, was seinerzeit unter US-amerikanischen Militärstrategen und Politikern große Unruhe schürte und die Befürchtung aufkeimen ließ, ihre ehemalige Kolonie (1898-1946) könne »den Wölfen anheimfallen« – sprich: kommunistisch werden. Spaltung der kommunistischen Bewegung Schwere politische wie militärische Fehleinschätzungen waren verantwortlich dafür, dass die CPP/NPA, die seit Formierung des Untergrundbündnisses der Nationalen Demokratischen Front der Philippinen am 24. April 1973 zu deren bedeutsamsten Mitgliedorganisationen zählen, an Bedeutung verloren und sich in heftigen internen Querelen und Konflikten verhedderten. Den Höhepunkt dieses erbitterten Streits bildete die sogenannte Zweite Große Berichtigungsbewegung zwischen Befürwortern der fortgesetzt maoistischen Linie des langwierigen Volkskrieges vom Hinterland aus und jenen Kräften, die im Zuge der Erosion des Realsozialismus in der vormaligen Sowjetunion sowie in den Ländern Osteuropas den maoistischen Kurs für obsolet erachteten und stattdessen den parlamentarischen Kampf protegierten. Nannten sich Erstere »Reaffirmists«, also sich zum bewaffneten Kampf bekennend, betrachteten sich Letztere als »Rejectionists«, also den bewaffneten Kampf verwerfend, wobei die »Reaffirmists« erneut Zulauf verzeichneten und heute unter den radikalen Linken ideologisch, politisch und organisatorisch die Führungsrolle einnehmen. Hauptziel ist nach wie vor die Schaffung einer Volksdemokratischen Republik der Philippinen, solange im Lande die ihrer Meinung nach »drei Hauptübel Imperialismus, Feudalismus und bürokratischer Kapitalismus« fortbestehen und der Inselstaat durch Großgrundbesitz, schroffe soziale Gegensätze, grassierende Armut und Korruption und nicht zuletzt durch Militarisierung sowie Staatsterror geprägt bleibt. Nach eigenen Angaben verfügt das nationale operative NPA-Kommando gegenwärtig über 14 Regionalkommandos mit über 100 Guerilla-Fronten in 73 der landesweit 81 Provinzen. Es war ausgerechnet Duterte, der, als er im Sommer 2016 als neuer Präsident in den Präsidentenpalast Malacañang zu Manila einzog, u.a. hoch und heilig versprochen hatte, als erstes »sozialistisches« Staatsoberhaupt des Landes in die Annalen eingehen zu wollen. Er werde deshalb als Zeichen seines Goodwills sämtliche politischen Gefangenen im Lande auf freien Fuß setzen und mit dem Untergrundbündnis der Nationalen Demokratischen Front der Philippinen das Gespräch suchen. Ja, mit ihr Friedensverhandlungen reaktivieren, um den längsten kommunistischen Widerstand in der Region zu beenden. Tatsächlich kam es im Spätsommer 2016 unter der diplomatischen Schirmherrschaft des norwegischen Außenministeriums zur Wiederaufnahme eben dieser Friedensverhandlungen – zunächst in Oslo und später dann in den Niederlanden, wo in Utrecht ein Großteil der Führungskader der Nationalen Demokratischen Front seit langem im Exil lebt. Darunter auch der mittlerweile 82-jährige José Maria Sison, Gründungsvorsitzender der CPP und seit Jahren politischer Chefberater des Untergrundbündnisses. Doch bereits ein Jahr später war die anfängliche Euphorie gewichen und Duterte machte keinen Hehl daraus, fortan – auf Drängen seiner meist an US-amerikanischen Militärakademien ausgebildeten Generalität – auf den »militärischen Endsieg« gegen die Nationale Demokratische Front samt CPP und NPA zu pochen. Aufstandsbekämpfung über alles Aus dem sich »sozialistisch« gebärdenden Wahlkämpfer Duterte war binnen zweier Jahre ein prototypischer Antikommunist geworden, der wie all seine Vorgänger – einschließlich des von ihm bis heute verehrten Diktators Marcos – auf die Zerschlagung der Guerilla setzt. Erst verkündete Duterte am 23. November 2017 qua Präsidialdekret Nr. 360 einen Stopp der Friedensverhandlungen mit der Nationalen Demokratischen Front der Philippinen, um kurz darauf, am 5. Dezember 2017, die CPP und NPA über Nacht »terroristisch« zu brandmarken. Flugs erteilte er der Nationalpolizei sowie den Streitkräften die Order, gegen beide Organisationen unerbittlich vorzugehen. Mittels solcher Counterinsurgency- bzw. Aufstandsbekämpfungspläne wie dem Oplan Kapayapaan (Operationsplan Frieden) und Oplan Kapanatagan (Operationsplan Stabilität) sollten landesweit »die Hirne und Herzen« der Bevölkerung gewonnen und endlich »Ruhe und Ordnung« hergestellt werden. Die schließlich am 4. Dezember 2018 unterzeichnete Exekutivorder 70 gab den Startschuss zur Counterinsurgency als »gesamtnationalen Ansatz«. Konkret: Seitdem obliegt der Nationalen Task Force zur Beendigung des lokalen kommunistischen bewaffneten Konflikts die Aufgabe, des Präsidenten Counterinsurgengy-Strategie zu exekutieren – koste es, was es wolle. Die Task Force wird dirigiert von hochrangigen Militärs und ehemaligen Generalstabschefs, die unter Duterte in Kabinettsposten gehievt wurden oder unter seiner Ägide zu hohen Beamten avancierten. Es ist diese Task Force, die – gestützt auf ein ihr maßgeschneidertes Antiterror-Gesetz und üppig mit Geldern versorgt – weitgehend die alltäglichen Geschicke lenkt, über Leben und Tod von »subversiven Elementen und Kommunisten« befindet und alles in Gang setzt, um unter härtesten und langen Lockdown-Bedingungen während der Covid-19-Pandemie Protest und Widerstand zu ersticken sowie mit Blick auf die nächsten Präsidentschaftswahlen im Mai 2022 eine Duterte-Dynastie zu installieren.
Rainer Werning
Die Philippinen haben eigentlich genug soziale und wirtschaftliche Probleme, auf die sich der Präsident in seinem letzten Amtsjahr fokussieren könnte. Doch Duterte forciert stattdessen seinen brutalen Krieg gegen Rebellen.
Philippinen, Rodrigo Duterte
Politik & Ökonomie
Politik Kommunismus
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1150713.die-fratze-des-dutertismo.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles