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Hoffen auf Bewegung
Die Sportminister machen Druck auf Länderchefs und die Kanzlerin. Ein Rückkehrmodell in sechs Stufen soll Millionen Sportlern bald wieder den Normalbetrieb ermöglichen - und das auch mit Wettkämpfen vor Zuschauern. Ein entsprechender Beschluss der Sportministerkonferenz (SMK) als Empfehlung für den nächsten Coronagipfel von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) mit den Ministerpräsidenten am 3. März weckt große Hoffnung bei den rund 24 Millionen Mitgliedern in den etwa 90 000 Vereinen des Deutschen Olympischen Sportbundes. DOSB-Präsident Alfons Hörmann meint: »Es wird erkennbar Zeit, dass sich etwas ändert.« Für wie dringlich die Sportminister es erachten, wieder Bewegung in den Amateursport zu bringen und einen noch größeren Schaden von den Vereinen abzuwenden, beeindruckte Hörmann. »Ich habe es noch nie in meiner siebenjährigen Amtszeit erlebt, dass die SMK innerhalb von zwei Wochen dreimal getagt hat«, sagte Hörmann. Grundlage für die Initiative vom Montag sei die Erfahrung, dass auch bei der Öffnung das Infektionsgeschehen im Sport unter Kontrolle behalten werden könne, hieß es in einer Erklärung. Wie groß die Auswirkungen der Pandemie sind, belegen Zahlen, die das Statistische Bundesamt am Dienstag veröffentlichte. Demnach können rund 7,3 Millionen Mädchen und Jungen bis zum Alter von 18 Jahren nicht mehr in ihren Sportvereinen trainieren. Auch die besonders in der Gesundheitsprävention aktiven Senioren sind stark vom Lockdown betroffen. Von den 22,5 Millionen Menschen in Deutschland, die älter als 60 sind, waren zuvor 4,7 Millionen in einem Sportverein. »Es wird höchste Zeit, dass das so wertvolle Vereinsleben in den 90 000 sozialen Tankstellen unseres Landes wieder ermöglicht wird«, sagte Hörmann. Neben der Bewegungslosigkeit führe die Situation zu Mut-, Lust- und Perspektivlosigkeit: »Die körperlichen und psychischen Kräfte sind bei vielen aufgebraucht.« Die Sonderrolle des Profifußballs in der Pandemie hält der DOSB-Chef für gerechtfertigt. »Der Ligabetrieb hat wohl eine gewisse sportspezifische Systemrelevanz, zumindest in bestimmten Teilen.« Zudem hängen Zehntausende Arbeitsplätze davon ab, ob die Klubs spielen können oder nicht. Die Misere des gesamten Sports wird in einer ersten Sichtung der Mitgliedererhebung durch die Landessportbünde sichtbar. Dabei zeigte sich laut DOSB, dass bei zahlreichen von ihnen bis 31. Dezember 2020 ein Mitgliederschwund in einer Größenordnung von drei bis fünf Prozent festgestellt wurde. Es gebe Signale aus Vereinen und Landessportbünden, dass die Kündigungen im Januar und Februar weiter gehen. Nicht nur zunehmende Austritte, auch der Wegfall von Kursgebühren führen trotz staatlicher Hilfsmaßnahmen »zu existenzbedrohenden Schieflagen« bei Sportvereinen, konstatierte die Sportministerkonferenz und warnt vor »negativen Auswirkungen für die Gesellschaft«. Deshalb solle ergänzend zum schrittweisen Re-Start eine nationale Kampagne von Sport und Politik gestartet werden, »um die existenziell bedeutende Mobilisierung der Mitglieder für den Vereinssport massiv zu unterstützen«, kündigte der DOSB-Präsident Hörmann an.dpa/nd
Andreas Schirmer, Frankfurt am Main
Menschen leiden unter Bewegungsmangel mit teilweise psychischen Folgen, Sportvereine unter Mitgliederschwund. Ein Vorstoß der Sportministerkonferenz für eine Re-Start macht Mut.
DOSB, Rentenpolitik
Sport
Sport
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1148688.hoffen-auf-bewegung.html
»Länger arbeiten hält gesund«
In Deutschland werden die Älteren immer älter – und sie werden immer mehr. Viele fragen sich: Wer soll künftig die Rente all der 90-Jährigen bezahlen? Um die Alterssicherung »zukunftsfest« zu machen, wurde sie in den vergangenen Jahren mehrfach »reformiert« und »umgebaut«, weil »Sachzwänge« dies angeblich verlangen. Doch das Problem ist kein biologisches, sondern ein ökonomisches und politisches. Es geht um Verteilungsfragen. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung stellt den gängigen Behauptungen in einer von Sabine Reiner unter Mitarbeit von Ingo Schäfer verfassten Broschüre Antworten entgegen – Aufklärung gegen die Mythen der herrschenden Rentenpolitik lesen Sie hier täglich in einer nd-Reihe. Was gesagt wird: »Dass wir immer länger leben, kann nicht nur immer mehr Zeit in Rente bedeuten«, meinen die ArbeitgeberInnen. »Die heutigen Seniorinnen und Senioren sind im Durchschnitt gesünder, besse... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Etwa 40 Prozent der Beschäftigten nehmen Abschläge in Kauf, um sich früher aus dem Arbeitsleben zu verabschieden. Im Schnitt verzichten sie auf knapp 90 Euro Rente im Monat - wenn sie sich das leisten können. Sonst müssen sie weiter schuften.
Renten
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt
https://www.nd-aktuell.de//artikel/916922.laenger-arbeiten-haelt-gesund.html
Mitnahmeeffekt im Wohnungsbau wird sich rächen
Seit 2019 wird in der alten Havelland-Grundschule in Zehdenick kein Unterricht mehr erteilt. Das 1908 errichtete Gebäude steht unter Denkmalschutz und wurde dennoch so umgebaut, dass es mit 19 barrierefreien Wohnungen innen kaum wiederzuerkennen ist. »Man staunt, was aus einer ehemaligen Schule alles gemacht werden kann«, sagt Brandenburgs Infrastrukturminister Detlef Tabbert (BSW) am Montag. In der Potsdamer Staatskanzlei präsentiert er am Morgen die Bilanz der Wohnraumförderung für das vergangene Jahr. Die alte Havelland-Grundschule nennt Tabbert als eins von drei Beispielen, für das Fördermittel bewilligt worden seien. Rund vier Millionen Euro habe das Projekt insgesamt gekostet, etwas mehr als drei Millionen Euro Fördermittel seien zur Verfügung gestellt worden, erläutert der Minister. Weitere 13 Millionen Euro spendierte der Staat für Modernisierung und Instandsetzung am Otterkiez im Potsdamer Plattenbaugebiet Am Schlaatz. Dort wurden in 135 Wohnungen Wasserleitungen und Heizungsrohre erneuert sowie die Bäder saniert. Wärmedämmung und die Nachrüstung von Aufzügen gehörten ebenfalls zu der Baumaßnahme. Alles in allem hat das 19 Millionen Euro gekostet. Drittes Beispiel: In Cottbus wurde eine Baulücke geschlossen. Hier entstanden für 3,8 Millionen Euro elf Eigentumswohnungen. Es gab 3,1 Millionen Euro Fördermittel. »Im Land Brandenburg sind wir auf einem guten Weg, glaube ich, was bezahlbaren Wohnraum angeht«, sagt Minister Tabbert. »Die Wohnraumförderung ist und bleibt ein wirksames Instrument, um die Menschen mit bezahlbarem und bedarfsgerechtem Wohnraum zu versorgen.« 2024 seien Neubau, Modernisierung und Sanierung von 1269 Wohneinheiten gefördert worden, wovon 1117 Wohnungen mietpreis- und belegungsgebunden sind. 2023 seien rund 900 Wohneinheiten in den Genuss von Zuschüssen oder Darlehen gekommen, darunter damals nur 551 Sozialwohnungen. Mit zugesagten 212 Millionen Euro habe Brandenburg im vergangenen Jahr noch einmal deutlich zulegen können bei der Wohnraumförderung. »Wegen der aktuell immer noch sehr angespannten Situation im Bausektor mit stark gestiegenen Materialpreisen und Zinsen ist es das Ziel der neuen Landesregierung, die Wohnraumförderung auf hohem Niveau fortzusetzen«, versichert Tabbert. Eine konkrete Summe könne er aktuell jedoch nicht nennen. Die Haushaltsverhandlungen laufen. Insgesamt muss Finanzminister Robert Crumbach (BSW) darauf achten, dass die Ausgaben nicht aus dem Ruder laufen, da es bei den Einnahmen hapert. Dabei sind viele Wohnungsbauprojekte, die früher frei finanziert worden wären, inzwischen auf Fördermittel angewiesen, damit sie überhaupt noch realisiert werden können. Im vergangenen Jahr sind viermal mehr Fördermittel beantragt worden, als bewilligt werden konnten. Neubau mit sozial verträglichen Mieten sei wirtschaftlich nicht mehr darstellbar, warnte erst am Mittwoch der Verband Berlin-Brandenburger Wohnungsunternehmen (BBU). In Brandenburg sei die Zahl der Wohnungen, die Baugenehmigungen erhielten, 2024 um 19 Prozent auf nur noch 9142 gesunken. »Hier muss gegengesteuert werden«, forderte BBU-Chefin Maren Kern. »Ohne mutige Entscheidungen der Politik drohen in den nächsten Jahren sonst weitere Engpässe und steigende Mieten«, erklärte Kern. Notwendig seien massive Förderprogramme, die als Konjunkturprogramm wirken würden. »Mehr Geld für sozialen Wohnungsbau ist immer sinnvoll, reicht jedoch nicht, um das Versorgungsproblem grundsätzlich zu lösen«, meint dagegen die Bundestagsabgeordnete Isabelle Vandré (Linke). Das Ministerium räume ein, dass höhere Baukosten dazu führen, »dass auch Private für frei finanziert geplante Wohnungen die Förderung in Anspruch nehmen«. Nach Einschätzung von Vandré sind das »Mitnahmeeffekte«, die sich nach Auslaufen der Mietpreis- und Belegungsbindung rächen werden. »Statt Private zu fördern, sollte das Ministerium die Wohnraumförderung nur noch an jene vergeben, die dem Gemeinwohl verpflichtet sind: an kommunale Wohnungsgesellschaften und Genossenschaften«, sagt Vandré. Und natürlich brauche es einen Mietendeckel.
Andreas Fritsche
Förderung sollte nur erhalten, wer dauerhaft bezahlbaren Wohnraum schafft. Das sind kommunale Wohnungsgesellschaften und die Genossenschaften.
Brandenburg, Mieten, Wohnen
Hauptstadtregion
Berlin Brandenburg
2025-03-03T16:30:17+0100
2025-03-03T16:30:17+0100
2025-03-03T16:30:57+0100
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1189466.brandenburg-mitnahmeeffekt-im-wohnungsbau-wird-sich-raechen.html?
Spassibo, Frank!
Mit seiner Komödie »Nach Moskau! Nach Moskau!« hat der Berliner Regisseur Frank Castorf die Russen zum Auftakt des Internationalen Tschechow-Festivals gut zum Lachen gebracht. Doch während der vier Stunden hatten sich die Reihen im Mossowjet-Theater in Moskau bei der Weltpremiere deutlich gelichtet. »So eine Länge!«, entfuhr es Festivalchef Waleri Schadrin. Der Russe erhob dennoch bei der Premierenfeier am Dienstagabend gegen Mitternacht nicht nur ein Glas Wodka auf Castorf und dessen Ensemble der Berliner Volksbühne.    Zum 150. Geburtstag des Schriftstellers Anton Tschechow hätten die Festspiele diesmal eine »provokante Auseinandersetzung« gesucht – und gefunden, sagte der zufriedene Schadrin. Wer bis zum Ende dieses Mixes aus Tschechows »Drei Schwestern« und »Die Bauern« blieb, applaudierte ausdauernd. Einige riefen »Bravo!« und »Spassibo (Danke), Frank!« dpa
Redaktion nd-aktuell.de
Frank Castorf
Feuilleton
Kultur
https://www.nd-aktuell.de//artikel/171727.spassibo-frank.html
Zu wenig Respekt vor dem Mahnmal
»Es ist wichtig, dass wir Verbündete haben, auch Nicht-Roma darüber sprechen und solidarisch sind«, sagt Hristo Kyuchukov vom Roma Zentrum für interkulturellen Dialog am Freitagabend im »About Blank« nahe des Ostkreuzes. Eingeladen wurde, um über den Schutz des Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma im Zusammenhang mit dem Bau der sogenannten »City-S-Bahn« zu diskutieren. Seit Pläne für die Trassenführung im Tiergarten 2020 bekannt wurden, fürchten Angehörige der Minderheit um das Denkmal. Die S21 wird zunächst vom nördlichen Ring zum Hauptbahnhof führen. Von dort soll sie anschließend im zweiten Bauabschnitt bis zum Potsdamer Platz verlängert werden. Pläne, nach denen direkt neben dem Denkmal eine Baugrube für einen Tunnel begonnen hätte, sorgten vor zwei Jahren für Kritik. Die mittlerweile von der Bahn angedachte Variante sieht vor, dass auf dem Gelände selbst nicht in offener Bauweise gearbeitet wird. So könne die Oberfläche unangetastet und der Zugang durchgehend möglich bleiben. »Außerdem kann auf eine von ursprünglich zwei geplanten Baugruben in direkter Nähe zum Denkmal verzichtet werden«, erklärt ein Bahnsprecher gegenüber »nd«. Das von dem Künstler Dani Karavan konzipierte Denkmal besteht aus mehreren Arbeiten. Zentrales Element ist das runde Wasserbecken mit seinem schwarzen Granitboden, in dessen Mitte sich eine Wildblume befindet, die täglich durch das Absenken einer Stele unterirdisch ausgetauscht wird. Der dafür nötige Versorgungstunnel würde durch die Arbeiten an der S-Bahn-Linie ebenso berührt werden und müsste zunächst an anderer Stelle neugebaut werden, um den Austausch durchgängig gewährleisten zu können. Das Denkmal erinnert an den Porajmos, den Völkermord an den Sinti und Roma. Für manche ist es auch ein symbolischer Grabort. »Mein Vater, meine Mutter, meine Schwestern und mein kleiner Bruder wurden in Vernichtungslagern der Nazis ermordet und haben kein Grab, an das ich gehen und Blumen legen könnte«, sagte der niederländische Überlebende Zoni Weisz im vergangenen Jahr als er eine alternative Routenführung der S21 forderte. Jana Mechelhoff-Herezi von der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, welche die vier Denkmäler für Opfer des Nationalsozialismus in unmittelbarer Nähe zum Regierungsviertel verwaltet, befürchtete am Freitag, dass die Baustelle eine massive Lärmbelästigung darstellen werde. »Über Jahre wäre so ein würdiges Gedenken nicht vorstellbar.« Anders hatte sich im vergangenen Jahr Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats der Sinti und Roma, geäußert, nachdem die Deutsche Bahn in Gesprächen von den ursprünglich angedachten Eingriffen abwich. »Es muss aber doch uns allen klar sein, dass der öffentliche Nahverkehr in Berlin dringend ausgebaut werden muss – und dass es uns vorgehalten werden würde, wenn wir hier als Sinti und Roma gegen die Interessen der gesamten Berliner Bevölkerung stehen wollten«, so Rose in Richtung jener, die »in einer totalen Ablehnung des S-Bahn-Baus verharren«. »Die S21 hat die Konflikte zwischen den Organisationen der Minderheit enorm verschärft«, erklärte am Freitag Christoph Leucht von der in der Bildungsarbeit aktiven Hildegard-Lagrenne-Stiftung. Der Zentralrat ist nicht die einzige Vertretung von Sinti und Roma in Deutschland. Ihre Interessen sehen vor allem die ab den 1960er-Jahren zugewanderten oder geflüchteten Roma nicht im Zentralrat repräsentiert und gründeten andere Organisationen. Aus der Gruppe deutscher Sinti entstanden ebenfalls weitere Interessenvertretungen. So wurde der Bau des 2012 eingeweihten Denkmals auch durch einen Streit des Zentralrats mit der Sinti Allianz Deutschland verzögert. Leucht kritisierte, dass die Bahn und das Land Berlin vor allem mit dem Zentralrat gesprochen hätten. »Diese Idee, dass man sich einen Partner für einen Deal aussucht und mit diesem spricht, ist für mich ein Anzeichen dafür, dass es um die Gleichberechtigung nicht gut bestellt ist.« Einhellig forderten die Teilnehmer der Diskussion am Freitag, dass weitere Organisationen an der Planung beteiligt werden müssen. Die Chance wäre da. Denn mit dem Baubeginn dieses Abschnitts ist laut Deutscher Bahn nicht vor Ende des Jahrzehnts zu rechnen. »Derzeit befindet sich die DB noch in einer sehr frühen Planungsphase für diesen Bauabschnitt, noch deutlich entfernt von den gesetzlich geforderten Beteiligungs- und Genehmigungsverfahren«, so ein Sprecher gegenüber »nd«. Die Berliner Mobilitätssenatorin hätte wohl auch bereits signalisiert, dass sie auf andere Stimmen zugehen wolle, hieß es bei der Veranstaltung am Freitag. Eine »nd«-Anfrage an Jaraschs Senatsmobilitätsverwaltung von Donnerstag blieb aus »Kapazitätsgründen« unbeantwortet. Die Probleme bei der Trassenfindung rühren daher, dass Berlin in den 90er Jahren auf eine gemeinsame Realisierung der Tunnel für die U5-Verlängerung vom Alexanderplatz zum Hauptbahnhof und den neuen S-Bahn-Tunnel vom Hauptbahnhof zur Bestandsstrecke Richtung Potsdamer Platz verzichtete. Zunächst gab es nicht einmal eine Trassenfreihaltung. Der Bundestag stellte sich später mit der Begründung von Sicherheitsbedenken gegen Trassierungsvorschläge der Deutschen Bahn. Nun sollen zwei eingleisige Tunnel das Parlamentsgebäude im Reichtstag umschließen. »Aufgrund der in diesem Bereich bereits vorhandenen umfangreichen unterirdischen Bauwerke (U-Bahn-Tunnel, Straßentunnel, Fernbahntunnel, Tunnelanlagen der Parlamentsgebäude) bestehen für die Trassenführung der neuen City-S-Bahn enge räumliche Restriktionen«, heißt es von der Deutschen Bahn. »Für die möglichen Varianten bleibt nur ein sehr schmaler Korridor bestehen, in dem sich auch das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma befindet«, so der Sprecher weiter. Der Bau der Strecke wird auch eine harte Probe für die Fahrgäste der Bestandsstrecke sein. Denn für den Anschluss an die heute als Abstellanlage genutzten Gleise wird die Verbindung zwischen Potsdamer Platz und Friedrichstraße wahrscheinlich für rund anderthalb Jahre gesperrt werden müssen. Der Berliner Fahrgastverband IGEB fordert, den südlichsten dritten Abschnitt der neuen Trasse zwischen den Bahnhöfen Yorckstraße und Potsdamer Platz über den neuen Umsteigebahnhof Gleisdreieck, fertigzustellen. »Damit hätten die Fahrgäste der Südäste während der Sperrung nicht nur eine deutlich kürzere und bequemere Umstiegsmöglichkeit zur U2 als am Potsdamer Platz, sie könnten auch erstmals von den Nord-Süd-S-Bahnlinien auf die U1 umsteigen«, sagt IGEB-Sprecher Jens Wieseke dem »nd«. Die Strecke steht insgesamt unter keinem guten Stern. Im März gab die Deutsche Bahn bekannt, dass wegen coronabedingten Lieferschwierigkeiten das erste Teilstück vom Nordring zum Hauptbahnhof nicht wie geplant Ende des Jahres in Betrieb gehen kann. Ein neuer Termin sollte Mitte des Jahres genannt werden. Das ist bis heute nicht geschehen.
Yannic Walther
Für den Bauabschnitt der S21 vom Hauptbahnhof zum Potsdamer Platz soll ein Tunnel unter dem Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma im Tiergarten gebaut werden. Das sorgt für Kritik.
Bahnverkehr, Berlin, Brandenburg, Roma, Sinti, Sinti und Roma
Hauptstadtregion
Berlin S-Bahn-Planung
2022-07-24T15:46:34+0200
2022-07-24T15:46:34+0200
2023-01-20T17:55:10+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1165537.s-bahn-planung-zu-wenig-respekt-vor-dem-mahnmal.html
Der Aristokrat
Eine der Meldungen, die täglich hundertfach durch Washington schwirren, betraf zuletzt den Fraktionsführer der Republikaner im Repräsentantenhaus. Eine Gesprächsaufzeichnung erfasst Kevin McCarthy mit den Worten: »Ich glaube, Putin bezahlt Trump. Ich schwöre bei Gott.« Darauf erwiderte der andere, noch wichtigere Republikaner - Repräsentantenhaus-Sprecher Paul Ryan - laut Mitschnitt: »Das bleibt vertraulich. Nichts davon an die Öffentlichkeit! Verstanden? So wissen wir, dass wir eine Familie sind.« Die Notiz zeigt wie andere Kommentare seit dem 17. Mai, dass von den Republikanern im Kongress in der »Russland-Affäre« vorläufig wenig Erhellendes zu erwarten ist. Bei ihr geht es um die Feststellung etwaiger Links von Donald Trumps Team nach Moskau sowie möglicher russischer Einflussnahme auf den politischen Gesamtprozess der USA und ihres neuen Präsidenten. Umso mehr richtet sich die Aufmerksamkeit seit 17. Mai auf zwei Beamte. Genauer auf zwei frühere FBI-Chefs und nun besonders auf Robert Mueller. Dieser Mr. Mueller, bald 73, gebürtiger New Yorker und von so tadellosem Habitus, dass ihm eine aristokratische Ader bestätigt wird, ist besagten Maientag vom Justizministerium zum Sonderermittler in besagter Causa ernannt worden. Der Princeton-Absolvent, von 2001 bis 2013 Direktor der US-Bundespolizei FBI mit der zweitlängsten Dienstzeit, könnte in den kommenden Monaten zu einer von Trumps Hauptbedrohungen werden - und das vor allem, weil seit diesem Donnerstag der Präsident selbst und nicht nur sein politisches Umfeld im Visier der Ermittlungen steht. Muellers Berufung folgt direkt der Entlassung seines FBI-Nachfolger James Comey durch den Präsidenten. Es war ein Rausschmiss mit dem Verdacht, Trump habe den obersten Polizisten abgestraft, weil er sich weigerte, Ermittlungen gegen den kurzzeitigen Sicherheitsberater Michael Flynn und dessen Russlandkontakte einzustellen. Falls bewiesen, könnte ein Amtsenthebungsverfahren Justizbehinderung anlaufen. Schon die Wahl gerade dieses pensionierten Spitzenbeamten, verheiratet und Vater zweier Töchter, widerspiegelt die Brisanz des Gesamtvorgangs. Robert Mueller ist einerseits Mitglied der Republikaner, wurde seinerzeit von George W. Bush ernannt und im Senat ohne Gegenstimme bestätigt. Er trat sein Amt genau eine Woche vor der Anschlagserie vom 11. September 2001 an, als Al-Qaida mehrere Passagierflugzeuge in Lenkflugkörper verwandelte und 3000 Menschen in Manhattan, Washington und Pennsylvania in den Tod schickte. Mueller blieb andererseits auch unter Präsident Obama FBI-Direktor. Wiewohl erste Leute aus Trumps Umfeld seine Entlassung fordern, schützte ihn sein Dienst unter zwei grundverschiedenen Präsidenten davor, schon mit Einsetzung als Sonderermittler als parteiisch angefeindet zu werden. Vielmehr eilt ihm auch nach zwölf Jahren an der Spitze des Federal Bureau of Investigation, einer Organisation, die in ihrer 108-jährigen Geschichte das Recht mehr als einmal links liegen ließ, der Ruf eines geradlinigen Beamten voraus. Das verdient Erwähnung, weil der Chef des FBI stets vom Präsidenten ernannt wird. Das heißt, der Direktor steckt unweigerlich »in einer Zwickmühle zwischen dem Wunsch des Präsidenten und den Gesetzen des Landes«, wie der Autor des Standardwerks »FBI - Die wahre Geschichte einer legendären Organisation«, Tim Weiner, anlässlich einer Kontroverse zwischen »Dabbelju« und Mueller festhielt. Nach »Nine-Eleven« hatte Bush nicht nur die Kriege gegen Afghanistan und Irak losgetreten, sondern mit seinem Kabinett für die USA selbst eine Bespitzelungskampagne in Gang gesetzt, in der das Bureau viel Drecksarbeit leistete. Unter dem Patriot Act etwa wurden die Befugnisse der »nationalen Sicherheitsbriefe« stark ausgeweitet. Sie verlangten von Banken, Kreditanstalten, Telefon- und Internetanbietern die Herausgabe von Kundendaten ans FBI. Die Papiere verpassten den Empfängern einen Maulkorb und verpflichteten sie unter Strafandrohung zu Beweisauskünften. In der Hysterie nach dem 11. September stellte das FBI pro Woche rund 1000 solcher Knebelbriefe zu. Vor diesem Hintergrund kam es im März 2004 im Oval Office zum Showdown. Tim Weiner: »Mueller sagte Bush ins Gesicht, er werde zurücktreten, falls das FBI die Anweisung erhielte, weiterhin Durchsuchungen gegen Amerikaner ohne richterliche Anordnung und ohne Anweisung des Justizministeriums durchzuführen (...) ›Eine präsidiale Order allein reicht dafür nicht aus.‹« Die Episode tut seiner Reputation bis heute gut. Mit Blick auf die begonnenen Ermittlungen wird häufig aus einer Rede Muellers 2013 vor Studenten zitiert. Darin hatte der Vietnamkriegsteilnehmer »Integrität, öffentlicher Dienst, Geduld und Bescheidenheit« zu Eckpfeilern seiner Karriere erklärt. »Man ist nur so gut wie das Wort, das man hält«, sagte der Mann, der sich nun einen Präsidenten vornimmt, der bekannt ist für seine Wortbrüche. Das Magazin »Time« nennt einen weiteren Aspekt, der mit dem Aristokraten ins Spiel kommt: Mueller »ist ein Produkt der Elite. Er entstammt der alten Geldaristokratie, die Trumps Rachegöttin darstellt…« Von Mueller selbst liegt ein Bekenntnis vor, das das Weiße Haus not amused haben wird: »Ermittlungen habe ich immer geliebt.«
Reiner Oschmann
Mit Sonderermittler Robert Mueller wird Donald Trump wohl wenig Spaß haben. Von Reiner Oschmann
Geheimdienste, USA
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1054361.der-aristokrat.html
Was macht Shermin L. in der Naunynstraße?
Berlin-Kreuzberg, Naunynstraße. Das »Ballhaus« im Haus Nummer siebenundzwanzig, schmalbrüstig und schrundig vom Alter und vom kalten Odem der Zigaretten, die junge Türkinnen, barhäuptig, auf offener Straße rauchen, unterscheidet sich, schlendert man nur vorbei, kaum von seinen verlebten Nachbarn. Tritt man aber durch das Holztor, durchquert den Hof zum Hinterhaus und wirft einen Blick hinein, erlebt man eine Überraschung: Handwerker beenden gerade den Umbau eines Theatersaals. Es handelt sich um einen Saal von mittlerer, handhabbarer Größe mit hoher alter Stuckdecke, eine Raumfront wird dominiert von gebogten Glastüren, die man während der Vorstellungspausen sperrangelweit wird öffnen können und durch die man eine Terasse erreicht, die einlädt, an einem Glas Wein oder einem Glas Wasser zu nippen. Davor ein schmaler Streifen Toskana, ein Gärtchen mit mediterranen Gewächsen, die allerdings noch nach Pflege schreien. Sogar für eine Probebühne und eine Bar im Ober- und im Untergeschoss bietet das Gebäude Platz – mir ist kein Off-Theater bekannt, das solch ein luxuriöses Haus, einen Palast, zur Verfügung hätte. Die Stiftung Deutsche Klassenlotterie und der Stadtbezirk Friedrichshain-Kreuzberg, dem die Immobilie gehört, haben tief in die Tasche gegriffen. Wo Integration gescheitert ist, geizt man nicht mit Integrations-Projekten. Bis zum 7. November 2008 soll der Umbau beendet sein. Dann wird das »Ballhaus« wiedereröffnen. Mit »Dogland«, einem Festival des »Jungen postmigrantischen Theaters«. Ein Premierenmarathon: Bis zum 29. Januar darf man sechs Uraufführungen erwarten. Inszenierungen, verspricht Shermin Langhoff, die »andere Geschichten als die der ersten Migrantengeneration erzählen«. Das Festival wird Shermin Langhoffs Einstand als neue künstlerische Leiterin des »Ballhauses Naunynstraße«. Mit Wespentaille und (allerhöchstens) Kleidergröße sechsunddreißig ist es nur der Hauch einer Frau, der an diesem Morgen ins Büro schwebt; im Gespräch wird daraus ein Orkan: Sie überwältigt einen. Es liegt nicht am exaltierten Hütchen, das sie auf fremdlockigem Haar trägt, auch nicht an den schönen Augen, in denen jedwede Ferne wohnt – es liegt an dem seltenen Talent, das man Offenheit, Herzlichkeit nennt. Ja, die Premieren, sagt Shermin Langhoff und zündet ein Feuerwerk von Namen, die Autoren und Regisseuren gehören und die zu schreiben ich nicht geübt bin, »macht nichts«, hilft sie lächelnd aus, »dafür sind wir angetreten, damit Sie die Namen kennenlernen und sie sich Ihnen einprägen.« Versuchen wir es einfach mal. Der Eröffnungsabend, so Shermin Langhoff, werde, parallel zueinander, gleich zwei Uraufführungen bieten. Die eine soll die Zuschauer durch zwölf anatolische Cafés, in denen zwölf Regisseure und Regisseurinnen, bildende Künstler und Filmemacher Miniperformances gestalten, durch Kreuzberg und Neukölln führen. Arbeiten von Züli Aladag, Sinan Akkus, Miraz Bezar, Neco Çelik und anderen – das mit dem Einprägen wird schwierig. Der Projekttitel »KAHVEHANE – Turkish Delight, German Fright?«, zu deutsch »Das Kaffehaus – der Türken Entzücken, der Deutschen Schrecken?«, sei ein wenig provokant: Er konnotiere Milchglasscheiben, durch die man nicht blicken kann, eine Art Migration von Räumen. Das zweite Projekt trage den Titel »Café Europa vs. Dog eat Dog« und werde im »Ballhaus« uraufgeführt. Es montiere zwei Bücher aus der Heimattriologie von Nuran David Calis ineinander. »Nuran David Calis kennen Sie? Er hat in München, Hannover und Essen inszeniert, zur Zeit ist er am ›Thalia‹ in Hamburg.« Erzählt werde von einem Türsteher, als »Metapher für das Dazwischensein, nicht nur für die Heimatlosigkeit von Migranten«. Shermin Langhoff sagt, sie habe weinen müssen, als sie den Prolog des ersten Stückes las: Darin lasse Calis den Türsteher mit seinen toten Eltern sprechen. Calis sei jüdisch-armenischer Herkunft, sie selbst habe viel zum Massaker an den Armeniern recherchiert, »weil ich Empathie habe, weil Minderheiten mich interessieren. Reinheit interessiert mich nicht, für jede Gesellschaft ist es gut, Dissidenten, das Andere zu haben, auch deshalb wird sie daran gemessen, wie sie mit Minderheiten umgeht.« Dann sagt sie noch: »Meine Motivation, in die Kulturproduktion zu gehen, war eine politische.« Shermin Langhoff, Jahrgang 1968, besitzt einen deutschen Pass. Doch als Deutsche fühlt sie sich nicht, nicht ausschließlich. Wer ist sie? Sie sagt: »Ich bin ein Bastard.« Schockierte Mienen sind erwünscht, sie pflegt sie allerdings zu glätten: Das Wort, so wie sie es verstehe, sei nicht negativ besetzt. Dass sie so Vieles in sich trage – kulturell, ethnisch und sozial – mache sie als Persönlichkeit aus. Diese Vielfalt anzuerkennen, stellvertretend für viele Menschen, nehme sie an als Herausforderung. »Es ist mein Weg, der Weg, den ich gehe. Mein kulturelles Kapital, mit dem ich arbeite.« Aufgewachsen in der Türkei, in einer Kleinstadt am Meer, bei den Großeltern, halben Analphabeten, wie sie berichtet, sei, was Migration bedeutet, für sie sehr früh erfahrbar gewesen. Der Ururgroßvater tscherkessischer Herkunft, 1864 ins osmanische Reich vertrieben, während fast eine von drei Millionen Tscherkessen von Russen umgebracht wurden. Sein Sohn, der Ugroßvater, starb für die Befreiung der Türkei an den Dardanellen, während Atatürk, der aufgrund des Widerstands von Cerkez Etem und seinen Mannen ganze tscherkessische Dörfer, auch das des Urgroßvaters, zerstörte. Die Urgroßmutter mütterlichseits kam aus dem griechischen Thessaloniki. Ursprünglich osmanischer Herkunft, war sie, nach der Befreiung der Stadt von den türkischen Okkupanten, nach Kleinasien zurückgekehrt, das Heimat zu nennen ihr nunmehr schwerfiel. Während der Überfahrt auf dem Schiff hatte sie ihren Sohn verloren, später dann auch ihren Mann, »Traumata, Verlustgeschichten, die ich alle in mir habe«. Wie auch die Weisheit des Verlusts. Ihre Großmutter habe immer gesagt: »Ein Haus kann mit einem Funken verbrennen, Schönheit mit einem Pickel vergehen, was du im Kopf und im Herzen trägst, kann dir keiner wegnehmen.« Die Großeltern hätten es geschafft, auch dank der kemalistischen Bildungsoffensive, all ihre Kinder aufs Gymnasium zu schicken; ihre Mutter sei eine der ersten Abiturientinnen der Stadt und auch der Familie gewesen. Dass Shermin bei den Großeltern aufwuchs, habe vor allem daran gelegen, dass es damals in der Türkei kein Netz von Kindergärten gab. Bei den Großeltern war sie gut aufgehoben. Die Migrationsgeschichte der Eltern, »der Klassiker der ersten Generation«: Man schreibt das Jahr 1971. Die gebildete Mutter lässt sich als Gastarbeiterin in Deutschland anwerben. Der Vater – ein verschuldeter Glücksspieler und Bohemien – hat sie mit dem Versprechen überredet, in Deutschland würde er sich ändern. Sie holt ihn nach, ein Jahr hält er durch, dann entdeckt er auch hier Vergnügungen: Scheidung. Die Schulden zahlt die Mutter allein ab. Morgens putzt sie, nachmittags arbeitet sie bei Grundig, abends pflegt sie die deutsche Oma Desor. Diese, die erste Generation, wollte in Deutschland Geld verdienen, um ihre Familien in der Türkei unterstützen und, wenn sie wieder heimkehren würde, ein eigenes Häuschen bauen zu können. Dass es oft anders kam, war nicht beabsichtigt. Literarisch, so Shermin Langhoff, habe sich diese Gastarbeitergeneration erstmals Anfang der 70er Jahre mit dem Buch von Aras Ören »Was macht Niyazi in der Naunynstraße« zu Wort gemeldet. Heute, in der Naunynstraße, will Shermin Langhoff den Geschichten ihrer, der zweiten Generation eine Bühne bieten. Ihre Ankunft in Deutschland, sie war neun, beschreibt sie mit den Worten: »Heidi kommt nach Frankfurt«. Wobei es sich in ihrem Fall nicht um Frankfurt, sondern um Nürnberg handelte, die Stadt, von Adolf Hitler einst »die deutscheste aller deutschen Städte« genannt. Aus einer kleinen Stadt am Meer, in der die Häuser höchstens drei Stockwerke zählten, in die Stadt mit den mächtigen Sandsteinbauten. 1978 war das. Sie besucht einen deutschen Schulhort, lernt Deutsch innerhalb von drei Monaten, »da ich die Einzige war, die Türkisch sprach, blieb mir gar nichts anderes übrig«. Später, auf dem Gymnasium, das sie allerdings nicht beendet, verliebt sie sich in den Deutschlehrer, fängt an zu lesen und zu schreiben, wird in Deutsch sogar Klassenbeste – wie sehr sich ihre Situation von der der dritten Generation unterschied, zeigt ein Blick in Berliner Grundschulen, wo heute mehr als achtzig Prozent der Schüler aus türkischen Familien stammen. Ihre eigene Tochter Rosa Lena Schirin besucht die Freie Waldorfschule in Kreuzberg. »Nicht etwa, weil in den Grundschulen in unserem Einzuggebiet so viele türkische Kinder sind, sondern weil die Schulen überfordert sind, Integrationskonzepte fehlen.« Das Heidi-Bild mag geeignet sein, eine lebhafte Vorstellung von ihrer ersten Begegnung mit Deutschland zu wecken, doch sich selbst die noch kleine Shermin als Heidi-Schätzchen vorzustellen, fällt schwer. In der Tat: Politisiert von ihrer »kommunistischen Tante Refiye«, wurde schon die Neunjährige Mitglied der »Jungen Pioniere«, später jüngstes Mitglied der illegalen kommunistischen Partei der Türkei. Als Schülersprecherin Mittelfrankens war sie die »Heilige Johanna der Schulhöfe«, die »gro- ße Schulbesetzungsaktionen« organisierte. Auch für sie stand keineswegs fest, dass sie in Deutschland bleiben würde – ein Türkei-Intermezzo scheiterte. Obwohl sie Deutschland nicht »so toll« fand, dass sie dort »unbedingt leben« wollte, habe es ihrer, der zweiten Generation, doch immerhin Chancen eröffnet. »Es war noch eine friedliche Zeit. Es gab noch nicht so viel Verteilungskämpfe. Dafür gab es eine Linke, Multikulti wurde gefeiert mit Menschen, die sich für uns interessierten. Und es gab Mentorenschaft: Talente wurden mitgenommen.« Shermin Langhoff war ein Talent. Ein Talent, das sich mit achtzehn, unter anderem nach einem DDR-Besuch, von der Politik »verabschiedete«: Lehre als Verlagskauffrau, in der Freizeit Kulturarbeit – sie hat das deutsch-türkische Filmfest gegründet, Brecht- und Hikmet-Abende in mehreren Sprachen ausgerichtet. Nach Jahren im Verlag dann nur noch Kultur: Ausbildung bei der Arbeitsgemeinschaft zur Nachwuchsförderung von Film und Fernsehen, Aufnahme- und Produktionsleiterin bei den Serien »Tatort« und »Doppelter Einsatz«, Tätigkeit beim SFB, freie Regieassistentin bei »Gegen die Wand« und »Crossing the Bridge« von Fatih Akin, Fortbildung zur Kultur- und Medienmanagerin, Zusammenarbeit mit Kanak Attak, die die »Geschichte der Migration auf die großen Bühnen brachten«, Tätigkeit als Kuratorin und Dramaturgin am Hebbel-Theater, wo sie das Festivalformat »Beyond Belonging« entwickelte ... Im Theater – und nicht nur dort – ist Shermin Langhoff »Quereinsteigerin«. Einsteigerin und nicht Aussteiger wie die dritte Generation. Seit Mölln und Solingen, sagt sie, sei es mit dem Frieden vorbei: Die seit Anfang der 90er Jahre ins Taumeln geratene Ökonomie grenze viele Menschen aus, deutsche und türkische gleichermaßen. Migranten seien nun nicht mehr die, die den Deutschen »die Drecksarbeit abnehmen«, sondern diejenigen, die ihnen »die Arbeit wegnehmen«. Auf dem Rücken der dritten Generation, die kaum noch an der Gesellschaft teilhat und daher auch nicht motiviert ist, werde etwas ausgetragen: »Der Fisch fängt vom Kopf an zu stinken.« Fatih Akin, den Namen kennt man, hat die Schirmherrhaft für das Eröffnungs-Festival im »Ballhaus« übernommen. Für »Café Europa vs. Dog eat Dog«, bei dem Mehdi Moinzadeh Regie führt, wird ein Ensemble von jungen Schauspielern, türkischer, polnischer, iranischer und deutscher Herkunft auf der Bühne stehen. Allesamt gut ausgebildet, unter ihnen Erdal Yildiz, einer der ersten Deutsch-Türken, die in Film und Fernsehen Erfolge feierten – ein Star in der Migrantenszene. Geschichten vom »Dazwischensein«: pervertierte Beziehungen, Frustration, Wut und Gewalt. Shermin Langhoff »hofft doch sehr«, dass auch ein deutsches Publikum diese Geschichten sehen möchte. Unter den Premierengästen, so es seine Zeit erlaubt, wird ihr Ehemann Lukas sein, der in Magdeburg inszeniert. Sie, die so viel in sich trägt, und ein Deutscher, wie passt das zusammen? »Auch Lukas«, sagt sie, »trägt viel in sich. Sein Großvater, Wolfgang Langhoff, war einer der Ersten, den die Nazis ins Konzentrationslager steckten. Bei einer Amnestie ein Jahr später kam er frei, er konnte in die Schweiz fliehen. Die Kollegen in Zürich schenkten ihm – Zähne. Obwohl er erst 34 war, hatte er keine Zähne mehr.« Sie überprüft den Sitz des Hütchens. Dann ist der Moment vorbei, da es schien, sie würde weinen.
Christina Matte
Die zweite Migrantengeneration beginnt, ihre Geschichte(n) zu erzählen
Mölln
Feuilleton
Kultur Türkei - Immigraten
https://www.nd-aktuell.de//artikel/137403.was-macht-shermin-l-in-der-naunynstrasse.html
Unter anderen Umständen - Folge 20: Kein Abschied
In dieser Folge müssen die Taschentücher bereitgehalten werden. Sibel kündigt ihren Abschied vom Podcast an. Nach 20 wichtigen, lustigen, ernsten und auch manchmal traurigen Folgen übernimmt Felicia den Podcast alleine. Heute sprechen beide über die Pandemie, obwohl sie das niemals vorhatten und über jeweils zwei Episoden, die ihnen besonders wichtig waren. Es geht um Superheldinnen, auch solche ohne Cape, Geschlechterrollen in Filmen, ein Wahlrecht für alle, abseits erbrachter Leistungen im Kapitalismus und die allumfassende Frage: »Genderst du das noch?« Abseits davon geht es um die Herausforderungen des Podcastens, Sorge den eigenen Ansprüchen gerecht zu werden und auch einfach mal kurz dankbar für die Zeit sein dürfen.
Felicia Ewert & Sibel Schick
In dieser Folge müssen die Taschentücher bereitgehalten werden. Sibel kündigt ihren Abschied vom Podcast an. Nach 20 wichtigen, lustigen, ernsten und auch manchmal traurigen Folgen übernimmt Felicia den Podcast alleine.
Gendern, Geschlechterrollen, Kapitalismus, Podcast, Wahlrecht
Feuilleton
Kultur ndPodcast
2022-06-28T17:38:08+0200
2022-06-28T17:38:08+0200
2022-06-29T16:22:44+0200
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1164901.unter-anderen-umstaenden-folge-kein-abschied.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
Schuldspruch für Pussy Riot
Moskau (dpa) - Im umstrittenen Prozess gegen die Punkband Pussy Riot hat ein Gericht in Moskau drei Gegnerinnen von Kremlchef Wladimir Putin wegen Rowdytums aus religiösem Hass schuldig gesprochen. Die Angeklagten hätten mit ihrem Protest in der Erlöserkathedrale in Moskau am 21. Februar die Gefühle der Gläubigen auf das Gröbste verletzen wollen, urteilte Richterin Marina Syrowa. Ein Strafmaß nannte Syrowa am Freitag zunächst nicht. Vor dem Gericht protestierten zahlreiche Anhänger der jungen Künstlerinnen gegen den Schuldspruch. Die Polizei nahm mehrere Menschen fest, darunter die Oppositionsführer Sergej Udalzow und Ex-Schachweltmeister Garri Kasparow. Der Menschenrechtsbeauftragte des Kreml Michail Fedotow nannte den Schuldspruch einen "gefährlichen Präzedenzfall", wie die Agentur Interfax meldete. Auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International kritisierte den Schuldspruch. Das Strafmaß für die drei Musikerinnen wurde von der Richterin zunächst nicht genannt. Amnesty geht davon aus, dass die Frauen nur aufgrund ihrer legitimen Meinungsäußerung verurteilt wurden. Deshalb seien sie "politische Gefangene". Die Staatsanwaltschaft hat für die Aktivistinnen Nadeschda Tolokonnikowa (22), Maria Aljochina (24) und Jekaterina Samuzewitsch (30) drei Jahre Gefängnis beantragt, die Verteidigung Freispruch. Die Künstlerinnen hatten in der Erlöserkathedrale ein Punkgebet gegen Putin und den russisch-orthodoxen Patriarchen Kirill aufgeführt. Insgesamt hatten die Ermittler 3000 Seiten Unterlagen zu dem etwa einminütigen Gebet zusammengetragen. Die Frauen verfolgten die Urteilsverkündung sichtlich gelassen in einem Kasten aus Plexiglas im Stehen. Die Anwälte von Pussy Riot wollen das Urteil in der nächsten Instanz anfechten. Einem Gnadengesuch an Putin erteilten die Künstlerinnen schon im Vorfeld eine klare Absage. "Machen Sie Witze? Natürlich nicht. Eher sollte er uns und Sie um Gnade bitten", schrieb Tolokonnikowa der regierungskritischen Zeitung "Nowaja Gaseta". Sie glaube nicht an ein unabhängiges Urteil, meinte die Aktivistin weiter. "Das ist eine Illusion", hieß es. "Wir sind glücklich, dass wir unabsichtlich das Epizentrum eines großen politischen Geschehens geworden sind, das so viele verschiedene Gruppen einbezieht", meinte Tolokonnikowa. Eine Flucht ins Exil lehnte sie wie ihre Mitangeklagten ab. Die Organisation Amnesty International erkennt die Frauen als politische Gefangenen an. Weltweit demonstrierten Menschen für eine Freilassung von Pussy Riot, darunter auch in Berlin. In Moskau und Bulgarien stülpten Anhänger der jungen Frauen Denkmälern bunte Sturmhauben über, das Markenzeichen von Pussy Riot. In der ukrainischen Hauptstadt Kiew fällte eine Aktivistin der feministischen Gruppe Femen ein großes Holzkreuz mit einer Motorsäge. Ultranationalisten und strenggläubige orthodoxe Christen demonstrierten hingegen für eine Verurteilung.
Redaktion nd-aktuell.de
Ein Moskauer Gericht hat die drei Mitglieder der russischen Punkband Pussy Riot nach ihrem Protest gegen Kremlchef Wladimir Putin in einer Kirche wegen Rowdytums aus religiösem Hass schuldig gesprochen.
Pussy Riot
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/235805.schuldspruch-fuer-pussy-riot.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
MDR sagt Gespräch mit Neonazi ab
Fast genau ein Jahr ist es her, dass in Chemnitz Tausende Rechtsradikale unter dem Vorwand des Gedenkens an einen gewaltsam zu Tode gekommenen 34-Jährigen durch die Stadt marschierten und es zu Ausschreitungen seitens der Neonazis kam. Die Ereignisse beschäftigen die Öffentlichkeit bis heute, eine Dokumentation des MDR zum Jahrestag ist da nur logisch. Vier Tage vor Ausstrahlung der Reportage »Chemnitz - Ein Jahr danach« am 26. August in der ARD sollte es in der Stadt eine Voraufführung und eine Podiumsdiskussion mit Akteuren von damals geben. Das Gespräch hat der MDR nach heftigen Protesten aufgrund der geplanten Teilnahme eines rechtesradikalen Gaste am Donnerstagabend abgesagt. Neben Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig (SPD), Prof. Dr. Olfa Kanoun von der Technischen Universität Chemnitz, MDR-Programmdirektor Wolf-Dieter Jacobi und Margarete Rödel (Grüne Jugend) sollte mit Arthur Oesterle einer der Organisatoren des Aufmarsches dabei sein. Der MDR kündigte ihn auf seiner Website als AfD-Vertreter an, was im Kontext der Ausschreitungen allerdings irreführend ist. Oesterle trat bei dem Aufzug als Ordner der extrem rechten Gruppierung »Pro Chemnitz« auf, der MDR identifizierte ihn 2018 in einem Beitrag des Magazins »Exakt« sogar als Chefordner. Zur Erinnerung: Formal traten »Pro Chemnitz« und die AfD mit ihren Aufzügen getrennt auf, in der Realität marschierten sie jedoch gemeinsam. Oesterle dürfte daran in seiner Funktion als Chefordner nicht ganz unbeteiligt gewesen sein. Neben seiner Unterstützung für die AfD und »Pro Chemnitz« soll er laut »Exakt« auch für den Verein »Heimattreue Niederdorf« aktiv sein, der teilweise vom Verfassungsschutz beobachtet wird. 2018 veröffentlichte das »Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus« ein Foto, das Oesterle als Teilnehmer eines Aufmarsches der Neonazi-Kleinstpartei »Der III. Weg« am 1. Mai des gleichen Jahres in Chemnitz zeigt. All das hielt den MDR nicht ab, den Rechtsradikalen auf das Podium einzuladen. Einige prominente Journalisten des Öffentlich-Rechtlichen kritisierten die Entscheidung der Kollegen heftig. »Das könnt ihr doch nicht ernsthaft durchziehen wollen«, fragt etwa Georg Restle, Leiter des ARD-Magazins »Monitor«, auf Twitter den MDR. Auch Vertreter der sächsischen LINKEN und Grünen standen der Einladung Oesterles ablehnend gegenüber, woraufhin der MDR zunächst versuchte, sich zu rechtfertigen. Man habe jene Protagonisten eingeladen, »die die gesamte Bandbreite des Films widerspiegeln, um dem Publikum einen unmittelbaren Eindruck zu vermitteln und den Austausch zu ermöglichen«. Arnd Henze, langjähriger Korrespondent im ARD-Hauptstadtstudio, entgegnete: »In dieser Logik würde der MDR also bei einem Film über die NSU-Morde Beate Zschäpe aufs Podium einladen?« und erinnert daran, dass der Sender laut Rundfunkstaatsvertrag verpflichtet ist, »für die Menschenwürde und die freiheitlichen Werte der Verfassung einzutreten - und keinen ›Austausch‹ mit deren Verächtern« zu führen. Kritik an der geplanten Veranstaltung des MDR kam auch vom Internationalen Auschwitz Komitee. Überlebende des Holocaust in vielen Ländern hätten »die martialischen Aufmärsche rechtsextremer Gruppen im vergangenen Jahr in Chemnitz mit Entsetzen verfolgt«, erklärte der Exekutiv-Vizepräsident des Komitees, Christoph Heubner, in Berlin. Es sei für sie »bedrückend, zu beobachten, wie diese Gruppen den Mord an einem Chemnitzer Bürger für ihre Zwecke missbraucht und weit über Chemnitz hinaus Hass gegen Andersdenkende gesät haben«. Die ebenfalls geladene Margarete Rödel von der Grünen Jugend sagte bereits am Mittwoch ihre Teilnahme ab: »Wenn Nazis eine Bühne geboten wird, trägt das zur Normalisierung ihrer menschenfeindlichen Positionen bei.« Auch Oberbürgermeisterin Ludwig zog am Donnerstag zurück. Sie sei nicht davon ausgegangen, dass der MDR sie auf ein Podium platziert, an dem ein Neonazi teilnimmt, sagte der Chemnitzer Stadtsprecher Matthias Nowak. Insofern habe ihre Zusage unter anderen Voraussetzungen gestanden. Die SPD-Politikerin halte es für falsch, Oesterle ein Podium zu bieten. Der Druck auf den MDR war dadurch offenbar so groß geworden, dass er das ursprüngliche Konzept am Donnerstagnachmittag über den Haufen warf. Stattdessen kündigt der Sender für den 22. August in Chemnitz nun Publikumsdialog zur Preview der Doku an. Die Gesprächsrunde biete Gelegenheit, mit Filmemachern und Programmverantwortlichen über den Film zu diskutieren, teilte der MDR am Donnerstag in Leipzig mit. Aus Sicht des MDR sei die »gewollte Konstellation nicht mehr sinnvoll umzusetzen«, hieß es zur Begründung. mit Agenturen/nd
Robert D. Meyer
Zum Jahrestag der rechtsradikalen Ausschreitungen in Chemnitz hat der MDR eine Doku produziert. Eine geplante Voraufführung in der Stadt sorgt nun für Wirbel. Auf einem geplanten Podium sollte auch ein Neonazi sitzen. Nach Protesten reagiert der Sender.
AfD, Chemnitz, Nazis, Rechtsradikalismus, Sachsen
Aus dem Netz gefischt Chemnitz
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1124385.mdr-sagt-gespraech-mit-neonazi-ab.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
Grenzanwältin
Schockiert von der brutalen Grenzpolitik Polens und der Europäischen Union wirkt Marta Górczyńska auch heute noch, nachdem die Mauer durch den Białowieża-Urwald im Sommer längst fertiggestellt wurde und illegale Pushbacks an den Außengrenzen trauriger Alltag geworden sind. Zynismus scheint ihr fremd. Im Rahmen ihrer Arbeit für die Helsinki Foundation for Human Rights dokumentiert die Warschauer Anwältin Menschenrechtsverletzungen und vertritt Geflüchtete vor Gericht – egal ob sie Polen von Belarus oder der Ukraine aus betreten. Dafür sollen sie und ihre Organisation am Samstag den Menschenrechtspreis von Pro Asyl erhalten. Die Helsinki Foundation ist eine von mehreren NGOs, die sich seit August 2021 in dem Bündnis Grupa Granica (Grenzgruppe) organisieren. »Mein Ziel war es, Rechtshilfe zu leisten. Doch wir leisten auch grundlegende humanitäre Hilfe, weil sich der polnische Staat weigert, das zu tun«, erzählt die 34-Jährige mit ernstem Blick im Gespräch mit »nd.DerTag«. Die Menschen, die über die polnisch-belarussische Grenze kommen, sind oft hungrig, durstig, nass und verletzt. Wöchentlich erreichten die Grupa Granica rund 200 Hilfegesuche. Kinder hat sie keine. »In mancher Hinsicht macht das mir die Arbeit an der Grenze leichter.« Die meisten Helfer*innen bewegen sich nur undercover durch den Wald, um einer Kriminalisierung zu entgehen. Der effektivste Weg, um Geflüchtete vor einem Pushback zu schützen, sei eine vorläufige Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. In 80 Fällen hätten die Jurist*innen vor Ort damit erfolgreich eine Abschiebung verhindert. Marta Górczyńska arbeitet seit zehn Jahren für die Helsinki Foundation. »Es war mein erster Job nach dem Studium und gleichzeitig mein Traumjob«, erzählt sie. Die verschiedenen Geschichten der Menschen hätten sie fasziniert und ihr gleichzeitig gezeigt, wie unfair die Welt ist. Diese Ungerechtigkeit treibt sie auch heute noch an: »Grenzen sollten kein Ort des Leidens sein.«
Ulrike Wagener
Seit 10 Jahren arbeitet Marta Górczyńska als Menschenrechtsanwältin für die Helsinki Foundation. Sie fordert ein Ende des Leidens an den Grenzen. Am Samstag erhält sie den Menschenrechtspreis von Pro Asyl.
Asylpolitik, Finnland, Flüchtlinge, Menschenrechte, Polen
Politik & Ökonomie
Politik Asylpolitik
2022-08-30T15:52:03+0200
2022-08-30T15:52:03+0200
2023-01-20T17:37:11+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1166499.asylpolitik-grenzanwaeltin.html
Solidarität nach Attacke auf Kiezkneipe
»Macht eure Scheine locker und schmeißt sie in den Eimer, damit wenigstens der finanzielle Schaden für den Besitzer nicht so groß ist«, ruft die Grünen-Bundestagsabgeordnete Canan Bayram am späten Dienstagnachmittag den Teilnehmer*innen der Solidaritätskundgebung vor der Lichtenberger Kiezkneipe »Morgen wird besser« zu. Wie berichtet, hatte es in der Bar an der Hagenstraße, Ecke Fanningerstraße in den Morgenstunden des vergangenen Freitags gebrannt. Inzwischen verdichten sich dabei die Hinweise, dass die Tat antisemitisch motiviert war. Dem Jüdischen Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus (JFDA) hatte der jüdische Besitzer der Kneipe gesagt, dass er in der Vergangenheit bereits mehrfach von Neonazis bedroht worden sei. Eröffnet hatte er seinen Laden 2012 als koscheren Cateringservice. Dass er Jude ist, ist kein Geheimnis im Kiez nördlich des Bahnhofs Lichtenbergs, bestätigt JFDA-Sprecher Levi Salomon. Der Besitzer berichtete dem JFDA, dass Neonazis auch ein Mal direkt zu ihm gekommen seien und ihm unverhohlen mit den Worten »Wir kriegen dich hier raus!« gedroht hätten. Auch die nach Polizeiangaben 450 Teilnehmer der Kundgebung gehen davon aus, dass die schwere Brandstiftung genau darauf abzielte. Vor Ort bietet sich ein Bild der Verwüstung: rußgeschwärzte Wände, Asche und Schutt in und vor der Kneipe, ein Container und ein abgefackeltes Sofa an der Hagenstraße. Mit der Veranstaltung wolle man »ein Zeichen der Solidarität mit den Betreibern und den Mitarbeitern setzen«, so Markus Tervooren, Anmelder der Kundgebung und Geschäftsführer der Berliner Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA). Eine Rednerin, die Stammgast im »Morgen wird besser« war, spricht von der Kneipe als »ihrem zweiten Wohnzimmer«. Sie ringt mit den Tränen. »Es macht mich fassungslos, dass ein paar Häuser weiter so etwas passiert ist«, sagt sie. Nach ihrer Rede liegt sie einer Freundin weinend in den Armen. Eine andere Anwohnerin, die wie alle Befragten ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, betont, wie wichtig es sei, sich solidarisch zu zeigen, auch wenn man nicht direkt von Antisemitismus betroffen ist: »Es ist gut, dass so viele heute gekommen sind.« Tatsächlich bekunden am Dienstag neben Anwohnern und antifaschistischen Aktiven auch mehrere Prominente aus der Bundes-, Landes- und Bezirkspolitik ihre Solidarität mit dem jüdischen Wirt. Neben Canan Bayram aus dem benachbarten Friedrichshain-Kreuzberg sind auch die Lichtenberger Bundestagsabgeordnete Gesine Lötzsch (Linke), Berlins Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) und Lichtenbergs Bezirksbürgermeister Michael Grunst (Linke) gekommen. Der neue Berliner Antisemitismusbeauftragte Samuel Salzborn betonte in seiner Rede, dass jeder antisemitische Angriff einer zu viel sei. Es sei zentral, dass Betroffene bei antisemitischen Attacken jedweder Form Solidarität erführen. Mit Blick auf den Namen der Kiezkneipe sagt Salzborn: »Damit das Morgen nicht nur besser, sondern auch ein Morgen ohne Antisemitismus wird, müssen wir gemeinsam auch die unterschwelligen Formen von Antisemitismus bekämpfen.« Das sieht Bezirksbürgermeister Michael Grunst genauso. Hinsichtlich des Brands spricht Grunst dann auch von einem »offensichtlich rechtsterroristischen Anschlag«. Seit langem bemüht sich der Linke-Kommunalpolitiker, das Image des Bezirks aufzupolieren, der viele Jahre vor allem als Hochburg ehemaliger Neonazis wahrgenommen wurde. »Ich weiß, wie lange es dauert, solche Probleme zivilgesellschaftlich zu bewältigen«, sagt Grunst zu »nd«. Nicht zuletzt der Zuzug junger Familien – Gentrifizierung inklusive – hätte wesentlich dazu beigetragen, dass das Lichtenberg von heute nicht mehr das der 90er Jahre ist. »Es gibt in Alt-Lichtenberg keine No-Go-Areas mehr. Trotzdem haben sich die Rechtsradikalen ja nicht in Luft aufgelöst.« Auch deshalb hat das Bezirksamt am Dienstag die Aktion »Noteingang Lichtenberg« gestartet. Die Lichtenberger werden damit ermutigt, Aufkleber und Plakate der Aktion an Türen oder im Fenster anzubringen, um von rassistischer Gewalt bedrohten Menschen zu signalisieren, dass sie hier einen Zufluchtsort finden. Eine aktuell veröffentlichte Statistik vom »Lichtenberger Register«, einer Meldestelle für Neonazi-Vorfälle im Bezirk, zeigt, dass im ersten Halbjahr dieses Jahres die Zahl rechtsextremer und antisemitischer Propagandadelikte verglichen mit dem Vorjahreszeitraum massiv zugenommen hat. Michael Mallé vom »Register« erklärt die Zunahme auch mit »dem deutlich gesteigerten Problem- und Meldebewusstsein« der Lichtenberger*innen. Auch Mallé sagt: »Vor allem die Gegend nördlich und südlich des Bahnhofs Lichtenberg hat sich total gewandelt.« Gleichwohl weiß er auch für dieses Gebiet von mehreren Treff- und Vernetzungsorten der rechtsextremen Szene. Darunter sei ein Tattoo-Studio an der Fanningerstraße, das von einem in den 90er Jahren bekannten Neonazikader mit mutmaßlichen Verbindungen zu den NSU-Terroristen betrieben werde. Mallé sagt: »Dieses Studio gehört zu den Strukturen, die von den Nazis genutzt werden.« Strukturen, die sich wohlgemerkt keine 250 Meter entfernt von der am Freitag abgefackelten Kiezkneipe befinden. Die Polizei wollte sich mit Verweis auf die laufenden Ermittlungen vorerst nicht zu dem Fall äußern. Der für politische Straftaten zuständige Staatsschutz habe die Ermittlungen übernommen, erklärte am Mittwoch ein Polizeisprecher gegenüber »nd«.
Jordi Ziour und Rainer Rutz
Nach dem Brandanschlag auf eine Kiezkneipe unweit des Bahnhofs Lichtenberg verdichten sich die Hinweise, dass die Tat von Neonazis ausging und antisemitisch motiviert war. Politiker zeigen sich entsetzt.
Antisemitismus, Brandanschlag, Lichtenberg
Hauptstadtregion
Berlin Antisemitismus
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1140646.solidaritaet-nach-attacke-auf-kiezkneipe.html
Nach Angriffen auf Sorben will Sachsens Polizei Präsenz erhöhen
Bautzen. Nach gewalttätigen Übergriffen von Neonazis auf Sorben will die sächsische Polizei ihre Präsenz in der Oberlausitz erhöhen. Dabei kämen auch mobile Fahndungsgruppen zum Einsatz, sagte Bernd Merbitz, Chef des Operativen Abwehrzentrums, am Mittwoch in Bautzen. Unter sorbischen Jugendlichen herrsche Angst: »Sie kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass eine Mauer des Schweigens aufgebaut wird.« In Bautzen, aber auch in anderen Teilen der Oberlausitz greifen teils maskierte Täter seit einiger Zeit gezielt sorbische Jugendliche an, beschimpfen und bedrohen sie. Merbitz appellierte an Betroffene, Vertrauen zur Polizei zu haben und alle Straftaten anzuzeigen. Merbitz hatte sich am Mittwoch mit dem Chef der Domowina, (Bund Lausitzer Sorben), David Statnik, getroffen, um die Lage zu erörtern. Die slawische Minderheit der Sorben siedelt seit etwa 1500 Jahren in der Lausitz. Ihre Zahl wird heute auf 60 000 geschätzt. Zwei Drittel von ihnen leben in Sachsen, etwa 20 000 in Brandenburg. dpa/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Nach gewalttätigen Übergriffen von Neonazis auf Sorben will die sächsische Polizei ihre Präsenz erhöhen. Dabei kämen auch mobile Fahndungsgruppen zum Einsatz, so der Chef des Operativen Abwehrzentrums.
Sorben
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/952821.nach-angriffen-auf-sorben-will-sachsens-polizei-praesenz-erhoehen.html
Kemmerich-Moment im Stadtrat Chemnitz
In Chemnitz haben CDU und FDP gemeinsam mit der AfD und der rechtsextremen Gruppierung Pro Chemnitz die Wahl der Linkspolitikerin Susanne Schaper zur Sozialbürgermeisterin blockiert. Bei der Abstimmung im Stadtrat erhielt die 43-Jährige 28 Stimmen und damit ebenso viele wie ihr Mitbewerber Axel Bruder, ein in der Stadt kaum bekannter Geschäftsführer eines katholischen Sozialbetriebs aus Niedersachsen, der zur Abstimmung nicht anwesend war. Den bei Stimmgleichheit vorgesehenen Losentscheid gewann Bruder. Allerdings verwehrte im Anschluss SPD-Oberbürgermeister Sven Schulze das laut Gemeindeordnung erforderliche Einvernehmen. Zu seinen Gründen will sich der Rathauschef in den nächsten Tagen äußern. Der Stadtrat hätte dessen Veto mit Zweidrittelmehrheit kippen können, scheiterte aber klar. Das Bewerbungsverfahren muss von vorn beginnen. Der Wahlausgang stieß teils auf Empörung. Die Linkspolitikerin Kerstin Köditz, Fraktionskollegin Schapers im Landtag, sprach in Anspielung auf die mit Hilfe der AfD erfolgte Kür eines FDP-Politikers zum Ministerpräsidenten in Thüringen im Jahr 2020 von einem »Kemmerich-Effekt in Chemnitz« und einer »Normalisierung der Zusammenarbeit mit der AfD«. Schaper sei an einer »rechten Einheitsfront« gescheitert. Detlef Müller, SPD-Bundestagsabgeordneter und Fraktionschef im Stadtrat, sah den Eklat als »verheerendes Signal« und warf die Frage auf, wer sich angesichts dessen in der Stadt noch bewerben wolle. Der CDU-Fraktionschef Tino Fritzsche sagte der »Freien Presse«, der Vorfall sei »sicherlich kein Glanzpunkt in der Stadtratsarbeit«, aber Ergebnis einer »geheimen und demokratischen Abstimmung«. Schaper selbst erklärte, als Demokratin wisse sie, »dass man eine Wahl auch verlieren kann«. Die Lokalzeitung kritisierte in einem Kommentar unter der Überschrift »Parteibuch vor Wohl der Stadt«, die Hälfte der Stadtratsmitglieder gebe sich im Zweifel »lieber mit der zweit- oder drittbesten Lösung« zufrieden, »weil diese besser ins eigene Weltbild passt«. Schaper hatte als Favoritin für die Wahl gegolten. Sie ist fachlich qualifiziert und in der Stadt verankert. Die gelernte Krankenschwester ist langjährige Chefin der Linksfraktion im Stadtrat und führt im Landtag den Sozialausschuss. Für die Landespartei hätte eine erfolgreiche Wahl freilich bedeutet, dass sie ihre Co-Vorsitzende verloren hätte. Ursprünglich hatte es 13 Bewerbungen für den Posten gegeben, darunter Schaper als einzige Frau. Der Bürgermeister für Bildung, Soziales, Jugend, Kultur und Sport, so die vollständige Amtsbezeichnung, ist auch für die Chemnitzer Vorbereitungen als Kulturhauptstadt Europas im Jahr 2025 zuständig. Die Stelle ist vakant, seit der bisherige Amtsinhaber Ralph Burghart (CDU) Finanzbürgermeister wurde. Den Job wiederum hatte Sven Schulze inne, bevor er im Oktober 2020 die Wahl zum Rathauschef gewann und dabei unter anderem auch Schaper hinter sich ließ. Ob sie sich im wiederholten Verfahren erneut als Sozialbürgermeisterin bewirbt, ließ sie offen. An ihrem Ziel, für die Menschen in ihrer Heimatstadt etwas bewegen zu wollen, ändere sich »natürlich nichts«, sagte sie auf Anfrage. Ob sie erneut antrete, entscheide sie aber »frühestens, wenn es eine neue Ausschreibung gibt«.
Hendrik Lasch
In Chemnitz haben CDU und FDP gemeinsam mit der AfD und der rechtsextremen Gruppierung Pro Chemnitz die Wahl der Linkspolitikerin Susanne Schaper zur Sozialbürgermeisterin blockiert.
AfD, Chemnitz, Die Linke, Sachsen
Politik & Ökonomie
Politik Susanne Schaper
2021-07-01T17:11:25+0200
2021-07-01T17:11:25+0200
2023-01-20T21:57:40+0100
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1153961.susanne-schaper-kemmerich-moment-im-stadtrat-chemnitz.html
Bloß keine Personaldebatten
Die aktuelle Aufregung um Lothar Wieler, den Chef des Robert-Koch-In-stituts (RKI), gehört zu den vielen überflüssigen Debatten, die das Management der Corona-Pandemie in Deutschland in den vergangenen zwei Jahren eher gelähmt haben. Fachlich unbeleckte Politiker wollen auch mal mit Corona Schlagzeilen machen, und die einschlägigen Sensationsmedien bauschen dies nur zu gerne auf. Gewiss haben Wieler und sein Institut diverse Fehler gemacht, die es irgendwann einmal aufzuarbeiten gilt. Doch es dürfte keinen Experten geben, der nicht auch mit Fehleinschätzungen glänzte. Das ist zwangsläufig in einer Pandemie, die für die Wissenschaft Neuland bedeutete, für Staat und Bürger erst recht. Und inmitten der Omikron-Rekordwelle braucht es bestimmt keine Personaldebatten rund um das RKI. Es geht aktuell um das Nachjustieren einzelner Maßnahmen und eine kluge Exitstrategie spätestens ab Ostern. Außerdem hat die Bundesbehörde eine so weitreichende Entscheidung ganz sicher nicht ohne Zustimmung des Dienstherren getroffen, doch an den Gesundheitsminister traut sich in der Koalition derzeit keiner ran. Ärgerlich an der Chose ist, dass die berechtigte Kritik zur Nebensache wird. Es ist reine Willkür, Covid-Erkrankten schon drei Monate nach der bestätigten Infektion den Genesenenstatus abzusprechen. Hier geht es offenbar nur darum, Impfdruck zu erzeugen. Die wissenschaftliche Begründung des RKI ist zudem an den Haaren herbeigezogen. Mit dieser könnten auch die Impfzertifikate nach drei Monaten für ungültig erklärt werden. Das Schlimme ist, dass der behördliche Federstrich wegen 2G massive soziale Härten nach sich ziehen wird – gerade angesichts der hohen Infektionszahlen in der Omikron-Welle. Diese krasse Fehlentscheidung sollte rasch rückgängig gemacht werden – von Lothar Wieler als RKI-Chef.
Kurt Stenger
Die FDP schießt sich derzeit auf den Chef des Robert-Koch-Instituts ein. Die Personalisierung ist vollkommen überflüssig. Fachliche Kritik an jüngsten Entscheidungen hingegen ist berechtigt – und sollte schnell Folgen haben.
Corona, FDP, Lothar Wieler, RKI, Robert-Koch-Institut
Meinung
Kommentare Lothar Wieler
2022-02-07T17:24:49+0100
2022-02-07T17:24:49+0100
2023-01-20T19:21:48+0100
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1161110.lothar-wieler-bloss-keine-personaldebatten.html?sstr=Genesenenstatus
Liebe Leserinnen und Leser …
Seit acht Jahren betreibt auch unsere Zeitung »neues deutschland« in enger Kooperation mit dem Verein kids & medien mit seiner rührigen und kompetenten Leiterin Sira Ullrich ein Projekt »zeitung in der schule«. Anders als viele andere Verlage »schütten« wir Schulen und Bildungsprojekte für Jugendliche nicht tonnenweise mit Zeitungen zu, sondern versuchen, Kinder und Jugendliche auf ungewöhnliche Art und Weise an das Thema Medien heranzuführen. Die Projektpalette reicht dabei von Workshops zu Photographie, Mediengestaltung und kreativem Schreiben bis hin zu Medienrecht oder auch Kursen in Kalligraphie. Und natürlich wird auch über die Zeitung von heute gesprochen. Dabei geht es uns nicht nur darum, den Kindern und Jugendlichen das Medium Zeitung näher zu bringen, sind sie doch, so zumindest unsere Hoffnung, die Leserinnen und Leser von morgen, sondern Kreativität zu fördern und Neugier auf das »dahinter« des Medienmachens zu erzeugen. Wir bedanken uns herzlich bei den teilnehmenden Schulen aus Berlin, Lehrern und Projektpartnern! In den letzten Monaten lag ein Schwerpunkt der Projektarbeit auf einem Schreibwettbewerb zum Thema »Gespinstgeschichten«, in dem die teilnehmenden Schülerinnen und Schüler auf sehr fantasievolle Art und Weise eigene Lebenserfahrungen und -welten »erspinnen« konnten. Die interessantesten Arbeiten haben wir in dieser kleinen Beilage zusammengestellt und ich hoffe, sie finden Ihr Interesse. Den Teilnehmern hat es jedenfalls einen Riesenspaß gemacht. Und jeder hofft natürlich, unter den Preisträgern der Preisverleihung am 11. November im Rahmen einer nd-im-Club-Veranstaltung an unserem Verlagsstandort am Franz-Mehring-Platz zu sein, zu der ich Sie schon heute ganz herzlich einlade. Der alte Mehring hätte jedenfalls seine wahre Freude an den Geschichten gehabt … Ihr Olaf Koppe, Geschäftsführer und ND-Verlagsleiter
Olaf Koppe
Seit acht Jahren arbeitet »nd« darauf hin, Kinder und Jugendliche auf ungewöhnliche Art und Weise an das Thema Medien heranzuführen. Die Projektpalette reicht dabei von Photographie, kreatives Schreiben bis zu Medienrecht.
Journalismus, neues deutschland, Schüler, Schule
In eigener Sache
https://www.nd-aktuell.de//artikel/989659.liebe-leserinnen-und-leser-h.html
Fußballerinnen unter Druck
DFB-Präsident Reinhard Grindel sorgt sich um die Zukunft der deutschen Fußballerinnen. Da halfen auch keine elf Tore des Nationalteams am Dienstagabend gegen die Hobbyspielerinnen von den Färöern. »Bei allem Respekt, der Gegner ist nicht der Maßstab«, sagte der 56-Jährige. Mit dem Sieg hat die DFB-Auswahl zwar wieder Platz eins in ihrer Gruppe übernommen. Aber nach den schwachen Auftritten beim 1:0 gegen Tschechien und dem 2:3 gegen Island ist die Qualifikation zur WM 2019 keineswegs sicher. Genau das macht Grindel Sorgen. Denn für die Frauen und die weitere Entwicklung ihres Sports sind Teilnahmen an den großen Turnieren sehr viel wichtiger als bei den Männern. Das Verpassen der WM »wäre ein schwerer Rückschlag«, schätzt Grindel ein. Sicherlich mit dem Blick darauf, dass davon auch die Olympiaqualifikation abhängt. Für die Misere sind der Deutsche Fußball-Bund und sein Präsident selbst verantwortlich. Fehler kann man machen. Als solchen haben einige schon die Berufung von Steffi Jones zur Bundestrainerin gesehen. Warum ihr laufender Vertrag nach den schlechten Spielen und dem frühen Aus bei der EM bis 2019 verlängert wurde, verstand kaum noch jemand. Jetzt fällt selbst Grindel ein vernichtendes Urteil: Die Leistungen seien nach der EM noch schlechter geworden. Und weil Scheitern nun keine Chance mehr ist, sondern verboten, machen der DFB und sein Präsident den nächsten Fehler. »Das Frankreich-Spiel ist der Gradmesser.« Grindel verlängerte die Bewährungsfrist für Jones bis zum 24. November. Absurd daran ist, dass es ein Testspiel ist. Nehmen es die Französinnen im wahren Wortsinne ernst, dann testen sie einfach nur. Auch generell taugen solche Partien nicht als Maßstab: Der Ernstfall kann nur simuliert werden. Ist der DFB so inkonsequent, weil sich die Fußballerinnen, wie so oft betont, bei Jones so wohl fühlen? Das wäre unprofessionell. Die Bundestrainerin liefert selbst jedenfalls keine Argumente. Es gibt keine spielerische Weiterentwicklung. Nach bedeutenden Niederlagen schiebt sie die Schuld den Spielerinnen zu. Und Selbstkritik? »Wir gehen den richtigen Weg«, findet Jones.
Alexander Ludewig
Nach den schwachen Auftritten beim 1:0 gegen Tschechien und dem 2:3 gegen Island ist die Qualifikation des Frauen-Nationalteams zur WM 2019 keineswegs sicher.
DFB, Frauen-WM, Fußball, Qualifikationen
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Geheimdienstkontrolle ein Phantom
Von der viel beschworenen und oft behaupteten parlamentarischen Kontrolle der Geheimdiensttätigkeit in Deutschland kann nach Auffassung von Linksfraktionschefin Kerstin Kaiser keine Rede sein. »Es gibt ein paar Ansätze in dieser Richtung«, sagte sie gestern. Kaiser war selbst als Mitglied der parlamentarischen Kontrollkommission (PKK) für die Aufsicht über den brandenburgischen Verfassungsschutz zuständig. Doch sei sie »niemals der Meinung gewesen«, dass eine umfassende, demokratische Kontrolle von Geheimdiensten möglich sein könne. Wirkliche Transparenz in diesem Punkt, wäre »ein Widerspruch in sich«. Auf die Tagesordnung kam das Thema, nachdem jetzt rechtsgerichtete Morde und eine mögliche Verstrickung des Verfassungsschutzes in die Struktur der mutmaßlichen Täter bekannt wurden. Ein wesentliches Argument in der Vergangenheitsdebatte ist außerdem, dass die bundesdeutschen Geheimdienste - im Unterschied zum DDR-Ministerium für Staatssicherheit - demokratisch kon-trolliert seien und daher dessen Winkelzüge und Erkenntnisse nicht via einer Unterlagenbehörde veröffentlicht werden müssten. Auch nach Ansicht von Kaisers Stellvertreter Stefan Ludwig ist die Annahme, man könne Geheimdiensttätigkeit tatsächlich transparent machen, paradox. Das antwortete er auf die Frage, ob er den Eindruck habe, er kontrolliere als gegenwärtiges PKK-Mitglied die Verfassungsschutzbehörde. »Wir erfüllen unseren gesetzlichen Auftrag«, setzte er hinzu. Und die Einschränkungen hinderten ihn nicht daran, seine Arbeit in der Kommission ernst zu nehmen. Mit Blick auf die thüringischen Ereignisse warnte Kaiser vor der Annahme, »das Heil in der Aufstockung der Verfassungsschutzbehörden zu suchen«. Hinter solchen Zielen stehe ein »dickes Fragezeichen«. Bei der notwendigen Bekämpfung von faschistischen Bestrebungen, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und der Wiederbelebung von NS-Gedankengut hätten Geheimdienste erfahrungsgemäß wenig Nutzen gebracht und wenig Erfolg gehabt. Die aktuellen Ereignisse stehen aus Kaisers Sicht nicht dem Ziel der rot-roten Koalition entgegen, in der Abteilung Verfassungsschutz des Innenministeriums 30 Stellen abzubauen. Die Behörde widme sich derzeit verschiedenen Aufgaben, »die originär dort nicht hingehören«. Dabei nannte Kaiser Analysen sowie Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit. Eine Kritik dieses Tätigkeitsspektrums sei angezeigt. Nach früheren Aussagen der Verfassungsschutzbehörde befasst sich die Hälfte ihrer Kapazität mit Neonazis. Ein Viertel der märkischen Verfassungsschützer beschäftigt sich demnach mit dem militanten Islamismus und das verbleibende Viertel teilt sich die Beobachtung von Linksextremismus, Spionage und anderen Strömungen. Das Problem auch in Brandenburg sind weniger feste rechtsex-treme Parteistrukturen als rechtsextrem geprägt Jugendcliquen. Als Zentren galten in der Vergangenheit Angermünde, Belzig, Bernau, Cottbus, Frankfurt (Oder), Perleberg, Potsdam, Prenzlau, Rathenow und Wittstock. Die von den Cliquen ausgehende Gewalt gegen Ausländer oder gegen Menschen, »die anders sind«, ist »für uns nicht vorhersehbar«, räumte der Verfassungsschutz vor einiger Zeit ein. Gewalt entstehe in diesen Kreisen spontan als Ausfluss von rechtsextremer Gesinnung, Alkohol und Gruppendynamik.
Wilfried Neiße
LINKE steht zum Abbau von 30 Stellen beim Verfassungsschutz
Brandenburg, Geheimdienste, LINKE, Verfassungsschutz
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Brandenburg Brandenburg
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Bittere Brunnen im Abendlicht
Ich war nicht besser und nicht schlechter als die Bewegung, der ich angehörte«, lautet ein zentraler Satz aus »Abendlicht«, dem wohl bekanntesten Werk des Schriftstellers Stephan Hermlin (1915–1997). Ein Zitat, das auch dem Buch vorangestellt ist, das Hans-Dieter Schütt dieser Tage über diesen Dichter herausgebracht hat. Aus gutem Grund will Schütt nicht von einer Biografie reden: »Gelesen habe ich, was Stephan Hermlin geschrieben und gesagt hat, es ist mir das Entscheidende, ich spüre Bezüge, sie ziehen mich an.« – Schade, eine seriöse Biografie hätte den Diskurs zur DDR-Geschichte wie überhaupt zur Literatur im Arbeiter- und Bauern-Staat ungemein bereichern können. Obgleich er kaum noch gelesen wird, so hat Hermlin doch bis heute Spuren im historischen Gedächtnis vieler Leute hinterlassen, die in der DDR Verantwortung trugen. Sie meinen in ihm die »ehrliche« DDR zu sehen, den ehrlichen Kommunisten. Weil das Leben kompliziert und unberechenbar ist, ja sogar tödlich endet, brauchen Menschen seit jeher Erzählungen, die ihnen Erklärung bieten und Trost. Für etliche DDR-Bürger war »Abendlicht« eine solche Erzählung. Die Deutsche Demokratische Republik wie auch Stephan Hermlin bezogen ihre Autorität und Legitimation zu einem großen Teil aus der Geschichte, aus dem antifaschistischen Widerstandskampf während der Nazi-Zeit. Insofern war dieser Dichter nicht besser und nicht schlechter als der Staat, dem er angehörte – den er kritisierte und verteidigte. Immerhin war es Hermlin, der im Herbst 1976 die Biermann-Resolution geschrieben und den Protest gegen die Ausbürgerung des Liedermachers organisiert hat. Nie wieder waren Künstler in dem kleinen Land politisch derart unzuverlässig und der Staatsmacht so bedrohlich. Ein Hermlin-Biograf hätte auf Quellenbasis der Frage nachgehen müssen, wie dieser Mann es geschafft hat, gleichzeitig Motor und Sand im Getriebe zu sein. Als Rudolf Leder 1915 in Chemnitz geboren, galt Stephan Hermlin im Literaturbetrieb beider deutscher Staaten als sakrosankt. In der »Literatur der DDR«, dem in Ostberlin 1976 verlegten elften Band der »Geschichte der Deutschen Literatur« lesen wir über ihn, dass er sich als Sechzehnjähriger der Kommunistischen Jugendbewegung angeschlossen hatte und nach 1933 von den Faschisten verfolgt wurde. 1936 emigrierte er aus Deutschland über Ägypten, Palästina, England und Spanien nach Frankreich. Schließlich flüchtete er 1941 in die Schweiz. Er habe »Angst und Einsamkeit« erlebt, doch in dieser Zeit auch andere Erfahrungen gemacht: »In der illegalen Arbeit gegen den deutschen Faschismus, bei der Unterstützung des spanischen Freiheitskrieges und in französischen Lagern hatte er die Kraft internationaler Solidarität kennengelernt, war er selbst zu einem bewussten Kämpfer geworden.« Wir können davon ausgehen, dass dieser Eintrag nicht ohne Hermlins Wissen und schon gar nicht gegen seinen Willen gedruckt wurde. Ein Biograf hätte zu den hier aufgezählten Lebensstationen nach Belegen suchen müssen. In Hermlins Prosa zu schmökern, reicht da nicht aus. Sein Vater zum Beispiel ist eben nicht im KZ Sachenhausen umgekommen, wie er in »Abendlicht« schreibt. David Leder wurde von den Nazis nach der »Reichspogromnacht« ins Konzentrationslager Sachsenhausen deportiert, kam aber nach relativ kurzer Zeit frei und emigrierte nach England, wo er 1947 an Leberkrebs starb. Noch im September 1984 ließ sich Stephan Hermlin vor einem Millionenpublikum von Günter Gaus ins Gesicht sagen: »Ihr Vater, Herr Hermlin, war ein sehr wohlhabender, kunstsinniger, gebildeter, großbürgerlicher Unternehmer. Die Nationalsozialisten haben ihn als Juden im Konzentrationslager ermordet.« Der Literaturkritiker Karl Corino kommentiert diese Szene mit den Worten: »Jeder moralisch integre Mensch hätte die Gelegenheit genutzt, diese Geschichtsklitterung wenigstens im entscheidenden Punkt ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen, etwa nach dem Motto: ›Herr Gaus, ich muss hier endlich etwas richtigstellen. Mein Vater ist zwar vom 9. November bis 20. Dezember 1938, nach der Kristallnacht, im KZ Sachsenhausen eingesperrt und drangsaliert worden, aber dann hat man ihn mit der Auflage nach Hause geschickt, das Dritte Reich möglichst schnell zu verlassen. Er hat mich nach seiner Ausreise im Juli 1939 in Paris besucht, bis er mit meiner Mutter nach England einreisen konnte. Er hat dort schwer gearbeitet, mich bis zum Kriegsende materiell unterstützt und ist am 1. März 1947 an einer schrecklichen Krankheit gestorben, an Krebs.‹« Der Schriftsteller hat also eine literarische Fiktion geschaffen, worin liegt das Problem? Gerade, weil Millionen von Juden in der NS-Zeit gepeinigt und getötet wurden, so Corino, sei es eine Ruchlosigkeit, einen Überlebenden des KZs jenen Toten zuzugesellen und sich mit dem Leid anderer Vorteile zu verschaffen. An diesem Punkt würde sich die Diskussion lohnen, wie viel ein Schriftsteller in seinem Werk erfinden darf. Auf diesen und ähnliche Vorwürfe geht Hans-Dieter Schütt aber nicht ein. Er verteidigt den Dichter mit dessen Werk. In diesem Werk verknüpft der Erzähler Hermlin häufig historische Ereignisse mit der eigenen Biografie. Und sobald dem Ich dazu nichts mehr einfällt, wird die Erinnerung abgebrochen. Ja, so ist das eben mit dem Gedächtnis. Neuer Absatz, neuer Ort in einer anderen Zeit mit anderen Leuten. Hermlins »Abendlicht« hat außer der Weltgeschichte kaum einen Handlungsbogen und schon gar kein gewachsenes Beziehungsgeflecht der Protagonisten. Außer dem Glauben an die Partei kennt Hermlin keine Metaebene. So ist dieser schmale Band auch kein Roman. Der Leipziger Reclam-Verlag, der die »Bilanz seiner Jugend« 1979 verlegte, unterließ bewusst jegliche Zuordnung. Wahrheit und Dichtung, ist auf dem Klappentext zu lesen, fügten sich zusammen »zu einem Text von großer Intensität« – der aber fiktional an vielen Stellen schlicht keinen Sinn ergibt. »Abendlicht« ist voller Erinnerungsfetzen, die für den Fortgang der Handlung keinerlei Rolle spielen. Aus dem Nichts heraus heißt es plötzlich: »als ich auf der Straße nach Corbera den Verwundeten traf, dem der Unterkiefer fehlte«. Weder die Geschichte des Verwundeten noch der Spanische Bürgerkrieg werden weitererzählt. Der Halbsatz dient nicht der Story, sondern der Selbsterhöhung des Autors. Er wäre nur sinnvoll, wenn wir denken können, dass nicht nur der Erzähler, sondern Hermlin persönlich gegen Franco gekämpft hat, wie viele andere Schriftsteller auch. Vielleicht wäre »Zwielicht« der bessere Buchtitel gewesen. Karl Corino verwies schon 1996 auf eine Sonderausgabe der Zeitschrift »Aufbau«, erschienen unmittelbar nach dem Tod Stalins, über den Hermlin dort schreibt, sein Name sei »eine Fahne« gewesen, »die sichtbar und unsichtbar im Winde der Straßen und Sehnsüchte flog«. Für den späteren PEN-Vizepräsidenten wirklich beschämend aber ist eine andere Stelle im Text: »Ich entsinne mich schwerster Stunden im Konzentrationslager. Wir, die wir nichts besaßen, besaßen doch viel: unsere Partei und unsere Hoffnung. Niemand war reicher als wir. Ich hatte in meiner Pritsche ein winziges Bild von Stalin versteckt, im Ausmaß zwei mal drei Zentimeter. Am 1. Mai und am 7. November hatten wir das Bild zwischen uns gestellt und feierten flüsternd die Tage, die allen Arbeitern teuer sind«. Hermlin ist nie in einem Konzentrationslager gewesen. Mit Literatur hat das wenig zu tun. Warum erfinden Menschen solche Geschichten? Als rassisch Verfolgter war Hermlin vor den Nazis auf der Flucht. Aber war er auch im Widerstand? Der Wagenbach-Verlag, der Hermlin in Westdeutschland verlegte, behauptet bis heute auf seiner Internetseite, dass er sich der Résistance in Frankreich angeschlossen habe. Noch im September 1992 meinte Hermlin sich zu erinnern; im Interview mit der »Wochenpost« erklärte er: »De Gaulle war mein General, mein Oberbefehlshaber in der Résistance.« – Vielleicht gibt es wenigstens dafür irgendwelche Belege, genug Arbeit also für einen Biografen. Nicht aber für Schütt, der es grundsätzlich unterlässt, Hermlin in den Kontext seiner Zeit zu stellen. In der DDR hat ja bei weitem nicht jeder Schriftsteller von der SED in Niederschönhausen ein Haus gestellt (geschenkt?) bekommen. Vielleicht muss man Hermlin beim Wort nehmen: War er denn tatsächlich nicht besser und nicht schlechter als die Bewegung, der er angehörte? Inwieweit stimmt das Bild, das er von der kommunistischen Bewegung zeichnet, mit der damaligen Realität überein? Mit dreizehn Jahren, lesen wir in »Abendlicht«, habe er zufällig das »Kommunistische Manifest« gelesen: »Mich bestach darin der große poetische Stil«. Mit sechzehn wird Hermlin Mitglied des Kommunistischen Jugendverbandes. Er habe damals nicht gewusst, was er mit seinem Eintritt alles unterschrieb, die Verpflichtung mit den Unterdrückten an einer Front zu kämpfen. »Oft habe ich mich später fragen müssen, aus welchem Grunde ich an dieser Unterschrift (…) festhielt, als ich um mich so viele sah, die ihre Unterschrift widerrufen oder einfach vergessen hatten.« Hermlin nennt keine Namen. Und ganz bestimmt meint er nicht die Genossen Hugo Eberlein, Leo Flieg, Heinz Neumann, Hermann Remmele, Hermann Schubert, Fritz Schulte oder Heinrich Süßkind. Oder Hans Kippenberger, den Leiter des Militärapparates der KPD oder Willi Leow, den Chef des Rotfrontkämpferbundes. Sie alle haben ihre Unterschrift nicht widerrufen. Als Kommunisten waren sie ohnehin »Tote auf Urlaub« (Eugen Leviné), für Tausende jedoch war Stalins Sowjetunion das letzte Reiseziel. Aber davon schweigt Hermlin. Und offensichtlich kannte er nicht das Ehepaar Hertha und Jacob Walcher, die als »Versöhnler« gleich zweimal aus der Partei ausgeschlossen wurden (und ihre Unterschrift trotzdem nicht »vergessen« hatten). Beide waren bereits Mitglied im Spartakusbund. Jacob Walcher leitete gemeinsam mit Wilhelm Pieck den Gründungsparteitag der KPD; von 1919 bis 1924 gehörte er der Zentrale, dem späteren Zentralkomitee, an und war dort verantwortlich für Gewerkschaftspolitik. Wo Hermlin sein Leben als Kommunist im geraden Weg schildert, im Vertrauen auf die Partei hin zum »Abendlicht«, ist das Leben der Walchers von Brüchen, Irrwegen und bitteren Enttäuschungen geprägt. Aber auch von großer Hoffnung. Während es zu Jacob Walcher bereits eine Biografie gibt, hat sich für das Leben seiner Frau bislang kein Historiker interessiert. Die Schriftstellerin Regina Scheer hat über die Sozialistin nun ein Buch geschrieben und wurde für diese Arbeit unlängst mit dem Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Scheer macht dort weiter, wo Hermlin stehenbleibt und mit ihm sein Nichtbiograf Schütt. In der Novemberrevolution kämpften Frauen an vorderster Stelle, so zum Beispiel bei den Streiks der Munitionsarbeiterinnen 1918. Doch schon in den gewählten Gremien, den Arbeiterräten, waren sie kaum vertreten. Die Schweizer Historikerin Brigitte Studer (»Reisende der Weltrevolution«) spricht in diesem Zusammenhang von der »Verdrängung in die Unsichtbarkeit«. Und auch die Erinnerung an die kommunistische Bewegung war lange Zeit eine dezidiert männliche, die zwar Platz ließ für die Ikonen Rosa Luxemburg und Clara Zetkin, während aber alle anderen Kommunistinnen dem Vergessen anheimfielen. Gegen dieses Vergessen der Frauen schreibt Regina Scheer an. Mit »Bittere Brunnen« zeichnet die Autorin nicht nur das außergewöhnliche wie exemplarische Leben von Hertha Gordon-Walcher nach, so die Jury zum Preis der Leipziger Buchmesse 2023. Gleichzeitig erzähle sie auch eine Chronik der sozialistischen und feministischen Bewegungen im 20. Jahrhundert. »Dieses erzählende Sachbuch steht für große Offenheit im Umgang mit Brüchen, Ungereimtheiten und Leerstellen unseres Wissens um Lebensläufe – und ist eine genaue Dokumentation politischer Zusammenhänge, deren Spuren die Gegenwart prägen.« Anders als Hermlin, dessen aus Galizien stammende Mutter in »Abendlicht« als Engländerin zu Wort kommt, hat Hertha Gordon-Walcher (1894–1990) ihr Jüdischsein nie verleugnet. Eine Stelle aus dem 2. Buch der Tora wird sie ein Leben lang begleiten: Auf der Flucht aus der ägyptischen Gefangenschaft irrt das Volk Israel durch die Wüste Schur. Ein schrecklicher Durst quält die Menschen, als sie den Brunnen von Mara erreichen. Doch das Wasser schmeckt bitter, ist ungenießbar. In ihrer Verzweiflung klagen die Juden gegen Mose, der sein Volk gerade erst durchs Rote Meer geführt hatte, als endlich der Allerhöchste seinen Propheten anweist, ein Stück trockenes Holz in das Wasser zu werfen, das dadurch seine Bitterkeit verliert. Die Metapher vom schwer genießbaren Wasser auf dem Weg ins gelobte Land übernahm Regina Scheer für den Titel ihres Buches »Bittere Brunnen. Hertha Gordon-Walcher und der Traum von der Revolution«. Eine Biografie, die ihresgleichen sucht, über eine unscheinbare Genossin, die im Laufe ihres Lebens mit so gut wie allen wichtigen Personen in der Linken zu tun hatte. Als Vertraute von Clara Zetkin kannte sie Rosa Luxemburg, Wilhelm Pieck, Karl Radek und nicht zu vergessen, später dann bei der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP), den jungen Willy Brandt und eines Tages sogar Bertolt Brecht. Auf die Frage, ob sie Stalin gekannt habe, soll Hertha Walcher gelacht und eine unbestimmte Handbewegung gemacht haben. »Ja, ich bin ihm begegnet… mit der Clara zusammen, sie war bei ihm zum Essen eingeladen. Sein Sohn Jakow saß mit am Tisch, fünfzehn, sechzehn Jahre alt. Stalin sagte etwas zu ihm, der Sohn antwortete, wir haben die Antwort nicht verstanden, aber Stalin beugte sich über den Tisch und ohrfeigte den Jungen. Der stand auf und ging wortlos, auch seine Stiefmutter, nur sechs Jahre älter als Jakow, sagte kein Wort. Uns war der Appetit vergangen.« Sind die Bücher von Hermlin und Scheer miteinander vergleichbar? Können wir »Bittere Brunnen« im »Abendlicht« lesen und umgekehrt? Ein Prosaband, der bei seinem Erscheinen 1979 autobiografisch gelesen wurde und eine nichtfiktionale Biografie, in klarer Sprache gehalten, aber nicht ohne Poesie, wie schon der Titel zeigt. Warum nicht? Beide Autoren erheben einen Anspruch auf Wahrhaftigkeit. Beide erzählen vom Leben und Glauben deutscher Kommunisten im 20. Jahrhundert und könnten doch verschiedener nicht sein. Verglichen mit Stephan Hermlin ist Regina Scheer eine Schriftstellerin, die weniger durch Vorträge auf Kongressen brilliert, sondern mit »Machandel« wenigstens einen Roman veröffentlicht hat, der 2015 von der Kritik gefeiert wurde. In »Bittere Brunnen« eignet sie sich nicht das Leben anderer Menschen an, sondern rettet es vor dem Vergessen, ohne aber jemals ihre Distanz aufzugeben. Die 1950 in Ostberlin geborene Autorin war in den 1980er Jahren Redakteurin der Literaturzeitschrift »Temperamente«. In diese Zeit fallen auch viele ihrer Besuche bei »Tante Hertha«, einer Freundin ihrer Familie. Aus den Gesprächen und zahlreichen Archivbesuchen ist, wie »Die Zeit« schreibt, ein historischer Pageturner entstanden, der von der gleichen Utopie und Bewegung handelt wie »Abendlicht«. Doch während Hermlin versucht, sein Publikum mit der Geschichte des Kommunismus zu versöhnen und den Frauen dabei allenfalls eine Statistenrolle zukommen lässt, erzählt Regina Scheer aus weiblicher Sicht, wie aus einer großen Hoffnung eine Illusion wurde. Ein Leben zwischen den Stühlen oder, wie man damals scherzte, »zwischen den Minen«. Das Ehepaar Walcher lebte weniger von als für die KPD, die aber spätestens ab Mitte der 1920er Jahre mehr und mehr zur stalinistischen Apparatepartei verkam. Eine Partei, die sich bis heute nie wirklich ehrlich gemacht hat, denn »Fragen an die Geschichte zu stellen, über Fehler zu reden, hätte bedeutet, nach den Fehlern der Gegenwart zu fragen. Und das wurde vermieden wie eh und je«. Auch heute noch ist die Sozialdemokratie für viele Genossen der Hauptgegner; der Glaube an Moskau scheint bei manchen ungebrochen, egal welcher Staat auf Kremlbefehl gerade überfallen wird. Im Jahr 1939 waren es Finnland und Polen. Zu diesem Zeitpunkt waren die Walchers schon seit über zehn Jahren aus der KPD ausgeschlossen; Jakob Walcher hatte sich im Karl-Liebknecht-Haus wiederholt gegen die Gründung KPD-naher Gewerkschaften ausgesprochen, denn die Gewerkschaftsbewegung sollte auf keinen Fall gespalten werden. Hertha und Jakob Walcher treten der KPD-Opposition bei, einer Gruppe um den ehemaligen KPD-Vorsitzenden Heinrich Brandler, mit guten Analysen, aber wenig Strahlkraft innerhalb der Linken. Die Kommunistische Partei-Opposition (KPO) wird nie mehr als 4000 Mitglieder haben. Die 1931 gegründete Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands – eine Art Sammelbecken für ausgeschlossene Sozialdemokraten und Kommunisten – zählt dann immerhin schon 25 000 Genossen in ihren Reihen, unter ihnen auch das Ehepaar Walcher und ein junger Genosse, Herbert Frahm, der eines Tages im Osloer Exil den »Kampfnahmen« Willy Brandt annehmen wird. Seiner damaligen Partei wird – wie wir heute wissen – kein Erfolg beschieden sein, als Kristallisationspunkt einer antifaschistischen Einheitsfront. In Regina Scheers Buch nimmt die Geschichte der SAP einen großen Raum ein, zu Recht. Wir erfahren, dass es schon in der Weimarer Republik eine unorthodoxe Linke gegeben hat, die fernab der staatstragenden Sozialdemokratie nach Wegen gesucht hat, jenseits der stalintreuen KPD. Scheer erzählt von Menschen, die uns heute als naiv erscheinen mögen, die damals als Suchende aber die richtigen Fragen gestellt haben. Demokratie und Sozialismus gehören zusammen. Nach Hitlers Machtergreifung sind Hertha und Jakob Walcher klug genug, in den Westen ins Exil zu gehen, nach Frankreich, später in die USA. Nach dem Krieg kehren sie nach Deutschland zurück, im Unterschied zu Willy Brandt aber in die sowjetisch besetzte Zone. »Noch war die DDR nicht gegründet, aber Willy Brandt erkannte ihre Geburtsfehler, die Verletzung von Demokratie, Freiheit und Menschenwürde«. Geburtsfehler, von denen die Walchers meinten, sie würden sich mit der Zeit verwachsen – bittere Brunnen, aus denen sie trinken müssen, auf dem Weg ins gelobte Land. »Die DDR war nicht die Gesellschaft, die sie sich vorgestellt hatten, aber sie war Realität, eine bessere hatten sie nicht.« Eines Tages werden die Eheleute Walcher von der SED ihre Parteiausweise wieder ausgehändigt bekommen. »Aber dazwischen fehlte etwas, das Wichtigste, die Auseinandersetzung.« Mit dieser Biografie hat Regina Scheer auch eine Geschichte der linkssozialistischen Strömung innerhalb der Arbeiterbewegung geschrieben. Im Unterschied zu Hermlin nimmt sie Geschichte als Ganzes an. Wir lesen von den Schauprozessen in der Sowjetunion, von den Säuberungen in den Parteien der Komintern und vom Freundschaftsvertrag Hitlerdeutschlands mit der Sowjetunion. In seinem letzten Artikel ruft Willi Münzenberg: »Der Verräter, Stalin, bist du!« Hertha Walcher will nicht glauben, dass Münzenberg sich selbst das Leben genommen hat. Und auch sie wird oft am Abgrund stehen. Hertha und Jakob aber werden mit dem Leben davonkommen. Ein Glück, das viele ihrer Weggefährten nicht hatten. Ihre Geschichten müssen erzählt werden, nicht die Märtyrermärchen eines Stephan Hermlin. Regina Scheer hat sich mit »Tante Hertha« sehr oft über Helene Radó unterhalten, eine deutsch-ungarische Journalistin und Übersetzerin, die auch unter dem Pseudonym Maria Arnold schrieb und in ähnlicher Weise historische Episoden erfunden hatte. Beispielsweise dass sie beim Gründungsparteitag der KPD den Genossen eine Geheimnachricht von Lenin überbracht hat (als Siebzehnjährige!), was gelogen war. Als die KPD gegründet wurde, saß Hertha mit Lene im Zug, irgendwo in Sowjetrussland. DDR-Historiker haben diese Flunkereien ungeprüft übernommen, so die Autorin. »Dabei war die reale Biografie von Helene Jansen-Radó so voller Dramatik, dass sie keiner Aufwertung bedurft hätte.« Ähnlich verhält es sich bei Stephan Hermlin. Karl Corino spricht von einem »fast einzigartigen Fall literarischer Selbstbeschädigung«, weil er vermutlich viele bewegende Episoden seines Lebens nie erzählen konnte – Geschichten, die er aus wechselnden Gründen seiner Selbstzensur geopfert habe. Hans-Dieter Schütt: Stephan Hermlin: Entlang eines Dichters. Quintus, 296 S., geb., 25 €.Regina Scheer: Bittere Brunnen. Hertha Gordon-Walcher und der Traum von der Revolution. Penguin, 704 S., geb., 30 €.
Karsten Krampitz
Von der Geschichte des Kommunismus im 20. Jahrhundert erzählen Stephan Hermlin und Hertha Gordon-Walcher – und könnten unterschiedlicher kaum sein. Über die beiden liegen nun neue Bücher vor. Eine Gegenüberstellung.
Biografie, DDR, Frankreich, Hertha BSC, Holocaust, KommunistInnen, Konzentrationslager, Literatur, Nationalsozialismus
Feuilleton
Kultur Geschichte des Sozialismus
2023-07-28T14:55:32+0200
2023-07-28T14:55:32+0200
2023-07-31T18:44:09+0200
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NATO ruft Russland zur Einhaltung des INF-Abkommens auf
Brüssel. Die NATO hat Russland zur Einhaltung des INF-Abrüstungsabkommens aufgefordert. Das Militärbündnis appelliere an Moskau, seinen Verpflichtungen aus dem Vertrag vollständig nachzukommen, sagte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Mittwoch nach einem Treffen des NATO-Russland-Rats in Brüssel. Stoltenberg kritisierte nach dem Treffen, dass Moskau die Bedenken hinsichtlich eines Raketensystems, das im Westen SSC-8 und von Russland 9M729 genannt wird, bislang nicht ausgeräumt habe. Die USA gehen davon aus, dass seine Reichweite im Bereich der durch den INF-Vertrag verbotenen Trägersysteme zwischen 500 und 5500 Kilometer liegt. Der russische Gesandte bei dem Treffen in Brüssel wies die Vorwürfe zurück und kündigte an, Moskau werde die verlangten Auskünfte erteilen, wie aus Diplomatenkreisen verlautet. AFP/nd Kommentar Seite 8
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Das DFB-Team setzt gegen die Niederlande einen Meilenstein
Die Eckdaten stehen: Im kommenden Sommer will Bundestrainer Julian Nagelsmann »die Nations League gewinnen«. Danach folgt die Qualifikation zur WM. Und im Sommer 2026 will er dann »Weltmeister werden«. Jedes Spiel auf dem Weg dahin ist ein Stück Überzeugungsarbeit. Einen Meilenstein setzten die deutschen Fußballer am Montagabend in München: Trotz stark veränderter Startelf gelang ein überzeugender Sieg gegen die Niederlande. Damit steht das DFB-Team in der Nations League im Viertelfinale und ist für die Auslosung der WM-Qualifikationsgruppen gesetzt. Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen. Den Deutschen Fußball-Bund (DFB) muss Nagelsmann nicht mehr überzeugen. Im Gegenteil: Der Verband versucht ihn schon jetzt zu einer Verlängerung seines bis zur Weltmeisterschaft laufenden Vertrages zu bewegen. Der DFB sei »total glücklich« mit seinem Bundestrainer, hatte Sportdirektor Rudi Völler schon vor dem umjubelten 1:0-Erfolg gesagt. »Wir werden versuchen, Julian zu überzeugen, dass es Sinn macht für ihn, noch ein paar Jährchen Nationaltrainer zu bleiben.« Uneingeschränktes Lob verteilte auch DFB-Präsident Bernd Neuendorf: »Insgesamt und fachlich ist er über alle Zweifel erhaben – von mir aus könnte das so weitergehen.« Die Euphorie ist verständlich, schließlich hat Nagelsmann nicht nur den jahrelangen Niedergang der Nationalmannschaft gestoppt, sondern sie ohne Umweg wieder in den Favoritenkreis des Weltfußballs geführt. Auch wenn der Bundestrainer selbst noch immer mit dem Aus im Viertelfinale gegen Spanien hadert – die Heim-EM war ein Erfolg, in vielfacher Hinsicht. Die deutlich verbesserte Stimmung rund um den DFB und sein Aushängeschild zeigen auch die Zuschauerzahlen der jüngsten Nations-League-Spiele gegen Bosnien-Herzegowina und die Niederlande: Sieben beziehungsweise acht Millionen Menschen hatten den übertragenden Sender auf ihren Fernsehgeräten eingeschaltet – fast doppelt so viele wie in den übelsten Zeiten unter Nagelsmanns Vorgänger Hansi Flick. Skandale, Missmanagement und Imageverlust? Die vielen Probleme des DFB sind nicht gelöst. Die Hoffnung des Verbandes aber, dass sie durch sportliche Erfolge und ein weiteres Sommermärchen bei der EM nicht mehr thematisiert werden, hat sich vorerst erfüllt. Zudem schreibt der DFB nach finanziellen Verlusten – allein 19 Millionen Euro in den Jahren 2021 und 2022 – wieder schwarze Zahlen. Auch dafür sind Tore und Siege gut. Den Treffer in München erzielte Jamie Leweling. Entschlossen wuchtete der Offensivspieler vom VfB Stuttgart den Ball nach 64 Minuten ins niederländische Tornetz. Und auch sonst überzeugte der 23-jährige Debütant. »Wenn man in so einer guten Mannschaft mitspielen darf, fällt es leicht«, meinte er später. Eine sympathische, beim Blick auf die Startelf zugleich auch erstaunliche Aussage. Denn im Vergleich zum begeisternden 2:2 vor rund einem Monat im Hinspiel in den Niederlanden standen acht neue Spieler auf dem Feld. Dennoch dominierte das DFB-Team den Gegner in München 45 Minuten komplett und zeigte in der zweiten Halbzeit, nach dem Ausfall eines weiteren Schlüsselspielers in Person von Florian Wirtz, eine reife Leistung. Oliver Baumann schaute sich das alles von hinten an. Der Torhüter aus Hoffenheim bekam in seinem ersten Länderspiel nicht viel zu tun, war aber in der Schlussphase präsent, als die Niederländer zu zwei gefährlichen Abschlüssen kamen. Was er dabei beobachtet hat: »Jeder will bis zum Schluss verteidigen.« Auch das ist ein großer Unterschied im Nationalteam zu der Zeit vor Julian Nagelsmann. All das zeigt, dass Spielidee, System und Anspruch des Bundestrainers wichtiger sind als Namen in der Kaderliste. Nagelsmann gefiel »die Gier, gewinnen zu wollen«, am meisten am Montagabend. Gleichzeitig freute er sich darüber, »aus der zweiten Reihe neues Personal gefunden zu haben, das den Konkurrenzkampf erhöht«. Der komplette Umbau in der Offensive war den Ausfällen von Kai Havertz, Jamal Musiala und Niclas Füllkrug geschuldet. Zwar fügte sich auch Stoßstürmer Tim Kleindienst ordentlich ein, überzeugen konnte er nicht. Aleksandar Pavlović und Angelo Stiller hingegen schon. Dem 20-jährigen Münchner und dem drei Jahre älteren Stuttgarter übergab der Bundestrainer die Verantwortung in der Mittelfeldzentrale. Beide lösten es gegen die Niederländer 45 Minuten so stark, dass Nagelsmann von einer »außergewöhnlich guten ersten Halbzeit« sprach. Robert Andrich und Pascal Groß schauten von der Bank aus zu. Die Bilanz der Auftritte gegen Bosnien-Herzegowina und die Niederlande nutzte der Bundestrainer als Zeichen nach innen: »Jetzt weiß jeder, dass er sich nicht ausruhen kann.« Die Signale an die Gegner sind längst gesendet. »Wir sind wieder ein Siegerteam«, sagte Nagelsmann in München.
Alexander Ludewig
Das 1:0 gegen die Niederlande zeigt, dass die Ideen und das System von Julian Nagels­mann unabhängig von Spielernamen überzeugen. Nicht nur deshalb will der Verband mit dem Bundestrainer verlängern.
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2024-10-15T16:31:11+0200
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Argerich zu Gast
Nach seiner Südamerika-Reise kehrt Daniel Barenboim mit seinem West-Eastern-Divan-Orchestra nach Berlin zurück. An diesem Sonntag (19 Uhr) gibt das Orchestra bereits zum achten Mal in der Walbühne ein Sommerkonzert. Solistin am Klavier ist Barenboims langjährige künstlerische Partnerin Martha Argerich. Auf dem Programm stehen Werke der russischen Komponisten Michail Glinka, Dmitri Schostakowitsch und Peter Tschaikowsky, wie das Orchester mitteilte. Dem Orchester gehören junge israelische und arabische Musiker an. Zuvor waren die Musiker in Barenboims Heimatstadt Buenos Aires in Argentinien zu Gast. In den kommenden Wochen spielt das Ensemble auch in Salzburg, Luzern, Paris und London. dpa/nd
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Schäubles Fetisch
»Die Bewältigung der Flüchtlingskrise« hat nach Aussage von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) »absolute Priorität«. Bei der Einbringung seiner Haushaltspläne in den Bundestag machte Schäuble am Dienstag aber deutlich, dass er am Prinzip der Haushaltsfinanzierung ohne Neuverschuldung nicht rütteln will. Die »Schwarze Null« gilt als Fetisch des Ministers. Schäuble erklärte, dass die Aufgaben in der Flüchtlingspolitik jetzt bewältigt werden müssten. »Wir müssen sie auch jetzt finanzieren - und wenn möglich, ohne neue Schulden.« Dem hätten sich andere Ausgabenwünsche unterzuordnen. Schäuble warnte vor einem »Überbietungswettbewerb« zwischen Bund, Ländern und Kommunen, wer wie viel konkret zu bezahlen habe. Erst müssten Antworten zur Lösung der Probleme gefunden und dann die Finanzierung geklärt werden. Ein Streit um Milliardenbeträge gefährde die Akzeptanz zur Flüchtlingsaufnahme. Der Bund will im kommenden Jahr zusätzlich rund sechs Milliarden Euro zur Bewältigung der steigenden Flüchtlingszahlen in Deutschland bereitstellen. Damit ist der von Schäuble eingebrachte Etatentwurf für 2016 bereits überholt. Bis zum 24. September wollen sich Bund, Länder und Kommunen auf Maßnahmen einigen. Die Länder fordern bereits jetzt zusätzliche Mittel vom Bund. Für die Mehrausgaben für Flüchtlinge im nächsten Jahr sowie danach will Schäuble den Milliardenüberschuss des Bundes nutzen, der in diesem Jahr anfällt. Um die Nutzung der zusätzlichen Milliarden zu ermöglichen, wird laut Schäuble »gegebenenfalls« für 2015 ein weiterer Nachtragsetat aufgestellt. Damit solle auch Handlungsspielraum für die nächsten Jahre erschlossen werden. Eigentlich müsste der Bund mit den Überschüssen Schulden tilgen. Oppositionspolitiker kritisierten in der Debatte die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung. Linksfraktionsvize Dietmar Bartsch warf Kanzlerin Angela Merkel und Schäuble vor, dabei nicht die Hartnäckigkeit gezeigt zu haben wie bei Griechenland. Sie setzten sich bei den europäischen Partnern nicht energisch genug für eine wirksame Antwort auf die Krise ein. »Hier sollte Deutschland Führungsstärke zeigen«, forderte Bartsch. Der Bund sollte alle Leistungen für Asylsuchende solange komplett übernehmen, bis über den Antrag endgültig entschieden ist. Der Grünen-Haushaltspolitiker Sven-Christian Kindler verlangte ein Ende des »kurzfristigen, chaotischen Krisenmanagements« in der Flüchtlingspolitik. Es müsse Schluss sein mit Notoperationen, nötig sei ein großer Wurf. Dafür müssten im Haushalt Voraussetzungen geschaffen und Kommunen dauerhaft entlastet werden. Ralph Brinkhaus, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Union, stellte sich auf besonders schwierige Haushaltsberatungen ein. »Wir haben in diesem Haushalt keinen Raum für zusätzliche Wünsche«, sagte der CDU-Politiker. Bisher sieht der Regierungsentwurf einen Anstieg der Ausgaben des Bundes von 301,6 Milliarden auf 312 Milliarden Euro im kommenden Jahr vor. Die zusätzlichen Milliarden für Flüchtlinge kämen hinzu. Endgültig verabschiedet wird der Etat 2016 vom Bundestag Ende November. Agenturen/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Auch nächstes Jahr peilt Wolfgang Schäuble die »Schwarze Null« an. Mehrausgaben für Flüchtlinge sollen durch den Milliardenüberschuss gedeckt werden, der 2015 anfällt.
Flüchtlinge, Haushalt, Wolfgang Schäuble
Politik & Ökonomie
Politik
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Die Deutsche Bank kommt nicht zur Ruhe
Es scheint so, als ob sich Paul Achleitner noch mal durchsetzen konnte. Medienberichten von Sonntag zufolge soll der Aufsichtsratschef der Deutschen Bank einen Nachfolger für John Cryan gefunden haben. Christian Sewing soll den 57-jährigen Briten als Vorstandsvorsitzenden ablösen. Bereits am Samstagabend vermeldete die Bank, dass der Aufsichtsrat am Sonntag über die Personalie beraten wollte. »Es ist vorgesehen, noch am selben Tag eine Entscheidung in diesem Zusammenhang zu treffen«, hieß es. Zum Redaktionsschluss lag zwar noch keine Entscheidung des obersten Kontrollgremiums vor. Doch gilt Sewing als neuer Chef nun als gesetzt. Der Aufsichtsratschef liebäugelte schon länger mit einer Ablösung des glücklosen Cryan an der Spitze des größten deutschen Geldinstituts. Doch vor Ostern hagelte es Absagen möglicher Kandidaten. Wie die britische »Times« meldete, habe der Österreicher Achleitner, der lange für die US-Investmentbank Goldman Sachs tätig war, beim Europachef der Bank, Richard Gnodde, angefragt. Gnodde hat jedoch kein Interesse. Auch bei den Chefs der italienischen Großbank Unicredit und des britischen Finanzhauses Standard Chartered, Jean Pierre Mustier und Bill Winters, soll Achleitner vorgefühlt haben. Zumal John Cryan durchaus auch Freunde im Haus und unter den Investoren hatte. So soll der US-amerikanische Großinvestor Black Rock hinter dem Vorstandschef gestanden haben, wie der Nachrichtensender »n-tv« jüngst kolportierte. Auch die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat seien von der Notwendigkeit seiner Ablösung nicht überzeugt, hieß es zunächst. Cryan kam als Sanierer und wurde ohnehin nur als Übergangskandidat gesehen, der die kriselnde Bank wieder in ruhigere, gewinnträchtigere Fahrwasser leiten sollte. Doch die Bank kommt nicht aus der Verlustzone, der Aktienkurs sinkt weiter. Einige Aktionäre warnten jedoch vor einem verfrühten Rückzug des Briten. Gegenüber der Zeitung »Die Welt« forderte etwa Fondsmanager Ingo Speich von Unioninvestment vor kurzem, dass Cryan weiterhin das Institut führen sollte. »Ein Wechsel an der Spitze würde den Umbau zurückwerfen«, zitierte die Zeitung den Banker. Zumal Cryan selbst erklärt hatte, seinen bis 2020 laufenden Vertrag erfüllen zu wollen. Mit der nun gefundenen Lösung kommt sein Nachfolger aus den eigenen Reihen. Der 47-jährige Sewing kam als Bankkauflehrling 1989 zur Deutschen Bank, danach folgte ein berufsbegleitendes Studium. Bis auf zwei Jahre bei der Deutschen Genossenschafts-Hypothekenbank verbrachte er sein gesamtes Berufsleben bei Deutschlands größtem Finanzinstitut. Seit Anfang 2015 sitzt Sewing im Vorstand. Durch seine Suche nach einem Nachfolger Cryans geriet Achleitner selbst ins Kreuzfeuer der Kritik. Er gilt mittlerweile als Teil des Problems. Schließlich sitzt der 61-Jährige bereits seit 2012 dem Aufsichtsrat vor und hatte Cryan 2013 selbst in das Gremium geholt, von wo aus er später in die Vorstandsetage wechselte. Achleitners Amtszeit endet offiziell erst 2022, doch das »Handelsblatt« fordert bereits jetzt »eine Alternative zu Paul Achleitner«. Viele Kritiker stören sich an seiner Personalpolitik. Der Chefredakteur der »Börsen-Zeitung«, Claus Döring, beklagt, dass sich Achleitner »mit Buddies aus der Finanzwelt« umgebe, »denen weder die deutsche Corporate Governance noch die europäische Bankenregulierung vertraut sind, geschweige denn der hiesige Markt«. Die deutsche Industrie brauche die Deutsche Bank nicht mehr, so Dörings Fazit. Nicht nur Döring stört sich daran, dass mit John Thain ein Ex-Chef der US-Investmentbank Merrill Lynch einen Posten im Aufsichtsrat erhalten soll. Schließlich steht Thain für die Gier und Selbstbedienungsmentalität der Investmentbanker. So musste der US-Amerikaner seinen Posten bei der Investmentbank räumen, »als Vorwürfe über überhöhte Ausgaben und vorgezogene milliardenschwere Boni bekannt wurden«, wie das »Manager Magazin« schreibt. Die Boni soll Thain seinen Managern »unmittelbar vor der Notfusion mit der Bank of America« genehmigt haben. Zudem wird bemängelt, dass Achleitner drei weitere amerikanische Kontrolleure ins Gremium holen wolle. »Womit es dann sechs von zehn wären«, wie die »Börsen-Zeitung« unterstreicht. die »FAZ« titelte gar: »Die Deutsche Bank kappt die Bande zur deutschen Wirtschaft.« Der einzige Wirtschaftsvertreter aus dem Heimatmarkt soll künftig Norbert Winkeljohann sein. Der war bislang deutscher Vorstandsprecher der Wirtschaftsprüfer von PricewaterhouseCoopers. Mögliche Interessenskonflikte scheinen da programmiert. Schließlich lässt sich die Bank regelmäßig von Prüfern durchleuchten. Am 24. Mai sollen Thain und Co. als neue Personalien auf der Hauptversammlung präsentiert werden. Dass Achleitner nun Sewing als Cryans Nachfolger vorschlägt, ist ein Zugeständnis an seine Kritiker. Der Stellvertreter des Brittens ist für das Privat- und Firmenkundengeschäft inklusive der Postbank verantwortlich. Damit wird dieser Bereich gegenüber dem Investmentbanking gestärkt, das lange Zeit als Aushängeschild der Bank galt und von Achleitner protegiert wurde. Doch läuft es dort seit der Finanzkrise bei weitem nicht mehr rund. Hinzu kommen Skandale um manipulierte Rohstoffpreise und Referenzzinssätze.
Fabian Lambeck und Simon Poelchau
Seit Anfang 2015 sitzt Christian Sewing im Vorstand der Deutschen Bank. Nun soll der einstige Bankkauflehrling das Finanzinstitut wieder in die Gewinnzone führen.
Bankenwirtschaft, Deutsche Bank, Großbritannien, USA
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt Wechsel an Vorstandsspitze
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Thomas Tuchel als nächster Problemfall beim FC Bayern München?
Was hat Thomas Tuchel, was Julian Nagelsmann nicht hat? Mehr Erfahrung: Der Schwabe aus Krumbach ist mit seinen 49 Lenzen 14 Jahre länger auf dieser Welt als der Oberbayer aus Landsberg am Lech. Er hat schon Paris und London gesehen, nicht nur Sinsheim und Leipzig. Nun soll er der neue Oberbayer im deutschen Fußball werden, weil der FC Bayern mit seinem Trainer Nagelsmann unzufrieden ist. Kommen da endlich zwei zusammen, die schon vor fünf Jahren miteinander geflirtet haben? Damals zierten sich die Münchner etwas zu lange, Thomas Tuchel unterschrieb bei PSG. Danach landete er beim FC Chelsea – beiden Klubs geht es sportlich ohne ihn schlechter. Seine Tauglichkeit hatte er zuvor schon in Mainz und bei Borussia Dortmund bewiesen. 2021 dann der Höhepunkt: Sieg in der Champions League mit den Londonern und Welttrainer des Jahres. In München wird er als Mutmacher gebraucht. Die Angst des Rekordmeisters, nach dem Sturz von der Tabellenspitze nach zehn Jahren das Titel-Abo in der Bundesliga zu verlieren, scheint groß. Und in der Champions League wartet Manchester City! Die Bekenntnisse der Vereinsführung pro Nagelsmann nach den jüngsten Siegen im Achtelfinale gegen Paris Saint-Germain sind vergessen. Tuchel könnte aber auch schnell zum neuen Problemfall des FC Bayern werden – weil er mit seinem Vorgänger vieles gemeinsam hat. Die beiden Prototypen der neuen Trainergeneration, die keine große Spielerkarriere vorzuweisen haben, vertreten ihre Ansichten fordernd und selbstbewusst. Damit hatten die »Mia san mia«-Münchner schon immer ein Problem, auch bei Nagelsmann. Bei Tuchel war es in Dortmund, Paris und London auch immer ein Trennungsgrund.  Größer als ein Klub ist kein Trainer, auch kein Fußballer, klar. Um seine Spielidee erfolgreich umsetzen zu können, sollte dem führenden Angestellten aber die größtmögliche Entscheidungsgewalt eingeräumt werden. Das führt, wie unter Nagelsmann, auch zu unzufriedenen Stars – denn die Bayern wollen auch immer nur die Besten. Wie sagte Tuchel einst so schön: »Wenn man mit den Bayern in den Ring steigt, dann kann man nicht erwarten, dass man ohne blaue Augen rauskommt.«
Alexander Ludewig
Nach dem Sturz von der Tabellenspitze und vielen Nebengeräuschen tauscht der Klub seinen Trainer. Angst steckt auch hinter dieser Idee, die gleichsam riskant ist, weil sich Julian Nagelsmann und Tuchel sehr ähnlich sind.
Bayern, Frankreich, Großbritannien, München
Sport
Sport Entlassung Julian Nagelsmann
2023-03-24T15:18:19+0100
2023-03-24T15:18:19+0100
2023-03-25T12:15:36+0100
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»Aufstehen« zieht kaum AfD-Mitglieder an
Berlin. Die von Sahra Wagenknecht initiierte linke Sammlungsbewegung »Aufstehen« zieht auch Mitglieder und Wähler der AfD an. Bis zu 100 Unterstützer*innen hätten angegeben, AfD-Mitglieder zu sein, erklärte die Linksfraktionschefin im Bundestag. Ihnen werde nahegelegt, die Parteimitgliedschaft aufzugeben, »weil das mit dem, was in unserem Gründungsaufruf steht, nicht vereinbar ist«. Deutlich größer sei die Überschneidung mit möglichen AfD-Wähler*innen. »Das sind ja nicht nur Hardcore-Rassisten, sondern viele Leute, die wütend sind, denen es nicht gut geht«, sagte Wagenknecht weiter. »Wir wünschen uns, sie für 'Aufstehen' zu gewinnen.« Die Bewegung erreiche Milieus, in denen auch die AfD Erfolg habe. 100 Tage nach der Gründung hat »Aufstehen« laut Wagenknecht rund 167.000 Unterstützer*innen. Rund 80 Prozent davon hätten angegeben, parteilos zu sein. Rund 11.000 seien Linksparteimitglieder, gut 5000 SPD-Mitglieder und etwa 1000 Grüne. Noch sei »Aufstehen« keine schlagkräftige Bewegung, so Wagenknecht - dafür brauche man ein Mindestmaß von Struktur oder einen Auslöser wie bei den Protesten der »Gelbwesten« in Frankreich. Im kommenden Jahr solle es aber Aktionen geben. »Unser Ziel ist ein Frühjahr des sozialen Protests.« Unter anderem werde debattiert, vor das Kanzleramt zu ziehen und dort mit sozialen Forderungen Druck zu machen. »Jeder, der etwas sozial verändern will, muss sich wünschen, dass Menschen auf die Straße gehen«, erklärte die Linkspolitikerin. dpa/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Bisher hätten sich etwa 100 AfD-Mitglieder der Sammlungsbewegung »Aufstehen« angeschlossen. Ihnen sei der Parteiaustritt nahe gelegt worden, erklärt Initiatorin Sahra Wagenknecht. Sie wirbt aber um Wähler AfD.
AfD, aufstehen, linke Bewegung, Sahra Wagenknecht
Politik & Ökonomie
Politik Sahra Wagenknecht
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»Ein umfassender Angriff auf unser gesamtes Leben«
Es ist derzeit viel vom technologischen Fortschritt die Rede, vieles entwickelt sich rasant. Wenn wir mal einen Ausblick wagen würden: Wie wird sich die Welt in den nächsten 50 Jahren weiterentwickeln? Eher in einer befreiten Gesellschaft – oder eher in einer Welt, die sich George Orwell nicht hätte erdenken können? Eva Brettner: Im Moment stehen alle Zeichen auf eine nahezu ungebremste Appifizierung weitere gesellschaftlicher Bereiche. Das heißt zum einen die Verwertbarkeit nahezu aller sozialer Beziehungen herzustellen. Aber dabei bleibt es nicht stehen, das Orwellsche Bild reicht da übrigens wirklich nicht aus. Es geht ja nicht nur um deren Durchleuchtung im überwachenden Sinne, es geht zum anderen vielmehr um subtile Lenkung, um Anleitung zu permanenter Selbstoptimierung ganz ohne ein unmittelbar wahrnehmbares repressives Moment. Die Konferenz „Leben ist kein Algorithmus. Solidarische Perspektiven gegen den technologischen Zugriff“ findet vom 30. September bis 2. Oktober in die Alte Feuerwache in Köln statt – sie ist inzwischen komplett ausgebucht. Die Organisatoren wollen „einen physischen Raum für Information, Austausch, Diskussion, Vernetzung und die (Weiter)entwicklung von Ideen“ bieten. „Wir wollen nicht nur die erschreckend schnell voranschreitende Erfassung aller Lebensabläufe samt ihrer ökonomischen Verwertung und den weitgehend undiskutierten Lenkungsmethoden analysieren. Wir wollen unsere Möglichkeiten des Widerstands gegen den technologischen Zugriff auf unsere Autonomie in den Mittelpunkt stellen“, heißt es in der Einladung. Mehr Infos zur Konferenz gibt es hier. Eine kommunistische Gesellschaft ist nicht in Sicht, weil die Technologie diese nicht vorsieht. Wenn uns kein maßgeblicher Richtungswechsel, also eine Abkehr vom Höhenflug der Technologisierung alles Sozialen gelingt, werden wir eine komplette Reorganisation unserer Kommunikation erleben – immerhin das Kernstück eines (politischen) Willensbildungsprozesses. Die Projekte von Facebook und Google, mit irrsinnigem Aufwand die gesamte noch unvernetzte Welt »zwangsweise freiwillig« zu erschließen, werden dort, wo es bereits Widerstand gibt, sehr wohl auch als das begriffen was sie sind: neokoloniale Vereinnahmung. Nur als kleine Randnotiz: Nicht nur die linke Presse hat Facebooks Versuch in Indien, das manipulativ beschränkte Umsonst-Internet »free basics« einzuführen, tatsächlich als landgrabbing bezeichnet. Facebook hat sich dort im Februar 2016 zum ersten Mal eine blutige Nase geholt. Die indische Regierung hat »free basics« mit Bezug auf die Proteste und die zu wahrende Netzneutralität abgeschaltet. Der Zugriff auf die Kommunikation der gesamten Menschheit wird sogar unter Militaristen als die weitreichendste Machtkonzentration der Geschichte bezeichnet. Noch nie gab es einen Übergriff von annähernder Tragweite. Dass die Spielräume für emanzipatorische Kämpfe im Rahmen des technologischen Angriffs immer enger werden ist da nur ein kleines Randphänomen, mit dem wir als linke allerdings hart zu kämpfen haben werden. Welche Rolle wird Technik dabei spielen? Eva Brettner: Eine treibende. Obwohl ich präziser sagen müsste, es sind nicht einzelne Techniken, die diese entscheidende Rolle spielen. Keine Teflonpfanne, kein neues Motorenkonzept, kein Quantencomputer. Es ist vielmehr die Technologie - ein massiver technologischer Schub, der darauf abzielt unser Denken, die Wissenschaft, das Soziale sogar den gewohnten politischen Aushandlungsprozess grundsätzlich zu verändern – und zwar in eine Richtung, die für die allermeisten weniger Autonomie und mehr Fremdbestimmung bedeutet. Ein durch und durch technokratisches Weltverständnis einer kleinen IT-Elite schickt sich an den krisenhaften Zustand des Kapitalismus für einige wenige »User« besser zu managen. Das Internet der Dinge, Industrie 4.0, Smart City sind dabei aktuelle technische Ausprägungen einer technologie-basierten Herrschaftsstrategie. Es geht also nicht um Technik, sondern um Technologie. Eva Brettner: Zur Unterscheidung – ohne akademisch rüberzukommen: Technik ergänzt eine menschliche Fähigkeit. Technologie hingegen enteignet mensch von seinen Fähigkeiten, seiner Selbstbestimmung. Technologische Innovationen sind Grundlage eines umfassenden Angriffs auf Lebens- und Arbeitsformen. Sie stehen in der Regel am Anfang eines großen Zyklus der Reorganisation und Erneuerung des kapitalistischen Kommandos. Das Fließband zum Beispiel hat nicht nur den unmittelbaren Arbeitsprozess in kleine Einheiten zerlegt, quantifizierbar und (außerhalb der Autonomie des Arbeiters) reorganisierbar gemacht. Es hat als Innovation, als Ideologie das Leben in den Wohnstätten als Zuführungsorte für die Fabrik mit geprägt. Die informationstechnologische Angriffswelle nutzt ebenfalls das Moment der Fremdbestimmung zur enormen Steigerung kapitalistischer Macht. Ein Beispiel, um die Unterscheidung von Technik und Technologie plastischer zu machen: Das Fitness-Armband ist eine Technik, die mit viel Lifestyle-Appeal die Nutzer*in zur Selbstvermessung anleiten soll. Die dahinter liegende Technologie ist die einer Apparate fixierten Selbstoptimierung – der ideologische Rahmen, in dem viele der kleinen Sauerstoffgehalt-im-Blut-Messer, Tiefschlafphasen-Mess-Apps usw. als Techniken angesiedelt sind. Zur technologischen Innovation, also zum Angriff gehört in diesem Kontext das Vorhaben der Krankenversicherer vom Solidarprinzip auf die Eigenverantwortlichkeit der einzelnen für ihre Krankheit umzustellen. Arbeite an dir und du bekommst den preiswerteren Versicherungstarif – schon wieder nicht gejoggt? Tarif rauf! Hier liefert die einzelne Technik, zum Beispiel das Fitnessarmband als Messinstrument, eine Möglichkeit zur Quantifizierbarkeit des Eigenbemühens. Der Branchen-Primus in Sachen technologischer Zugriff, die Generali sucht aktuell Kooperationspartner unter den Einzelhandelsketten und den großen Fitness-Studio-Ketten: sie sollen - bei Einwilligung des Kunden - die Ernährungs- und Fitness-Gewohnheiten an die Krankenversicherung übermitteln. In Büchern, die gerade erscheinen, werden - zugespitzt - Thesen wie »Künstliche Intelligenz wird uns alle töten« vertreten. Wem hilft diese apokalyptische Sicht wirklich? Eva Brettner: In gewisser Weise den Technokraten. Zum einen geht die Glaubwürdigkeit einer dringend notwendigen Technologiekritik in den Keller, wenn mit diesen Hollywood-tauglichen Szenarien der wahre Kern der Besorgnis im Belächeltwerden untergeht. Zum anderen geht es auch gar nicht darum ob eine künstliche Intelligenz, die mit Erreichen der sogenannten Singularität unsere Intelligenz übersteigt, uns gegenüber »gnädig« gestimmt sein wird. Uns geht geht es bereits viel früher darum, wie sich Macht auf dem Weg dorthin konzentriert und wie sich die Zunahme an Ungleichheit in Nicht-Teilhabe, Entrechtung und kriegerischer Zerstörung ausprägt. Nicht die KI wird uns töten, die Menschen, die diese Technologien vorantreiben, sind verantwortlich für viele, viele Tote. In diesem Sinn ist es eine ziemlich Nebelkerze, ein Bild zu zeichnen, in dem »die Menschheit« gleichermaßen und in Gänze als Spezies von der K.I. bedroht sein wird. Wie durch eine plötzlich emergente (Natur-)Katastrophe einer quasi-unausweichlichen technologischen Entwicklung in der wir uns alle als Opfer vereint sehen sollen – ziemlicher Quatsch also. Für wesentlicher halte ich, dass diese Singularität ein positiv aufgeladener Fixpunkt für viele Technokraten ist. Diese Technokraten begnügen sich nicht mit der Entwicklung von Erfindungen, oder Techniken deren Anwendung oder Ablehnung sie den gesellschaftspolitischen Akteuren überlassen. Sie sorgen mit der Entwicklung eines ganzen technologischen Schubs für eine grundlegende Veränderung von Gesellschaft. Technologie macht in noch viel stärkerem Maße Politik als wir das bisher kennen. Der klassische politische Prozess löst sich auf in lauter kleine soziale Mess- und Lenkungsprozesse – wenig angreifbar, da nur statistisch beschreibbar, solange die Dynamik der darunter liegenden Algorithmen undurchsichtig bleibt. Die Kybernetik der sozialen Physik entzieht sich dabei klassischen politischen Aushandlungsprozessen – läuft quasi unterhalb des »politischen Radars«. Die vollständige Durchleuchtung unseres Tuns und Denkens ist hier eher die Basis als das ganze Ausmaß des Übergriffs: Wer erhält welche Informationen, in welches Korsett zwängt sich Kommunikation - die Fremdbestimmheit wird das entscheidende Merkmal dieses technologischen Umwälzungsprozesses sein. Befeuert wir diese Maschinerie derzeit durch ihren Hauptmotor – das BigData-Business. Früher war die Linke und die Arbeiterbewegung viel mehr technikoptimistisch: Die Umwälzung der Welt, die Potenziale der Befreiung, die Freiheit von Naturabhängigkeit für alle und umsonst… Warum ist das völlig verloren gegangen? Eva Brettner: Ganz ehrlich – der naive Optimismus einer beton-kommunistischen, patriarchalen Linken zum Beispiel in der Frage der Atomtechnologie hat mich noch nie überzeugt. Ich denke wir brauchen dringend eine fundamentale Technologiekritik, ohne die sich meiner Meinung nach keine treffende Kapitalismuskritik mehr formulieren lässt. Die Reduktion auf die Vergesellschaftung der technologie-relevanten Industrien reicht da nicht aus. Ich zitiere hier mal Walter Benjamin: »Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotiven der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zug reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.« Aber ist es nicht auch so, dass - über einen längeren Zeitraum betrachtet - die Menschen heute global gesehen sogar »besser dran« sind als vor, sagen wir: 100 Jahren - und das auch und gerade mit Technik bzw. Technologie zu tun hat? Eva Brettner: »Besser dran« ist der Durchschnitt sicherlich. Aber was sagt das? Jede Soziolog*in würde sich als nächstes die Varianz anschauen – also die Verteilung der Abweichung vom Durchschnitt, weil das am ehesten die Herrschafts- und Spannungsverhältnisse einer Gesellschaft widerspiegelt. Und da stellen wir fest, dass die Ungleichverteilung und die Abhängigkeitsverhältnisse wieder zunehmen – ebenfalls Technologie-induziert. Noch nie gab es soviel versklavte Arbeit wie derzeit global. Wir schauen uns auf der Konferenz exemplarisch den weltgrößten Elektronik-Zulieferer Foxconn an. Die Soziologin Jenny Chan aus Hongkong analysiert als Mitautorin des Buches »i-Slaves« die Arbeitsbedingungen und den Widerstand bei Foxconn in China. Yves Ndagano berichtet von seinen Erlebnissen als Kindersoldat und in den Coltan-Minen im Kongo. Verschiedenen Untersuchungen zufolge gibt es in Zeiten der plattform-vermittelten Dienstleistungsgesellschaft einen bedrohlichen »Retro-Trend« hin zu einem wachsenden Beschäftigungssektor der »haushaltsnahen Dienstleistungen«, der stark an feudale Zeiten zurück erinnert: sehr niedrige Löhne, exzessive Arbeitszeiten ohne Ruhetage, mentaler und sexueller Missbrauch sowie die Beschneidung von Freiheitsrechten. Das entgarantierte Tagelöhner-Dasein eines digitalen Proletariats in Form von Click- und Crowdworkern lässt ebenfalls nicht erkennen, dass die Arbeitsformen, die die neuen Technologien hervorbringen als Errungenschaft gewertet werden dürfen – auch wenn eine linke digitale Bohème von ortsunabhängig und vermeintlich selbstbestimmt arbeitenden Kreativen das gerne glauben möchte. Karl Marx ging davon aus, dass sich das Neue, das Kommende unter den alten Herrschaftsverhältnissen und ökonomischen Bedingungen entwickeln würde - und dann »die Ketten sprenge«. Der Modus der linken Technologiedebatte ist vor allem auf die Risiken orientiert, die Potenziale werden kaum diskutiert. Woher kommt diese Leerstelle? Eva Brettner: Vielleicht, weil die theoretischen Angebote für eine emanzipatorischen Interpretation dieser post-kapitalistischen Phantasien zum Beispiel eines Jeremy Rifkin so wenig überzeugend sind. Kannst Du die Theorie der Überwindung des Kapitalismus über Gemeinwohl-Ökonomien auf der Basis von Shareconomy und OpenSource mit der aktuellen Entwicklung überein bringen? Also ich nicht, kein Stück! Warum nicht? Eva Brettner: »Hierarchische Ordnungsprinzipien könnten durch nicht-hierarchische Plattformen mit direktem «von Ende-zu-Ende»- Austausch ersetzt werden.« Das klingt ganz großartig, ignoriert jedoch, dass sich die Plattform-Werdung gesellschaftlicher Prozesse nicht im Macht-Vakuum vollzieht, sondern kapitalistischen Verwertungsbemühungen unterliegt. Sharing und so fort werden in der Linken aber durchaus auch als Chance gesehen. Eva Brettner: Der offene Teilen-Gedanke verschiedener Sharing-Netzwerke pervertiert sich immer dann wenn das Netzwerk erfolgreich wächst und der Netzwerk-Effekt zuschlägt: Der Nutzen eines Netzwerks wächst quadratisch mit der Anzahl der (insgesamt angemeldeten) Nutzer*innen, gemäß der direkten »Ende zu Ende« Verbindungsmöglichkeiten. Daher ist ein Konzentrationsprozess von vielen kleinen, spezifischen Foren und Netzwerken hin zu wenigen großen die »natürliche« Folge. Mit dem Ergebnis, dass die tatsächlich infrage gestellte alte administrative Ordnung durch eine neue ersetzt wird. Neue Player wie Google, Facebook, Amazon, Apple, Airbnb und Uber bestimmen über ihr Plattform-»Angebot« die Regeln und entziehen sich dabei sogar dem klassischen, politischen Prozess. Die Plattform als ursprünglich dezentrales Organisationsprinzip entpuppt sich als ideales Instrument zur Zentralisierung von Erfassung und Einflussnahme. Ein Mischmasch aus New-Age-Utopien und einer seltsam anmutenden Interpretation ur-amerikanischer Selbstbestimmung des Einzelnen bringt derzeit eine ultra-kapitalistische Kultur hervor. Auch eine noch so wohlwollende Uminterpretation der »kalifornischen Ideologie« bleibt technokratisch und hat mit links und mit Freiheit nichts zu tun – den Postkapitalismus wird sie uns nicht bescheren. Die Kölner Konferenz thematisiert hauptsächlich die Gefahren. Wird damit nicht ein sozusagen umgekehrt technikdeterministisches Weltbild reproduziert, das eher zu apokalyptischen Prognosen einlädt als zu sozialen Auseinandersetzungen um den Einsatz von Technik? Eva Brettner: Der Determinismus wird glaube ich nicht durch unsere Überaffirmation, wie ich aus Deiner Frage raus höre, zementiert. Die Allmachtsphantasien der Alphamännchen aus dem Silicon Valley stehen meiner Meinung nach ziemlich unangefochten, ja leider sogar wenig wirklich ernst genommen im Raum. Bei der Erläuterung seines technisch aufwändigen Konzepts zur Überwindung der menschlich-körperlichen Beschränkungen zum Beispiel des Alterns - zumindest für einige wenige Eliten – hat Peter Thiel (das ist der Gründer von PayPal und jetzt maßgebliche Mit-Entscheider, in welches Start-up wie viel Kohle gepustet werden soll) folgenden Satz gesagt: »Viele Leute glauben, das geht alles gar nicht. Gut so, sollen sie das denken. Denn so nehmen sie uns nicht ernst. Und deshalb werden sie uns nicht aufhalten.« Peter Thiel unterstützt im US-Wahlkampf übrigens Donald Trump. Eva Brettner: Mit dem Wissen um das technokratische und patriarchale Weltbild eines Peter Thiel sollte mensch diese Äußerung eher als dringenden Aufruf für mehr emanzipatorischen Widerstand verstehen. Das bedauerlich ist doch, dass wir es leider nicht nur mit abgedrehten Großmäulern zu tun haben, sondern mit erschreckend selbstbewussten Testtosteronis, die tatsächlich das Geld und die Macht generieren, viele ihrer sogenannten »disruptiven Innovationen« auch wirklich umzusetzen. Und dirsruptiv – also unumkehrbar tiefgreifend in den Veränderungen für das gesellschaftliche Dasein aller – ist doch der Plattformkapitalismus à la Airbnb, Uber, Amazon, Facebook und Konsorten an sich. Nicht erst irgend eine überzeichnende Zuschreibung unsererseits. Also ich finde »Visionäre« wie Herr Thiel haben es sich redlich verdient, beim nächstbesten Auftritt getortet zu werden. Übrigens - nur weil wir etwas schläfrig sind im Begreifen des technologischen Angriffs gegen uns, heißt das übrigens nicht, dass es diese Auseinandersetzungen nicht bereits gibt. Nehmen wir die »Google-Busse« in San Francisco, übrigens bereits vor drei Jahren: Jeden Morgen nehmen Zigtausende Mitarbeiter*innen von Google und anderen Tech-Unternehmen Googles private Shuttle-Busse von San Francisco und Okaland ins Silicon Valley. Rund um die Haltestellen dieser Shuttle-Busse gehen die Mieten und Immobilien-Preise durch die Decke. 3.300 Dollar durchschnittliche Miete für ein Single-Appartment kann sich außer den hochdotierten Techies keiner leisten. Linke Gruppen, die für bezahlbaren »Wohnraum für alle!« kämpfen, haben das zum Anlass genommen, die Busse zu blockieren und anzugreifen. Die Anti-Vertreibungskämpfe sind seitdem fest verankert in San Francisco, der Stadt, die so gern Prototyp für eine Smarte City sein möchte. Tatsächlich war Google empfindlich getroffen - in einer Disziplin, die so gar nicht ihre ist – soziale Verantwortung übernehmen in der »analogen Welt«. Vermutlich war der Imageschaden schnell algorithmisch eingepreist. Zumindest sah sich Google gezwungen, einiges an Geld für öffentliche Ausgleichsprojekte in die Hand zu nehmen. Das Projekt Smart City ist übrigens auch im europäischen Pendant Barcelona ohne soziale Auseinandersetzung um Vertreibung nicht denkbar. Das ist doch auch klar, der Ausschluss der überflüssigen, weniger smarten Bevölkerung ist inhärenter Teil des Konzepts um die vermeintlich intelligente Stadt. Wir sollten Smart Cities endlich als Kampfansage wahrnehmen und nicht nur als bedeutungslose Hochglanz-Projektionen einer vollvernetzten Stadt, in der die Überwachung lästig sein wird, aber sich sonst qualitativ nicht all zu viel ändern wird. »Wir wollen unsere Möglichkeiten des Widerstands gegen den technologischen Zugriff auf unsere Autonomie in den Mittelpunkt stellen.« So ist es im Reader zur Konferenz formuliert. Worauf läuft das hinaus - eine Autonomie ohne Internetanschluss, ohne alltagsvereinfachende Gadgets? Eva Brettner: Der Preis für den Zugewinn an Bequemlichkeit und die »Freiheit« des Power-Konsument*in-Seins in Dauer-Verfügbarkeit aller Informationen und Dienstleistungen ist mit dem Verlust an Selbstbestimmung eindeutig zu hoch. Wir fordern daher eine kritische Debatte über die gesellschaftspolitische Wirkung eines BigData-getriebenen kybernetischen Kapitalismus. Was die Zuspitzung in deiner Frage angeht: Wir fordern keine digitale Entsagung – das wäre Quatsch wir fordern aber ein redlicheres Abwägen zwischen der vermeintlichen Bereicherung versus Entmündigung und Entfähigung durch diese Technologie. Uns geht es nicht um das Heraufbeschwören einer unverfälschten, vermeintlich echten Sozialität mit Retro-Faktor ohne soziale Netzwerke und Smartphone. Mir selbst wäre es sogar ziemlich egal, mit welchen schrulligen Devices wir uns in einer befreiten Gesellschaft die Zeit vertreiben. Ganz und gar nicht egal ist mir die über diese Technologie erzeugte Ungleichheit, die rasant zunimmt und immer mehr gesellschaftlich Abgehängte und reichlich unsmart aus der Smartifizierung Entlassene produziert. Die Bedingungen für Befreiung werden ohne eine Abwehr des technologischen Angriffs deutlich schlechter. Marx hatte in den »Grundrissen« die Maschinerie als »die adäquateste Form des Kapitals überhaupt« bezeichnet und in der Dynamik ihres Einsatzes zugleich etwas gesehen, das den Kapitalismus unterwandert - nach dem Motto: »Je fortschrittlicher der Kapitalismus wird, umso weniger wird er kapitalistisch.« Das schlägt sich derzeit in Diskussionen wie etwa der um die Akzelerationisten nieder - eine sinnvolle Debatte? Eva Brettner: Da muss ich den Akzelerationisten entscheiden widersprechen. Die glauben in den gegenwärtigen Formen des Kapitalismus Kräfte zu erkennen, die zu seiner Überwindung hilfreich sein können. Wir müssen raus aus der völlig unpolitischen Blindheit, diese lustigen Gadgets und unser Eingewoben-Sein ins Netz wären einfach nur eine Etappe eines »neutralen« technologischen Fortschritts. Wir halten es für notwendig, uns gegenüber dem technologischen Angriff zur Wehr zu setzen, Widerstand zu organisieren und globale Player des Geschäfts mit der Entmündigung direkt anzugreifen. Wir müssen Möglichkeiten entwickeln ein kollektives Nein spürbar werden zu lassen. Google kennt übrigens ein solches Nein, auch wenn Eric Schmidt als ehemaliger CEO keine politischen Gründe vermutet wenn er sagt: »Die Google-Unternehmenspolitik ist es, bis genau an die Grenze zu gehen, wo es den Leuten unheimlich wird, aber nicht darüber hinaus.« Bei der Einführung von Google glasses in den USA gab es einen solchen Moment – die Dauerobservationsbrille mit Netzanbindung kam über eine kleine aber populäre und teils handgreifliche Kampagne gegen glassholes in Verruf. Die Brille kam über die Auslieferung an Entwickler nicht hinaus und wurde vorerst eingestampft. Auch AirBnB bekommt in SanFrancisco heftigen Gegenwind – aus den gleichen Gründen wie Ferienwohnungsanbieter in Berlin, die ihre Wohnungen entmieten um beim Kurzfrist-Vermieten fetter abzusahnen. Das treibt die Mieten der zu wenigen verbleibenden Wohnungen. Gibt es eine Option auf Autonomie, die sich eine »unabhängige« Nutzung von Technik erkämpft? Eva Brettner: Das ist zumindest die Zielsetzung eines großen Teils der Hackerbewegung. Die Free-Software-Bewegung, die deutlich über den zu kurz greifenden Ansatz des »open source« Standards hinaus geht, sieht sich in dieser Tradition. Die internationalen Kämpfe gegen Vorzugsbehandlung im Netz (Netzneutralität) und die Bemühungen um ausreichend starke Kryptografie gehören ebenso dazu. Vermutlich würden ohne das von Aktivist*innen entwickelte und besonders gesicherte Betriebssystem TAILS (The amnesic incognito live system) viele politisch Aktive den Verfolgungsbehörden ins Netz gehen. Das hält uns eine Weile über Wasser - immerhin hat selbst einer der am stärksten verfolgten, nämlich Edward Snowden in der Phase seines Abtauchens mit diesem Betriebssystem kommunizieren können ohne seien Aufenthaltsort preiszugeben. Das sind notwendige, konstruktive Abwehrmaßnahmen gegen die Überwachungs- und Manipulations-Übergriffe von Staat und Tech-Industrien. Eine Bewegung, die sich um freie digitale Hard- und Software bemüht, ist absolut notwendig. Aber, sie ist absehbar nicht ausreichend angesichts der Massivität des technologischen Angriffs. Vielleicht, weil viele gar nicht wissen oder sich vorstellen können, wie so eine Bewegung aussieht? Eva Brettner: Dazu vielleicht noch einmal unser Beispiel von vorhin – die bevormundende Krankenversicherung, die unsere Alltagsbemühungen um ein gesundes Leben ausforschen und fremdbestimmen möchte: Einzelne Techniken können wir leicht »befreien«, sie ihrer ursprünglich zugedachten Bestimmung entreißen, sie »hacken«. Jedem würden auf Anhieb soziale »Hacks« der vorhin erwähnten Fitnessarmbänder einfallen, die wir ganz ohne Programmierkenntnisse umsetzen könnten. Wir könnten damit erfolgreich unserer Krankenversicherung ein anderes Fitnessbemühen vortäuschen und den billigeren Tarif ergattern. Die gesellschaftliche Normierung über die Technologie, die auf »freiwillige« Selbstoptimierung abzielt, würden wir damit aber nicht angreifen! Das ist ein wesentlicher Unterschied - Technologien zu hacken ist ein schwierigeres Unterfangen und setzt ein Bewusstsein für den technologischen Angriff nicht nur bei den Hackern sondern gesamtgesellschaftlich voraus. Deswegen brauchen wir auch eine diskursive Abwehr des technologischen Zugriffs weit über Methoden der Selbstverteidigung hinaus! Noch ein Zitat: »Die Frage nach den neuen Technologien ist die Frage nach der Möglichkeit einer sozialen Revolution, die den Wahnsinn stoppt.« Das heißt doch auch: Aufstand gegen die Zukunft, oder? Eva Brettner: Ja genau – Aufstand gegen diejenigen, die uns eine völlig fremdbestimmte Zukunft bescheren möchten – und zwar nicht als Kollateralschaden sondern als deren politisches Projekt. Ich versuch's vielleicht nochmal: Mit dem Wahnsinn meinen wir unter anderem die Appifizierung sämtlicher sozialer Verhältnisse und unser bewusstloses Mittrotteln als Bequemlichkeits-verblendete »User«. Obwohl wir genau wissen und mittlerweile im Feuilleton täglich in die Augen gerieben bekommen, dass Überwachung nicht mal annähernd das beschreibt, um was es eigentlich geht: die manipulative Reorganisierung unserer sozialen Beziehungen, unseres Denkens und Handelns. Die sozialen Auseinandersetzungen finden praktisch jetzt statt: um Regeln für die Lohnarbeit unter den Bedingungen von Industrie 4.0 etc; die Regeln für den Einsatz von KI, von autonom fahrenden Autos etc. Ist das ein Kampffeld für radikale Linke, etwa im Bündnis mit Gewerkschaften, frei assoziierten Crowdworkern etc.? Oder nicht? Eva Brettner: Unbedingt! Wenn wir über eine politischen Angriff auf das Weihnachtsgeschäft von Amazon nachdenken, dann ja nicht in erster Linie wegen deren Strategie der tödlichen Umarmung mit der sie jeglichen Konkurrenten vom Markt verdrängen oder schlucken, sondern in erster Linie wegen Jeff Bezos Verständnis von der uneingeschränkten Ausbeutbarkeit seiner Angestellten unter dem Kommando algorithmischer Optimierung der Arbeitsprozesse. Hier gibt es viele Überschneidungspunkte mit den Bemühungen von Ver.di, die seit vier Jahren versuchen, Amazon zumindest den besser bezahlten Einzelhandelstarif aufzudrücken. Der unterschiedlich hoch prognostizierte Wegfall von zwischen 30 und 50 Prozent aller Arbeitsplätze (branchenübergreifend!) in den nächsten zwei Jahrzehnten ist in jedem Fall als Kampfansage zu werten. Der Wegfall von Arbeitnehmer*innenrechten in den verbleibenden und in den deutlich weniger hinzu kommenden neuen Jobs auf der Basis digitaler Tagelöhner wird eine entscheidende Auseinandersetzung um soziale Standards der nächsten zehn Jahre sein. Hier sollten sich Hacker, Technologiekritische Autonome und Aktivist*innen, die sich lieber ohne Label bewegen auf jeden Fall einmischen! Wir hoffen da auf der Konferenz einen praktischen Schritt weiter zu kommen. Eröffnet die moderne Technik auch Möglichkeiten für neue Protest und Widerstandsformen? Eva Brettner: Durchaus – wir sollten sie auch aktiv und offensiv nutzen, ohne zu verkennen, dass die derzeitige »Nettobilanz«: Bereicherung unserer Widerstandsoptionen versus Beschneidung unserer unkontrollierten Handlungsspielräume für den absolut überwiegenden Teil an Computer-Nicht-Expert*innen eindeutig negativ ausfällt! Starten wir mit dem Whistleblowing – überhaupt keine neue aber eine neuerlich deutlich weiter verbreitete Widerstandsform. Sie ermöglicht Leuten zum politischen Subjekt zu werden, ohne sich offen zur Dissidenz bekennen zu müssen. Ich kann jahrelang im Apparat Informationen leaken, also raussickern lassen, ohne mich zu outen. Wir sollten diese Form noch populärer machen. Alle kennen Wikileaks, die meisten wissen aber nicht wie mensch einen wirklich anonymen Kontakt dorthin aufbaut. Der Heise-Verlag hat im letzten Monat eine weitere Plattform eröffnet, die es »Geheimnisträger*innen« leichter ermöglichen soll, anonym widerständig zu werden. Wie bedrohlich der US-amerikanische Staat das Whistleblowing einstuft, sehen wir an der Haftstrafe von Chelsea Manning, die für 35 Jahre weggesperrt werden soll, sollte sie überhaupt so lange die folterähnlichen Haftbedingungen durchstehen. Wir sollten hier den Vorschlag einiger Computer-Aktivist*innen aufgreifen und am 17.12. diesen Jahres – dem Geburtstag von Chelsea – einen Whistleblowing Aktionstag in vielen Städten machen. Hier könnten wir auf Veranstaltungen mit ihnen gemeinsam und zusammen mit Anti-Knast-Bewegung und Antimilitarist*innen die Möglichkeiten und Limitierungen des Leakens diskutieren, praktische Anleitung geben, wie mensch sich via vorhin erwähntem TAILS anonym an eine solche Plattform wendet und wie wir Chelsea weiter unterstützen können. Einen Schritt weiter gehen Hacker, beim Besorgen von Geheimnissen oder der Sabotage des politischen Gegners. Eine, oder mehrere Hacker*innen, die sich Phineas Fisher nennen, haben eine der großen Cyberwaffenschmieden, die italienische Firma HackingTeam gehackt und alle Firmenmails und den Quellcode de Schnüffelsoftware offengelegt. Ein gigantischer Schaden, setzt die Schnüffelsoftware doch darauf unbemerkt! von Virenprogrammen und sonstigen Sicherheitssystemen massenhaft Rechner zu befallen. Die gleiche Gruppe hatte zuvor auch den britisch-deutschen Trojanerhersteller FinFisher gehackt und bekannte sich auch kürzlich zum Klau von 300.000 E-Mails der türkischen Regierungspartei AKP. Detaillierte Erklärungen, wie die Hacker*innen-Gruppe das angestellt hat sollen als »Anleitung für alle, die nicht die Geduld haben, auf den nächsten Whistleblower zu warten« dienen. In einem anonymisierten Interview hat sich Phineas folgendermaßen geäußert: »Hacking gives the underdog a chance to fight and win.« Zur Jahrtausendwende gab es eine in der Bundesrepublik initiierte Online-Demonstration gegen das Abschiebegeschäft der Lufthansa. Gäbe es heute vergleichbare Aktionen? Eva Brettner: Amazon nicht nur bei der Auslieferung zu blockieren, sondern die Erreichbarkeit seiner wesentlichen Dienste (Webservices und Online-Verkaufsplattform) zu beeinträchtigen wäre ein gelungene Weiterentwicklung der damaligen Online-Demonstration. Allerdings zugegeben auch ein deutlich größerer Gegner, was die Web-Resourcen angeht. Was wäre ein denkbares Szenario? Eva Brettner: Stellt dir vor, europaweit finden Streiks in den großen Distributionszentren von Amazon statt. Die Zufahrtswege sind blockiert, LKWs kommen weder rauf aufs Gelände noch runter. Auf Bannern steht: »Wir sind keine Roboter!« Solidarische Kund*innen verstärken den Streik indem sie vermehrt Bestellungen ab- und wieder zurück schicken und den Paketen solidarische Botschaften an die Belegschaft beilegen. Kundgebungen vor der Unternehmenszentrale, den Call-Centern von Amazon und den neuen Innenstadt-Versandlagern in Berlin, München oder Dortmund treffen das Unternehmen sensibel: Wahrnehmbar schlechte Publicity und ernsthafte Störung der Zustellung, die so sehr auf Reibungslosigkeit »auf den letzten Metern« setzt. Der Deutschland-Chef Ralf Kleber wird beim öffentlichen Auftritt getortet, die Homepage von Amazon gehackt. Zum ersten Mal in der Geschichte von Amazon kann das Unternehmen keine Informationen über seine Kund*innen sammeln. Selbst die Crowdworking-Plattform für unterbezahlte Clickworker und digitale Arbeitsnomaden hakt. Buchläden hängen Plakate gegen die Tyrannei von Amazon in ihre Schaufenster und in der Branche des Einzel- und Versandhandels stehen Beschäftigte solidarisch für die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen ein. Was ich mit diesem - zugegeben derzeit nicht leicht zu organisierendem - Szenario ausdrücken will, ist dass eine Unterscheidung in digitale und analoge Welt obsolet geworden ist und dass der Widerstand daher ebenfalls beide Formen zusammen denken und stärken sollte. Muss die Linke mehr über Technik wissen? In den aktuellen Debatten führen gesellschaftlich betrachtet andere das Wort. Hängt das auch mit mangelnder Kenntnis zusammen? Eva Brettner: Mehr Kenntnisse können nie schaden – aber der Grund warum die Linke bisher so wenig auf den technologischen Angriff reagiert hat, liegt eher an unserem geringen politisch-ökonomischen Verständnis von technologischer Innovation als an zu geringen IT-Kenntnissen. Ich glaube, dass unsere eigene Verwobenheit es vielen von uns besonders schwer macht, eine schonungslosen Sicht auf den offensiv zerstörerischen Charakter dieser Technologie einzunehmen. Dass es um die Zerstörung alter überkommener und schlechter beherrschbarer sozialer Strukturen und Gewohnheiten geht - zugunsten von leichter verwert- und manipulierbaren, isolierten Individuen in digitalen sozialen Netzwerken. Ein konservativer, hellwacher Frank Schirrmacher von der FAZ hat diese umfassende Dimension des Angriffs auf unser gesamtes Leben deutlich früher erkannt als der Großteil der sogenannten Linken. Sich wehren setzt voraus, zu begreifen, worauf der technologische Angriff abzielt, was durch diese Technologie mit uns geschieht, die Vorstellung von einem würdevollen Leben zu haben und die Lust mit anderen ein soziales Leben zu leben. Das Gespräch haben Niels Seibert und Tom Strohschneider per E-Mail geführt.
Redaktion nd-aktuell.de
Hat der technologische Fortschritt Befreiungspotenziale? Nein, sagt Eva Brettner. Das Internet der Dinge, Industrie 4.0, Smart City sind vielmehr aktuelle technische Ausprägungen einer technologie-basierten Herrschaftsstrategie.
Automatisierung, Digitalisierung, Internet, Kapitalismuskritik, linke Bewegung, linke Parteien, Technik, Technologie, Überwachung
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1027037.ein-umfassender-angriff-auf-unser-gesamtes-leben.html
Trump bezeichnet Comey als »feige«
Washington. Nach der Aussage des früheren FBI-Direktors James Comey rückt Justizminister Jeff Sessions in der Russland-Affäre in den Fokus. Er erklärte sich am Wochenende dazu bereit, am Dienstag vor dem Geheimdienstausschuss des US-Senats auszusagen. Präsident Donald Trump bezichtigte Comey der Lüge und wies die von ihm erhobenen Vorwürfe vehement zurück. Der von Trump gefeuerte FBI-Chef hatte am Donnerstag vor dem Geheimdienstausschuss des US-Senats ausgesagt und den Präsidenten dabei mehrmals als Lügner dargestellt. Er untermauerte Vorwürfe einer Einflussnahme Trumps auf die Russland-Ermittlungen des FBI. Die Behörde untersucht Verbindungen zwischen Mitgliedern aus Trumps Wahlkampfteam und Moskau. Comey deutete in der Anhörung auch an, dass Justizminister Sessions noch mehr Gründe gehabt habe, sich aus den Russland-Ermittlungen herauszuhalten. Zu diesem Schritt hatte sich der Justizminister im März entschlossen, nachdem bekannt geworden war, dass er sich entgegen einer früheren Aussage zwei Mal mit dem russischen Botschafter Sergej Kisljak getroffen hatte. Wie der Sender CNN berichtete, verschwieg Sessions auch ein drittes Treffen mit Kisljak während des Wahlkampfs. Das soll Comey dem Senatsausschuss im nicht-öffentlichen Teil der Sitzung gesagt haben. Sessions kündigte an, am Dienstag vor dem Geheimdienstausschuss aussagen zu wollen. Eigentlich hätte er an diesem Tag in einem anderen Ausschuss über den Haushalt sprechen sollen. Weil mehrere Senatoren bereits angekündigt hätten, ihm Fragen zu Comeys jüngsten Aussagen zu stellen, wolle er diese nunmehr »in einem angemessenen Forum ansprechen«. Unklar blieb zunächst, ob er in öffentlicher Sitzung aussagt. Die Folgen von Comeys öffentlicher Aussage sind noch nicht absehbar. Eine zentrale Frage ist, ob seine Entlassung selbst sowie Trumps Äußerungen zu den Ermittlungen gegen den Ex-Sicherheitsberater Michael Flynn eine Behinderung der Justiz darstellen. Trump sieht diesen Vorwurf als entkräftet an. Er erklärte, anders als Comey behaupte, habe er diesen nicht gebeten, die Ermittlungen des FBI gegen Flynn einzustellen. Er habe von Comey auch kein Loyalitätsversprechen verlangt, wie dieser ausgesagt hatte. Der Präsident machte klar, dass er sich nach der Aussage vollständig rehabilitiert sieht. Commey hatte am Donnerstag unter Eid ausgesagt. Trump erklärte sich dazu bereit, dies ebenfalls zu tun. Der Präsident bezeichnete den Ex-FBI-Chef am Sonntag als »feige« und unterstellte ihm, für noch mehr Enthüllungen verantwortlich zu sein. Er glaube, dass die Comey-Enthüllungen viel verbreiteter seien, »als man es jemals für möglich gehalten hätte«, schrieb Trump im Kurznachrichtendienst Twitter. Er fügte hinzu: »Total illegal? Sehr «feige!»«. Comey hatte in der Anhörung zugegeben, dass er hinter einer Enthüllung über ein Gespräch zwischen ihm und dem Präsidenten steht, um so die Einsetzung eines Sonderermittlers zu erreichen. Trump sieht sich mit Fragen konfrontiert, ob von seinen Gesprächen mit dem ehemaligen FBI-Chef im Weißen Haus Aufzeichnungen existieren. Das hatte Trump in einer Twitternachricht angedeutet. Trumpreagierte am Freitag ausweichend. Der Geheimdienstausschuss des Repräsentantenhauses verlangte in diesem Zusammenhang eine baldige Klarstellung: Sollten tatsächlich Aufzeichnungen existieren, solle die Regierung davon bis zum 23. Juni dem Komitee Kopien übermitteln. dpa/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Donald Trump will die für ihn belastenden Aussagen des Ex-FBI-Chefs hinter sich lassen. Aber so schnell wird der Präsident das Thema nicht los. Der Druck auf seinen Justizminister steigt - und der will nun aussagen.
Donald Trump, Russland, US-Präsident, USA
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Angst vor dem Ausbruch
US-Amerikaner lieben Zahlen. Vor allem im Sport. Sie erfinden die wildesten Statistiken und überhöhen zugleich ihren wahren Wert. Das trifft auch auf Basketball zu. Selbst wenn eigentlich nur wichtig ist, welche Mannschaft mehr Punkte erzielt, können Fans der besten Liga der Welt tagelang darüber diskutieren, ob ein Team siegt, wenn es mehr Rebounds holt, mehr Pässe spielt, sich weniger Ballverluste leistet oder einfach nur mehr Geld für gute Spieler ausgibt. Auch vor der neuen Saison, die an diesem Dienstag coronabedingt zwei Monate später als üblich beginnt, geisterten viele Zahlen durch die Fanforen: Da wäre das Rekordgehalt von 228 Millionen Dollar (knapp 190 Millionen Euro), für das der wertvollste Spieler der vergangenen Saison, Giannis Antetokounmpo, jüngst seinen Vertrag bei den Milwaukee Bucks um fünf Jahre verlängert hat. Oder die 72 Partien pro Team, auf die der Spielplan verkürzt wurde. Die wichtigste Zahl aber ist die 1. Bei den ersten Tests vor dem Start in die Vorbereitung Ende November waren gleich 48 Profis, also neun Prozent aller Spieler, positiv auf das Coronavirus getestet worden. In der zweiten Woche kamen acht Fälle hinzu, in der dritten vermeldete die NBA nur noch »1«. Es scheint, die Liga hat das Problem in den Griff bekommen. Dennoch ist die Angst vor dem Virus groß. Die Klubs fürchten weniger schwere Krankheitsverläufe unter den jungen Athleten, sondern eher eine durch Corona-Ausbrüche völlig aus dem Ruder laufende Spielzeit, die mit den Playoffs im Juli erst kurz vor Olympia enden soll. In der National Football League NFL hatte es im November innerhalb von zwei Wochen sogar 156 Coronafälle gegeben. Allerdings spielen die Teams dort nur einmal am Wochenende, so dass nicht so viele Partien ausfallen, wenn eine Mannschaft mal in Quarantäne muss. Dank einiger Nachholspiele ist die NFL wieder auf Kurs. So leicht wäre das bei den Basketballern nicht, denn in der NBA finden in einem zehntägigen Quarantänezeitraum schon mal vier Spiele statt. Nachholspiele können nur schwer terminiert werden. Trotzdem will die Liga den Meistertitel nicht noch einmal in einer isolierten Blase ausspielen. So hatte sie die vergangene Saison beendet. Das soll aber die Ausnahme bleiben. »Es wird positive Tests geben. Du erwartest das einfach«, sagte Nationalspieler Moritz Wagner der Deutschen Presse-Agentur. »Das ist eine Herausforderung. Jeder muss selbst die Verantwortung übernehmen: darauf achten, wie und mit wem man die Zeit abseits des Platzes verbringt«, sagte der Forward, der weiterhin mit seinem deutschen Kollegen Isaac Bonga bei den Washington Wizards spielen wird. Dagegen ist der beste deutsche Spieler aus dem beschaulichen Oklahoma City in die Metropole Los Angeles umgezogen: Dennis Schröder wechselte im Herbst zum amtierenden Titelträger und hat urplötzlich die Chance, nach Dirk Nowitzki der zweite deutsche NBA-Meister zu werden. Immerhin spielt er nun bei den Lakers an der Seite der Superstars LeBron James und Anthony Davis. Und auch wenn Schröder ungern schon vor dem ersten Spiel über die Meisterschaft spricht, weiß er, was von ihm erwartet wird: »Die Organisation will die erfolgreiche Titelverteidigung. Das ist die Mission.« Ob Schröder in Los Angeles endlich wieder in der Startformation stehen wird oder wie zuletzt in Oklahoma eher als Punktesammler von der Bank kommt, wenn die Stars ihre Pausen bekommen, ist noch ungewiss. »Die Bankrolle habe ich hinter mir«, hatte er kurz nach seinem Wechsel zu den Lakers selbstbewusst gesagt. Wenige Tage später klang er zurückhaltender: »Ich versuche, meinen Teamkollegen zu helfen. Was immer nötig ist - ob ich auf dem Boden rutschen muss, einen Rebound holen oder den Ball klauen. Auch auf der Bank sitzen«, sagte der 27-Jährige. Trainer Frank Vogel ist immerhin ein Fan des Deutschen. »Ich liebe die Schärfe, mit der er spielt. Diese gemeine, kämpferische Seite an ihm. Du hasst das als Gegner und du liebst es, wenn er in deiner Mannschaft ist«, sagte Vogel nach der Verpflichtung Schröders. Selbst wenn er ihm keine Startplatzgarantie gab, versicherte der Coach doch: »Er wird einer unserer wichtigsten Spieler und einer mit vielen Minuten auf dem Feld sein.« Offensiv dürfte Schröder kaum wieder auf knapp 19 Punkte pro Spiel kommen wie im vergangenen Jahr. »LeBron hat den Ball seit 17 Jahren in seinen Händen und trifft die Entscheidungen. Ich bin nicht hier, um ihm etwas wegzunehmen. Ich versuche nur, ihm zu helfen, mehr Siege zu bekommen«, weiß Schröder um seine neue Rolle als Edelhelfer. Die größte Wirkung erhoffen sich die Lakers offenbar in der Verteidigung von Schröder. »Wir haben ein paar tolle Spieler dazu bekommen. Dennis kann eine Pest sein gegen den Spieler am Ball«, freute sich Anthony Davis auf seinen neuen Kollegen. Für Schröder und die anderen deutschen NBA-Profis - sechs an der Zahl - zählt jedoch nicht nur der Erfolg in ihren Klubs. Sie wollen im Sommer auch noch bei Olympia dabei sein. Das Problem: Sie sind noch nicht qualifiziert, und durch die Verschiebung der NBA-Saison fällt das entscheidende Qualifikationsturnier nun genau in die Zeit der Playoffs. »Ich hoffe, dass sich da irgendwie eine Regel findet«, sagte Schröder in einem Podcast des Deutschen Basketball-Bundes. Er wolle mit Spielergewerkschaft und Ligaführung eine Option finden, »damit ich da irgendwie mitspielen kann. Das wäre für mich extrem wichtig.« Dass sich die ausländischen Profis mit der Forderung nach einer Pause durchsetzen, ist jedoch unwahrscheinlich. Dazu fehlt ihnen die Macht. Es sei denn, sie streiken und bekommen Giannis Antetokounmpo dazu, mitzumachen. Der ist mit den Griechen auch noch nicht bei Olympia dabei. Auf den teuersten und besten Spieler will vielleicht selbst die NBA nicht verzichten.
Oliver Kern
Zwei Monate später als sonst starten die besten Basketballer der Welt in den USA in ihre Saison. Dennis Schröder ist nach dem Wechsel nach Los Angeles plötzlich Titelanwärter. Dafür muss er aber vielleicht auf die Olympiateilnahme verzichten.
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1146070.nba-angst-vor-dem-ausbruch.html
Kein Plan für Unterbringung
»Als ob Obdachlosigkeit an den Bezirksgrenzen haltmachen würde«, zeigt sich Fatoş Topaç erstaunt gegenüber »nd«. Die Sprecherin für Sozialpolitik und Pflegepolitik der Berliner Grünen-Fraktion hat vom Senat die Antwort auf eine Schriftliche Anfrage zur stadtweiten Unterbringung von wohnungslosen EU-Bürger*innen erhalten, die »nd« exklusiv vorliegt. Sozialträger wie die Berliner Stadtmission berichten schon seit einigen Jahren, dass deren Anteil an den wohnungs- und obdachlosen Menschen in der Hauptstadt immer mehr zunimmt. EU-Bürger*innen stehen im Rahmen der Vereinbarungen zur Freizügigkeit Sozialleistungen zu. Laut den 2019 neu herausgegebenen Leitlinien der Wohnungslosenhilfe soll zudem die Unterbringung nach dem Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz (ASOG) des Landes Berlin so unproblematisch wie möglich allen Wohnungsnotfällen zur Verfügung gestellt werden. Dennoch, das bestätigt die Antwort aus dem Haus von Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke), gibt es gerade bei der wachsenden Gruppe wohnungs- und obdachloser EU-Bürger*innen kein einheitliches bezirkliches Handeln gemäß dieser Vorgaben. In manchen Bezirken dient die Anspruchsberechtigung qua EU-Recht dann auch als Argument für die Nichtversorgung nach dem ASOG. In Steglitz-Zehlendorf etwa »werden EU-Bürger*innen untergebracht, wenn kein Sozialleistungsanspruch besteht«. In Neukölln wird untergebracht, falls keine anderweitige Zuständigkeit für Ausländer*innen oder Asylbewerber*innen beim Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten besteht. In Treptow-Köpenick prüft man bei unfreiwilliger Obdachlosigkeit ungeachtet der EU-Staatsangehörigkeit oder eines ausländerrechtlichen Aufenthaltsstatus. In Reinickendorf gilt »der Grundsatz«, dass es sich bei der bezirklichen Unterbringung nicht um eine soziale Leistung, sondern um die Verhinderung einer »Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung« handele. In Charlottenburg-Wilmersdorf wird nicht untergebracht, sofern eine Zuständigkeit nach den Ausführungsvorschriften in einem anderen Bezirk liegt. In einzelnen Bezirken wird die Unterbringung für zwei Wochen finanziert, in anderen, zum Beispiel Spandau, unbefristet, je nach Prüfung des Einzelfalls. In Tempelhof-Schöneberg verlangt man im Falle der Unterbringung die Mitwirkung der Betroffenen. Eine eher zweifelhafte überbezirkliche Gemeinsamkeit ist der Umstand, dass in einem Großteil der Bezirke keine priorisierte Unterbringung von Familien mit Kindern und Minderjährigen stattfindet. »Am Ende scheint die Bearbeitung im Sinne der Betroffenen davon abhängig zu sein, ob das Anliegen von einer Person mit ausreichend Sensibilität bearbeitet wird, damit am Ende eine bedarfsgerechte Unterbringung steht«, sagt dazu Grünen-Politikerin Topaç. Vieles widerspricht der Auffassung des Senats. »Obdachlosen Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern, die nicht über eine Unterkunft (verfügen), die Schutz vor den Unbilden des Wetters und Raum für die notwendigsten Lebensbedürfnisse bietet, und die sich nicht selbst helfen können, (muss) von den Bezirken als zuständige Ordnungs- und Gefahrenabwehrbehörden ein vorläufiges und unbefristetes Unterkommen geeigneter Art zur Verfügung gestellt werden«, heißt es aus der Sozialverwaltung, vertreten durch Staatssekretär Alexander Fischer (Linke). Die Sachverhalte untermauern auch die Kritik von Sozialsenatorin Breitenbach, die den Bezirken »Wildwuchs« bei den Unterkünften und fehlende Qualitätsstandards vorwirft. Auch deshalb startet im August das Pilotprojekt einer gesamtstädtischen Steuerung zur Unterbringung wohnungs- und obdachloser Menschen - pandemiebedingt verzögert und zunächst in nur zwei Bezirken. So schnell wie möglich soll es auf die gesamte Stadt ausgeweitet werden. Zugleich fehlt es an bedarfsgerechtem Wohnraum, der überhaupt vermittelt werden kann. Breitenbach will im Rahmen der Haushaltsverhandlungen für die erste Hälfte der zukünftigen Legislatur für feste prozentuale Anteile verfügbar gemachter Wohnungen aus dem landeseigenen Bestand sowie zukünftigem Neubau sorgen. »Ich hoffe, es bleibt nicht bei der Postulation ambitionierter Ziele«, erklärt Fatoş Topaç. Sie will Vorgaben durch fachpolitisch erarbeitete Zielvereinbarungen. »Es darf nicht noch fünf Jahre so weitergehen«, stellt sich die Grünen-Politikerin an die Seite der Sozialsenatorin und fordert zugleich eine »klare Führung« bei der Abschaffung von Obdach- und Wohnungslosigkeit. Davon würden alle profitieren - nicht zuletzt die Betroffenen.
Claudia Krieg
Immer mehr EU-Bürger*innen sind in Berlin von Obdachlosigkeit betroffen. Die Bezirke handhaben die Unterbringung nach eigenen Vorstellungen. Das geht auch zu Lasten der Betroffenen.
Berlin, Elke Breitenbach, Europäische Union, Obdachlosigkeit, Wohnen
Hauptstadtregion
Berlin Wohnungslosigkeit
2021-06-23T18:12:35+0200
2021-06-23T18:12:35+0200
2023-01-20T22:03:34+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1153661.wohnungslosigkeit-kein-plan-fuer-unterbringung.html
Nicht überrascht
Es war nur eine Frage der Zeit, bis die afghanische Provinzhauptstadt Kundus in die Hände der Taliban fällt. Nicht zum ersten Mal, denn seit die Bundeswehr im Oktober 2013 das Camp am Flughafen der Stadt aufgab, bauten die Aufständischen ihre Position aus. Schon 19 Monate später im April 2015 begann die Schlacht um Kundus, in der die afghanische Armee nur in den Propagandaerzählungen der Unterstützerstaaten mehrfach obsiegte. Durch die Hintertür bugsierte die Bundeswehr erneut Soldat*innen in die Region. Wegen des von der damaligen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen nicht mehr offiziell vertretenen Stationierung durften die Kräfte nur für maximal drei bis vier Wochen vor Ort bleiben, unterbrachen ihre Präsenz für wenige Tage und kehrten wieder dorthin zurück. Verwundetenabzeichen oder Gefechtsmedaillen nach überstandenen Raketenangriffen gab es nicht, denn das wäre ein Eingeständnis der offenkundig unbedingt nötigen Truppenpräsenz gewesen. Gehen oder bleiben? Eine Antwort auf diese Frage fand die deutsche Politik letztlich nie. An der strategischen Bedeutung der Region hat sich nichts geändert. Nach 20 Jahren Rachefeldzug der USA ist nun belegt, dass die Ziele, auch des deutschen Einsatzes, nur vorgeschoben waren. Das Leben und die Sicherheit der Menschen in Afghanistan waren nicht von Belang, wie der Abzug jetzt beweist. Weder militärische Einsätze noch der Verzicht darauf sind in Afghanistan eine Lösung. Das ist ein unerträglicher Widerspruch und leider auch Alltag in Afghanistan. Die wahren Machthaber regieren bald das Land. Sie gaben die strategische Oberhand nur befristet ab, um bei nächster Gelegenheit wieder zuzuschlagen. Klar ist: Wer weiterhin dorthin abschieben will, Asyl verwehrt und die instrumentalisierten Helfer*innen nur teilweise aufnehmen will, begeht ein Verbrechen an der Menschlichkeit.
Daniel Lücking
Es war nur eine Frage der Zeit, bis die afghanische Provinzhauptstadt Kundus in die Hände der Taliban fällt. Für den deutschen Kriegseinsatz im Norden Afghanistans ist die Eroberung ein Symbol des Scheiterns.
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/1155377.nicht-ueberrascht.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
Individualität statt Anpassung
Ein afrikanisches Sprichwort sagt: »Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.« Das gilt im übertragenen Sinn für alle Lebewesen, deren Entwicklung nicht nur von äußeren Einflüssen, sondern auch von inneren Bedingungen abhängt. Der Mensch macht da keine Ausnahme. Viele unserer Fähigkeiten beruhen auf Strukturen des Gehirns, die sich hauptsächlich während der Kindheit herausbilden. Dabei gibt es jedoch beträchtliche Schwankungen. So lernen manche Kinder relativ früh laufen oder sprechen, andere später, ohne dass man sagen könnte, das eine sei normal und das andere nicht. Für den Schweizer Kinderarzt und Autor Remo H. Largo besteht kein Zweifel: »Jedes Kind hat seinen eigenen Entwicklungsplan und sein eigenes Entwicklungstempo.« Zum Beleg verweist Largo auf die Zürcher Langzeitstudien, an deren Durchführung er selbst jahrelang beteiligt war. Zwischen 1954 und 2005 wurde dabei die Entwicklung von mehr als 900 Kindern von der Geburt bis zum Erwachsenenalter verfolgt. Es zeigte sich, dass die Spielräume für die Entfaltung der individuellen Fähigkeiten bei Kindern erheblich größer sind als zuvor angenommen. Dies zu akzeptieren, fällt Eltern traditionell schwer. Aus Angst, ihr Kind könnte mit anderen nicht mithalten und am Ende gar das Gymnasium verpassen, erhöhen sie frühzeitig den Druck. Durften Kinder vor einigen Jahrzehnten einfach noch Kinder sein, spielen, herumtollen, sich ausprobieren, gilt dies heute als Zeitverschwendung. Stattdessen heißt es: Frühenglisch mit Vier, Mathematik mit Fünf, bei schwächeren Noten in der Schule sofort Nachhilfe, Lernen am Wochenende und in den Ferien. Manche Eltern werden nachgerade panisch, wenn ihre Kinder im Unterricht schwächeln, und suchen professionelle Hilfe bei einem Psychologen oder Psychiater. »Ich habe im Laufe meiner Tätigkeit Tausende von Kindern erlebt, die uns zugewiesen wurden, weil sie von der ›Norm‹ abwichen«, schreibt Largo in seinem faktenreichen und lesenswerten Buch »Das passende Leben«. Von den Eltern sei ihm dabei unausgesprochen der Auftrag erteilt worden, die Kinder wieder »in die Norm zu bringen«. Die Erfolge waren bescheiden, die Folgen häufig gravierend. Da sie die überzogenen Erwartungen ihrer Eltern nicht erfüllen konnten, fühlten sich viele Kinder als Versager, manche verweigerten sich schließlich ganz den Anforderungen der Schule. Wie aus entwicklungsbiologischen Studien hervorgeht, sind Kinder keine passiven Wesen, die sich durch die Umwelt beliebig formen lassen. Sie bestimmen ihre Entwicklung häufig selbst. Weil die meisten Eltern dies jedoch nicht bemerken, zwingen sie ihre Kinder oftmals auf einen »Karriereweg«, der nicht im Einklang mit deren inneren Bedürfnissen steht. Eltern sollten ihren Kindern lieber ein vielfältiges Angebot an Erfahrungen bieten, meint Largo. Davon könne ein Kind jene auswählen, die am besten zu seinen individuellen Bedürfnissen und Neigungen passten. Auch beim Lernen sind Kinder erstaunlich selektiv. Sie saugen nicht wie ein Schwann alles auf, was ihnen geboten wird, sondern nur das, was - ausgehend von ihrem Entwicklungsstand - der Entfaltung ihrer Individualität nutzt. Letztere wird zumeist aus einem Bündel von Kompetenzen gebildet, die sich in ihrer »Mischung« von Individuum zu Individuum unterscheiden. Ein Kind ist zum Beispiel sprachlich begabt, ein anderes musikalisch, ein drittes mathematisch und so weiter. Je eher Eltern bereit sind, Kinder als Individuen wahrzunehmen, die ihrem eigenen Entwicklungspfad folgen, desto größere Lernanstrengungen dürfen sie von ihnen erwarten. »Jedes Kind will lernen und Leistungen erbringen«, so Largo, »aber selbstbestimmt auf seine Weise und in seinem Tempo.« Bezogen auf das gegenwärtige Schulsystem klingen solche Worte beinahe utopisch. Was für Kinder gilt, gilt nicht minder für Erwachsene. Das heißt, auch für Erwachsene bleibt es eine ständige Herausforderung, die eigene Individualität in Übereinstimmung mit der Umwelt zu leben. Nehmen wir einen IT-Spezialisten, der am Arbeitsplatz nicht die Leistungen erbringt, die er von sich erwartet und die seine Vorgesetzten von ihm verlangen. Er fühlt sich dann überfordert und ist häufig erschöpft. Von Seiten des Unternehmens wird in solchen Fällen gern versucht, die Leistung des Betreffenden durch äußeren Druck oder eine motivierende Fortbildung zu steigern. Largo hält dies für den falschen Weg. »Es gilt vielmehr, die individuellen Begabungen eines Menschen zu respektieren und dessen Arbeitsanforderungen mit seiner Leistungsfähigkeit möglichst in Einklang zu bringen.« Denn Menschen sind keine Alleskönner. Jeder von uns hat Schwächen, die sich auch bei größter Anstrengung nicht beheben lassen. Selbst Albert Einstein, der bekanntlich imstande war, komplizierteste physikalische Probleme zu lösen, tat sich ungewöhnlich schwer mit dem Erlernen von Fremdsprachen. Obwohl er über 20 Jahre in den USA lebte, sorgte sein Englisch dort immer wieder für Erheiterung. Auch in ihren Grundbedürfnissen unterscheiden sich die Menschen erheblich. Er habe Leute kennengelernt, schreibt Largo, »die ein extremes Bedürfnis nach Geborgenheit und existenzieller Sicherheit hatten, dann wieder solche, deren große emotionale und existenzielle Unsicherheit mich erstaunt haben«. Wie soll eine Gesellschaft all diese Verschiedenheiten unter einen Hut bringen? Welche Bedingungen wären zu schaffen, damit Menschen ein selbstbestimmtes Leben führen können? Largo hält eine Neuordnung der Arbeitswelt hierbei für unverzichtbar. Denn derzeit erschöpft sich die Arbeit der meisten Erwerbstätigen darin, Aufgaben zu erledigen, die andere ihnen stellen. Eine Alternative bestünde in der Einführung eines Grundeinkommens, welches Menschen die Möglichkeit böte, bei materieller Grundsicherung einer erfüllenden Tätigkeit nachzugehen. Den Einwand, dass man dies nicht finanzieren könne, weist Largo zurück. Man bräuchte nur die »exorbitanten Vermögen« in unserer Gesellschaft umzuverteilen. Zwar sei dafür Mut vonnöten, doch ohne Mut zu neuen Lebens- und Sozialentwürfen werde es in einer globalisierten Welt für viele Menschen keine Zukunft geben. Remo H. Largo: Das passende Leben. Was unsere Individualität ausmacht und wie wir sie leben können. S. Fischer Verlag, 480 S., 24 €
Martin Koch
Wie aus entwicklungsbiologischen Studien hervorgeht, sind Kinder keine passiven Wesen, die sich durch die Umwelt beliebig formen lassen. Sie bestimmen ihre Entwicklung häufig selbst.
Bildungspolitik
Feuilleton
Wissen Erziehung
2017-11-17T14:52:08+0100
2017-11-17T14:52:08+0100
2023-01-22T01:37:01+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1070433.individualitaet-statt-anpassung.html
»Illegale Ausplünderung der Westsahara«
Eure Kampagne gibt es seit 2018. Warum habt ihr sie ins Leben gerufen? Es geht uns vor allem darum, dass die Stimme des sahrauischen Volks bei der internationalen Gemeinschaft Gehör findet. Marokko verbreitet unheimlich viele Fake News und Manipulation im Internet und über die staatlich gelenkten Medien. Sie verbreiten ihre Propaganda und Lügen über den Konflikt, über unsere Befreiungsbewegung Polisario und die Situation in den Flüchtlingslagern. Wir versuchen, dem etwas entgegenzusetzen und die Weltöffentlichkeit über die Problematik und die tatsächliche Lage aufzuklären. Vor allem darüber, dass die Menschen hier zwar das Völkerrecht auf ihrer Seite haben, aber trotzdem immer noch ein Leben im Exil führen müssen. Dieser Zustand dauert jetzt schon über 40 Jahre. Das ist ungerecht. Wer gehört zu eurer Gruppe? Die Idee entstand vor drei Jahren während einer Konferenz zum Thema »Gewaltloser Widerstand« im Camp Smara, die von spanischen Nichtregierungsorganisationen initiiert worden war. Eines der Ergebnisse war die Gründung unserer Gruppe, der junge Leute in den Camps, in den besetzten Gebieten und in der Diaspora angehören. Vor allem für unsere Mitstreiter in den besetzten Gebieten ist es schwer. Sie werden ständig drangsaliert, sichere Kommunikation mit ihnen ist daher ein ständiges Thema für uns. Einige von ihnen sind sehr bekannt. Wenn sie Opfer von Verfolgung werden, können wir das öffentlich machen. Das ist ein gewisser Schutz, aber andere arbeiten in der Illegalität. Sie riskieren tatsächlich, ins Gefängnis geworfen zu werden. Mit eurer Kampagne legt ihr den Schwerpunkt auf eines der Kernprobleme des Westsaharakonfliktes. Ja, absolut. Die illegale Ausplünderung der natürlichen Ressourcen in der Westsahara ist ja sozusagen der Treibstoff für die Okkupation. Marokko versucht auf vielfältige Weise, die Besatzung zu »normalisieren«. Das tut es vor allem, indem ausländische Investoren und Unternehmen an diesem Raubbau beteiligt werden. Außerdem wird der Bereich der erneuerbaren Energien benutzt, um der Besatzung einen grünen Anstrich zu geben und diese reinzuwaschen. Damit wollen sie die Welt glauben machen, dass es keine Besatzung ist, sondern dass dort Wohlstand herrscht und alles im Interesse der dort lebenden Menschen geschieht. Aber das ist völliger Unsinn. Die Hälfte der Sahrauis lebt im Exil, in den Lagern oder in der Diaspora. Niemals haben Firmen oder Investoren diese Menschen nach ihrer Meinung gefragt oder gar ihr Einverständnis eingeholt. Niemals wurde hinterfragt, ob ihnen die Bodenschätze und Reichtümer zugutekommen. Wir hier in den Lagern sind völlig von humanitärer Hilfe abhängig, während unsere Heimat extrem reich ist. Mit ein paar Schiffsladungen Phosphat könnte man für ein ganzes Jahr Hilfslieferungen in die Camps bezahlen. Um welche Ressourcen geht es vor allem? Phosphat ist der wichtigste Bodenschatz in der Westsahara. Allein in der Mine von Bou Craa befindet sich ein Viertel der gesamten Weltreserven. Marokko selbst hat auch eigene Vorkommen, aber es rührt diese nicht an, sondern bedient sich seit Jahren ungefragt am sahrauischen Phosphat. Aber durch Kampagnen und Protestaktionen ist die Zahl der Firmen, die da mitmachen, zurückgegangen: 2017 waren es elf Unternehmen und heute sind es noch drei. Eine Firma davon gehört dem marokkanischen Staat, hat aber ihren Sitz in Indien. Die beiden letzten Unternehmen, die hier noch mit Marokko zusammenarbeiten, sind Ravensdown und Ballance Agri-Nutrients in Neuseeland. Sie importieren die größte Menge an Phosphat aus der Westsahara. Dagegen richten sich unsere Aktionen in den Social Media und mit Aktivisten vor Ort. Unsere Protestaktionen haben die einlaufenden Schiffe begleitet, Werkstore wurden blockiert. Derzeit wächst die Bewegung und hat weiter Zulauf. Auf welche anderen Länder, die derlei illegale Aktivitäten ihrer Firmen dulden, konzentrieren sich eure Aktionen noch? In der Fischerei ist Spanien ganz oben dabei. Es gibt zahlreiche Unternehmen, die am Raub vieler Fischarten beteiligt sind. Im Abkommen zwischen der Europäischen Union und Marokko geht es um Fisch, der zu 90 Prozent aus den Gewässern der Westsahara geholt wird. Die sahrauische Gemeinschaft in Spanien ist sehr groß, daher liegt hier auch unser Fokus. Hier können wir viele Leute mobilisieren. Unsere Informationen gelangen so zu Gruppen in der Zivilgesellschaft, die uns dann unterstützen. So informieren wir auch über das, was im Bereich grüner Energien passiert. Da hat auch die deutsche Firma Siemens Energy ihre Finger im Spiel. Deren spanische Tochterfirma Siemens Gamesa ist der größte Investor für Windparks und Solarenergie in der Westsahara. Marokko plant, ab dem Jahr 2030 die Hälfte seiner aus Sonnenkraft gewonnenen Energie aus den besetzten Gebieten zu holen. Was Siemens da tut, ist wirklich beschämend. Aber das ist nicht alles: Siemens Gamesa arbeitet auch mit der marokkanischen Staatsfirma OCP zusammen, die die Phosphatmine in Bou Craa betreibt. Damit unterstützt Siemens eindeutig die Ausplünderung. Das ist nicht gut fürs Image. Wie reagieren die Firmen, wenn ihr sie mit ihrem Handeln konfrontiert? Sie argumentieren, dass es den Leuten vor Ort zugutekäme, dass es sich nur um ein »umstrittenes« Gebiet handele. Aber das ist es nicht, es handelt sich um ein besetztes Territorium. Im Fall Siemens haben wir bisher gar keine Antwort bekommen. Es wäre gut, wenn wir unsere Aktionen auch auf Deutschland ausweiten würden, denn dort ist ja der Firmenhauptsitz von Siemens. Wenn sie wirklich Wert auf ihren guten Ruf legen, dann müssten sie sich aus der Westsahara zurückziehen. Aber stattdessen sind sie dabei, Millionen Summen zu investieren. Dabei unterstützen sowohl der Europäische Gerichtshof (EuGH) als auch das Völkerrecht die Position der Sahrauis und sagen ganz klar, dass wir gefragt werden müssen, anstatt uns einfach zu berauben. Es ist eine Schande, denn diese illegalen Aktivitäten stehlen den kommenden Generationen von Sahrauis die Zukunft. Die Sache ist ganz klar: Fragt uns, ob wir damit einverstanden sind! Wenn ihr das nicht tut, ist das, was ihr macht, einfach Diebstahl.
Claudia Altmann
Marokko beutet systematisch die Naturressourcen der Westsahara - und verstößt damit gegen das Völkerrecht, denn Marokko hat die Westsahara 1975 besetzt und die Einwohner vertrieben. Ein Aktivist kämpft gegen diese illegale Praxis.
Spanien, Westsahara
Politik & Ökonomie
Politik Marokko
2021-11-23T17:56:18+0100
2021-11-23T17:56:18+0100
2023-01-20T20:05:22+0100
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1158908.marokko-illegale-auspluenderung-der-westsahara.html?sstr=westsahara
Wachstums- oder Reichtumsförderung?
Silvester dürften in den feinsten Kreisen die Champagnerkorken noch lauter als sonst knallen, weil das Wachstumsbeschleunigungsgesetz vielen Reichen und Wohlhabenden neuerliche Steuererleichterungen beschert. Die darin enthaltenen »Korrekturen« der Unternehmen- und Erbschaftsteuerreform werden von der breiten Öffentlichkeit weniger wahrgenommen als massive Senkungen des Spitzensteuersatzes oder die Abschaffung der Gewerbesteuer, wie sie die FDP fordert. Deshalb weicht Schwarz-Gelb eher Regelungen auf oder nimmt sie ganz zurück, die ein drastisches Absinken des Steueraufkommens im Unternehmensbereich durch Finanzmanipulationen der Konzerne verhindern sollten. Dies gilt für die Einführung der »Zinsschranke« und der Mindestbesteuerung sowie für die zeitweilige Aussetzung der degressiven Abschreibung. Ungefähr zur selben Zeit, als das Bundesverfassungsgericht am 20. Oktober 2009 darüber verhandelte, ob B... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Prof. Christoph Butterwegge
Das Wachstumsbeschleunigungsgesetz kommt vor allem Besserverdiendenden und Begüterten zu Gute. Die Situation sozial Benachteiligter wird durch die Wirtschaftspolitik von Schwarz-Gelb dagegen nicht besser.
Sozialpolitik, Wirtschaftspolitik
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/161524.wachstums-oder-reichtumsfoerderung.html
Zulieferer in der Zwickmühle
Die Geschäfte laufen schlecht. Die Manz AG in Reutlingen, laut Firmenwerbung »weltweit agierender Hightech-Maschinenbauer«, machte im ersten Quartal ein Minus von 6,7 Millionen Euro – ein Zehntel des Umsatzes. Auch die Jahre davor liefen nicht rund. 2021 stand ein Verlust in den Büchern, 2020 ein minimaler Gewinn, 2019 und 2018 schlossen mit Minuszahlen ab. Das mittelständische Unternehmen mit seinen 1400 Beschäftigten lebt von Lieferungen an die Autoindustrie. Und damit steckt Manz wie viele andere Zulieferer der Branche in einer Zwickmühle. Das prominenteste Beispiel ist Mahle: In einem öffentlichen Schlagabtausch hatte das schwäbische Unternehmen im April von den Autokonzernen finanzielle Hilfen gefordert. Angesichts der Russland-Krise sollten die »OEM« (engl. Abkürzung für Erstausrüster, in der Autobranche übliche Bezeichnung für Hersteller) ihren Lieferanten unter die Arme greifen. In den vergangenen beiden Jahren habe Mahle die Pandemie-Belastungen, die gut drei Prozent des Umsatzes betrafen, zum großen Teil übernommen. Der Mangel an Bauteilen und Chips führte zu Kurzarbeit und Produktionsstopps. Zudem stiegen die Kosten für Energie, Rohstoffe und Transport stark an. Daher seien jetzt Autohersteller und Zulieferer gemeinsam gefordert, über eine faire Lastenverteilung aus dieser schwierigen Situation herauszufinden. Anders als die Zulieferer steigerten die »OEM« ihre Profite. Mercedes legte einen Quartalsgewinn von fünf Milliarden Euro vor. BMW und Volkswagen verdienten trotz zeitweise stillstehender Fließbänder und sinkender Absatzzahlen ebenfalls prächtig. Wegen des knappen Angebots müssen sie kaum Rabatte gewähren, und ihre Produktion konzentrieren sie auf teure, gewinnträchtigere Großraumwagen. Mercedes hat sogar angekündigt, sein Kompaktwagensegment von sieben auf vier Modelle zu schrumpfen. Bisher seien die kleineren Pkw zum Einhalten sinkender CO2-Emissionsgrenzwerte gebraucht worden, gestand Vorstandsboss Ola Källenius. Mit dem nun beschleunigten Umschwung zu Elektroautos gelte diese Gleichung nicht mehr. Über diese »asymmetrische Profitabilitätsverteilung« müsse gesprochen werden, fordert Mahle-Finanzchef Michael Frick. Zuvor hatte er sich mit einem Brandbrief an seinen Großkunden Mercedes gewandt. Der ließ »Kolben-Mahle« abblitzen: »Was die Profitabilität angeht: Jeder ist für sich verantwortlich«, wird ein Mercedes-Vorstand zitiert. Der Kolbenhersteller ist mit seiner hohen Abhängigkeit von Verbrennungsmotoren ein typischer Fall des Strukturwandels. Derzeit erwirtschaftet Mahle noch 40 Prozent seines Umsatzes damit, Ende des Jahrzehnts soll der Verbrenneranteil immer noch 25 Prozent betragen. Klimafreundlichere Technologien werden zwar ausgebaut, aber die Gewinnspanne mit Teilen für Elektroantriebe werde noch lange nicht die von Verbrennertechnik erreichen, zumal der Konkurrenzkampf mit neuen Produkten hart sei, erklärte Frick. Mahle mit seinen 70 000 Beschäftigten ist kein Einzelfall. Inzwischen verdient die einstige deutsche Vorzeigebranche kaum noch Geld. Dazu komme, dass bei der Transformation zur Elektromobilität und zum autonomen Fahren in den Unternehmen häufig ein Kampf zwischen Veränderungswilligen und Skeptikern stattfinde, wie das »Handelsblatt« berichtet. Die Crux: Das Tempo des Umstiegs auf E-Autos ist von Land zu Land unterschiedlich. Autos und Lastwagen mit Verbrennungsmotoren werden also noch lange Zeit auf vielen Straßen unterwegs sein, zeigt sich Frick überzeugt. Mahle will daher »die Rolle des aktiven Konsolidierers einnehmen«. Soll heißen, die großen Zulieferer werden die kleinen schlucken. Im vergangenen Jahr hatte Mahle aber vergeblich versucht, den Zulieferer Hella zu übernehmen, wurde dabei vom französischen Konzern Faurecia ausgestochen. Für die nähere Zukunft ist die Arbeitsgemeinschaft Zulieferindustrie »pessimistisch«. Der Verband vertritt 9000 Firmen in Deutschland mit etwa einer Million Beschäftigten, mehr als die Hälfte des Umsatzes wird mit der Automobilindustrie erlöst. Insbesondere für kleinere und mittlere Firmen spitzt sich die Lage zu, sorgt sich auch die IG Metall. Viele verfügten nur über einen sehr eingeschränkten Abnehmerkreis – falle einer der Kunden weg, könne dies fatale Folgen haben. Derweil scheinen große Zulieferer wie Knorr-Bremse in München, Weltmarktführer für Bremssysteme, oder der zweitgrößte deutsche Automobilzulieferer ZF Friedrichshafen den Wandel besser zu verkraften. Die Nummer eins, Bosch, kündigte sogar Preiserhöhungen an. Wer für die OEM »systemrelevant« ist, dürfte selbst als Kleiner künftig von den Autoherstellern unterstützt werden. Wie die Manz AG: An dem Spezialisten für Lithium-Ionen-Batterien beteiligt sich einer der weltweit größten Nutzfahrzeughersteller, Daimler, als Ankeraktionär. Über Batteriezellen zu verfügen, die den speziellen Anforderungen in Lastkraftwagen und Bussen gerecht werden, sei, so Vorstand Andreas Gorbach, für Daimler »elementar«.
Hermannus Pfeiffer
Digitalisierung, E-Mobilität, Klimaneutralität: In kaum einer anderen Industrie ist der Transformationsdruck so groß undvielfältig wie in der Automobilbranche. Die großen Zulieferer dürften damit besser zurechtkommen.
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt Industrie
2022-05-26T16:01:02+0200
2022-05-26T16:01:02+0200
2023-01-20T18:23:52+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1164081.industrie-zulieferer-in-der-zwickmuehle.html
Feinde der Demokratie
Das bekannte Wahlkampfmotto des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump lautet »Make America Great Again« (Amerika wieder großartig machen), kurz MAGA. In den USA werden republikanische Politiker*innen, die Trump nacheifern und die entsprechende Anhängerschaft MAGA-Republikaner oder auch Trumpist*innen genannt. Was sie auszeichnet, ist ihr Rechtsextremismus – sie stellen die freiheitliche demokratische Grundordnung der USA infrage. In einer Wahlkampfrede, die US-Präsident Joe Biden Anfang September in Philadelphia im US-Bundesstaat Pennsylvania hielt, bezeichnete er die MAGA-Ideologie als »halbfaschistisch«. Man kann MAGA-Republikaner durchaus als faschistisch einordnen: Sie folgen einer autoritären Führerfigur – Trump, ihre Bewegung ist von rechtsextremem und rassistischem Gedankengut durchtränkt, sie leugnen Wahlergebnisse und schrecken auch vor politisch motivierter Gewalt nicht zurück. In seiner Rede sagte Joe Biden auch, dass die meisten Republikaner keine MAGA-Republikaner seien. Doch stimmt das? Umfragen ergeben immer wieder, dass rund 70 Prozent der republikanischen Wählerschaft der – unwahren – Ansicht sind, Joe Biden habe die Präsidentschaftswahl nicht rechtmäßig gewonnen. Auch bei den Zwischenwahlen am 8. November, den Midterms, handelt es sich bei der Mehrheit der republikanischen Kandidat*innen, die auf Bundesebene und in den einzelnen Bundesstaaten antritt, um Wahlleugner*innen. Mehrere dieser Leute, deren Kandidatur von Trump unterstützt wird, verweigern ein klares Bekenntnis dazu, dass sie eine Wahlniederlage anerkennen würden. In einer Umfrage von Anfang des Jahres gaben 40 Prozent der Republikaner an, Gewalt gegen die Regierung anzuwenden, könne möglicherweise gerechtfertigt sein. Den Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 halten 61 Prozent der Republikaner einer anderen Umfrage zufolge für »legitimen Protest«. 71 Prozent der Wählerschaft in den USA gab in einer Befragung an, die Demokratie sei in Gefahr. Als größte Bedrohungen machten die Demokraten-Wähler Trump, den Obersten Gerichtshof und das Wahlleutekollegium aus. Die Republikaner hingegen sehen die Demokratie durch Biden, die US-Leitmedien, die Bundesregierung und die Briefwahl in Gefahr. Wie kommt es zu einem solch verdrehten Weltbild bei den Republikanern? Eine große Rolle in der sich immer stärker radikalisierenden Basis spielen rechte US-Medien. Für eine Studie wurde Proband*innen, die bevorzugt den ultrarechten Fernsehsender Fox News schauen, Geld dafür geboten, dass sie zeitweilig zum Nachrichtensender CNN wechseln. Nach vier Wochen hatte sich etwas bei den Testpersonen geändert: Sie wussten mehr über die politischen Positionen Trumps, schenkten Falschinformationen über Biden weniger Glauben und änderten ihre Sichtweise zur Briefwahl. Auch hielten sie das Programm von Fox News für weniger relevant. Studien wie diese zeigen, welchen Einfluss der Medienkonsum auf die politische Willensbildung hat. Es sind rechte US-Medien wie Fox News, Newsmax, One America News Network (OAN) oder Breitbart News, die tagein tagaus rechtsextreme Propaganda verbreiten und dadurch Millionen Menschen in den USA mit Verzerrungen und Lügen indoktrinieren. Schon seit Jahren ist Fox News der quotenstärkste Kabel-TV-Sender des Landes. Die Ermittlungsergebnisse des Untersuchungsausschusses im Repräsentantenhaus zum Kapitolsturm wurden von den großen Nachrichtensendern live übertragen – nicht aber von Fox News. Dort werden die neusten Entwicklungen in diesem politisch brisanten Fall kaum erwähnt. Nachrichten, die Republikaner schlecht aussehen lassen, werden in rechten US-Medien weggelassen, sodass ein Teil des Publikums davon nichts mitbekommt. Der beliebteste Moderator bei Fox News ist der Demagoge Tucker Carlson. Er stellt das Wahlergebnis der Midterms bereits vorsorglich infrage und hilft damit den demokratiefeindlichen republikanischen Kandidat*innen, einen Nährboden für die Neuauflage der Wahllüge zu schaffen. Die Agenda der MAGA-Republikaner unterscheidet sich von der herkömmlicher Republikaner insbesondere in zwei Punkten: der Demokratiefeindlichkeit und dem christlichen Nationalismus – die in der Verfassung vorgesehene Trennung von Staat und Kirche lehnen sie ab. Während Republikaner vor Trump insbesondere dafür bekannt waren, für einen »schlanken Staat«, frei von Regulierungen und mit möglichst niedrigen Steuern zu stehen, hat sich ersteres inzwischen geändert. Die Trumpist*innen in der Politik wollen zwar weiterhin Deregulierung für Konzerne und Reiche, aber ein striktes Regelkorsett für die einzelne Person: Verbot von Abtreibung, gleichgeschlechtlicher Ehe und sogar Verhütungsmitteln. Vergleichsweise moderate Politiker*innen existieren bei den Republikanern kaum noch. Wer sich nicht bedingungslos zu Trump und der faschistischen MAGA-Ideologie bekennt, überlebt politisch nicht lange. Das prominenteste Beispiel ist die Abgeordnete Liz Cheney aus Wyoming. Obwohl ihr Abstimmungsverhalten bei Gesetzentwürfen zu 93 Prozent auf Trump-Linie lag, stimmte sie in einem entscheidenden Punkt nicht mit dem MAGA-Führer überein: Sie stimmte als eine der wenigen Republikaner im US-Kongress für die Amtsenthebung Trumps nach seinem Putschversuch – dem Sturm seiner Anhängerschaft auf das Kapitol. Das hat sie teuer bezahlt, denn sie verlor nach ihrem Platz in der Führungsriege der Republikaner im Kongress auch ihre parteiinterne Vorwahl im August. Mit dem riesigen Vorsprung von 37 Prozentpunkten wurde sie von ihrer Trump-treuen Herausforderin Harriet Hageman geschlagen. Zwar betont Joe Biden immer wieder, dass es Republikaner im Kongress gäbe, die die MAGA-Ideologie ablehnten. Doch es ist unerheblich, wenn diese sich nicht trauen, sich offen dagegenzustellen, aus Angst ihre politische Macht zu verlieren – so wie Liz Cheney. Der Trumpismus kann sich nur deshalb immer weiter in der Republikanischen Partei ausbreiten, weil ihre Großspender dies akzeptieren. Sie wollen Deregulierung und Steuersenkungen, auch wenn dies bedeutet, demokratiefeindliche Verschwörungsideolog*innen mit ihren Wahlkampfmillionen zu unterstützen. Auch liberale US-Medien geben Schützenhilfe, indem sie vor allem über Kulturkampfthemen berichten und damit von der rechtslibertären Wirtschaftspolitik der Republikaner ablenken, die Sozialleistungen privatisieren oder ganz abschaffen wollen. Die MAGA-Republikaner sind in den USA in der Minderheit – sie machen etwa 15 Prozent der US-Bevölkerung aus. Sie verfügen aufgrund des politischen Systems allerdings über ein Vielfaches an Macht und nach den Midterm-Wahlen werden sich noch mehr von ihnen in politischen Ämtern befinden.
Johanna Soll
Das Trump-Lager in den USA ist geprägt von christlichem Nationalismus, Rassismus und Wahlleugnung. Bei der Radikalisierung der Republikaner-Basis spielen auch rechten Medien eine entscheidende Rolle
Christentum, Donald Trump, Linkssein-Hintergrund, Rechtsextremismus, USA
Politik & Ökonomie
Politik USA
2022-10-28T15:50:54+0200
2022-10-28T15:50:54+0200
2023-01-20T17:07:18+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1168091.usa-feinde-der-demokratie.html
Platini bricht Schweigen
Der suspendierte UEFA-Präsident Michel Platini hat sich zu den Vorwürfen gegen sich und den ebenfalls suspendierten FIFA-Präsidenten Joseph Blatter zu Wort gemeldet. Die dubiose Millionenzahlung des Fußball-Weltverbandes an ihn sei ein »Gentlemen’s Agreement« mit Joseph Blatter gewesen, erklärte der Franzose am Montag der Tageszeitung »Le Monde«. Einen Vertrag kann er folglich nicht vorlegen - es gibt schlichtweg keinen. Es sei »wie bei Ikarus«, sagte Platini: »Immer wenn ich zu nahe an die Sonne fliege, verbrenne ich mich.« Platini brachte dennoch etwas Licht in die Umstände der viel diskutierten Zahlung, die sowohl ihm als auch FIFA-Chef Blatter eine 90-tägige Sperre eingebracht hatte. Platini hatte erst im Februar 2011 für eine Beratertätigkeit im Zeitraum von 1998 bis 2002 eine Zahlung von zwei Millionen Schweizer Franken (1,8 Millionen Euro) erhalten. Platini erklärte nun ausführlich die Entstehung der folgenschweren Zahlung. Zunächst habe er Blatter 1998 zugesagt, nach dessen Wahl zum FIFA-Präsidenten als sein Berater zu arbeiten. »Blatter hat mich dann gefragt: ›Wie viel willst du?‹. Ich sagte: ›Eine Million‹ - ›Eine Million was?‹ - ›Was immer du willst. Rubel, Pfund, Dollar.‹ Er sagte daraufhin: ›Ok, eine Million Schweizer Franken pro Jahr‹«, so Platini. Vertraglich festgehalten wurde diese Vereinbarung allerdings nicht. Für das Geld habe er unter anderem an der Reform des weltweiten Fußballkalenders sowie am »Goal Projekt« gearbeitet, so Platini. Später habe Blatter ihm gesagt, er könne nur 300 000 Franken jährlich zahlen, da auch der Generalsekretär nur so viel verdiene. Die fehlende Summe wolle er später begleichen. »Aber dieses ›später‹ ist nie eingetreten«, sagte Platini. Er habe auch nicht mehr nach dem ausstehenden Geld gefragt, »weil ich es nicht brauchte«. Erst 2011 habe Joseph Blatter auf Anfrage erklärt, dass er Michel Platini noch Geld schulde. Bei seinen Forderungen habe er sich zu seinem Ungunsten verrechnet, so Platini. Er sei davon ausgegangen, bereits 500 000 Franken pro Jahr bekommen zu haben und habe für jedes der vier Jahre nur die fehlenden 500 000 Franken berechnet. Diese zwei Millionen Franken seien »innerhalb von zehn Tagen« überwiesen worden, er habe alles rechtmäßig versteuert. Platini deutete indirekt an, die Veröffentlichung des Vorgangs könne aus dem Blatter-Umfeld gesteuert worden sein: »Sagen wir es so: Ich habe meine Vermutungen. Auf alle Fälle kam alles heraus, nachdem ich Blatter zum Rücktritt geraten und meine eigene Kandidatur bekräftigt hatte. Ich bin der einzige, der sicherstellen kann, dass die FIFA wieder die Heimat des Fußballs wird.« Die ermittelnde Ethikkommission wird den Vorgang allerdings womöglich als Wirtschaftsdelikt einstufen und dann bei der Strafbemessung von den zwei Millionen Franken ausgehen. Ein FIFA-Insider sagte der »Welt am Sonntag«: »Das wären in der Schweiz fünf Jahre Haft. Wir reden über jeweils fünf Jahre Sperre.« Ethik-Richter Hans-Joachim Eckert wird, nachdem er Blatter und Platini schon provisorisch für 90 Tage bis einschließlich 5. Januar 2016 gesperrt hatte, das endgültige Strafmaß in Kürze verkünden. SID/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Suspendierter Präsident der UEFA weist Schuld von sich
FIFA, Fußball, Schweiz, UEFA
Sport
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/988429.platini-bricht-schweigen.html
Bewährungsstrafe nach rechten Blockaden in Sachsen
Meerane. Wegen fremdenfeindlicher Ausschreitungen in Meerane im Herbst 2015 wurden zwei Teilnehmer vom Amtsgericht Hohenstein-Ernstthal angeklagt, berichtet der MDR. Einer der Angeklagten wurde am Donnerstag wegen gefährlicher Körperverletzung und Widerstands gegen Polizisten zu sechs Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Das Gericht folgte dementsprechend dem Antrag der Staatsanwaltschaft. Der Verurteilte muss außerdem 200 Stunden gemeinnützige Arbeit leisten. Ein 30-jährige Mann aus Glauchau hatte im November 2015 am Bahnhof von Meerane durch eine Busblockade die Weiterreise von Asylbewerbern verhindern wollen. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass de angetrunkene Mann zwei Polizisten verletzt und sich außerdem gewaltsam seiner Festnahme widersetzt hatte. Zwei Bereitschaftspolizisten hatten vor Gericht als Zeugen ausgesagt. Der Verurteilte ist laut MDR bereits mehrfach vorbestraft, unter anderem wegen gefährlicher Körperverletzung. Der zweite Angeklagte wurde dagegen zu einer Geldstrafe verurteilt, er muss insgesamt 900 Euro zahlen. Ihm wurden gefährliche Körperverletzung und ein Verstoß gegen das Sprengstoffgesetz zur Last gelegt. Insgesamt waren im November 2015 rund 80 Menschen aufmarschiert und hatten den Bahnhof von Meerane blockiert. Von dort sollten Busse 700 Asylbewerber in Erstaufnahmeeinrichtungen in Sachsen bringen, die zuvor mit einem Zug aus dem bayerischen Passau in Meerane angekommen. nd
Redaktion nd-aktuell.de
Die Blockade von Bussen, die Flüchtlinge im November 2015 in sächsische Erstaufnahmeeinrichtungen bringen sollten, hat ein gerichtliches Nachspiel - ein vorbestrafter Blockierer erhielt nun eine Bewährungstrafe.
Flüchtlinge, Rechtsextremismus, Sachsen
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Die wollen nicht nur reden
«Am 25. Mai wird eine Grundsatzfrage entschieden», sagte Michael Müller (SPD) mit Nachdruck vor dem voll besetzten Saal der Urania. Der Stadtentwicklungssenator war der Einladung des Bürgerforum Berlin e.V. gefolgt, das am Donnerstagabend zur Diskussion über die zukünftige Nutzung des Tempelhofer Feldes (siehe Kasten) in das Veranstaltungszentrum geladen hatte. Weit kam er in seinem Einstiegsreferat nicht. Nur wenige Minuten nach Beginn stand eine ältere Dame im Publikum auf und warf dem Senator lautstark vor, die Zwangsräumung einer Familie bewilligt zu haben. Vermieterin der betreffenden Familie war die GEWOBAG, eine der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften. Zum einen forderte die Frau Müller auf, dazu Stellung zu nehmen, doch was sie danach sagte, ging im Tumult unter. «Setzense sich mal hin sonst komm’ ich zu Ihnen!», rief ein Mann der Frau in Grün zu. Die Stimmung schaukelte sich schnell hoch. Andere Aktivisten, die ebenfalls aufstehen und an Publikum und Podium gleichermaßen gewandt den «sozialen Wohnungsbau» Müllers scharf kritisieren, wurden ausgebuht und ausgepfiffen. Wieder andere forderten einfach Ruhe ein. Müller versuchte, auf die Vorwürfe zur Zwangsräumung einzugehen, doch im Saal schrie man sich mittlerweile gegenseitig an, der Senator drang nicht mehr durch. Schließlich betrat der Direktor der Urania, Ulrich Bleyer, das Podium und fordert die «Störer» auf, entweder ruhig zu sein oder den Saal zu verlassen. Andernfalls werde er von seinem Hausrecht Gebrauch machen. Kurz schien es, als wollte er die Veranstaltung abbrechen. Robert Ide, Ressortleiter Berlin-Brandenburg beim «Tagesspiegel», der die Diskussionsrunde moderierte, versuchte zu vermitteln, man wolle eine «offene Diskussion». Nur langsam ebbte der verbale Schlagabtausch im Saal ab. Am 25. Mai sollen Berlinerinnen und Berliner über zwei Fragen abstimmen: Erstens: Darf auf dem Tempelhofer Feld gebaut werden? Und zweitens: Soll eine Bebauung gemäß der Pläne des Berliner Senates stattfinden? Zum Ersten: Wer der Initiative »100 Prozent Tempelhofer Feld« sowie ihrem »Entwurf eines Gesetzes für den Erhalt des Tempelhofer Feldes« zustimmt, der muss im ersten Teil des Volksentscheides mit »Ja« stimmen. Wer grundsätzlich den Bau von beispielsweise Wohnungen auf dem Tempelhofer Feld gutheißt, der muss hier mit »Nein« stimmen. Zum Zweiten: hat der Berliner Senat mit seinem Masterplan Tempelhofer Feld seinerseits seine (Bau)Vorhaben für das frühere Flugfeld vorgestellt. Wer diesen Plänen der Bebauung auf den Rändern des Feldes zustimmt, muss hier mit »Ja« stimmen. Wer eine Bebauung zwar prinzipiell gut heißt, aber die Senatspläne ablehnt, der muss hier mit »Nein« stimmen. sal   Schließlich eröffnete Ide die Gesprächsrunde mit einer Vorstellung der Teilnehmenden. Michael Schneidewind von der Initiative «100 Prozent Tempelhofer Feld» sollte an diesem Abend den Gesetzesentwurf der Initiative verteidigen gegen Senator Müller, Petra Hildebrandt von der Wohnbaugesellschaft WoBoGe, Rainer Wild vom Berliner Mieterverein, Hildebrand Machleidt vom Bürgerforum und Christian Wiesenhütter von der IHK Berlin. «Hier ist der Ort, an dem sich entscheidet, wie sich Berlin seiner Zukunft stellt», sagte Stadtplaner Machleidt zum Tempelhofer Feld, bzw. zum anstehenden Volksentscheid um dessen künftige Nutzung. «Eine sehr aktive Minderheit ist höchst professionell dabei, eine passive Mehrheit zu vereinnahmen.» Der Initiative warf er vor, die Zeichen der Zeit nicht erkannt zu haben. Ihre Vorstellungen stammten aus einer Zeit, als Berlin schrumpfte und die absurdesten Ideen für das Tempelhofer Feld kursierten. Heute wachse Berlin, Wohnungsbau sei nötig. Viele Leute stimmten dem zu - aber bitte nur, wenn damit keine Veränderungen im eigenen Kiez einhergingen, die Wiese vorm Fenster nicht angefasst werden muss. Ide meinte im Lauf der Diskussion eine generelle Bereitschaft aller Beteiligten zu Gesprächen nach dem Volksentscheid zu erkennen - unabhängig von dessen Ergebnis. «Es geht hier um ein Gesetz», entgegnete Senator Müller. «Da könne man nicht hinterher sagen, wir reden noch mal. »Jedes Gesetz kann reformiert werden, wenn der gesellschaftliche Einfluss da ist«, sagte Schneidewind und betonte später, damit habe er natürlich den Gesetzesentwurf des Senates gemeint.
Sarah Liebigt
Noch zwei Wochen sind es bis zum Volksentscheid, mit dem Berlin über die Nutzung des Flugfeldes Tempelhof abstimmen soll. Ob und wie gebaut werden darf, diese Frage erhitzt die Gemüter zusehends.
Tempelhof, Volksentscheid
Hauptstadtregion
Berlin
https://www.nd-aktuell.de//artikel/932479.die-wollen-nicht-nur-reden.html
Die Warnweste als Uniform?
Es ist zwei Jahre her, dass eine handvoll Salafisten in Wuppertal als »Scharia-Polizei« auf Streife gingen. Nach einem Streit zwischen Gericht und Staatsanwaltschaft stehen sieben von ihnen jetzt vor Gericht. Das Verfahren gegen ihren Anführer, den bekannten Prediger Sven Lau wurde eingestellt. Lau droht wegen Unterstützung des »Islamischen Staates« in einem anderen Verfahren eine Haftstrafe. Von ihrer ehemaligen Moschee, im ersten Stock einer alten Fabrik, bis zum Landgericht sind es nur wenige Minuten zu laufen. Auf der Anklagebank in Wuppertal haben heute sieben Männer im Alter von 25-34 Jahren Platz genommen. Es ist kein großer Terrorprozess der hier ansteht, den sieben Salafisten wird eine Lappalie vorgeworfen. Bei ihren Streifengängen als »Scharia-Polizei« sollen sie mit ihren orangenen Warnwesten gegen das Uniformverbot verstoßen haben. Das Landgericht Wuppertal wollte dieses Verfahren ursprünglich nicht führen. Die Wuppertaler Richter sahen keinen Verstoß gegen das Uniformierungsverbot. Warnwesten seien keine Uniformen und würden auch nicht an militärische Kleidung erinnern. Die Staatsanwaltschaft beschwerte sich deswegen beim Oberlandesgericht in Düsseldorf, dort kam man zu der Auffassung, dass eine Verurteilung nicht unwahrscheinlich sei und verpflichtete das Landgericht in Wuppertal den Prozess zu führen. Nicht beim Prozess dabei ist Sven Lau, der Anführer der »Scharia-Polizei«, gegen ihn wird derzeit in Düsseldorf wegen Unterstützung des »Islamischen Staates« verhandelt. Eine Verurteilung wegen der »Scharia-Polizei« würde nicht ins Gewicht fallen, so dass das Verfahren gegen ihn vorläufig eingestellt wurde. Mit ihren Rundgängen sorgten die selbst ernannten Sittenwächter im September 2014 für großes Aufsehen. Auf YouTube hatten sie ein Video von ihrem Rundgang durch Wuppertal hochgeladen. Dort zu sehen waren einige Männer, in Warnwesten, die vor Discos und Spielhallen junge Leute ansprachen und sie darauf hinwiesen, dass Alkohol, Musik und Glücksspiel Teufelszeug seien. Die »Scharia-Polizei« wurde zum Medienphänomen. Innerhalb kürzester Zeit gab es in der Politik die Forderung, dem Treiben der Islamisten ein Ende zu setzen. Die Streifengänge wurden als Angriff auf die Bundesrepublik gesehen. Bundeskanzlerin Angela Merkel forderte ein »hartes Vorgehen« gegen die »Scharia-Polizei« und betonte das Gewaltmonopol des Staates. Die Salafisten freuten sich über die Aufmerksamkeit für ihre Aktion. Kevin S., der heute auf der Anklagebank sitzt, sprach von einem »Joke« der funktioniert habe. Dieser Witz brachte S. und seine sechs Mitangeklagten vor das Wuppertaler Amtsgericht. Doch von dem »harten Vorgehen«, dass im Herbst 2014 gefordert wurde ist nicht viel geblieben. Eine Verurteilung der Islamisten steht auf der Kippe. In ähnlich gelagerten Fällen, etwa als in Dortmund Neonazis mit einheitlichen »Stadtschutz« T-Shirts auf Streife gingen, gab es Freisprüche. Die Gerichte erkannten in den T-Shirts keine Uniformierung, sahen eher eine Parallele zu einem Junggesellenabschied. Auch der erste Prozesstag gegen die »Scharia-Polizisten« brachte keine besonders belastenden Erkenntnisse. Die Angeklagten machten von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch und drei Polizisten schilderten wie die Ermittlungen vor zwei Jahren verliefen. Bis Ende November sind noch zwei weitere Prozesstage angesetzt. Beim kommenden will das Gericht die Videos der »Scharia-Polizei« ansehen.
Sebastian Weiermann
Es sollte ein Witz sein, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Und diese haben die jungen Salafisten um Prediger Sven Lau bekommen, als sie sich vor zwei Jahren als »Scharia-Polizisten« verkleideten und auf Streife gingen.
Islamisten, Salafisten, Wuppertal
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1031533.die-warnweste-als-uniform.html
Wasserweg zur Müritz ab Ostern frei
Fürstenberg/Havel. Nach Behebung der 2019 aufgetretenen Schleusenprobleme soll die Wasserstraße zwischen Berlin und der Mecklenburgischen Seenplatte ab Angang April wieder durchgängig befahrbar sein. Bis dahin sind die derzeitigen Arbeiten entlang der Müritz-Havel- und der Oberen Havel-Wasserstraße abgeschlossen oder können parallel weiterlaufen, wie Sebastian Dosch vom Wasser- und Schifffahrtsamt Eberswalde (Barnim) sagte. Man arbeite zudem an einem langfristigen Bauplan, um die vielen alten, sanierungsbedürftigen Wasserbauwerke etappenweise auf den neuesten Stand zu bringen. »Die Vercharterer haben erklärt, dass si... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Winfried Wagner
Ab 6. April ist der touristisch bedeutsame Wasserweg zwischen Berlin und der Müritz wieder durchgängig passierbar - die Schleusenarbeiten gehen weiter.
Brandenburg
Hauptstadtregion
Brandenburg
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1133325.wasserweg-zur-mueritz-ab-ostern-frei.html
Wir brauchen einen aktiven Staat
nd: Was für ein Entwicklungsmodell verfolgt Bolivien heute? Elba Viviana Caro Hinojosa: Wir streben ein nachhaltiges Entwicklungsmodell an. Widersprüche zwischen Mutter Erde und Entwicklung öffentlicher Güter gilt es zu vermeiden. Die harmonische Nutzung unserer natürlichen Ressourcen ist uns sehr wichtig, besonders die Umweltverträglichkeit. Wir folgen keinen bestehenden Entwicklungsmodellen, sondern bestreiten einen eigenen Prozess des Nachdenkens. Welche Rolle kommt dem Staat dabei zu? Im Gegensatz zu den letzten Jahrzehnten greift der Staat wieder aktiv ein. Wir wollen aber kein nur staatsbasiertes Modell sein. Aktuell beträgt die Staatsquote 34 Prozent. Vor dem Antritt der Morales-Regierung 2005 waren es 19 Prozent, in den 2000ern sogar nur zwölf Prozent. Das heißt, das 66 Prozent heute von den anderen Akteuren der pluralen Wirtschaft generiert werden: Privatsektor, Kleinst,- Klein- und Mittlere Unternehmen, Kooperativen, bäuerliche Wirtschaft. Diese Mischung wollen wir erhalten. Kritiker rechts wie links sprechen von Boliviens »Neo-Extraktivismus«. Damit bezeichnen sie den forcierten Abbau von Bodenschätzen wie Gas und Mineralien. Fakt ist: Durch das beschleunigte Wirtschaftswachstum von China ist auch seine Nachfrage nach Rohstoffen gestiegen. Darauf haben sich viele Ökonomien eingestellt, insbesondere in Lateinamerika. In Bolivien sind wir darauf angewiesen, unsere natürlichen Ressourcen abzubauen. Und nicht nur Mineralien und fossile Brennstoffe, auch Holz und andere. Der Schwerpunkt liegt aber ganz klar auf Industrialisierung. Wir sind seit neun Jahren an der Regierung. Wir waren davon ausgegangen, dass in den ersten fünf Jahren viel geschafft wird. Doch ist der Start eines Industrialisierungsprozesses sehr schwer. Vor allem, weil der Rohstoffabbau in Bolivien quasi von Null wieder aufgebaut werden musste. Gibt es erste Ergebnisse bei der Industrialisierung? Eine Gas-Trennungs-Raffinierie und eine Düngemittel-Fabrik stehen vor der Fertigstellung, im Bergbau neue Eisenschmelzen. Der Abbau von Rohstoffen antwortet allerdings nicht nur auf die Nachfrage externer Märkte sondern gibt auch eine Antwort auf interne Dynamiken. Wir müssen Arbeitsplätze schaffen. Bergbau und die fossile Brennstoffwirtschaft selbst können direkt dazu nicht besonders viel beitragen. Öl und Gas sind ein sehr kapitalintensiver und technifizierter Sektor. Aber sie erzielen Überschüsse. Diese fließen an soziale Projekte, die Entwicklung des Binnenmarktes oder die Schaffung von Arbeitsplätzen. Bei Boliviens Bergbau ist die Sache anders gelagert, der kooperative Sektor und kleine Produzenten spielen dort eine wichtige Rolle. Klar ist aber auch, dass es ein Sektor ist, der modernisiert werden muss, um nachhaltig zu sein. Was an der neuen Wirtschaftspolitik ist eigentlich sozialistisch? Wie sozialistisch, oder welche Art von Sozialismus wir einführen, darüber wird viel diskutiert. Grundlage ist ganz klar die organisierte, gesellschaftliche Beteiligung der Bevölkerung. Das ist die sozialistische Essenz dieses Modells. Was sagen Sie denen, die aus ökologischen Gründen den Bau von Straßen und Infrastruktur kritisieren? Die Gefahren für Mensch und Umwelt müssen natürlich auch berücksichtigt werden. Die regionalen Ungleichgewichte in Bolivien waren traditionell immer groß. Eines unserer Hauptziele ist hier, für mehr Gleichgewicht zu sorgen. Fakt ist: Boliviens Straßennetz ist nur 16 000 Kilometer lang. Damit sind wir eines der Länder Lateinamerikas mit den wenigsten Straßen. Straßen als öffentliches Gut haben für Europa, Asien sowie Lateinamerikas immer eine wichtige Rolle gespielt. Straßen haben für Anschluss, Transportverbindungen und Verkehr eine unbestreitbare Bedeutung. Ihr Fehlen schadet dem Zusammenhalt eines Landes. Vor fünf Jahren hatten wir ein sehr dünnes Straßennetz, im gesamten nördlichen Amazonas des Landes war fast nicht vorhanden. Ein Land kann so etwas nicht zulassen. Der Staat muss präsent sein, Institutionen müssen alle Staatsbürger erreichen. Ohne Straßen ist das nicht machbar. Und die Menschen fordern dieses öffentliche Gut. Weil es Zugang zu sozialen Leistungen mit sich bringt, weil eine Straße neue Möglichkeiten eröffnet. Was hat es mit den jüngsten Regierungsplänen zum Bau eines Atomreaktors auf sich? Energie ist heute zentraler Bestandteil von Entwicklung. Wenn wir von Kernenergie reden, darf nicht vergessen werden, dass Bolivien laut Verfassung ein pazifistischer Staat ist, kein aggressiver. Die Kernenergie ist für uns grundlegender Bestandteil für Technologieentwicklung. Bolivien muss einen bedeutenden Technologiesprung machen. Zumal wir über die natürlichen Ressourcen verfügen, die diesen Sprung ermöglichen. Es ist unsere Pflicht, die technologische Kluft des Landes zu überwinden, die Bolivien den Zugang zu anderen Wirtschaftssektoren und Märkten verhindert. Für uns bedeutet Kernenergie also das Schließen vieler dieser Lücken. So wird dem Land eine starke produktive Struktur möglich, sowie die Entwicklung mit der Kernenergie zusammenhängender Technologien, die sonst nicht ins Land kommen. Mehr Rohstoffabbau, mehr Straßen, jetzt noch Kernenergie: Gegenwind an Boliviens Entwicklungsstrategie kommt vor allem aus den Industriestaaten ... Wir machen die Dinge sehr gut. Die meiste Kritik ist eine Kritik aus der Perspektive von Akademikern. Die Empfindlichkeiten und Sensibilitäten, die Bolivien entgegengebracht werden, haben auch damit zu tun, dass wir heute versuchen, uns neues Wissen selber anzueignen. All unsere Anstrengungen liegen in der Förderung von Schlüsselprozessen, die für andere Entwicklungsmodelle und Ökonomien genauso wichtig waren. Wir sind zufrieden, weil wir Dynamiken schaffen, die langfristig wirken. Und die in zurückliegenden Jahren längst hätten geschaffen werden müssen. Bolivien ist schon immer ein rohstoffreiches Land gewesen: Ein Entwicklungsmodell mit mehr Integration, mit eigenen Vorstellungen, Wissen und Eigenständigkeit hätte längst geschaffen werden können.
Redaktion nd-aktuell.de
Elba Viviana Caro Hinojosa ist seit 2010 Ministerin für Entwicklungsplanung. Für »nd« sprach mit ihr Benjamin Beutler über Boliviens Entwicklungsstrategie und Kritik aus dem Westen.
Bolivien, Entwicklungspolitik
Politik & Ökonomie
Politik
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Deutsche Rüstungsexporte gehen um fast ein Viertel zurück
Berlin. Die Bundesregierung hat 2018 fast ein Viertel weniger Rüstungsexporte genehmigt als im Vorjahr. Der Gesamtwert ging um 22,7 Prozent zurück: von 6,242 Milliarden Euro auf 4,824 Milliarden Euro. Bei den besonders umstrittenen Lieferungen an Staaten außerhalb der Europäischen Union und der NATO betrug der Rückgang sogar knapp ein Drittel (32,8 Prozent). Das geht aus der Antwort des Bundeswirtschaftsministeriums auf eine Anfrage des Grünen-Abgeordneten Omid Nouripour hervor, die der Deutschen Presse-Agentur vorliegt. Die deutsche Rüstungsindustrie muss damit das dritte Jahr in Folge eine Abnahme der Ausfuhrgenehmigungen hinnehmen. Ein Wachstum gab es zuletzt 2015, damals auf einen Rekordwert von 7,86 Milliarden Euro. Seitdem geht es bergab. Bundesaußenminister Heiko Maas begrüßte den Rückgang. »Das finde ich eine positive Entwicklung, weil wir nämlich genauer hingeschaut haben«, sagte der SPD-Politiker am Donnerstag beim »Politik-Talk« der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. Trotz des im November verhängten Exportstopps zählte Saudi-Arabien 2018 immer noch zu den besten Kunden der deutschen Rüstungsindustrie mit Exportgenehmigungen im Wert von 416 Millionen Euro. Eigentlich hatte die Bundesregierung auf Drängen der SPD schon im März im Koalitionsvertrag beschlossen, keine Rüstungsgüter mehr an Länder zu liefern, die »unmittelbar« am Jemen-Krieg beteiligt sind. Saudi-Arabien führt eine Kriegsallianz von neun Ländern an, die im Jemen gegen die vom Iran unterstützten Huthi-Rebellen kämpft. Der Koalitionsvertrag ließ aber Hintertüren für bereits vorgenehmigte Exporte offen. Sie wurden erst mit der Khashoggi-Affäre geschlossen. Die Industrie erwägt deswegen Schadenersatzforderungen. Christoph Atzpodien, Geschäftsführer der Bundesverband der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie, forderte die Bundesregierung erneut auf, den Exportstopp für bereits genehmigte Geschäfte aufzuheben. »Die Rüstungsunternehmen brauchen im Rahmen bereits erteilter Genehmigungen dringend diesen Vertrauensschutz«, sagte der Rüstungslobbyist. Auch für Algerien und Pakistan wurden 2018 Exportgenehmigungen im dreistelligen Millionenbereich erteilt. Insgesamt betrafen immer noch mehr als die Hälfte der Bewilligungen (52 Prozent) sogenannte Drittländer außerhalb von EU und NATO. Das ist allerdings der niedrigste Anteil seit 2011. Zu den Drittländern gehören eine ganze Reihe autoritärer Staaten, denen Menschenrechtsverletzungen zur Last gelegt werden. Besonders die Exporte in diese Länder werden von der LINKEN und den Grünen scharf kritisiert. Die Grünen-Politikerin Katja Keul forderte ein Verbot von Waffenlieferungen in diese Staaten über ein Rüstungskontrollgesetz. Auch die SPD hätte gerne ein solches Gesetz, was allerdings beim Koalitionspartner Union auf Ablehnung stößt. Deswegen dringen die Sozialdemokraten darauf, zumindest die fast 20 Jahre alten Rüstungsexportrichtlinien zu aktualisieren. »Dem Bundeskanzleramt und dem federführenden Wirtschaftsministerium liegen hierzu die SPD-Vorschläge seit über einem halben Jahr vor - bisher ohne Antwort von Wirtschaftsminister (Peter) Altmaier«, sagte der stellvertretende SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich der dpa. Den aktuellen Rückgang bewertete er zwar positiv, betonte aber, es handele sich dabei nur um eine »Momentaufnahme«. SPD und Grüne hatten die bestehenden restriktiven Richtlinien für deutsche Rüstungsexporte in der rot-grünen Regierung von Kanzler Gerhard Schröder (SPD) beschlossen. Alle Folgeregierungen - auch die aus Union und FDP - hielten sich daran. Die LINKE würde Rüstungsexporte am liebsten ganz verbieten. Sie kritisierte, die Exportzahlen seien nach wie vor auf einem »skandalös hohen Niveau«. dpa/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Die Bundesregierung hat 2018 fast ein Viertel weniger Rüstungsexporte genehmigt als im Vorjahr. Doch Lieferungen in umstrittene Staaten wie Saudi-Arabien und Pakistan blieben auch dieses Mal nicht aus.
Rüstungsexporte, Rüstungsindustrie, Waffenhandel, Waffenlobby
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An »Ausländer's« Perspective on Berlins Ban Of Solidarity
On Saturday, up to 150,000 people took to the streets of London to express solidarity with the population of Gaza. The following day in Berlin, 1,000 people gathered at Potsdamer Platz for the same reason. Yet seven minutes before their rally was set to begin, the police announced it had been prohibited. Cops began beating, pepper spraying, and arresting people. Despite what you might have read, this rally was not about celebrating Hamas. The organizers said they would not tolerate Hamas flags or antisemitic slogans. The ban was preemptive – nothing illegal had happened, yet the police claimed that something illegal could happen. The right to assembly (Article 8 of Germany's Basic Law) is thus reduced to nothing. For almost two years, Berlin has banned all pro-Palestinian demonstrations. Now, at Hermannplatz, on Sonnenallee, and throughout Neukölln, police are harassing individuals for wearing a kuffiyeh, a Palestinian scarf. They even banned a demonstration by »Jewish Berliners Against Violence in the Middle East.« Does this sound like a celebration of Hamas? One Israeli Jewish woman tried to demonstrate all by herself, standing at Hermannplatz with a sign: »As a Jew and an Israeli – Stopp the Genocide in Gaza!« Police immediately approached her to declare this an »unlawful assembly.« How can one person be an assembly? It doesn't matter. The video ends with a heavily armed German cop in a black uniform detaining a Jewish person for expressing the wrong opinion. Does this look right? Red Flag is a column on Berlin politics by Nathaniel Flakin. It appeared in Exberliner magazine from 2020 to 2023 and found a new home at the Berlin newspaper nd – as their first content in English. If you like a regular dose of very local communist content, please share. Nathaniel is also the author of the anticapitalist guide book Revolutionary Berlin.Read this article in German The United Nations are saying that Israel's siege of Gaza is a »a blatant violation of international humanitarian law.« In Berlin right now, it is not possible to express UN positions on the street. By cutting off water and electricity to the more than two million people of Gaza, the Israeli army is committing a war crime. Just listen to Ursula von der Leyen, the conservative German politician who heads the EU: »Attacks against civilian infrastructure, especially electricity, are war crimes. Cutting off men, women, children of water, electricity and heating with winter coming – these are acts of pure terror. And we have to call it as such.« However von der Leyen was accusing Russia of war crimes, not Israel. Attacking civilian infrastructure is apparently no longer »terror«, but in fact covered by the »right to self-defense.« For Americans in Berlin, the biggest shock came when Bernie Sanders visited last week. Sanders, whose father's family was »wiped out« in the Holocaust, might well be the most famous Jewish politician in the world. Yet Saskia Esken, the head of Germany's Social Democratic Party, cancelled a meeting with Sanders because he had stated: »The targeting of civilians is a war crime, no matter who does it.« It would be nice if the German state were serious about fighting antisemitism. But just look at Hubert Aiwanger. As a teenager, he distributed fliers at school calling for a new Auschwitz. When this was revealed, he didn't apologize. He just mumbled something about an evil twin. Aiwanger was just confirmed as Bavaria's vice-premier. This is no isolated case: Maaßen, Sarrazin, and Höcke are among the politicians who have gone public with antisemitic views. The German state only fights antisemitism when that can be instrumentalized to repress racialized people and migrants.  This is a very strange time for us »Ausländer*innen« in Berlin. In our home countries, it's a matter of course for leftists to stand with colonized people being besieged and bombarded. This is why you hear so much English at Berlin's banned demonstrations. Does anyone seriously believe that tens of thousands in London, New York, or Paris – including thousands and thousands of Jewish leftists – are motivated by hatred of Jews or love of Islamists? What a dark view of the world! The reality is that many people desire peace and justice. The Berlin government cannot ban such sentiments forever.
Nathaniel Flakin
Hundreds of thousands around the world are demonstrating in solidarity with the people in Gaza. Except in Berlin. The government has banned all expressions of solidarity.
Antisemitismus, Berlin, Bernie Sanders, Gaza, Hamas, Israel, Juden, Nahost, Redflag, Ursula von der Leyen
Meinung
Kommentare Middle East
2023-10-17T18:28:10+0200
2023-10-17T18:28:10+0200
2023-10-30T17:06:42+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1177103.middle-east-an-auslaender-s-perspective-on-berlins-ban-of-solidarity.html
Kommunistische Partei will Linksbündnis erweitern
Der 39. Parteitag der Französischen Kommunistischen Partei (FKP), der am Wochenende in Marseille abgehalten wurde, stand weitgehend im Zeichen des gegenwärtigen Kampfes gegen die Rentenreform. Doch der Widerstand beschränkt sich nicht auf die von zwei Dritteln der Bevölkerung abgelehnten Reformpläne, sondern ist viel breiter und richtet sich vor allem gegen die sozialen Ungerechtigkeiten, die durch die Politik von Präsident Emmanuel Macron und seiner Regierung sogar noch zunehmen. Im Kampf gegen diesen Kurs sei die FKP unverzichtbar und habe eine gewichtige Rolle zu spielen, erklärte ihr Nationalsekretär Fabien Roussel. Wer vor 30 Jahren das »Ende der Geschichte« und das Verschwinden der Kommunistischen Partei vorhersagte, habe sich schwer getäuscht. Zwar seien die Ideen des Kommunismus durch die negativen Erfahrungen mit den Versuchen ihrer Umsetzung im 20. Jahrhundert belastet, aber sie seien im Kern nach wie vor gültig, sagte Roussel. Die zügellose Herrschaft des Kapitalismus sei zum Scheitern verurteilt. Die Kommunisten sehen sich in dieser Prognose durch eine für die Zeitung »L’Humanité« durchgeführte Umfrage des Instituts Ifop bestärkt. Demnach halten 83 Prozent der Franzosen den Klassenkampf für nach wie vor aktuell – auch 73 Prozent der Anhänger der rechten Oppositionspartei der Republikaner sind dieser Meinung. Für 80 Prozent der Befragten müssten Bereiche wie Gesundheit, Bildung und Wohnen im Interesse aller Bürger vor der Konkurrenz und den Gesetzen der Marktwirtschaft geschützt werden. Dass die Beschäftigten mehr Mitsprache in den Unternehmen bekommen müssten, halten 72 Prozent der Befragten für äußerst wichtig. Von den Befragten sind 64 Prozent überzeugt, dass es möglich ist, eine Gesellschaft zu schaffen, die sich auf Kooperation und Machtteilung gründet. Ferner sind 56 Prozent der Meinung, dass das kapitalistische System der Hauptschuldige für die Klimaveränderungen ist. Die 700 Parteitagsdelegierten, die die rund 40 000 Mitglieder vertraten, haben über den Orientierungstext »Die kommunistischen Ambitionen für neue, glückliche Tage« diskutiert, der Anfang des Jahres durch Nationalsekretär Roussel vorgelegt wurde und nun neben weiteren Texten zur Abstimmung stand. Dabei hat sich der Text von Roussel mit 82 Prozent der abgegebenen Stimmen durchgesetzt. Der Abgeordnete Stéphane Peu, der einen der anderen Texte verfasst hatte, sagte gegenüber einem Journalisten der Agentur AFP: »Ich bin still, traurig und etwas befremdet.« Ihn störe die Stimmung auf dem Parteitag. »Ich sehe das Risiko, dass sich die FKP in einen Fanklub verwandelt, wo sich alles um eine Person dreht und alles auf die Präsidentschaftswahl ausgerichtet ist. Dabei war doch die FKP historisch immer gegen die extreme Personalisierung durch das Präsidialsystem der Fünften Republik.« Roussel sieht das natürlich anders. »Die jüngste Präsidentschaftswahl war für uns ein wahnsinniger Aufschwung. Wir konnten wieder den Kopf heben und mussten nicht mehr verschämt auf unsere Schuhspitzen schauen«, erinnert er sich an die Kampagne 2022, bei der er als Kandidat der FKP angetreten ist und 2,3 Prozent der Stimmen verbuchen konnte. Dass hat ihm Jean-Luc Mélenchon, der Präsidentschaftskandidat der Bewegung La France insoumise, der die gesamte Linke hinter sich sammeln wollte, nie verziehen. Er ist heute noch überzeugt, dass ihm Roussels Wählerstimmen gefehlt haben, um in die Stichwahl gegen Marine Le Pen zu kommen. Aber es war letztlich die Konsequenz daraus, dass Mélenchon nach der Präsidentschaftswahl 2017, als die FKP für ihn Wahlkampf gemacht hatte, die Kommunisten als »Stimmenbeschaffer« von oben herab behandelt und bei jeder sich bietenden Gelegenheit gedemütigt hat. Vor diesem Hintergrund ist auch zu sehen, dass auf dem Parteitag 2018 zur allgemeinen Überraschung der volksnahe Roussel den eher zurückhaltenden Pierre Laurent an der Spitze der Partei ablösen konnte. Seitdem hat Roussel vielen Kommunisten zu neuem Selbstbewusstsein verholfen. »Er spricht geradeheraus einfache Wahrheiten aus, in Worten, die jeder versteht«, sagte die 60-jährige Parteitagsdelegierte Giselle Gori aus Boulogne-sur-Mer. Doch vor allem hält sie ihm wie viele Genossen zugute, dass er »die FKP gegen die anmaßenden Hegemoniebestrebungen von La France insoumise verteidigt«. So war es auch im Vorfeld des jetzigen Parteitages, als Roussel in einem Interview erklärte, das durch La France insoumise dominierte Linksbündnis NUPES sei »überholt«. Gleichzeitig sprach er sich für eine viel breitere Sammlung aller Kräfte der Linken aus, die sich nur so Aussichten ausrechnen könnte, wieder an die Hebel der Macht zurückzukehren. Als Beispiel für Verbündete, die zurückgewonnen werden müssten, nannte er den ehemaligen Premier Bernard Cazeneuve. Er repräsentiert die Mitglieder der Sozialistischen Partei, die sich gegen die Beteiligung an der NUPES aussprachen, um Distanz zum scharfmacherischen Gebaren von La France insoumise zu halten. Eine ähnliche Position vertritt auch Roussel. Das war deutlich zu sehen, als die Abgeordneten von La France insoumise in der Nationalversammlung während der Rede von Premierministerin Elisabeth Borne zum Misstrauensantrag der NUPES durch das Absingen der »Marseillaise« versuchten, die Rednerin zu übertönen, während in den Reihen vor ihnen die kommunistischen Abgeordneten demonstrativ sitzen blieben und schwiegen. Dass jetzt Politiker von La France insoumise und vor allem Jean-Luc Mélenchon empört auf die Interview-Äußerungen von Roussel reagiert haben, weist dieser zurück. In seiner Rede auf dem Parteitag erklärte er: »Niemand hat den Kommunisten zu diktieren, wie sie abzustimmen, zu denken und zu handeln haben oder mit wem sie diskutieren dürfen. Wir sind souverän, wir sind frei, wir sind Kommunisten.« Am Montag haben die Parteitagsdelegierten Roussel dann auch erwartungsgemäß und mit überwältigender Mehrheit als FKP-Nationalsekretär wiedergewählt.
Ralf Klingsieck
Der ehemalige Präsidentschaftskandidat Fabien Roussel wurde auf dem Parteitag als FKP-Nationalsekretär wiedergewählt. Er plädiert für Bündnisse mit Sozialisten.
Frankreich, KommunistInnen
Politik & Ökonomie
Politik Frankreich
2023-04-10T16:47:28+0200
2023-04-10T16:47:28+0200
2023-04-11T16:34:48+0200
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1172315.kommunistische-partei-will-linksbuendnis-erweitern.html
UN-Klimakonferenz: Zu viel Energie
Längst nicht mehr jedes Extremwetterereignis schafft es in die Medien. Die meisten Menschen werden sich an Nachrichten über die bis zu einem Monat dauernde Hitzewelle in den USA erinnern. Oder an die Fluten, die in Libyen ganze Stadtteile von Derna fortspülten. Hurrikan Otis, der Ende Oktober in Acapulco für Tod und Zerstörung sorgte, war eher eine Randnotiz, obwohl er eine ganz neue Bedrohung zeigte: Er entwickelte sich innerhalb nur eines Tages von einem tropischen Wirbelsturm zu einem Hurrikan der Kategorie 5 – ein Beispiel für das Übermaß von Energie im Klimasystem. Kommende Woche treffen sich die Vertreter*innen der UN-Mitgliedstaaten zur UN-Klimakonferenz in Dubai und obwohl das laufende Jahr noch nicht vorüber ist, besteht kein Zweifel daran, dass es ein Rekordjahr war: »Wir können mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass 2023 das wärmste Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen sein wird und derzeit 1,43 Grad Celsius über dem vorindustriellen Durchschnitt liegt«, sagte Samantha Burgess, stellvertretende Direktorin des Klimawandeldienstes des europäischen Erdbeobachtungssystems Copernicus. Und selbst die Zwei-Grad-Grenze wurde laut Copernicus am 17. November erstmals für einen Tag gerissen. Blickt man nicht auf das Kalenderjahr, sondern auf die zurückliegenden zwölf Monate, lagen diese im globalen Durchschnitt bei rund 1,3 Grad Celsius über vorindustriellem Niveau, so eine Auswertung der gemeinnützigen Nachrichtenorganisation Climate Central in Princeton. Betroffen waren Menschen auf dem gesamten Planeten: In 170 Ländern lagen die Temperaturen über dem Schnitt der letzten 30 Jahre, und dies bekamen 99 Prozent der Menschheit zu spüren. Höhere Temperaturen und damit auch häufigere Hitzewellen sind eine unmittelbare Folge der globalen Erwärmung, die sich wissenschaftlich problemlos auf den menschengemachten Treibhausgasausstoß zurückführen lässt. Je mehr Treibhausgase in der Erdatmosphäre enthalten sind, desto größer auch der Treibhauseffekt. Und die Treibhausgaskonzentration ist im Jahr 2022 erneut gestiegen, wie die Weltorganisation für Meteorologie (WMO) Mitte November bekanntgab. 417,9 ppm (parts per million) CO2 enthielt die Erdatmosphäre 2022 im Schnitt, 2,2 ppm mehr als im Vorjahr und 150 Prozent des Kohlendioxidgehalts des Jahres 1750. Aber auch die Anteile der Treibhausgase Methan und Lachgas stiegen weiter. Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen. Kohlendioxid gilt dabei als das größte Problem, denn es baut sich am langsamsten ab, sodass der Planet noch einige Dekaden auf einem hohen Temperaturniveau verharren würde, wenn das Ziel von Netto-Null-Emissionen erreicht wäre. In der Erdgeschichte war die CO2-Konzentration in der Atmosphäre zuletzt vor drei bis fünf Millionen Jahren ähnlich hoch wie heute, so die WMO, und die Temperaturen auf der Erde waren dereinst um zwei bis drei Grad wärmer, der Meeresspiegel um zehn bis 20 Meter höher. »Selbst für Laien wird es offensichtlich sein, dass Hitzeextreme in einer sich erwärmenden Welt zunehmen werden. Aber es mag unerwartet sein, um wie viel: Monatliche Hitzeextreme, die während des Basiszeitraums 1951 bis 1980 drei Standardabweichungen über dem Durchschnitt lagen, haben bereits um das 90-fache an Häufigkeit auf der globalen Landfläche zugenommen«, schreiben die Klimaforscher*innen Giorgia Di Capua und Stefan Rahmstorf in einem im Oktober im Fachjournal »Environmental Research Letters« veröffentlichten Beitrag. Länger anhaltende Hitze sei dabei ein »silent killer«, also ein lautloser Mörder. Hitzetote sind anders als die Opfer von Stürmen und Überschwemmungen nicht mit einem Mal und unmittelbar sichtbar. Laut Climate Central war in den vergangenen zwölf Monaten bereits ein Viertel der Weltbevölkerung von gesundheitsgefährdenden Hitzewellen betroffen, die mindestens fünf Tage andauerten. Dass immer mehr Energie im Erdsystem steckt, zeigte sich auch an den Meerestemperaturen, die seit Anfang Mai in ungekannte Höhen kletterten und bereits über Monate einen Abstand von etwa 0,2 Grad zu den bisherigen Rekordwerten halten. Die diesjährigen marinen Hitzewellen sind allerdings erst der Anfang. In einer um zwei Grad wärmeren Welt würden sie 23-mal häufiger vorkommen als ohne globale Erwärmung, so Di Capua und Rahmstorf. Gestiegene Land- und Meerestemperaturen befördern die Verdunstung und damit immer extremere Starkregen, wie etwa mit dem Tiefdrucksystem »Daniel« im September im Mittelmeerraum, insbesondere in Libyen niedergingen. »Ein so extremes Ereignis, wie es über Libyen beobachtet wurde, ist bis zu 50 Mal wahrscheinlicher und bis zu 50 Prozent intensiver im Vergleich zu einem 1,2 Grad Celsius kühleren Klima«, stellte der Forschungszusammenschluss World Weather Attribution fest, der sich mit dem Anteil des Klimawandels an Extremwetterereignissen beschäftigt. Dass die Regenmengen wachsen, erscheint logisch, da die Atmosphäre pro Grad Erwärmung sieben Prozent mehr Feuchtigkeit aufnehmen kann. Allerdings verteilen sich die zusätzlichen Niederschlagsmengen nicht gleichmäßig, sondern fallen zur Hälfte an nur sechs Tagen eines Jahres, wie die Klimaforscher Angeline Pendergrass und Reto Knutti bereits 2018 darlegten. Dennoch gibt es auch Regionen, die trockener werden. Eine davon könnte das Amazonasgebiet sein, das unter der schwersten Dürre seit Beginn der dortigen Wetteraufzeichnungen vor 120 Jahren leidet. Dabei könnte inzwischen ein Kipppunkt erreicht sein, der allerdings nicht alleine auf den menschengemachten Klimawandel, sondern vielmehr auch auf die Entwaldung zurückgeht. Denn eine Besonderheit des Amazonas ist es, dass der Regen im westlichen Bereich aus der eigenen Verdunstung des Waldes in den östlichen Gebieten stammt. Ab einer Abholzung von 20 bis 25 Prozent könnte sich der Regenwald in eine Savanne verwandeln, vermuten Wissenschaftler, wobei auch das Klima negativ mitspielt. Je stärker die Erwärmung, desto weniger Entwaldung kann das System verkraften. Dass eine Vegetationsänderung im Amazonas die Niederschlagsmuster des ganzen Kontinents verändern werde, machte kürzlich eine Studie der Forscher Nils Bochow und Niklas Boers vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung deutlich. Dass Kipppunkte und Rückkopplungseffekte im Klimasystem existieren, ist ziemlich sicher, unsicher bleibt, wann sie genau eintreten. In einem Bericht zum Zustand des Klimas 2023 wünschen sich internationale Wissenschaftler*innen um die Leitautoren William J. Ripple und Christopher Wolf daher einen Sonderbericht des IPCC über Rückkopplungen und Kipppunkte im Klimasystem. In dem in »BioScience« veröffentlichten Bericht heißt es: »In Bezug auf die Klimakrise betreten wir unbekanntes Terrain, eine Situation, die in der Geschichte der Menschheit noch niemand aus erster Hand erlebt hat.« Und: »Die Wahrheit ist, dass wir von der Heftigkeit der extremen Wetterereignisse im Jahr 2023 schockiert sind.« Auch Di Capua und Rahmstorf stellen fest, dass Extremwetterereignisse mit einer Geschwindigkeit zunehmen, die die bisherigen aus thermodynamischen Gesetzen abgeleiteten Erwartungen übertreffen. Sie betonen daher, wie wichtig es ist, dynamische Effekte im Klimasystem besser zu erforschen. Dazu gehören Veränderungen des Jetstreams oder des Nordatlantikstroms. Große Ausbuchtungen im Jetstream, können gleichzeitig auftretende Hitzewellen begünstigen – und damit in mehreren Regionen die Ernten gefährden. Und auch eine Abschwächung des Nordatlantikstroms –und damit des Golfstroms, der in Europa für ein mildes Klima sorgt – und letztlich dessen Zusammenbruch zählen zu den möglichen Klimafolgen, an denen noch intensiv geforscht wird. Seit 2012 sei der Klimawandel an jedem Tag der Wetterbeobachtung zu erkennen, schreiben Di Capua und Rahmstorf: »Es gibt keine Tage mehr auf der Erde, an denen sich das globale Wetter nicht signifikant von dem unterscheidet, was es ohne menschlichen Einfluss wäre.«
Jutta Blume
Die 28. UN-Klimakonferenz steht vor der Tür. Besprochen werden dort die Fortschritte der Staaten bei ihrer CO2-Reduktion. Fest steht bereits: Die Anstrengungen reichen bei weitem nicht, die Erde erwärmt sich rasant
Klimawandel
Feuilleton
Wissen Erderwärmung
2023-11-24T16:36:09+0100
2023-11-24T16:36:09+0100
2023-11-27T18:11:53+0100
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1178033.erderwaermung-un-klimakonferenz-zu-viel-energie.html
Thomas Lutze ist der neue Chef der Saar-LINKEN
Neunkirchen. Der Bundestagsabgeordnete Thomas Lutze ist der neue Vorsitzende der LINKEN im Saarland. Auf einem Parteitag in Neunkirchen-Wiebelskirchen konnte sich der 50-Jährige am Sonntag bereits im ersten Wahlgang überraschend klar mit 73,6 Prozent der Delegiertenstimmen gegen zwei Mitbewerber durchsetzen. Lutze ist seit 2009 Bundestagsabgeordneter, er zog jeweils über die Landesliste ins Parlament ein. Der Maschinenbauer ist in Elsterwerda (Brandenburg) geboren, in Leipzig aufgewachsen und lebt seit 1991 im Saarland. Derzeit ist er noch Vorsitzender des Kreisverbandes Saarbrücken. Als seine Stellvertreter gewählt wurden Andrea Neumann, Kreisvorsitzende in Neunkirchen sowie die Landtagsabgeordnete Barbara Spaniol und Michael Bleines, Stadtverordneter in Saarbrücken. Damit hat die Saar-LINKE nach eineinhalb Jahren Vakanz wieder einen neuen Vorstand. Lutzes Vorgänger Jochen Flackus hatte wenige Monate nach seiner Wahl im November 2017 das Amt aus gesundheitlichen Gründen niedergelegt. Lutze versprach in seiner Bewerbungsrede einen politischen Neuanfang. Im neuen Vorstand werde es »um Inhalte und um Politik gehen«. So werde es künftig keine Vorstandssitzung ohne einen inhaltlichen Schwerpunkt geben, zudem sollen die Partei-AGs neu belebt werden und Partei- und Fraktionsarbeit wieder stärker vernetzt werden. Vor den Wahlen hatten einige Delegierte die Arbeit des bisherigen Vorstands scharf kritisiert. »Ich möchte gerne wissen, was der Landesvorstand politisch gemacht hat«, fragten etliche Delegierte und bemängelten einen »Stillstand in der politischen Arbeit«. Der bisherige Vorstand konnte nicht formell entlastet werden, da kein Finanzprüfbericht vorlag. Thematisiert wurde auch der Streit um den bisherigen stellvertretenden Vorsitzenden Andreas Neumann, der nicht mehr antrat. Hintergrund ist ein Strafbefehl wegen Titelmissbrauches, gegen den Neumann allerdings Widerspruch eingelegt hat. dpa/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Nach mehr als eineinhalb Jahren hat die Saar-LINKE einen neuen Vorstand und mit Thomas Lutze einen neuen Vorsitzenden. Nach heftigen internen Auseinandersetzungen riefen viele Delegierte die Partei zu Geschlossenheit auf.
LINKE, Saarland, Vorstand, Wahl
Politik & Ökonomie
Politik Vorstandswahl
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Unklare Schönheitsreparaturklausel
Regelt eine Schönheitsreparaturklausel, dass der Wohnungsmieter für das »Streichen der Innentüren, der Fenster und Außentüren von innen« verpflichtet ist, so ist unklar, ob das Streichen der Fenster auch von außen geschuldet ist, was unzulässig wäre. Diese Unklarheit geht gemäß § 305 c Abs. 2 BGB zu Lasten des Vermieters, so dass die Abwälzung der Schönheitsreparaturen insgesamt unwirksam ist. In dem zugrunde liegenden Fall stritten sich die Parteien eines Wohnraummietvertrags nach Ende des Mietverhältnisses 2019 vor dem Amtsgericht Hamburg (Az. 49 C 493/19) um die Auszahlung der Mietkaution. Diese hielt die Vermieterin zurück, da die Mieter ihrer Meinung nach nicht ihrer Schönheitsreparaturpflicht nachgekommen seien. Nach einer Klausel im Mietvertrag waren die Mieter unter anderem für das »Streichen der Innentüren, Fenster und Außentüren von innen« verantwortlich. Dieser Pflicht kamen die Mieter tatsächlich nicht nach. Das Gericht entschied zu Gunsten der Mieter. Diesen stehe ein Anspruch auf Auszahlung der Mietkaution zu. Die Mieter seien nicht zur Durchführung von Schönheitsreparaturen verpflichtet gewesen, da die entsprechende mietvertragliche Abwälzung unwirksam sei. Durch die Formulierung der Mietvertragsklausel werde nicht hinreichend deutlich, dass das Streichen der Fenster nur von innen geschuldet ist. Dies wäre nur dann der Fall, wenn sich die Formulierung »von innen« hinter dem Wort Außentüren auch auf die Fenster beziehen würde. Zweifel gehen aber insoweit gemäß § 305 c Abs. 2 BGB zu Lasten des Vermieters. kostenlose-urteile.de
Redaktion nd-aktuell.de
Es war alles unklar: Die Pflicht des Mieters zum »Streichen der Innentüren, der Fenster und Außentüren von innen« wie zur Pflicht des Streichens der Fenster auch von außen.
Mieten
Ratgeber
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Das Minderungsrecht und die Risiken
Die Frage ist nun, um wie viel Prozent gemindert werden darf. Gesetzliche Vorgaben, an denen man sich orientieren könnte, gibt es nicht. Kommt es zum Rechtsstreit, entscheiden die Richter nach ihrem Ermessen, wobei es auf die Umstände im konkreten Einzelfall ankommt. Auf Tabellen aus dem Internet sollte man sich daher nie verlassen. Selbst bei einer vermeintlich klaren Sachlage - wie einem Totalausfall der Heizung im Winter - halten einige Gerichte 50 Prozent für angemessen, andere dagegen 100 Prozent. Die oberste Regel lautet: Nie in Eigenregie mindern, sondern immer zuerst eine Rechtsberatung aufsuchen. Zwar sind auch Mietrechtsexperten nicht vor Fehleinschätzungen gefeit. Aber sie können anhand der Rechtsprechung und Erfahrungswerten zu einem realistischeren Abzug raten. »Die meisten Mieter überschätzen die Höhe der Mietminderung«, weiß Stefan Schetschorke, Leiter der Rechtsabteilung des Berl... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Das Recht auf Mietminderung ist allgemein bekannt und ausgesprochen beliebt. Angesichts einer immer restriktiveren Rechtsprechung raten Berater zum vorsichtigen Umgang mit der Mietminderung, denn sie ist nicht ohne.
Mieten, Mieter, Mietminderung, Vermieter
Ratgeber
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Van Aken: Merkel soll »Komplizenschaft mit Erdogan« stoppen
Berlin. Während Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen bei einem Truppenbesuch im südtürkischen Incirlik die umstrittene Militärkooperation der Bundesrepublik mit dem Regime von Recep Tayyip Erdoğan bekräftigt, kritisiert die Linkspartei den Türkei-Kurs der Bundesregierung. Der Bundestagsabgeordnete Jan van Aken, der sich derzeit im südosttürkischen Diyarbakir aufhält, forderte Kanzlerin Angela Merkel dazu auf, die »Komplizenschaft mit Erdogan« zu beenden. Der Bürgerkrieg gegen die Kurden, so der Außenexperte, sei »mitten im Zentrum von Diyarbakir angekommen«. Er werde versuchen, »in die abgesperrten Gebiete in Diyarbakir« hinein zu gelangen. Unter dem Deckmantel einer »Anti-Terror-Operation« führt die Regierung in Ankara einen brutalen Feldzug gegen kurdische Gruppen, die Linke und gegen bewaffnete Kräfte. In Regionen, in denen die linke kurdische Demokratische Partei der Völker bei Wahlen über 70 Prozent der Stimmen ... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Während Verteidigungsministerin von der Leyen per Truppenbesuch in Incirlik die umstrittene Militärkooperation der Bundesrepublik mit dem Regime von Erdoğan bekräftigt, kritisiert die Linkspartei den Türkei-Kurs Merkels.
Bundeswehr, IS, Kurden, LINKE, PKK, Türkei
Politik & Ökonomie
Politik
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Gewinne und Verluste der Parteien in den Wahlkreisen
Was sich zwischen 2017 und 2021 verschoben hat in den Wahlkreisen.
Moritz Wichmann
Die Linke hat überall verloren, auch die AfD hat Verluste in vielen Wahlkreisen zu beklagen. SPD und Grüne dagegen fast überall dazu gewonnen. Und bei der Union? In Bayern hat die CSU nur etwas weniger verloren als die CDU anderswo. Unsere Karten zu Zugewinnen und Verlusten der Parteien bei der Bundestagswahl.
AfD, Bundestagswahl, CDU, CSU, Die Grünen, FDP, LINKE, SPD
Politik & Ökonomie
Politik Bundestagswahl
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1157021.gewinne-und-verluste-der-parteien-in-den-wahlkreisen.html
Einigkeit war gestern
Der Verweis auf recht lange Arbeitstage in der Zentrale des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) hat bei Fritz Keller und Friedrich Curtius nicht gefehlt, als Präsident und Generalsekretär kürzlich Einblicke in den Krisenalltag gewährten. »Minimum zwölf Stunden« (Curtius) kämen schnell zusammen, was vor den historischen Ausmaßen nicht verwundert, mit dem das Coronavirus auch den größten Einzelsportverband der Welt infiziert hat. Am Montag (ab 13 Uhr) findet nun der erste Außerordentliche Bundestag statt, bei der 262 Delegierte erstmals in digitaler Form ihr Stimmrecht ausüben. Es geht neben Haftungsbeschränken für die Entscheidungsträger vor allem um Beschlussfassungen für die DFB-Spielklassen. Die Paragrafen hatten eine Pandemie nicht vorgesehen, die von Mecklenburg-Vorpommern bis Bayern den Spielbetrieb unterbricht. Zum Spaltpilz für die Vertreter aus Regional- und Landesverbänden wird dabei die Saisonfortsetzung der 3. Liga. Während die Frauen-Bundesliga bis auf den Sonderfall des Tabellenletzten FF USV Jena weitgehend klaglos am 29. Mai weiterspielen will, stellt sich die höchste Männerspielklasse unter DFB-Obhut bei der Saisonfortsetzung am 30. Mai teilweise quer. Ob zu Pfingsten hier wirklich der Ball rollt, erscheint angesichts der Verweigerungshaltung und Klageandrohung einzelner Klubs wie dem 1. FC Magdeburg zweifelhaft. Die Landesverbände Sachsen und Sachsen-Anhalt wollen beim Bundestag einen Saisonabbruch ohne Absteiger erwirken. Der saarländische Verband will eine zweigleisige 3. Liga (Nord- und Süd-Staffel) mit je 18 Vereinen. Beide Anträge dürften keine Mehrheit finden, aber die Kampfabstimmungen kommen zur Unzeit. Viele vermissen Führungsstärke vor allem bei der Person Keller, der teils eigenartige Prioritäten gesetzt hat. Dem DFB wird gar panikartiges Krisenmanagement vorgeworfen, nachdem erst kürzlich beschlossen wurde, die Drittligasaison in einem engen Zeitfenster bis zum 4. Juli durchzupeitschen. Nun steht der Antrag zur Abstimmung, dass der DFB-Vorstand bei einem späteren Saisonabbruch mit den Fragen zur Auf- und Abstiegsregelung betraut werden sollte. Einer Aufstockung auf 24 oder 25 Teams wird eine klare Absage erteilt. Dann müssten die Saison 2020/21 fast ununterbrochen in Englischen Wochen gespielt werden - und ein Großteil ja wohl mit Geisterspielen ohne Zuschauereinnahmen. Eigentlich ist die Liga mit seinen vielen Traditionsvereinen spannend wie attraktiv, was 8674 Zuschauer im Schnitt belegen. Aber 25 Millionen Euro generierte Einnahme aus der Vermarktung von DFB-Seite reicht vielen Klubs nicht, die auf Gedeih und Verderb an die von der Deutschen Fußball-Liga verwalteten Fleischtöpfe der Lizenzligen gelangen wollen. »Das heterogene Erscheinungsbild der 3. Liga belastet uns alle«, klagt Curtius, der die unterschiedlichen Gemengelagen »als Ausfluss jener Pluralität« in den Bundesländern ansieht, die sich auch der DFB einst sehr bewusst gegeben hat. Selten war in jüngerer Vergangenheit eine Thematik so brisant und das Streitpotenzial so immens wie die Zukunftsfrage der 3. Liga, für deren strukturelle Problematik die Corona-Krise »wie ein Brandbeschleuniger« (Curtius) gewirkt hat. Die DFB-Spitze hat nicht verhindern können, dass sich der lange schwelende Streit zu einem Flächenbrand ausgeweitet hat. Streitlustige Klubvertreter wie Manager Markus Kompp vom Tabellenzweiten Waldhof Mannheim - der Aufsteiger hat eine Rechnung im fünfstelligen Bereich für Desinfektionsmaterial, Masken und Arbeitszeit demonstrativ an den DFB geschickt - gießen weiter Öl ins Feuer. Weitere Mitstreiter sind ebenfalls nicht gewillt, das für die DFB-Spielklassen mit konzipierte Hygiene- und Sicherheitskonzept umzusetzen. Speziell im Osten sind die Probleme vielschichtig: Die einen können aufgrund der behördlichen Verfügungslagen derzeit nicht mal trainieren, die anderen dürfen kein Stadion nutzen. Beispiel Jena: Sowohl der Drittligist Carl Zeiss Jena als auch der Frauenbundesligist FF USV Jena bekommen keine Ausnahmegenehmigung zur Wiederaufnahme des Trainings- und Spielbetriebs vor dem 5. Juni. Ansage aus dem Krisenstab der Stadt: »Die Regeln während einer Pandemie stellen Regierungen und Gesundheitsbehörden auf, nicht der DFB.« Und so sind aus doppeltem Grund die Zeiten vorbei, dass bei einem Bundestag im großen Kongresssaal auf dem Frankfurter Messegelände lauter grüne Stimmkärtchen in die Höhe gehen.
Frank Hellmann, Frankfurt am Main
Ausgerechnet der erste virtuelle Bundestag in der DFB-Geschichte birgt Zündstoff - dass die Konflikte mit der 3. Liga mit den Pandemie-Beschlüssen am Montag beigelegt werden, ist unwahrscheinlich.
DFB, Fußball, Thüringen
Sport
Sport Fußball
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1137051.einigkeit-war-gestern.html
Ohne Ärger in die eigene Immobilie
Beim Bau der eigenen vier Wände lauert mancher Stolperstein: Laut Bauherren-Schutzbund und Institut für Bauforschung ist das Mängelaufkommen bei privaten Bauvorhaben in den letzten Jahren um zehn Prozent gestiegen. Durchschnittlich 20 Mängel treten während des Bauverlaufs auf, bei der Schlussabnahme werden etwa zehn weitere entdeckt. Der Bau des Eigenheims beginnt mit der Unterschrift auf dem Bauvertrag. Dort sollte der Baubeginn explizit festgelegt werden. Wird er nicht eingehalten, kann der Bauherr mit dem Entzug des Auftrags drohen. Dasselbe gilt für Fertigstellung und Übergabe: »Ende Mai 2016« ist kein verbindliches Datum, auf das sich Bauherren rechtswirksam berufen können. Idealerweise werden Ausführungsfristen für verschiedene Bauphasen vertraglich festgeleg... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Stefan Bernhardt
Pfusch am Bau und Verzögerungen sind nicht nur ärgerlich, sondern können Bauherren auch finanziell schwer schädigen. Wie schützt man sich dagegen rechtlich ab?
Eigenheim, Hausbau
Ratgeber
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1005278.ohne-aerger-in-die-eigene-immobilie.html
Die drängenden Probleme gemeinsam diskutieren
Bücherstände über Bücherstände. Vergilbte Raubdrucke liegen neben eingeschweißten Neuveröffentlichungen, Antifa-T-Shirts teilen sich die Tische mit Buttons. Auf einem Transparent steht »Bleiberecht für alle«, an anderer Stelle hängt eine Kuba-Fahne. Beim Betreten der Nürnberger Kulturwerkstatt - es ist die 24. Linke Literaturmesse - fällt einem alles mögliche an progressiven Büchern in die Hand. Ob die aktuellen Veröffentlichungen zu digitalem Kapitalismus und verbindender Klassenpolitik, ob Werke über die französischen Gelbwesten, Bücher der kurdischen Freiheitsbewegung oder Klassiker wie Marx und Bakunin. Zwischen den Ständen strömen Besucher aller Altersklassen hin und her, Diskussionsfetzen erfüllen die Gänge. Nach Angaben der Veranstalter besuchten rund 1500 Gäste von Freitag bis Sonntag die Messe. Auf zwei Etagen hatten sich Dutzende linke Verlage und Organisationen präsentiert. Rund 50 Vorträge und Diskussionsrunden bo... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Sebastian Bähr
Auf der 24. Linken Literaturmesse in Nürnberg standen die Themen Klima, Antifaschismus und Mietenkämpfe im Fokus
Antifa, Bayern, Buchmesse, DDR, Kapitalismus, Kapitalismuskritik, linke Bewegung, Literatur, Mieten, Nürnberg
Feuilleton
Kultur
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1128067.die-draengenden-probleme-gemeinsam-diskutieren.html?sstr=Linke|Literaturmesse
1. Mai-Demonstration läuft unangemeldet durch Myfest
Die Route der Revolutionären 1.-Mai-Demonstration steht fest. »Wir gehen durch SO 36. In den letzten Jahren war uns das verwehrt worden«, sagt Bündnissprecher Marko Lorenz, der eigentlich anders heißt, am Sonntag. Er bestätigt, dass es sich bei einer Karte mit der eingezeichneten Route, die dem »nd« vorliegt, um die Strecke der nicht angemeldeten 18-Uhr-Demonstration handelt, die das Vorbereitungsbündnis vor wenigen Tagen festgelegt hat. Start ist demnach, wie bereits angekündigt, der Oranienplatz in Kreuzberg. Nach einem Abstecher durch Neukölln sollen die Demonstranten zurück nach Kreuzberg laufen bis zum Spreewaldplatz. Ein Teil der Strecke verläuft über das Myfest, das 2003 eingeführt wurde, um nach mehreren Jahren gewalttätiger Proteste wieder einen friedlichen 1. Mai in Kreuzberg zu etablieren. Die Polizei hatte in den vergangenen Jahren dem Revolutionären 1.-Mai-Bündnis regelmäßig untersagt, durch die Straßen zu laufen, auf denen Menschen auf dem Myfest feierten. 2016 startete ein Teil der 18-Uhr-Demo dennoch bereits am Oranienplatz zwischen zwei Bühnen, statt wie von der Polizei vorgegeben, am Moritzplatz. Dieses Jahr wollen die Organisatoren eine noch längere Strecke über das Myfest gehen, nämlich durch die Naunynstraße. »Wir gehen an verschiedenen Orten vorbei, an denen in der letzten Zeit wichtige Kämpfe gegen Verdrängung und für ein Bleiberecht ausgefochten wurden«, sagt Lorenz dem »nd«. Dies seien beispielsweise der Oranienplatz, an dem 2012 Geflüchtete gegen ihre Abschiebung demonstriert hatten, die Ohlauer Straße, wo Google einen Campus einrichten wolle, der die Gegend weiter aufwerte und damit verteuere. Von der Ohlauer Straße soll es über den Landwehrkanal nach Neukölln gehen. »Wir laufen durch Nordneukölln, ein Kiez, der Symbol für Aufwertung und Verdrängung und in dem jetzt nur noch Platz für reiche Yuppies ist«, so Lorenz. Exemplarisch stehe dafür der Kiezladen in der Friedelstraße 54, dem seit Anfang April die Räumung droht. Über Weser- und Pannierstraße soll es zurück nach Kreuzberg gehen. »In der Reichenberger Straße laufen wir am Café Filou dabei, das ein gutes Beispiel dafür ist, dass es Erfolg hat, wenn sich ein Kiez wehrt«. Der Mietvertrag des Cafés lief aus und sollte zunächst nicht verlängert werden. Nach Protesten knickte der Vermieter ein. Schließlich soll der Zug wieder in die Ohlauer Straße einbiegen. Dort liegt die Gerhart-Hauptmann-Schule, in der noch immer einige der Geflüchteten vom Oranienplatz leben. Auch auf der HipHop-Bühne des Myfests am Oranienplatz soll es politisch zugehen. Die Antifaschistische Revolutionäre Aktion Berlin (ARAB), ehemals Mitglied des Bündnisses für die Revolutionäre 1.-Mai-Demo, kündigte am Sonntag eine »Block Party gegen Gentrifizierung und Abschiebung« an. Beteiligt sind daran das Rap-Label »Royal Bunker« des Musikjournalisten Marcus Staiger und das Kreuzberger Label 36Kingz, das die HipHop-Bühne seit dem ersten Myfest organisiert. Auftreten soll unter anderem Prinz Pi. Gemeinsam wolle man über die aktuellen Probleme im Kiez diskutieren, hieß es in einer Mitteilung. »Und natürlich wollen wir auch gemeinsam feiern, bevor wir um 18 Uhr unsere Anliegen mit einer kraftvollen und kämpferischen Demonstration auf die Straße tragen.« Der 1. Mai in Kreuzberg stehe seit 30 Jahre »für eine klare Absage an die herrschende Politik und die Utopie einer selbstorganisierten Gesellschaft.« Bis jetzt ist die Revolutionäre 1.-Mai-Demonstration nicht angemeldet, wie es das Versammlungsrecht eigentlich vorsieht: Das Bündnis will sich die Route nicht vorschreiben lassen. In der Regel sei die Demonstration bereits ein Jahr im Voraus angemeldet worden. Die Polizei habe aber regelmäßig die Strecke zugunsten des Myfests verändert, hatte Lorenz bereits Ende März dem »nd« gesagt. Die Polizei sieht das gelassen. »Wir gehen davon aus, dass die Demonstration stattfindet und werden auch dort sein«, sagt ein Sprecher am Sonntag dem »nd«. Polizeipräsident Klaus Kandt hatte bereits Anfang April gesagt: »Das Sicherheitskonzept steht fest, es ist ähnlich wie letztes Jahr.« Nicht alle Bündnisteilnehmer sind glücklich mit der Entscheidung, die Demonstration nicht anzumelden. Der »Internationalistische Block«, zu dem palästinensische, kurdische und baskische Gruppen gehören, hat eine eigene Demonstration für 16 Uhr ab dem Lausitzer Platz angekündigt. Zur Begründung hieß es, eine Nichtanmeldung schade dem Ziel, Teilnehmer über die linksradikale Szene hinaus zu mobilisieren. Viele Geflüchtete beispielsweise trauten sich nicht teilzunehmen, weil sie mehr Angst vor Repressionen hätten. Auch der »Jugendblock« hat eine eigene Demonstration ab 16 Uhr angemeldet. Vom Michaelkirchplatz soll es über die Heinrich-Heine-Straße zum Wassertorplatz gehen. Ein Sprecher der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend (SDAJ) sagte dem »nd«, es habe Bedenken gegeben, ob man Schüler und Schutzsuchende zu einer nicht angemeldeten Demonstration mobilisieren solle. »Wie repressiv die Polizei mit der 18-Uhr-Demonstration umgehen wird, wird erst vor Ort und auf der Strecke zu erkennen sein. Wir wollten nicht verantworten, unbedacht Jugendliche in eine solche Situation zu bringen.« Man sehe sich aber nicht als Konkurrenz zu anderen Demonstrationen an dem Tag.
Johanna Treblin
1987 war der Auftakt der Revolutionären 1.-Mai-Demonstrationen. 30 Jahre später wollen die Organisatoren die 18-Uhr-Demo nicht anmelden und durch das Myfest laufen. Damit sind nicht alle einverstanden.
Berlin, Polizei
Hauptstadtregion
Berlin
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1048891.mai-demonstration-laeuft-unangemeldet-durch-myfest.html
Klassenkampf gegen Faschismus
Rechtsextreme Einstellungen sind auch unter gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten weit verbreitet. Bei der Landtagswahl in Hessen im Oktober wählten rund 21 Prozent der DGB-Gewerkschaftsmitglieder die Partei Alternative für Deutschland (AfD), was knapp drei Prozent mehr waren als der Rest der Bevölkerung. Ähnliche Ergebnisse konnte die völkische Partei auch zur Landtagswahl in Bayern erzielen. Diese Zahlen könnten bei den anstehenden Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg im Jahr 2024 noch übertroffen werden. Eine am Dienstag veröffentlichte Studie im Auftrag der gewerkschaftsnahen Otto-Brenner-Stiftung zeigt, wie der Arbeitsalltag im Betrieb das Demokratieverständnis von Beschäftigten in Ostdeutschland prägt – und wie sich dem Erstarken der extremen Rechten etwas entgegensetzen ließe. Die Forschungsergebnisse verdeutlichen: Das Gefühl, keinen Einfluss auf betriebliche Arbeitsprozesse zu haben, begünstigt autoritäre Einstellungen. »Unsere Studie zeigt, dass Beschäftigte weniger anfällig für rechtsextreme Einstellungen sind, wenn sie ihren Arbeitsalltag mitgestalten und im Betrieb mitbestimmen können«, erklärt Studienautor Andre Schmidt im Gespräch mit »nd«. Der Soziologe ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Else-Frenkel-Brunswik-Institut der Universität Leipzig und forscht zu sozialen Konflikten und der Demokratisierung der Arbeitswelt. Die Ergebnisse korrelieren zudem mit der Gewerkschaftsmitgliedschaft der Befragten. Allerdings reicht dies allein nicht aus: »Es ist wichtig, dass sich die Beschäftigten im Betrieb handlungsfähig erleben«, betont Schmidt. Dafür braucht es eine gewerkschaftliche Verankerung und demokratische Mitbestimmungsstrukturen. Die sind insbesondere in Ostdeutschland schwach ausgeprägt, weshalb die Bedingungen für demokratische Erfahrungen im Betrieb dort ungünstig sind, erläutert der Soziologe. Nur etwa zehn Prozent der ostdeutschen Beschäftigten sind gewerkschaftlich organisiert. Das sind zwei Prozent weniger als im Bundesdurchschnitt. Und weniger als die Hälfte der Beschäftigten im Osten ist durch einen Tarifvertrag geschützt. Zudem beträgt der Lohnunterschied zwischen Ost- und Westdeutschland im Schnitt 17 Prozent. Dies hängt mit der Deindustrialisierung nach der Wende zusammen, die mit einer hohen Erwerbslosigkeit und einer Niedriglohnpolitik einherging. Im Tausch gegen Lohnverzicht, berufliche Entwertung und schlechte Arbeitsbedingungen erhielten die Beschäftigten weitgehende Arbeitsplatzsicherheit – insbesondere in ländlichen Regionen. Dies habe eine Mentalität des »Arbeitsspartaners« hervorgebracht, die durch hohe Leistungsbereitschaft bei gleichzeitigem Verzicht auf eigene Bedürfnisse und Interessen gekennzeichnet sei. Hier zeigen sich indes Unterschiede zwischen den einzelnen ostdeutschen Bundesländern. So schneidet Sachsen mit Blick auf die demokratischen Erfahrungen im Betrieb im Vergleich zu Brandenburg und Sachsen-Anhalt besonders schlecht ab. »Es gibt in Sachsen nicht nur eine autoritäre Kultur im politischen Raum, sondern auch in den Betrieben«, betont Schmidt. Dies sei ein günstiger Nährboden für rechtsextreme Einstellungen. Allerdings hat in den Industriezentren Sachsens, Thüringens und in Teilen Sachsen-Anhalts in den vergangenen Jahren eine Reindustrialisierung eingesetzt, hauptsächlich in der Automobil- und Metallindustrie, zum Beispiel in den Großstädten Chemnitz, Dresden und Leipzig. In den letzten Jahren ist zudem die Erwerbslosigkeit gesunken und die Löhne sind gestiegen. Auch vor dem Hintergrund haben die betriebliche Organisation und das gewerkschaftliche Engagement zugenommen. »Das selbstbewusste Auftreten der Beschäftigten in aktuellen Arbeitskämpfen ist in dem heute zu beobachtenden Ausmaß neu«, stellen die Forscher*innen in ihrer Studie fest. Das soll gestärkt werden, da es sowohl zu einer besseren Tarifbindung und damit zu höheren Löhnen führt als auch die demokratische Mitbestimmung in der Arbeitswelt vergrößert. Die dürfe indes nicht nur formal existieren. Sie müsse beteiligungsorientiert sein und die partizipative Gestaltung von Arbeitsprozessen ermöglichen, betont Schmidt. Wie das aussehen kann, ließe sich zum Beispiel bei Daimler in Untertürkheim beobachten. Nachdem der AfD-nahe Verein »Zentrum Automobil« dort bei den Betriebsratswahlen 2018 zunächst an Einfluss gewonnen hatte, hat die IG Metall eine Strategie entwickelt, um die Beschäftigten stärker einzubeziehen. »Die Betriebsräte sind häufiger in die Werkshallen gegangen, haben sich Meinungen aus der Belegschaft angehört und haben so die Basis gestärkt.« Zudem sind sie mit ihrer Kampagne für Arbeitszeitverkürzung offensiver in den Konflikt gegangen und konnten so den Einfluss der völkischen Gewerkschaft zurückdrängen, betont der Soziologe. Dabei sei es jedoch wichtig zu berücksichtigen, dass rechtsextreme Einstellungen nicht automatisch durch mehr Mitbestimmung verschwinden. »Was bereits in der Gesellschaft an autoritärer Persönlichkeit geformt ist, kann nicht gänzlich im Betrieb verändert werden«, betonen die Sozialforscher*innen in ihrer Studie. Aber die demokratische Mitbestimmung kann ihr mittelfristig etwas entgegensetzen, unterstreicht Schmidt. In den Gewerkschaften wird diese Diskussion intensiv geführt. Auf dem letzten Gewerkschaftstag hat die neue Vorsitzende der IG Metall, Christiane Benner, angekündigt, sich für eine Ausweitung der demokratischen Mitbestimmung in den Betrieben einzusetzen. Ob dies im Sinne einer konfliktorientierten Gewerkschaftsarbeit geschieht, hängt auch von den Beschäftigten vor Ort ab.
Felix Sassmannshausen
Eine neue Studie zeigt: Die Demokratisierung der Wirtschaft könnte nicht nur für mehr soziale Gerechtigkeit sorgen, sondern auch beim Kampf gegen den Autoritarismus helfen.
Ostdeutschland, Rechtsradikalismus, Sachsen
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt Betriebliche Mitbestimmung
2023-12-12T17:52:53+0100
2023-12-12T17:52:53+0100
2023-12-15T12:20:41+0100
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1178471.betriebliche-mitbestimmung-klassenkampf-gegen-faschismus.html
Pekings handzahmer Lieblingssohn
Als Chinas Präsident Xi Jinping am Mittwochnachmittag aus dem Flugzeug stieg, warteten am Macauer Flughafen bereits Dutzende Kinder mit Blumensträußen auf das Staatsoberhaupt. Zum zweiten Mal seit 2014 besucht Xi die einstige portugiesische Kolonie, und noch an Ort und Stelle hielt er eine vierminütige Rede voll überschwänglichen Lobs. »Die Errungenschaften, die Macau nach der Rückgabe ans Mutterland erreicht hat, erfüllen die Leute mit Stolz«, sagte Xi - und fügte einen indirekten Seitenhieb gen Hongkong an: Macau habe das Prinzip »Ein Land, zwei Systeme« stets ernst genommen. Hongkong nicht, so die unausgesprochene Botschaft. Am 20. Dezember jährt sich die Rückgabe der von Portugal verwalteten Kolonie an Festlandchina nun zum 20. Mal. Nur eine Fährstunde entfernt liegt mit Hongkong die zweite Sonderverwaltungszone, beide Städte sind zudem mit einer riesigen Brücke miteinander verbunden. Politisch könnten die zwei Nachbarn jedoch... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Fabian Kretschmer, Peking
Seit sechs Monaten wird in Hongkong demonstriert. In Macau, der anderen Sonderverwaltungszone bleibt es ruhig - dafür gibt es Gründe.
China, Portugal
Politik & Ökonomie
Politik
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Linksruck in Madrid und Barcelona
Madrid. Zwei aus der Protestbewegung Indignados (Die Empörten) hervorgegangene Kandidatinnen stehen seit Samstag an der Spitze der beiden größten Städte Spaniens. Mit absoluter Mehrheit wurde die 71-jährige Ex-Richterin Manuela Carmena zur neuen Bürgermeisterin von Madrid gewählt. In Barcelona wurde die 41-jährige Aktivistin Ada Colau die erste Frau an der Spitze des Rathauses. »Vielen Dank. Jetzt sind wir alle Bürgermeister«, schrieb Carmena im Online-Dienst Twitter unmittelbar nach ihrer Amtseinführung. Sie verdrängte die seit 24 Jahren regierende konservative Partido Popular (PP) aus dem Rathaus der spanischen Hauptstadt. Carmenas von der linken Partei Podemos unterstütztes Bündnis Ahora Madrid hatte bei den Kommunal- und Regionalwahlen Ende Mai 20 Sitze geholt. Auch die neun Abgeordneten der Sozialisten stimmten nun für die 71-Jährige und verschafften ihr so die Mehrheit im Stadtrat. Die frühere Richterin war in jungen Jahren im kommunistischen Widerstand gegen Spaniens damaligen Diktator Francisco Franco aktiv. Wie andere Mitglieder von Ahora Madrid engagierte sie sich in der 2011 entstandenen Indignados-Bewegung gegen die Spar- und Reformpolitik der Regierung. Auch in der katalanischen Hauptstadt Barcelona feierte die linke Protestbewegung bei der Kommunalwahl große Erfolge. Ada Colau, die sich im Wahlkampf besonders gegen Zwangsräumungen engagiert hatte, übernahm ebenfalls am Samstag für das Bündnis Barcelona En Comú das Amt der Bürgermeisterin. Colaus Plattform hatte bei der Wahl mit elf Mandaten einen Sitz mehr als die bisher regierende nationalkonservative CiU errungen. Am Samstag konnte sie sich mit 21 zu zehn Stimmen gegen den bisherigen Amtsinhaber Xavier Trias durchsetzen. Wie in Madrid hatten die Konservativen auch in Spaniens zweitgrößter Stadt Barcelona vergeblich versucht, ein Bündnis gegen die Aktivistin zu schmieden. Colau wurde von der republikanischen Linken ERC und den katalanischen Sozialisten PSC mitgewählt. Carmena wie Colau hatten im Wahlkampf angekündigt, besonders gegen wirtschaftliche Ungleichheit vorgehen zu wollen. Sie planen unter anderem, die Zwangsräumungen von Wohnungen zu beenden sowie die Strompreise zu senken. Beide wollen ihre Bürgermeistergehälter auf 2200 Euro monatlich senken - ihre Vorgänger kamen auf ein Jahresgehalt von 140 000 Euro. Colau kündigte an, dass die Bezüge der Stadtverordneten auf 2200 Euro monatlich gestutzt werden; Dienstwagen soll es nicht mehr geben. »Wir werden mit den Privilegien aufräumen und mit gutem Beispiel vorangehen.« Mit dem eingesparten Geld will Colau den vielen Armen helfen, welche Spaniens tiefe Wirtschaftskrise in dieser Millionenstadt zurückließ: Sie möchte jenen, die durch Arbeitslosigkeit oder Wohnungsräumung alles verloren haben, eine kleine Stütze zahlen. Obdachlose Familien sollen Sozialwohnungen bekommen. Weitere gerichtliche Pfändungen, mit denen immer noch viele Mittellose aus ihren vier Wänden geklagt werden, will sie stoppen. AFP/nd Kommentar Seite 4
Redaktion nd-aktuell.de
Carmena und Colau zu Bürgermeisterinnen gewählt
Barcelona, Madrid
Politik & Ökonomie
Politik
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Die Bahn rettet Pfingsten
Berlin. Matthias Platzeck (SPD) und Bodo Ramelow (Linkspartei) sind am Donnerstag als Schlichter im festgefahrenen Tarifkonflikt bei der Bahn nominiert worden. Der frühere brandenburgische Ministerpräsident Platzeck vertritt die Interessen des Staatsunternehmens und der amtierende thüringische Regierungschef Bodo Ramelow die der Lokomotivführergewerkschaft GDL. Nach der Einigung auf die Schlichtung haben die Lokführer ihren Ausstand beendet. Nach Gewerkschaftsangaben vereinbarten beide Parteien ebenfalls Grundlagen für einen Flächentarifvertrag für das Zugpersonal. Mit der Verständigung habe sich »das Feigenblatt Bahnstreik«, mit dem die Bundesregierung das geplante Tarifeinheitsgesetz begründete, »in Luft aufgelöst«, kommentiert Jutta Krellmann von der Linksfraktion im Bundestag. Nach Interpretation der GDL sind nun unterschiedliche Tarifabschlüsse bei den im Unternehmen konkurrierenden Gewerkschaften möglich. Die Bahn habe zugesagt, dass die von der GDL vertretenen Mitglieder auch dann Tarifverträge bekämen, wenn es keine Tarifeinheit gebe, erklärte GDL-Chef Claus Weselsky. Das sei schriftlich festgehalten worden. Bahnpersonalvorstand Ulrich Weber kündigte dagegen an, dass die Bahn dafür sorgen werde, in entscheidenden Punkten kollidierende Regelungen zu vermeiden. Derweil geht der Arbeitskampf in den kommunalen Kindertagesstätten weiter. Rund 200 Erzieherinnen und Erzieher haben am Donnerstag an Streikkundgebungen in Erfurt und Jena teilgenommen. Nach Pfingsten sollen die Streiks in Brandenburg sogar ausgeweitet werden. Voraussichtlich würden dann rund 2000 Beschäftigte in den Ausstand treten, erklärte ver.di-Fachbereichsleiter Erich Mendroch. Agenturen/nd Seiten 2 und 3
Redaktion nd-aktuell.de
Zugeständnis an GDL / Nach Streik sollen Platzeck und Ramelow schlichten
Bahn, Deutsche Bahn, GDL, Streik
Politik & Ökonomie
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Zum Fremdschämen
Waren diese Leute in den letzten Monaten eigentlich mal einkaufen? Oder tanken? Kaum anzunehmen. Und selbst wenn: Was juckt es eine Ministerin oder einen Minister, wenn die Inflationsrate bei fast vier Prozent liegt? Dennoch irritiert die Kaltschnäuzigkeit, mit der das Kabinett diese Woche die Erhöhung der ohnehin viel zu niedrigen Hartz-IV-Regelsätze um lächerliche drei Euro beziehungsweise 0,7 Prozent festgelegt hat. Zum 1. Januar 2022 wohlgemerkt. Zurecht kritisierten die Gewerkschaften dies als faktische Kürzung, und zwar eine drastische. Denn gerade die Strompreise schossen jüngst gar im zweistelligen Prozentbereich in die Höhe. Es bleibt also dabei: Hartz IV ist Armut per Gesetz, und zwar mit Zustimmung von SPD-Sozialminister Hubertus Heil - der sich dieser Tage scharf von der Linkspartei abgrenzte. Folglich dürfte es ihm ebenso wie SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz auch mit der Forderung nach einem Mindestlohn von zwölf Euro pro Stunde nicht sonderlich ernst sein. Denn in einer Regierung unter Beteiligung der FDP würden sie den nicht bekommen. Dabei ist diese Anhebung der Entgeltuntergrenze so dringend nötig wie ihre direkte Festlegung durch die Regierung. Denn in der Kommission, die über deren jährliche Anhebung entscheidet, sitzen bekanntlich auch Vertreter der Unternehmerverbände. Das in Angriff zu nehmen, wären die Sozialdemokraten insbesondere den oft besonders prekär und in Teilzeit im Dienstleistungsbereich »hart arbeitenden Menschen« schuldig, denen sie immer so gern Respekt bekunden. Wirklich geholfen wäre ihnen nur mit einem Mindestlohn von zwölf Euro und mehr. Das ist das Ergebnis einer am Freitag veröffentlichten Studie der Hans-Böckler-Stiftung. Demnach würden von einer Anhebung der Entgeltuntergrenze auf dieses Niveau vor allem Hunderttausende Frauen, Menschen in Ostdeutschland, aber auch in Niedersachsen und Schleswig-Holstein profitieren.
Jana Frielinghaus
Das Kabinett hat den Hartz-IV-Regelsatz um drei Euro angehoben. Das ist eine Erhöhung um gerade mal 0,7 Prozent bei einer Inflationsrate von fast vier Prozent. Faktisch haben die Bezieher der Leistung also immer weniger in der Tasche.
Armut, Hartz IV, Mindestlohn, SPD
Meinung
Kommentare Hartz IV und Mindestlohn
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Ein »verrottetes Parlament«
»Das verrottete Parlament«, titelte der konservative »Daily Telegraph«, der den Skandal enthüllt hatte, und bemängelte, dass die Volksvertreter »gelangweilte, geldgierige Gauner« seien. Das bezog die Zeitung vor allem auf die drei Labour-Abgeordneten Elliot Morley, David Chaytor und Jim Devine, die als angeblich schlimmste Sünder ab April vor Gericht stehen könnten. Morley, ein ehemaliger Umweltminister, hat 18 Monate lang die Auslagen für eine bereits abbezahlte Hypothek von der öffentlichen Hand erstatten lassen. Hinterbänkler Chaytor bekam die Mietkosten für eine Wohnung erstattet, die ihm selbst gehörte, während Devine für Wohnungsreinigung und Schreibpapier gefälschte Quittungen vorgelegt haben soll. Dabei verdient ein einfacher Abgeordneter umgerechnet knapp 6000 Euro im Monat, das Dreifache des Durchschnittsgehalts im Lande. Die Beschuldigten fühlen sich als Opfer einer unklaren, sich im nachhinein ändernden Gesetzeslage. Sie wollen sich angeblich mit der Doktrin des »parlamentarischen Privilegs« vor einem Prozess drücken, sich also nicht vor zwölf Geschworenen, sondern nur vor einem Ausschuss anderer Parlamentarier verantworten. Das dürfte nicht zur Beruhigung des Wahlvolkes beitragen, wie Liberalenführer Nick Clegg feststellte. Das angeführte Gesetz sei 1689 zum Schutz der Redefreiheit der Abgeordneten gegen die Willkür des Königshauses verabschiedet worden und habe mit den Spesentricks des 21. Jahrhunderts nichts zu tun. Dabei sind diese Fälle – auch der Fall des Tory-Lords Hanningfield, der als Oppositionssprecher im Oberhaus eilig zurücktrat – nur die Spitze des Eisbergs. Labour-Abgeordnete beanspruchten Volkes Hilfe bei Badestöpseln und Pornofilmen für den Gatten. Noch bunter trieben es die Tories: hier mal 20 000 Euro für die Reinigung des Grabens von Douglas Hoggs Wasserschloss, da eine ähnliche Summe für die künstliche Insel auf dem Gut von Sir Peter Viggers zugunsten der dortigen Wildenten. Zu den Prominenten, die Geld zurückzahlen mussten, gehörten auch Premierminister Gordon Brown und Tory-Chef David Cameron. Der schottische Pfarrersohn beanspruchte zu viel für Reinigungs- und Gartenarbeiten – um den Beschäftigten mehr als den Mindestlohn zu zahlen? Cameron verlangte jahrelang wegen seiner Hypothek den höchsten zulässigen Betrag. Doch statt vom »Torygraph« gegeißelt zu werden, verdonnerte der aalglatte Börsenmaklersohn alle Kollegen zur Ehrlichkeit und nutzte die Krise, um alte Hasen aus der Fraktion zum Verzicht auf eine neue Kandidatur zu bringen. Die Affäre dürfte Labour als Regierungspartei bei Neuwahlen mehr schaden als den Tories, von denen man ohnehin nichts Besseres gewohnt war. Dabei hat die Spesengeschichte nicht nur den Zynismus bestärkt, sondern auch viel Schlimmeres aus den Schlagzeilen verbannt. Englands größtes Unternehmen etwa, die Waffenschmiede BAe Systems, muss nach einer außergerichtlichen Einigung mit US-amerikanischen Behörden wegen »Buchhaltungsfehler« eine Geldstrafe von umgerechnet 300 Millionen Euro berappen. In Wirklichkeit geht es um Bestechungsgelder von über einer Milliarde Euro an den saudischen Prinzen Bandar. Doch das steht dieser Tage wegen der Abgeordneten eher im Kleingedruckten.
Ian King, London
Über die Hälfte der britischen Abgeordneten muss unrechtmäßig beantragte Spesen im Gesamtwert von 1,4 Millionen Euro zurückzahlen. Drei Labour-Abgeordneten und einem konservativen Lord drohen Prozesse und bis zu sieben Jahre Haft.
Gerichtsverfahren, Großbritannien, Haft, Redefreiheit
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Lawrow: Donbass soll bei der Ukraine bleiben
Kiew/Moskau. Der russische Außenminister Sergej Lawrow hat sich ungewöhnlich deutlich für einen Verbleib des Separatistengebiets Donbass im Staatsverband der Ukraine ausgesprochen. Die Probleme in den Krisenregionen Donezk und Lugansk müssten von der Führung in Kiew gelöst werden, sagte er der Agentur Interfax. Den Unruhegebieten dürfe »nichts aufgezwungen« werden. So müsse die Bevölkerung etwa über den Gebrauch der russischen Sprache entscheiden dürfen. Im Kampf gegen prorussische Separatisten im Osten des Landes setzt die prowestliche Regierung in Kiew weiter auch auf Härte. Präsident Petro Poroschenko ernannte Ex-Parlamentschef Alexander Turtschinow am Dienstag zum neuen Sekretär des Sicherheitsrats. Der 50-Jährige gilt als Befürworter einer militärischen Lösung der Krise. Turtschinow müsse vor allem gegen eine weitere Destabilisierung der Lage kämpfen, sagte der Präsident. Eine Woche nach Beginn der neuen Waffenruhe ... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Russland sieht vor dem Wintereinbruch im Krisengebiet Donbass die Regierung der Ukraine in der Pflicht. Ein neuer Wortführer in Kiew steht allerdings nicht für eine politische Lösung der Krise.
Kiew, Russland, Sergej Lawrow, Ukraine, Winter
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Ver.di klagt gegen Ladenöffnung
Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di geht erneut gerichtlich gegen einen verkaufsoffenen Sonntag in Berlin vor. Ver.di will damit die Ladenöffnungen am 30. September, dem Abschlusstag der Berlin Art Week, unterbinden. Das Verwaltungsgericht Berlin bestätigte am Mittwoch den Eingang der Klage und des Eilantrages beim Verwaltungsgericht. Der 30. September ist der sechste von insgesamt acht für 2018 von der zuständigen Senatsverwaltung genehmigten verkaufsoffenen Sonntagen. Nach Einschätzung von ver.di ist die Art Week zu unbedeutend, um ein öffentliches Interesse für die Sonntagsöffnung zu begründen. epd/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Berlin, verdi
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»Raus mit Dilma«
Die Nationalfarben gelb und grün prägten die friedlichen Umzüge. Viele Demonstranten schwenkten Brasilien-Flaggen. Auf Transparenten forderten die Demonstranten die Absetzung von Präsidentin Dilma Rousseff und Gefängnis für alle korrupten Politiker. Auch der populäre Ex-Präsident Luiz Inácio »Lula« da Silva wurde beschuldigt, an illegalen Machenschaften beteiligt zu sein. Einige Demonstranten forderten sogar ein Eingreifen des Militärs. »Raus mit Dilma«-Schilder waren Konsens der Rechten und Rechtsextremen, die diesen Sonntag im ganzen Land die Stimmung auf den Straßen dominierten. Es waren vor allem das weiße Brasilien und die Mittelschichten - die schwarze Bevölkerungsmehrheit und die Armen blieben Zuhause. Der größte Protestzug mit über 100 000 Teilnehmern fand nach Angaben der Polizei in der Industriemetropole São Paulo statt. In Rio de Janeiro zogen Tausende in ausgelassener Stimmung die Strandpromenade an der Copacabana entlang. Überall waren Brasilien-Fahnen zu sehen. Organisationen wie »Vem pra Rua« und »Movimento Brasil Livre« hatten in den sozialen Netzwerken zu den Protesten aufgerufen. Mehrere rechte Oppositionsparteien wie auch Oppositionsführer Aécio Neves, der Rousseff bei der Wahl im Oktober vergangenen Jahres knapp unterlag, unterstützten die Demonstrationen. Gewerkschafter und soziale Bewegungen organisierten ihrerseits Kundgebungen zur Unterstützung der PT-Regierung. Unter anderem in São Paulo warnten Hunderte Demonstranten vor politischer Destabilisierung und einem »Schlechtreden« Brasiliens. Den rechten Regierungskritikern warfen sie vor, »Putschpläne« zu schmieden. Auch die privaten Massenmedien wurden kritisiert: »Die Presse verbreitet nur die Sichtweise der Opposition. Korrupte gibt es demnach nur unter den Linken, die ganzen Skandale der Rechten werden ausgeblendet«, monierte ein Demonstrant. Die Regierung Rousseff steht vor allem wegen eines milliardenschweren Korruptionsskandals unter Druck. Die PT und ihre Koalitionsparteien sollen Bestechungsgelder für die Vermittlung von überteuerten Aufträgen an große Bauunternehmen erhalten haben. Im Mittelpunkt des Skandals steht der halbstaatliche Erdölkonzern Petrobras. Mehrere Manager sitzen bereits im Gefängnis, gegen zahlreiche Abgeordnete und Senatoren wird ermittelt. Zudem macht Brasilien eine schwere Wirtschaftskrise zu schaffen. Nach Jahren des Aufschwungs schrumpft die Wirtschaftsleistung. Die Inflation liegt bei fast zehn Prozent und die Arbeitslosigkeit nimmt zu. Die Unterstützung von Präsidenten Rousseff liegt Umfragen zufolge unter acht Prozent. Fast zwei Drittel plädieren für eine vorzeitiges Ende ihrer Amtszeit. Verzweifelt versucht Rousseff, die Stimmung im Land zu verbessern. Doch angesichts der weltweit sinkenden Nachfrage nach Rohstoffen sah sie sich gezwungen, ein Sparprogramm aufzulegen, um Haushalt und Bilanzen zu sanieren. Damit brachte sie zuletzt ihre eigene Basis - die Armen und viele Gewerkschafter - gegen sich auf. Erschwerend kommt hinzu, dass ihre Koalition ernsthafte Risse zeigt. Der wichtigste Partner, die Mitte-Rechts-Partei PMDB, ist gespalten und zu Teilen bereits zur Opposition übergelaufen. Vor allem der evangelikale Parlamentspräsident Eduardo Cunha, der im Korruptionsskandal selbst zu den Verdächtigten zählt, macht Rousseff das Leben schwer, indem er die Abstimmungen über Gesetzesvorhaben torpediert. Kommentar Seite 4
Andreas Behn, Rio de Janeiro
Hunderttausende haben in Brasilien in über 200 Städten gegen Korruption und die Wirtschaftspolitik der Regierung protestiert. Es war 2015 bereits der dritte Protesttag gegen Präsidentin Dilma Rousseff.
Brasilien, Demonstration, Dilma Rousseff
Politik & Ökonomie
Politik
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Chile bleibt Pinochets Verfassung treu
Die Kommunistin Rosa Huilipan wirkt erleichtert. Eine halbe Stunde nach Schließung der Wahllokale und Beginn der Zählung steht bereits fest: Die neue Verfassung wurde abgelehnt. Gut 55 Prozent der Chilen*innen stimmten gegen den Entwurf, der maßgeblich von der ultrarechten Partido Republicano geschrieben worden war und weitaus konservativer und neoliberaler als die bisherige Verfassung war – jene aus Zeiten der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet. Bei obligatorischer Wahlteilnahme gingen rund 80 Prozent der Wähler*innen an die Urne. Huilipan war während der Wahlkampagne fast täglich auf der Straße, über den Wahltag war sie leitende Beobachterin in einem Lokal in Independencia im Norden der Hauptstadt Santiago. Das Ziel war es, eine Verfassung zu verhindern, die den Staat weiter ausgehöhlt, das Recht auf Abtreibung verboten und soziale Rechte beschnitten hätte. »In Independencia konnten wir die linken Kräfte vereinen und gemeinsam arbeiten«, sagt Huilipan stolz. Die Befürworter*innen seien zumindest auf der Straße fast vollständig abwesend. »Wir sahen auf den Märkten einzig Personen, die für das Verteilen von Flyern bezahlt wurden«, meint die Gemeinderätin für den lokalen Bezirk. nd.Muckefuck ist unser Newsletter für Berlin am Morgen. Wir gehen wach durch die Stadt, sind vor Ort bei Entscheidungen zu Stadtpolitik – aber immer auch bei den Menschen, die diese betreffen. Muckefuck ist eine Kaffeelänge Berlin – ungefiltert und links. Jetzt anmelden und immer wissen, worum gestritten werden muss. Die Niederlage stellt den ersten Rückschlag seit der Ablehnung des ersten progressiven Verfassungsentwurfs für den rechtsextremen Dauerpräsidentschaftskandidaten José Antonio Kast dar. Nachdem ein erster Verfassungsentwurf mit starker linker Prägung im September 2022 abgelehnt worden war, sah sich die Rechte im Höhenflug. In den Wahlen zum zweiten Verfassungsrat im Mai 2023 wurden die Republicanos mit 22 von 50 Sitzen zur stärksten Kraft. Am Sonntagabend baute das Wahlkampfteam von Kast stillschweigend eine große Bühne im Oberschichtsviertel der Hauptstadt ab und gab seine Pressekonferenz von einem Hinterhof aus. Auf einer improvisierten Bühne versuchte Kast, die Wahlschlappe zu mindern. »Weder die Regierung noch die Linken haben Anlass zum Feiern, denn Chile hat in den vergangenen vier Jahren viel Schaden erlitten und es wird viele Jahrzehnte dauern, bis diese repariert werden«, sagte er in Bezug auf den verfassungsgebenden Prozess seit 2019. Es sei an der Zeit, wieder zum Weg der Hoffnung und Ordnung, des Friedens und Fortschritts zurückzukehren, von dem die Gesellschaft mit den massiven Protesten von 2019 abgekommen sei. Damals einigte sich als Reaktion auf die Proteste eine große Mehrheit der Parteien auf einen verfassungsgebenden Prozess, um dort tiefgreifende soziale Reformen durchzuführen. Die Republicanos blieben außen vor. Im Wahllokal, in dem Huilipan als Beobachterin tätig ist, macht der leitende Wahlbeobachter der Befürworter*innen, Juan Troncoso, die rechtsextremen Republicanos mitverantwortlich für die Schlappe. »Sie waren im Inhalt zu extrem, das hat uns Ja-Stimmen gekostet«, meint er, der der rechtstraditionellen Unión Democrata Independiente (UDI) nahesteht. Auch rechtsradikale Milieus, denen der Verfassungsentwurf zu wenig rechts erschienen sei, hätten mit Nein gestimmt, so Troncoso. Sie hätten die unklare Einschränkung der Abtreibung kritisiert und die Tatsache, dass die Verfassung von einem Sozialstaat gesprochen habe. Anstatt sich in der Kampagne auf den Inhalt der neuen Verfassung zu konzentrieren, stellten die Befürworter*innen Themen der Sicherheit und die Ablehnung der aktuellen Regierung in den Vordergrund. Obwohl Expert*innen das Gegenteil behaupteten, meinten die Befürworter*innen, mit der neuen Verfassung würde die Verfolgung von Kriminalität gestärkt, vor allem der von Ausländer*innen begangenen. Der Präsident der rechten UDI, Javier Macaya, behauptete noch vor dem Plebiszit, es stelle »eine Bewertung der Regierung Boric dar«. Ein Wahlspruch der Rechten lautete: »Boric stimmt gegen die neue Verfassung, stimme du dafür.« So zeigte sich der Präsident Gabriel Boric noch am Sonntagabend sichtlich erleichtert und machte zugleich klar, es werde unter seiner Präsidentschaft keinen neuen verfassungsgebenden Prozess geben. »Andere Themen sind dringender«, so der Präsident. Die Politik habe es nicht geschafft, eine Verfassung für alle zu schreiben. Kurz darauf erklärte die Regierungssprecherin Camila Vallejo, »der Traum eines besseren Chiles bleibt bestehen«, und kündigte für die kommenden Tage an, ein lang erwartetes Reformprojekt für die Rentenversicherungen auf den Weg zu bringen. Im Wahllokal im Norden von Santiago meint Huilipan etwas bedrückt: »Der Sieg hat einen bitteren Nachgeschmack, schlussendlich sind wir wieder bei der Verfassung von Pinochet.« Für die kommenden Monate möchte sie sich auf die Lokalwahlen im Oktober 2024 konzentrieren. Diese gelten als Vorstufe zu den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2025, bei denen vermutlich erneut der rechtsextreme Kast antritt.
Malte Seiwerth, Santiago
Bereits zum zweiten Mal haben die Chilenen den Vorschlag für eine neue Verfassung abgelehnt. Während sie 2022 einem progressiven Entwurf eine Absage erteilt hatten, stimmten sie nun gegen den Vorschlag der Rechten.
Chile, Rechtsradikalismus
Politik & Ökonomie
Politik Chile
2023-12-18T16:44:20+0100
2023-12-18T16:44:20+0100
2023-12-18T18:43:55+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1178598.chile-bleibt-pinochets-verfassung-treu.html
Brüssel stellt Plan zur Reform des Bankensystems vor
Brüssel. Die EU-Kommission will das Risiko einschränken, das von Großbanken für Staaten und Steuerzahler ausgeht, indem sie den Instituten den Eigenhandel verbietet. Der Vorstoß ziele auf die Banken, »die zu groß sind, um sie in die Insolvenz zu entlassen, deren Rettung zu teuer ist oder die aufgrund ihrer komplexen Struktur nicht ordnungsgemäß abgewickelt werden können«, sagte EU-Binnenmarktkommissar Michel Barnier am Mittwoch in Brüssel. Die Regelung soll rund 30 Banken betreffen, darunter wahrscheinlich acht deutsche. Unter Eigenhandel fallen die Geschäfte, die eine B... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
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EU-Parlamentarier kritisieren, dass sich faktisch kaum etwas ändert
Banken, Bankenaufsicht, EU
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt
https://www.nd-aktuell.de//artikel/922504.bruessel-stellt-plan-zur-reform-des-bankensystems-vor.html
Mobbing-Seminar bezahlt Arbeitgeber
Das entschied das Bundesarbeitsgericht (Az. 7 ABR 95/12). Wie die telefonische Rechtsberatung der Deutschen Anwaltshotline (D-AH) berichtete, kam es in einem Betrieb mit rund 600 Angestellten mehrfach zu Mobbing und Hänseleien. So wurde ein trockener Alkoholiker von seinen Kollegen schikaniert, nachdem er in den Betrieb zurückkehrte. Der elfköpfige Betriebsrat beantragte daraufhin zweimal, einen Vertreter zu einem Seminar über Mobbing schicke... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Werden Mitarbeiter eines Unternehmens gemobbt, so kann der Betriebsrat ein Seminar zu diesem Thema auf Kosten des Arbeitnehmers besuchen.
Betriebsrat, Bundesarbeitsgericht, Mobbing
Ratgeber
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Versuchter Anschlag
Oberhausen. Ein Unbekannter hat in Oberhausen am frühen Freitagmorgen an einer leerstehenden Flüchtlingsunterkunft ein Feuer unter einem Gastank entzündet. Die Polizei schließt einen rechtsextremen Hintergrund nicht aus. Der Staatsschutz hat die Ermittlungen übernommen. Das Feuer wurde schnell gelöscht. Es sei nur geringer Sachschaden entstanden, teilte die Polizei Essen mit. Der Tank befand sich auf dem Gelände einer bisher noch nicht belegten kommunalen Unterkunft für Flüchtlinge. dpa/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Feuer an Gastank neben Unterkunft gelegt
Asylpolitik, Flüchtlinge, Polizei
Politik & Ökonomie
Politik
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Zeit für einen Linksruck
Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz inszeniert sich als Durchputzer und prangert das Fehlverhalten seines Koalitionspartners FPÖ an. Er lässt allerdings keinerlei Zweifel daran, dass seine Partei, die ÖVP, voll und ganz hinter der bisherigen Arbeit der Rechtsregierung steht und willens ist, deren Kurs inhaltlich fortzusetzen. Um dies zu unterstreichen, warnte Kurz am Montag vor einem »Linksruck«. Das ist eine Ansage - und nichts wäre angemessener, als ihr mit einem tatsächlichen Linksruck zu begegnen. Die Politik, für die Kurz und seine Regierung stehen: Bekämpfung von Migrantinnen und Migranten, Rassismus, Flexibilisierung der Arbeitszeit zuungunsten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, Kürzungen bei den Schwächsten durch Abschaffung der Notstandshilfe. Diese unsoziale Politik anzuprangern und Alternativen zu ihr anzubieten, wäre das Gebot der Stunde. Die größte Oppositionspartei Österreichs, die sozialdemokratische SPÖ, hat jedoch zuerst einmal wissen lassen, dass sie 2017 durchaus für eine Regierung mit der ÖVP zur Verfügung stand. In einem Interview mit der »Welt« betonte dies Ex-Bundeskanzler Christian Kern, der vor Jahren immerhin einmal eine linkssozialdemokratische Wende versprochen hatte, ohne das Versprechen dann je einzulösen. Was tut die SPÖ nun? Schließt eine Koalition mit Kurz nicht aus. Stellt eine Regierung mit Grünen und Neos in Aussicht. Letztere sind knallneoliberal. So aufgestellt wird man weder Kurz noch FPÖ stoppen.
Nelli Tügel
Die Regierung in Österreich seht für die Bekämpfung von Migrantinnen und Migranten, Rassismus und Kürzungen bei den Schwächsten. Nichts wäre angemessener, als diesem Spuk mit einem Linksruck zu begegnen.
Einwanderung, FPÖ, Heinz-Christian Strache, Österreich, ÖVP, Sebastian Kurz, SPÖ
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Lesefonds für Schulen und Bibliotheken
(ND). Honorarmittel für Lesungen von Berliner Autoren stellt die Kulturprojekte Berlin GmbH in diesem Jahr erstmalig zur Verfügung, wie die Senatskulturverwaltung, die die Förderung initiierte, am Dienstag erklärte. Für die Lesungen stehen demnach 2010 und 2011 jeweils 90 000 Euro zur Verfügung. Antragsberechtigt sind laut Kulturverwaltung allein Berliner Schulen und Öffentliche Bibliotheken. Gefördert werden sollen Lesungen von Berliner Autoren vor allem für Kinder und Jugendliche. Für eine 45-minütige Lesung erhalten die Autoren ein Honorar von 250 Euro. Eine Einrichtung kann pro Kalenderjahr bis zu 50 solcher Lesungen durchführen. Weitere Informationen: www.kulturprojekte-berlin.de/projekte/berliner-autorenlesefonds
Redaktion nd-aktuell.de
Bibliothek, Schule
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Familiäre Hilfe für Pflegebedürftige wurde unterschätzt
In Thüringen hat es bislang offenbar keinen großen Zuzug von pflegebedürftigen und damit meist älteren Menschen in die urbanen Zentren des Landes gegeben. Dies kann man als Ausweis dafür deuten, dass die Hilfen für ältere Menschen innerhalb von Familien im Freistaat noch funktionieren und die medizinische Infrastruktur im ländlichen Raum Thüringens noch ziemlich intakt ist. In den Diskussionen um die Zukunft Thüringens in den vergangenen Jahren war immer wieder erwartet worden, dass es überdurchschnittlich viele pflegebedürftige Menschen in den Städten geben werde. Aktuellen Zahlen des Landesamtes für Statistik zufolge ist dies aber nicht so, viele Pflegebedürftige verbringen demnach auch ihren Lebensabend im ländlichen Raum. So zeigen die Daten beispielsweise, dass es Ende 2015 in allen kreisfreien Städten Thüringens zusammengenommen im Durchschnitt 13 Pflegebedürftige je 1000 Einwohner gab, die stationär in einem Heim gepflegt wurden - und damit fast genau so viele, wie durchschnittlich in allen Thüringer Landkreisen zusammen. Dort lag die Anzahl der stationär Pflegebedürftigen bei 12,5 Menschen pro 1000 Einwohner. Bei den Menschen, die eine ambulante Pflege erhielten, war die Anzahl in den Landkreisen und kreisfreien Städten mit je 10,7 Pflegebedürftigen pro 1000 Einwohner sogar gleich. Dabei gibt es durchaus regionale Unterschiede bei der Anzahl der ambulant oder stationär Pflegebedürftigen. In Suhl beispielsweise gab es 14,1 ambulant Pflegebedürftige je 1000 Einwohner, in Jena dagegen nur 8,5 und in Erfurt 7,2. Doch hat Suhl eine insgesamt im Durchschnitt erheblich ältere Bevölkerung als Jena und Erfurt. Zudem gab es im Landkreis Hildburghausen 8,2 ambulant pflegebedürftige Menschen je 1000 Einwohner, in Schmalkalden-Meiningen 11,9, in Saalfeld-Rudolstadt 14,6. Doch auch diese Unterschiede im Detail deuten nicht darauf hin, dass es in Thüringen bislang einen übermäßigen Wegzug von Pflegebedürftigen in die Städte gegeben hätte. Hauptgründe für die Annahme des Gegenteils in den Diskussionen um die Zukunft des Freistaates waren die in der Regel bessere medizinische Versorgung in der Stadt sowie das dichtere Angebot an öffentlichen Verkehrsmitteln dort. Dass Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen in Thüringen bislang nicht in größerer Anzahl in die Städte gezogen sind, wird noch deutlicher, wenn man sich die Daten der Statistiker zur Anzahl der Pflegebedürftigen ansieht, die weder ambulante noch stationäre Pflege erhalten, sondern ausschließlich Pflegegeld bekommen. Sie liegt in den ländlichen Regionen des Landes deutlich höher als in den kreisfreien Städten. Während in den kreisfreien Städten Ende 2015 durchschnittlich 16,1 Menschen pro 1000 Einwohner Pflegegeld bekamen, waren es in den Landkreisen Thüringens 23,3 Menschen. Dies kann als ein Indiz dafür gelten, dass Menschen mit einer noch relativ geringen Pflegebedürftigkeit ihre gewohnte Umgebung auf dem Land nicht zugunsten einer Stadt verlassen und sich stattdessen lieber von Familienangehörigen unterstützen lassen - und diese Hilfe auch bekommen.
Sebastian Haak, Erfurt
Ende 2015 gab es in allen Landkreisen Thüringens zusammengenommen im Durchschnitt 12,5 Pflegebedürftige je 1000 Einwohner, die im Heim gepflegt wurden. Doch in den Städten waren es kaum mehr.
Pflegeversicherung, Thüringen
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Geständnis im Mordfall Lübcke zurückgezogen
Karlsruhe. Im Fall des ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke hat der Tatverdächtige Stephan E. laut einem Bericht sein Geständnis zurückgenommen. »Mein Mandant hat heute sein Geständnis widerrufen«, zitiert die »Bild« am Dienstag den neuen Anwalt des Tatverdächtigen, Frank Hannig. Die Bundesanwaltschaft wollte den Bericht nicht kommentieren. Weitere Angaben zu dem Widerruf machte der Anwalt laut »Bild« nicht. Er gab demnach lediglich an, dass es auf Antrag von E. einen Verteidigerwechsel gegeben habe. Er selbst sei als Pflichtverteidiger beigeordnet worden. Auch der Südwestrundfunk berichtete unter Berufung auf Ermittlerkreise, dass E. seine früheren Angaben widerrufen und ansonsten zu den Vorwürfen geschwiegen habe. Dem SWR zufolge, der sich auf Ermittlungskreise berief, ist der Widerruf eher taktischer Natur. Die ursprünglichen Einlassungen des 45-Jährigen seien so detailreich gewesen, »dass durch den Widerruf keine Auswirkungen auf die weiteren Ermittlungen zu erwarten seien«. Ein widerrufenes Geständnis sei grundsätzlich in einer späteren Hauptverhandlung verwertbar, sagte dazu Ali Norouzi, stellvertretender Vorsitzender des DAV-Strafrechtsausschusses. So könnten etwa die Vernehmungsbeamten als Zeugen zu dem gehört werden, was im Rahmen eines Geständnisses erzählt worden sei. Lesen Sie hier den Kommentar: Weimarer Republik 4.0 Hoffentlich nicht zu spät: Der Mord an Walter Lübcke war ein Weckruf. Der Verdächtige hatte vergangene Woche nach Angaben der Bundesanwaltschaft ein Geständnis abgelegt. Er bezeichnete sich demnach als Einzeltäter. Die Bundesanwaltschaft zog den Fall an sich, weil sie von einem rechtsextremen Hintergrund der Tat ausgeht. Die Behörde erwirkte deshalb am Dienstag auch einen neuen Haftbefehl gegen den Tatverdächtigen, der den bisherigen durch das Amtsgericht Kassel ersetzt. Offenbar widerrief E. dabei vor dem Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs sein Geständnis. Der 45-Jährige ist mehrfach vorbestraft, war in früheren Jahren durch Kontakte in die rechtsextreme Szene aufgefallen und soll dort gut vernetzt sein. Sein früheres Geständnis hatte zu zwei weiteren Festnahmen geführt: Gefasst wurden der mutmaßliche Lieferant der Tatwaffe und der Kontaktmann. Elmar J. soll E. die spätere Waffe verkauft und Markus H. den Kontakt vermittelt haben. Beiden wird von der Bundesanwaltschaft Beihilfe zum Mord vorgeworfen, entsprechende Haftbefehle waren Ende Juni erlassen worden. Anhaltspunkte dafür, dass die beiden gemeinsam mit E. eine rechtsterroristische Vereinigung gebildet hätten, sieht die oberste Anklagebehörde bisher nicht. Der Kasseler Regierungspräsident Lübcke war Anfang Juni auf der Terrasse seines Hauses mit einem Kopfschuss getötet worden. Der CDU-Politiker hatte in der Vergangenheit wegen seiner Haltung zu Flüchtlingen Mordrohungen erhalten. Sein Tod hatte die Debatte um den Umgang mit rechtsextremer Gewalt in Deutschland erneut angefacht. Agenturen/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Überraschende Wendung im Mordfall Lübcke: Der Neonazi und mutmaßliche Täter Stepahn E. hat sein Geständnis nach einem Wechsel seiner Verteidigung zurückgezogen. Jetzt schweigt E. - was die Aufklärung des Mordes zusätzlich erschweren wird.
Kassel, Mord, Neonazi, Walter Lübcke
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Mia san minderwertig
Die deutsche Fußballwelt leckt sich nach der Klatsche des FC Bayern in Paris die Wunden. Die Mischung aus Selbstbemitleidung und Brass auf die neuen Superreichen ist der perfekte Nährboden für eine Debatte, die eine kleine Zeitenwende auslösen könnte. Zwar sind die Bundesligaclubs längst Kapitalgesellschaften und haben Großsponsoren, doch bisher untersagt die 50+1-Regelung im DFB-Statut die Mehrheitsübernahme und damit die Verfügungsgewalt durch Finanzinvestoren. Doch der Mischmasch aus konservativer Vereinsmeierei, fanatischem Nationalismus und neoliberalem Brutalokapitalismus stößt an seine inneren Widersprüche: Wer in Europa ganz ganz vorne stehen will, braucht mehr Geld, viel mehr Geld sogar. Es gibt viele gute Gründe, den Kommerzwahnsinn nicht mitzumachen. Die Debatte über eine Statutenänderung ist aber längst im Gange. Es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis die 50+1-Regelung fällt, denn viele Fans, Sportreporter und Entscheidungsträger pflegen die »Winner-takes-it-all«-Mentalität. Ohnehin ist die Kapitalisierung auch im Bundesligafußball sehr weit fortgeschritten, wie die vielen Fußballarenen, die Erfolge der TSG Hoffenheim, von RB Leipzig oder die nationale Übermacht des FC Bayern zeigen. Man wird nicht tatenlos zusehen, wenn das überhebliche Bayern-Motto »Mia san mia« abgelöst wird durch: »Mia san minderwertig.«
Redaktion nd-aktuell.de
Schäuble wird Bundestagspräsident und hängt damit seinen Job als Finanzminister an den Nagel. Grund zur Hoffnung auf ein Ende des Schwarze-Null-Terrors bietet das aber kaum. Denn im Hintergrund lauert schon die FDP.
Bayern, Fußball
Meinung
Kommentare Fußball
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Einfach die Hölle
Albert Londres Reportagen aus den Krisengebieten des 20. Jahrhunderts gelten als frühe Zeugnisse des investigativen Journalismus. In Frankreich ist der wichtigste Journalismuspreis nach dem 1884 geborenen und 1932 gestorbenen Reporter benannt. In Deutschland hat Die Andere Bibliothek Londres Sammlung »Ein Reporter und nichts als das« wieder bekannter gemacht. Nun legt sie seine Afrika-Reportagen aus den 1920er Jahren vor. Im ersten Teil, »Schwarz und Weiß«, sind Texte versammelt, die im Herbst 1928 zunächst in der Tageszeitung »Le Petit Parisien« und kurz darauf als Buch erschienen. Der zweite Teil über die Verhältnisse in den nordafrikanischen Gefängnissen Frankreichs, »Hätte Dante das gesehen«, wurde zum ersten Mal 1924 als Buch verlegt. Warum sollte man heute diese 100 Jahre alten Reportagen lesen? Aus historischem Interesse? - Ja, einerseits. Denn Londres zeigt, dass im Gegensatz zu der landläufigen Meinung, die größten Gräuel an der afrikanischen Bevölkerung hätten die belgischen Kolonialherren im Kongo verübt, die Franzosen mit ihrem Zwangsarbeitersystem nicht minder brutal waren. Aber die Lektüre dieser Reportagen aus dem Herzen der Finsternis lohnt auch deshalb, weil sie von einer überraschenden Aktualität sind. Die Kolonialherren von damals sind verschwunden, die Länder »befreit«, aber im Westen ist der gut gemeinte Wille, andere Länder und Menschen auf den rechten Weg zu bringen, ungebrochen. Londres selbst zum Beispiel war trotz aller Kritik am Kolonialismus durchaus dessen Anhänger, nur wollte er eine humanere Form. Ganz ähnlich werden heute Demokratie und Menschenrechte als Legitimation für Krieg und Fremdherrschaft angeführt. Mit dem Ergebnis: Bürgerkrieg in Afghanistan, ungewollte, aber faktisch »ethnisch gesäuberte« Länder wie das Kosovo oder ein vom Terrorismus zerrissenes Land wie der Irak. Mit Zehntausenden von Toten. Für seine Reportagen machte Londres etwas, was heute, im Zeitalter der Neuen Medien, angesichts der Geldknappheit der Presseverlage immer seltener wird: Er fuhr vor Ort und schaute sich um. Fast alle Franzosen glaubten (und glauben noch heute) dem märchenhaften Bild, das die Regierung und Kolonialunternehmen vom Kolonialismus verbreiteten. Was Londres vorfand, war jedoch weder ein exotisches Paradies noch das große Abenteuer, sondern ganz einfach die Hölle. Im ersten Teil sind es West- und Zentralafrika, durch die er sich kämpft. »Kämpft« deshalb, weil Afrika damals nicht auf Fernreisende eingestellt war; in viele Orte führte weder eine Straße noch eine Eisenbahnlinie. Tagelang wanderte Londres mit einem Tross von Trägern durch den Dschungel, um endlich an die Baustelle der Eisenbahnlinie zu gelangen, die den Hafen von Pointe-Noire am Atlantischen Ozean mit der mehr als 500 Kilometer entfernten Stadt Brazzaville am Fluss Kongo verbinden sollte. Was er dort aber vorfand, waren keine Maschinen, die den Bau vorantrieben, sondern Hunderte von völlig ausgemergelten schwarzen Menschen, die mit einem einzigen Bohrer für die Sprenglöcher und mit bloßen Händen die Felsen beseitigten. Weil sich schnell herumgesprochen hatte, dass die Baustelle ein Grab war, hatte sich keiner der Arbeiter freiwillig gemeldet. Also wurden Zwangsarbeiter dorthin deportiert. Sie starben dann an Auszehrung oder grassierenden Krankheiten. In der Reportage »Schweigen über Brazzaville« vergleicht Londres das, was er sah, mit dem Eisenbahnbau jenseits der Grenze: »Ich erinnere mich, dass auf der anderen Seite des Flusses die Belgier in drei Jahren eine 1200 Kilometer lange Eisenbahnstrecke gebaut und nur 3000 Tote zu beklagen gehabt haben, während bei den Franzosen 140 Kilometer 17 000 kosteten.« Im zweiten Teil, »Hätte Dante das gesehen«, geht es um das Gefängnissystem in den nordafrikanischen Kolonien Frankreichs. Auch hier sind die Zustände katastrophal. Die Gefangenen werden misshandelt und landen wegen geringfügiger Vergehen immer wieder für Jahre hinter Gittern. Hier sind es nicht nur Schwarze, die unter dem Kolonialsystem leiden, sondern auch weiße Franzosen und andere Europäer, die als Soldaten in den Kolonien dienten. Von ihnen profitieren nicht nur die Sadisten unter den Aufsehern, sondern auch lokale Firmen, für die die Gefangenen billige Arbeitskräfte sind. Am Ende trifft Londres auf Gefangene, die sich an die unmenschlichen Zustände so sehr gewöhnt haben, dass sie aus lauter Angst vor dem Leben in Freiheit neue Delikte begehen. An vielen Stellen spürt der Leser das Überlegenheitsgefühl Londres gegenüber den schwarzen Afrikanern. Das wird insbesondere da deutlich, wo er das Verhältnis von Männern und Frauen beschreibt. Londres ist kein Ethnologe wie Michel Leiris, der die afrikanischen Kolonien Frankreichs ein paar Jahre später besucht und ein differenzierteres Bild der dortigen Kultur gibt. An anderen Stellen wiederum gelingt es Londres, sich in das Leben der Menschen einzufühlen. Widersprüche, die deutlich machen, wie schwer es ist, eine Kultur zu respektieren, auch wenn sie dem eigenen Gefühl von Freiheit und Gerechtigkeit nicht entspricht. Und wie leicht es dann passiert, dass man den Preis unterschätzt, den es kostet, die Menschen von der von uns empfundenen Unfreiheit und Ungerechtigkeit zu befreien. Albert Londres: Afrika, in Ketten. Reportagen aus den Kolonien. Die Andere Bibliothek, 376 S., geb., 44 €.
Fokke Joel
Albert Londres Reportagen aus Afrika von 1920 bis 1930 sind von einer überraschenden Aktualität. Die Kolonialherrn von damals sind verschwunden, die Länder »befreit«, aber im Westen ist der gut gemeinte Wille, andere Länder und Menschen auf den rechten Weg zu bringen, ungebrochen.
Frankreich, Kolonialismus, Kolonialverbrechen
Feuilleton
Kultur Albert Londres
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Aus mangelndem Willen zum Kompromiss
Es war für alle vorteilhaft und berücksichtigte die geografischen Bedingungen der Region: Zu Zeiten der Sowjetunion sorgte ein ausgeklügeltes System dafür, dass die fünf Republiken Zentralasiens vom Wasser der großen Ströme wie Amudarja und Syrdarja profitierten. Im Sommer wurde das kostbare Nass in den am Oberlauf der Flüsse gelegenen Republiken Kirgistan und Tadschikistan in riesigen Talsperren aufgestaut, gigantische Wasserkraftwerke produzierten Strom. Von diesem profitierten auch die wasserarmen Anrainer am Unterlauf der Flüsse: Die industriereichen und landwirtschaftlich geprägten Republiken Kasachstan, Usbekistan und Turkmenistan wurden nach zuvor festgelegten Quoten mit der gewonnenen Energie versorgt. Im Winter - wenn sich die Staureservoire leerten - revanchierten sich die Stromabnehmer mit der Lieferung von Öl und Gas. So glichen sie das durch das sommerliche Ablassen entstandene Energiedefizit in Kirgistan und Tadschikistan aus. Diese konnten nun wieder Wasser für den Sommer anstauen. Zwar regte sich über die in Moskau festgelegten Quoten auch immer wieder Unmut, doch das System funktionierte jahrzehntelang - unter anderem auch deshalb, weil die Grenzen zwischen den Republiken vor allem administrative Linie waren, die in der Praxis fast keine Rolle spielten. Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch. Dies änderte sich mit dem Ende der Sowjetunion grundlegend. Aus den roten Linien auf dem Papier wurden über Nacht internationale Staatsgrenzen, die oft Kanäle, Ströme und Wasserversorgungsanlagen quer durchschnitten. Nun beanspruchten fünf unabhängige Staaten die Nutzung der großen Wasserläufe. Um das bewährte Verteilungssystem zu retten, bedurfte es enger Zusammenarbeit und Koordination. Dies erkannten auch die jungen Staaten und gründeten Anfang der 90er Jahre die Zwischenstaatliche Kommission für Wasserkoordination (ICWC). Doch die Arbeit des Gremiums blieb weitgehend erfolglos. Die zentralasiatischen Staaten fanden in den folgenden Jahrzehnten keinen Weg, um die gemeinsame Nutzung der Wasserquellen einvernehmlich zu regeln. Schuld daran sei der fehlende politische Wille der Regierungen zur regionalen Zusammenarbeit, schrieb die deutsche Zentralasien-Expertin Beate Eschment bereits vor zehn Jahren in einer Analyse. In den Eliten der jungen Staaten gebe es einen starken Nationalismus, der sich nicht durch internationale Verträge einschränken lasse wolle. Zudem behinderten persönliche Animositäten unter den Präsidenten und eine seit Sowjetzeiten schwelende Konkurrenz zwischen den Staaten eine Lösung. Statt einer Zusammenarbeit nahmen die Spannungen um die Ressource in der Region ständig an Intensität zu. Im Zentrum dieser Konflikte stand vor allem das wasserarme Usbekistan. Das mit rund 30 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichste Land der Region ist stark agrarisch geprägt und benötigt für seine ausgedehnten Baumwollfelder enorme Wassermengen. Als die Nachbarstaaten Kirgistan und Tadschikistan in den 90er Jahren den Bau riesiger, bereits zu Sowjetzeiten geplanter Wasserkraftwerke verkündeten, schellten in Taschkent daher die Alarmglocken. Der wegen seines harten Durchgreifens gefürchtete usbekische Diktator Islam Karimow glaubte nicht nur, vom Wasser abgeschnitten zu werden, sondern warnte auch vor einer Bedrohung der nationalen Sicherheit. So befürchtete Karimow im Falle Tadschikistans eine vernichtende Flutwelle, sollte der mit einer Höhe von 335 Metern projektierte Rogun-Staudamm islamistischen Terroristen in die Hände fallen. Keine unberechtigte Sorge: In Tadschikistan tobte damals ein Bürgerkrieg. Karimow verhängte daher eine rigorose Schienenblockade gegen den Nachbarn. Auch gegen den geplanten kirgisischen Kambar-Ata-Stausee machte er Druck. Das in den 90er Jahren extrem instabile Kirgistan dürfe nicht allein über die zentralasiatischen Wasserressourcen verfügen, so Karimow, der zudem die technischen Fähigkeiten des Landes anzweifelte, einen hohen Staudamm in einem aktiven Erdbebengebiet bauen. Als beide Staaten an ihren Vorhaben festhielten, drohte Karimow 2015 mit Gewalt: Die Wasserkonflikte in der Region könnten »so weit eskalieren, dass es nicht nur zu ernsthaften Konfrontationen, sondern sogar zu Kriegen kommt«. Dass er es ernst meinte, zeigte Karimow im März 2016, als Kirgistan versuchte, die Kontrolle über die an der kirgisischen Grenze gelegene - aber von Usbekistan betriebene und genutzte - Orto-Tokoi-Talsperre zu gewinnen. Karimow zog an der Grenze Truppen zusammen und besetzte im August desselben Jahres den von Usbekistan beanspruchten Berg Ungar-Too an der kirgisischen Grenze mit einer Luftlandeoperation. Die Gefahr eines Krieges um Wasser legte sich erst mit Karimows Tod 2016. Unter Nachfolger Schawkat Mirsijojew begann ein politisches Tauwetter, und er protestierte auch nicht, als in Tadschikistan 2016 offiziell die Bauarbeiten am Rogun-Stausee begannen. 2017 einigte sich Mirsijojew mit der kirgisischen Seite schließlich auf eine Kooperation beim Bau des lange umstrittenen Kambar-Ata-Kraftwerkes.
Birger Schütz
Zu Sowjetzeiten tauschten die fünf zentralasiatischen Staaten in einem bewährten System Wasser gegen Rohstoffe. Nach dem Zerfall des Mechanismus kam es in der Region fast zu Kriegen ums Wasser.
Kirgistan, Sowjetunion, Usbekistan
Politik & Ökonomie
Politik Kirgistan
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1153069.kirgistan-aus-mangelndem-willen-zum-kompromiss.html
Bestraft für zwei Worte
Wegen des Aufrufs zum »Schottern« der Castorgleise wurde ein 41-jähriger Atomkraftgegner aus Lüneburg zu einer Geldstrafe verurteilt. Olaf Meier hatte beim Atommülltransport 2010 ins niedersächsische Gorleben bei einer Demonstration seine Rede mit den Worten beendet: »Atomausstieg ist Handarbeit! In diesem Sinne: Castor Schottern«. Damit war gemeint, Steine aus der Castorstrecke zu holen, um damit den Atommülltransport zum Stoppen zu zwingen. Das Amtsgericht Lüneburg sieht in den beiden Worten eine »öffentliche Aufforderung zu einer Straftat« und verurteilte den Mann nun zu 16 Tagessätzen. Für Meier ist die Entscheidung des Gerichts nicht nachvollziehbar. Atomkraftgegner werden verknackt, aber die Atomindustrie dürfe - trotz der Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima - weiterhin »Profite mit der höchst gefährlichen Atomtechnologie machen«. Er verzichtet dennoch auf Widerspruch und wird die 300 Euro zahlen. Für zwei Mitglieder der LINKEN in Wilhelmshaven ist das letzte Wort hingegen noch nicht gesprochen. Sie wollen eine Entscheidung des dortigen Amtsgerichts anfechten, das sie Ende Mai zu 30 und 70 Tagessätzen verurteilt hatte. Grund für die happige Strafe: Die beiden hatten im vergangenen Jahr an ihrem Infostand Plakate der Kampagne »Castor? Schottern!« aufgehängt. Und zwar nicht zum ersten Mal. Ein Verfahren wegen desselben »Vergehens« war jedoch vom Amtsgericht eingestellt worden. Umso überraschter sind sie nun. Auch der Streit über die Strafbarkeit der Schottern-Erklärung ist noch nicht entschieden. Rund 2000 Menschen hatten im Jahr 2010 im Internet ihre Sympathie für die Aktion erklärt. Die Polizei reagierte mit rund 1800 Ermittlungsverfahren gegen Unterzeichner, die Staatsanwaltschaft drohte mit saftigen Freiheitsstrafen. Davon ist jetzt keine Rede mehr. Vielmehr will sie die Aktenberge vom Tisch haben und bietet Unterzeichnern an, auf die Klage zu verzichten, wenn sie einen kleinen Betrag an einen Verein überweisen. Aus Sicht der Schottern-Kampagne ein Beweis, dass es bei den Strafandrohungen vor allem um Abschreckung ging. Eine Handvoll Aktivisten zahlte. Viele Unterzeichner meldeten sich auf Schreiben der Polizei aber gar nicht erst zurück. Rund 450 Verfahren wurden deshalb eingestellt, weil nicht eindeutig herausgefunden werden konnte, wer sich hinter der Unterschrift verbirgt. Andere Atomkraftgegner wollen die Sache hingegen nicht sang und klanglos abhaken und einen richtigen Freispruch erreichen. Sie lassen es deshalb auf einen Prozess ankommen. Ein erster Atomkraftgegner wurde im März verurteilt, in zwei Wochen steht ein weiterer Schottern-Aufrufer in Lüneburg vor Gericht. Auch Bundestagsabgeordnete der LINKEN wollen die Frage juristisch klären lassen. Sie haben das Einstellungsangebot abgelehnt, die Staatsanwaltschaft will die Aufhebung ihrer Immunität beantragen. Die Kampagne »Castor? Schottern!« sammelt Spenden zur Unterstützung. Wie viel sie noch brauchen werden, ist unklar. Über 1000 der eingeleiteten Ermittlungsverfahren sind eineinhalb Jahre nach dem Castortransport noch offen. Auch beim bislang letzten Castortransport ins Wendland im November haben wieder zahlreiche Menschen ihre Solidarität mit den angekündigten Schottern-Aktionen ausgedrückt. Der Text meinte dasselbe, war aber etwas anders formuliert. Die Staatsanwaltschaft dürfte erleichtert gewesen sein. Sie will diesmal keine Verfahren wegen des Aufrufs einleiten, heißt es.
Ines Wallrodt
Der Streit ums »Schottern« der Castorstrecke ist noch nicht entschieden. Allein für den Aufruf zu der Aktion verhängen Gerichte Geldstrafen. Atomkraftgegner wollen das nicht auf sich sitzen lassen.
Atomkraft, Energiewende, Gerichtsurteil, Gerichtsverfahren
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/228513.bestraft-fuer-zwei-worte.html
Linkspartei Podemos wird abgestraft
Die Regionalwahlen im Baskenland und in Galicien im Nordwesten Spaniens sorgen für Erschütterungen in Madrid. Hervorzuheben ist, dass in beiden Gebieten die linke Unabhängigkeitsbewegung zu neuen Rekorden gestürmt ist. So konnte sich die baskische Linkskoalition EH Bildu (Baskenland Vereinen) als zweitstärkste Kraft mit fast 28 Prozent (zuvor 21 Prozent) konsolidieren. Sie sitzt nun mit 22 Vertretern im Parlament. EH Bildu war die einzige Partei, die angesichts der bis dato niedrigsten Wahlbeteiligung von nur 53 Prozent absolut an Stimmen zulegen konnte. 23 000 Basken mehr als 2016 wählten »Bildu«. Die Baskisch-Nationalistische Partei (PNV) verlor als »Wahlsieger« dagegen fast 50 000 Stimmen, wenngleich sie mit knapp 39 Prozent anteilig gut einen Prozentpunkt hinzugewonnen hat. Da sich die Sozialdemokraten (PSOE) des spanischen Regierungschefs Pedro Sánchez im Baskenland prozentual auf niedrigem Niveau stabilisieren konnten, obwohl sie knapp 30 000 Stimmen verloren, können PNV und PSOE erneut die »Autonome Baskische Gemeinschaft« regieren, nun mit absoluter Mehrheit. Dabei wäre rechnerisch eine Linksregierung möglich, die die Linkspartei Podemos angestrebt hatte, obwohl die von ihr geführte Linkskoalition (UP) abgestürzt ist. Sie kam statt auf 15 nur noch auf acht Prozent und verlor fünf der elf Sitze. Gemeinsam hätten Bildu, Podemos und PSOE aber mit 38 Sitzen eine absolute Mehrheit. Allerdings wird davon ausgegangen, dass die baskische PSOE unter Idoia Mendia erneut mit den Christdemokraten der PNV unter dem seit 2012 amtierenden Regionalpräsidenten Iñigo Urkullu koalieren wird. Bei der PSOE gibt es aber auch einflussreiche Stimmen, die wie Odon Elorza zum Nachdenken auffordern. Der Ex-Bürgermeister von San Sebastián, der Sánchez in Madrid berät, hat dabei auch die Ergebnisse in Galicien vor Augen. Seine PSOE verlor massiv Stimmen und ist mit 19 Prozent nur noch drittstärkste Kraft. In Galicien gab es einen Erdrutsch. Die Schwesterpartei von Bildu, der Galicische Nationalistische Block (BNG), wurde unter Ana Pontón zeitstärkste Kraft. Er gewann fast 200 000 Stimmen bei einer um fünf Prozentpunkte gestiegenen Wahlbeteiligung von 59 Prozent hinzu und kam statt auf gut acht nun auf 24 Prozent! Praktisch hat der BNG die gesamten Stimmen eingesammelt, die Podemos verloren hat. Deren Vertreter in Galicien stürzte von 19 auf vier Prozent ab und kommt nicht mehr ins Parlament. Für die spanische Arbeitsministerin Yolanda Díaz, die aus Galicien kommt und sich besonders in Wahlkampf engagierte, ist das eine herbe Niederlage. Ihr wird vorgehalten, dass die neoliberale Arbeitsmarktreform der konservativen Vorgängerregierung der Volkspartei PP bisher nicht gestrichen wurde, wie es im Koalitionsvertrag mit der PSOE steht. Die Wähler machen vor allem Podemos dafür verantwortlich, die die PSOE »in der Regierung kontrollieren« wollte, dass kaum etwas der Podemos-Vorstellungen mit der PSOE umgesetzt werden konnte. Soziale Verbesserungen kommen angesichts der tiefen Krise nur spät, tröpfchenweise und unzureichend bei einer leidenden Bevölkerung an. Angezählt ist aber auch der Chef der rechten Volkspartei (PP) in Madrid, Pablo Casado. Denn in Galicien konnte PP-Chef Alberto Núñez Feijóo seine absolute Mehrheit verteidigen, ohne wie Casado einen Schmusekurs mit den Ultrarechten von der VOX zu betreiben, sondern mit klarer Abgrenzung. Im Baskenland, wo Casado mit Carlos Iturgaiz einen Vertreter des rechten PP-Rands ins Rennen schickte, verlor die PP massiv. Dort schrumpfte sie von neun auf fünf Sitze.
Ralf Streck, San Sebastián
Die spanische Linkspartei Podemos ist bei den Regionalwahlen sowohl im Baskenland als auch Galicien abgestürzt. Dafür legten regionale Linksparteien in beiden Regionen kräftig zu.
Baskenland, Die Linke, linke Bewegung, linke Parteien, Nationalismus, Spanien
Politik & Ökonomie
Politik Spanien
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1139079.spanien-linkspartei-podemos-wird-abgestraft.html?sstr=spanien|yolanda
Digitaler Nachlass und das Erbe
In zweiter Instanz änderte das Kammergericht Berlin am 31. Mai 2017 ein Urteil des Landgerichts Berlin ab, das den Eltern als Erben Anspruch auf die Zugangsdaten ihrer Tochter zugesprochen hatte. Das Gericht ließ Revision zum Bundesgerichtshof zu. Die Schülerin war vor eine U-Bahn geraten und gestorben. Da die Umstände des Tods unklar blieben, hoffen die Eltern darauf, über die Facebook-Seite Hinweise auf mögliche Suizidabsichten zu bekommen. Nach dem Urteil des Berliner Kammergerichts steht aber der Schutz des Fernmeldegeheimnisses dem Anspruch der Erben entgegen, Einsicht in die Kommunikation der Tochter mit Dritten zu erhalten. Das Kammergericht ließ offen, ob die als Klägerin auftretende Mutter und der Kindsvater als Erben in den Vertrag eingerückt seien, den die verstorbene Tochter mit Facebook geschlossen hatte. Grundsätzlich sei es zwar möglich, in den Vertrag einzutreten und passive Leserechte zu erhalten. In den von Facebook gestellten Nutzungsbedingungen sei nicht geregelt, ob Rechte aus dem Vertrag im Fall des Tods des Nutzers auf seine Erben übergehen könnten. Die Fragen der Vererbbarkeit seien für das Gericht nicht zu entscheiden gewesen, weil das Fernmeldegeheimnis dem Zugang zu den Inhalten entgegenstehe. Da dieses vom Grundgesetz geschützt sei, ergebe sich eine Schutzpflicht des Staats. Dies gelte auch für bei Facebook gespeicherte Kommunikationsinhalte. Das Erbrecht nach BGB lasse auch nicht erkennen, dass der Gesetzgeber das Fernmeldegeheimnis einschränken wolle. Dem Gericht zufolge gab die Mutter an, von ihrer Tochter die Zugangsdaten des von Facebook gesperrten Kontos überlassen bekommen zu haben. Dies war laut Gericht nicht zu klären. Es sei aber nicht zu entscheiden gewesen, weil auch die Menschen, mit denen die Tochter schrieb, einen Schutz ihrer Kommunikation beanspruchen können. Auch diese müssten deshalb auf den Schutz des Fernmeldegeheimnisses verzichten, bevor die Eltern Zugriff auf das Konto bekommen könnten. AFP/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Die Eltern einer unter unklaren Umständen ums Leben gekommenen 15-Jährigen haben kein Recht auf Zugriff auf das Facebook-Konto ihres verstorbenen Kindes. Das Fernmeldegeheimnis hat Vorrang vor dem Erbrecht des digitalen Nachlasses.
Berlin, Erbschaft, Konto
Ratgeber
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1056249.digitaler-nachlass-und-das-erbe.html
Jede Zelle ist voll aktiv
Routiniert klickt Michelle Grunwald sich am Aktionslaptop durch die Internetwache der Berliner Polizei, um einen spontan für den Abend am Brandenburger Tor geplanten Tanz-Flashmob anzumelden. Im Infozelt des Klimagerechtigkeitscamps stapeln sich Mehrfachstecker und Batterien, die mit einer großen Solarzelle verbunden sind, die vor dem Zelt in der Sonne glitzert. Hier werden Grunwald und andere Klima-Aktivist*innen in den kommenden Wochen die anstehenden Aktionen planen, mit denen sie auf die Bedeutung der Klimakrise für die Wahlen und die Koalitionsverhandlungen aufmerksam machen wollen. So geht Demokratie. Louisa Theresa Braun hofft auf einen Erfolg für die Aktivist*innen Schon am dritten Tag des Klimacamps, das seit Montag auf der Wiese am Haus der Kulturen der Welt im Berliner Regierungsviertel aufgebaut ist, macht sich Schlafmangel bemerkbar. Am Vortag hat Grunwald hier bis drei Uhr in der Nacht gearbeitet. »Ich bin die ganze Zeit unter Strom. Es wird sehr anstrengend, das Camp Tag und Nacht zu halten«, sagt die 23-jährige Studentin, während sie noch schnell den Schichtplan für den nächsten Tag durchgeht. »Wir sind am Wendepunkt«. Aktivistin Michelle Grunwald spricht im nd-Intview über das anstehende Klimagerechtigkeitscamp Ein Yoga-Workshop hat schon angefangen, als sie ihr Tuch neben zwölf Mitstreiter*innen ausbreitet, die hier ein bisschen zu entspannen versuchen. »Wir sind nur im Hier und Jetzt«, erklärt der Yoga-Lehrer, nachdem er mit einer Atemübung die Chakren durchgegangen ist. Michelle Grunwald schüttelt vehement den Kopf. »Ich habe an alles gedacht, was ich noch tun muss«, sagt sie anschließend. Und das ist so einiges: über Instagram zum Flashmob mobilisieren, eine Schulklasse durch das Camp führen, eine dauerhafte Stromversorgung und die Demo am Freitag organisieren, an zahlreichen Plena teilnehmen und sich darum kümmern, dass Aufgaben verteilt werden. Grunwald ist Ansprechpartnerin für fast alles. »Nach so langer Zeit des Aktivismus ist die Motivation oft fast schon am Ende, aber Michelle hat so viel Energie und schafft es immer wieder, uns zu bestärken«, sagt Helene Freitag, die sich wie Grunwald bei Fridays for Future Berlin engagiert, über ihre Freundin. Hinter dem Engagement verbirgt sich »ein krasser Weltschmerz«, wie Grunwald es nennt, über die Ungerechtigkeit in der Welt. Für sie alle ist das Klimathema emotional. »Ich wäre heute nicht hier, wenn ich nicht eine gewisse Wut in mir hätte«, sagt Lena Hess. Wut, vor allem auf die momentane Regierung, die die Klimakrise noch immer nicht ernst genug nimmt. »Aber seit ich in der Welt des Aktivismus drin bin, macht mich nichts anderes mehr glücklich«, so Hess weiter. »Es ist wie eine Droge, mit der man nicht mehr aufhören will«, überlegt Clara Duvigneau, die mit 19 Jahren zu den jüngsten Aktivist*innen in der Gruppe gehört. Mit Bass gegen die Klimakrise. Fridays for Future mobilisiert mit Tanz und Musik zum Global Strike Das Vollzeit-Engagement strengt die jungen Menschen sichtlich an, doch das gemeinsame Ziel schweißt auch zusammen. Mit dem Klimacamp haben die Aktivist*innen sich einen Ort des gegenseitigen Empowerments geschaffen, an dem sie Pläne schmieden und für eine Weile ihr Leben teilen werden. Selbst diejenigen, die wie Grunwald, Freitag, Hess und Duvigneau in Berlin leben, haben ihre Zelte im Camp aufgeschlagen, werden Online-Uni und Homeoffice vor Ort machen. Wetter ohne Maß und Mitte. Berlin und Brandenburg gehören zu den Hotspots der Klimakrise in Deutschland Michelle Grunwald arbeitet als Werkstudentin bei Enertrag, einem Unternehmen für erneuerbare Energien, in der Wasserstoffforschung. Im Oktober beginnt ihr klimawissenschaftlicher Masterstudium »Climate, Earth, Water, Sustainability« an der Uni Potsdam. »Ich möchte die Dinge, für die ich als Aktivistin kämpfe, auch verstanden haben und etwas tun, das gebraucht wird«, sagt sie. Auch die Klimabewegung habe in den vergangenen Jahren schon viel erreicht. »Durch unsere Proteste hat das Klimathema enorm an Zuspruch gewonnen. Ich glaube, dass die Regierung Angst vor uns hat«, sagt Grunwald. Das Klimacamp scheint die Energien zahlreicher junger Menschen wie ihr zu bündeln. Am Nachmittag stellt sich die vegane Solidarische Landwirtschaft Plantage aus Frankfurt (Oder) auf der Bühne neben dem Infozelt vor – »da hab’ ich im Winter auch schon mal mitgemacht, da gab es ganz viel Kohl«, erzählt Grunwald, als sie ein paar Minuten Zeit zum zuhören hat. Wenig später wird eine Gruppe der Fahrradprotestbewegung Ohne Kerosin nach Berlin (OKNB) mit Applaus im Camp empfangen. Fast drei Wochen haben die 40 Aktivist*innen auf ihren Rädern verbracht, um von Karlsruhe bis hierher zu fahren und so für eine nachhaltige und sozial gerechte Verkehrswende zu protestieren. »Es ist ziemlich krass, jetzt hier zu sein. Es fühlt sich gar nicht so an, als ob ich gerade über 1000 Kilometer Fahrrad gefahren bin«, sagt Vera Sons von der OKNB-Südwest-Tour. Nachdem ihre Gruppe ihre Zelte aufgebaut hat, verdoppelt sich deren Anzahl schlagartig auf etwa 60 Stück. Zum Abendprogramm sind fast 200 Personen im Klimacamp. Auffrischender Gegenwind am Flughafen Leipzig. Bei einem Klimacamp in Sachsen zum Thema Mobilität üben junge Umweltschützer und bürgerliche Protestinitiativen den Schulterschluss Fast alle nehmen am Flashmob-Tutorial teil. Inga Thao My Bui, eine Aktivistin aus Mainz, macht auf der Bühne die Tanzschritte vor, auch Michelle Grunwald und ihre Freund*innen tanzen mit. Als die Performance sitzt, brechen über hundert Aktivist*innen mit Demoschildern und neuer Energie zum Brandenburger Tor auf, wo sie ihre Forderungen tanzend unter den Passant*innen verbreiten und Richtung Reichstagsgebäude rufen: »Climate Justice!« (Klimagerechtigkeit!) Auch für solche Momente lohne sich die viele Arbeit: »Bei den Flashmobs krieg’ ich immer Gänsehaut«, sagt Grunwald. Die eigentliche Arbeit geht jedoch erst los. Das Klimagerechtigkeitscamp soll solange bleiben, wie die Aktivist*innen es für nötig befinden, gemäß dem Motto: »Wir bleiben, bis ihr handelt!«
Louisa Theresa Braun
Seit Montag campen Klima-Aktivist*innen aus ganz Deutschland im Berliner Regierungsviertel, um mit Aktionen auf die Klimakrise aufmerksam zu machen und Druck auf die Politik auszuüben.
Berlin, Demonstration, Flashmob, Fridays For Future, Klimaaktivismus, Klimabewegung, Klimacamp
Hauptstadtregion
Berlin Klimagerechtigkeitscamp
2021-09-09T16:50:38+0200
2021-09-09T16:50:38+0200
2023-01-20T20:55:06+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1156420.jede-zelle-ist-voll-aktiv.html
Volkswagens Vogelkunde
Es ist eine knifflige Entscheidung, die Volkswagen von Hunderttausenden seiner Dieselautokunden verlangt: Sie erhalten 1350 bis 6257 Euro je Fahrzeugtyp und -alter, wenn sie dafür alle weiteren Ansprüche aufgeben und sich einem völlig intransparenten Vergabeverfahren unterziehen. Die Dieselbesitzer müssen sich fragen, ob sie lieber den Spatz aus der Hand von VW nehmen als auf die Taube vom Dach der Justiz zu warten. VW agiert clever: Mit der genannten Gesamtsumme von 830 Millionen Euro stellt man sich im besten Licht dar. Wer weiß schon, dass in den USA bei deutlich weniger Kunden Milliarden flossen? Vor allem untergräbt VW die Musterklage des Verbraucherzentralenverbands, indem man die Kläger einzeln herauslockt. Der Erfolg wäre fatal, denn es handelt sich ja um die erste Massenklage in der deutschen Justizgeschichte - diese soll die Verbraucherrechte gegenüber den bisherigen Individualklagen stärken. VW setzt darauf, von der Verunsicherung der Kläger zu profitieren: Es dürfte Jahren dauern, bis das Gerichtsverfahren mit zudem höchst ungewissem Ergebnis durch ist. Darüber hinaus ist hierzulande noch immer nicht gerichtlich geklärt, ob der Konzern überhaupt betrogen hat und ob er mit den Softwareupdates schon seine Schuldigkeit getan hat. VW ist sich sicher, dass der Spatz in der Hand allzu verlockend ist.
Kurt Stenger
Kurt Stenger über das Angebot von VW an einige seiner Dieselkunden
Abgasskandal, Diesel, Verkehrspolitik
Meinung
Kommentare Dieselskandal
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1133014.dieselskandal-volkswagens-vogelkunde.html
Über den Tisch gezogen
Der Energiegroßhändler und Stromproduzent Uniper kriegt das, was sein finnischer Eigentümer Fortum seit Wochen fordert: üppige Staatshilfe. Der Bund steigt mit 30 Prozent bei dem Düsseldorfer Unternehmen ein und zeichnet eine milliardenschwere Anleihe. Zudem lässt die Bundesregierung ein Darlehen der staatlichen KfW-Bank von zwei auf neun Milliarden Euro aufstocken. Wie in der Finanzkrise werden Verluste über den Staat sozialisiert. Einen anderen Teil der Zeche werden alle Gas-Kunden in Deutschland zahlen. Denn der Deal sieht vor, dass die Versorger ab Oktober ihre gestiegenen Einkaufspreise an alle Gasverbraucher weitergeben dürfen. Dabei haben sich Uniper und Co. selbst verzockt. Lange machten sie mit den preiswerten Energielieferungen aus Russland und der Ölpreisbindung für Verbraucher dicke Geschäfte. Auf eine breite Streuung der Lieferanten legte man keinen Wert, weil das kostspieliger gewesen wäre. Lieferverträge mit jahrelangen Laufzeiten setzte man nur ein, wenn das der Rendite diente. Hier muss der Bund nun genau in die Bücher schauen, damit er nicht noch einmal über den Tisch gezogen wird.
Hermannus Pfeiffer
Der Energiegroßhändler und Stromproduzent Uniper kriegt das, was sein Eigentümer Fortum fordert: Der Bund steigt mit 30 Prozent bei dem Düsseldorfer Unternehmen ein und zeichnet eine milliardenschwere Anleihe.
Meinung
Kommentare Staatshilfen für Uniper
2022-07-24T16:16:09+0200
2022-07-24T16:16:09+0200
2022-07-25T14:50:31+0200
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1165543.staatshilfen-fuer-uniper-ueber-den-tisch-gezogen.html
Pisa-Versager in die Bundeswehr!
Geht es nach dem Willen der CSU, dann wird die Wehrpflicht noch in diesem Jahr wieder eingeführt. Das ist eine grundvernünftige Idee. Denn aus dem finsteren Osten droht Putin und auch auf die USA ist kein Verlass mehr, seit Trumps stabiles Genie eine grandiose Flitze nach der nächsten produziert. Und wenn der US-Präsident übermorgen auf die Idee kommt, aus Wildau am Werbellinsee die Riviera der Schorfheide zu machen, dann wird die Bundeswehr dem nach jetzigem Stand nichts entgegensetzen können, weil sie nicht genügend Soldaten hat. Es spricht für die CSU, dass sie den jungen (Noch-nicht-)Wehrpflichtigen zutraut, das Vaterland retten zu können. Man könnte ja leise Zweifel hegen, dass Menschen, die sich untereinander »Digger« nennen, Edgar-Frisuren tragen und bei den Bundesjugendspielen nach einem 1000-Meter-Lauf reihenweise umkippen, nur weil es mal knapp über 39 Grad hat, zu solchen Leistungen in der Lage wären. Doch so traurig und beängstigend es auch ist: Sie sind unsere einzige Hoffnung. Wer nicht möchte, dass Markus Söder in ein paar Jahren vom Russen oder Amerikaner unterjocht wird oder mit ihnen kollaborieren muss (letzteres ist weitaus wahrscheinlicher), sollte all seine Hoffnung in die jungen Wehrpflichtigen setzen. Andreas Koristka ist Redakteur der Satirezeitschrift »Eulenspiegel«. Für »nd.DieWoche« schreibt er alle zwei Wochen die Kolumne »Betreutes Lesen«. Alle Texte unter dasnd.de/koristka. Ich selbst werde bei der Vaterlandsverteidigung leider nicht mittun können, weil ich vor vielen Jahren einen sehr überzeugenden Gesinnungsaufsatz geschrieben hatte, in dessen Folge ich vom Dienst an der Waffe befreit wurde. Anschließend musste ich mehrere Monate im Hausmeister-Keller einer brandenburgischen Kita vegetieren und stets zur Stelle sein, um finster zu gucken, wenn die Erzieherinnen einem unartigen Kind drohten, es »runter zum Zivi« zu schicken. Solche wertvollen erzieherischen Maßnahmen haben den brandenburgischen Kindern nicht geschadet. Das sind heute alles gesunde Erwachsene, die mehrheitlich AfD wählen. Sie müssen strenggenommen also gar nicht vor Putin und Trump beschützt werden. Die Wehrpflicht ist trotzdem eine gute Idee, denn dann stören die Jugendlichen nicht mehr so sehr im Stadtbild. Klar ist es nicht schön, wenn ein Teil von ihnen als Kanonenfutter endet. Aber was hätten sie sonst gemacht? Tiktok geschaut und Obszönitäten auf Parkbänke gekritzelt. Das ist doch auch kein würdiges Leben! Daran, dass wir alle verloren sind in den Fängen verrückter Männer, die die Welt unter sich aufteilen möchten, wird auch eine Wehrpflicht nichts ändern. Dennoch wäre es schön, wenn die vielen jungen Pisa-Versager wenigstens einmal in ihrem Leben das bekämen, was sie verdienen: einen Zwangsdienst. Uns hat der doch auch nicht geschadet. Im Gegenteil, die Erziehung meiner eigenen Kinder wird noch heute von jenen Zivildiensterfahrungen bereichert. Das Spielzimmer wird jedenfalls zuverlässig aufgeräumt, wenn ich damit drohe, meine Brut in den Keller einzusperren. Auf ähnliche Weise profitieren sicherlich später auch die Kinder künftiger Wehrdienstleistender. Und wenn alles bestmöglich abläuft, werden sie dies der CSU zu verdanken haben.
Andreas Koristka
Andreas Koristka outet sich in seiner neuen Kolumne als Fan der Wehrdienstpläne der CSU, auch wenn er selbst leider nicht mehr mitmachen kann. Die Zukunft liegt nun mal in den Händen junger Menschen mit Edgar-Frisuren.
Bundeswehr, CSU, Wehrpflicht
Meinung
Kommentare Wehrdienst-Plände der CSU
2025-03-06T17:38:18+0100
2025-03-06T17:38:18+0100
2025-03-12T15:00:38+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1189591.pisa-versager-in-die-bundeswehr.html
Streit um Kinderquark »Monsterbacke«
Der Kinderquark landete vor dem höchsten Bundesgericht: Die Verpackung ist bunt, der Inhalt süß. Doch allzu knapp dürfen bestimmte Werbeaussagen auf der Verpackung nicht sein, urteilte der Bundesgerichtshof. Ist die Molkerei Ehrmann mit ihrem Milchslogan zu weit gegangen.? Alternative Wohnformen für Pflegebedürftige - WG-Leben statt Einsamkeit. Alternative Wohnformen für Pflegebedürftige werden immer beliebter und sie werden deutlich gefördert. Die Einzelheiten lesen Sie im nd-ratgeber. Vorzeitig in den Ruhestand oder nicht? Mit 63 Jahren kann – muss aber nicht immer Schluss sein. Seit dem 1. Juli 2014 können Beschäftigte unter bestimmten Voraussetzungen ohne Abschläge mit 63 Jahren in Rente gehen. Das berechtigt den Arbeitgeber aber nicht, das Arbeitsverhältnis von sich aus zu beenden. Mietpreisbremse - Zum 1. Juni 2015 soll sie in Kraft treten. In vielen Großstädten schnellen die Mieten schnellen nach oben, bei Besichtigungen stehen die Interessenten Schlange – und wer die Wohnung bekommt, muss oft noch eine saftige Maklerprovision zahlen. Hier soll die umstrittene Mietpreisbremse, die der Bundestag am 5. März 2015 beschloss, ansetzen. Heute wieder mit Haus und Garten und der Gartenkolumne mit der Frage, kann man sich auf das Wetter verlassen? Kann man schon rein in die Beete? Bei den noch kalten Nächten ist Vorsicht geboten. Dennoch – im April ist einiges zu tun. Die Tipps für den Monat im nd-ratgeber. Spielt der Fiskus mit? Sind Gewinne und Preisgelder steuerfrei? Millionen von Menschen spielen wöchentlich Lotto. Die Hoffnung auf den großen Gewinn und darauf, vielleicht endlich ausgesorgt zu haben, treibt auch viele Menschen an, sich an Wettbewerben, Fernsehshows und sonstigen Veranstaltungen mit finanziellem Bonus zu beteiligen. Aber was passiert mit dem Geld, wenn wirklich gewonnen wird? Muss es versteuert werden? Im nd-ratgeber gibt die Steuerberaterkammer Berlin einige Tipps. Was stand was und wo im nd-ratgeber? Das Register für das 1. Quartal 2015. Fragwürdige Mahnungen aus Nürnberg. Im nd-ratgeber vom 4. März 2015 hatten wir an dieser Stelle nach einer Information der Verbraucherzentrale Sachsen-Anhalt auf zwielichtige Inkasso-Schreiben aus Hamburg hingewiesen. Nunmehr warnt die Verbraucherzentrale erneut vor fragwürdigen Mahnungen. Über eine Zahlungsaufforderung einer Kanzlei Justorat aus Nürnberg beschweren sich derzeit viele Verbraucher Sachsen-Anhalts. Die Verbraucherzentrale Sachsen-Anhalt rät dringend: Wer keine Leistung in Anspruch genommen hat, sollte keinesfalls zahlen.
Redaktion nd-aktuell.de
Ein Kinderquark der Molkerei Ehrmann landete vor dem Bundesgerichtshof. Bestimmte Werbeaussagen seien zu knapp gehalten. So das Urteil. Weitere Themen: Vorzeitig in den Ruhestand, Mietpreisbremse, Gartenkolumne...
Lebensmittel, Mietpreisbremse, Pflege, Wohnen
Ratgeber
https://www.nd-aktuell.de//artikel/965717.streit-um-kinderquark-monsterbacke.html
Attacke auf Journalisten in Bautzen
Berlin. In Bautzen haben nach den rassistischen Ausschreitungen der vergangenen Tage einige Dutzend Linke vor allem aus Dresden und Leipzig protestiert - wie die Polizei meldete, »stellten sich ihnen die auf dem Platz anwesenden rund 300 Einheimischen lautstark entgegen«. Die Deutsche Presse-Agentur schreibt über den abendlichen Auflauf auf dem zentralen Platz der sächsischen Stadt: »Es handelte sich überwiegend um Einheimische, etliche von ihnen waren augenscheinlich der rechten Szene zuzuordnen.« Bei der Polizei hieß es: Auf dem Kornmarkt waren auch wieder »zahlreiche junge Männer auszumachen, die augenscheinlich dem rechten Spektrum zuzuordnen waren«. Ein freier Fotojournalist sprach von einer gefährlichen Stimmung. »Ich unterbreche die Berichterstattung. Es ist zu gefährlich«, twitterte er am späten Abend. Rechtsradikale hätten »versucht den linken Block zu stürmen«, so der Reporter. Die linke Protestdemonstration sei von den Rechten mit Rufen wie »Antifa aufs Maul« bedroht worden. In der Umgebung des Kornmarktes seien »enorm viele rechte Kleingruppen« unterwegs. »Es ist zu wenig Polizei da«, so der Fotojournalist. Hetzjagd in Bautzen: Polizei beschuldigt Geflüchtete Großaufgebot an Beamten muss Asylheim vor Übergriffen durch Rechtsradikale beschützen / LINKEN-Abgeordnete Lay spricht von Pogromstimmung / Grüne fordern 24-Stunden-Bewachung gefährdeter Unterkünfte Nach der Hetzjagd auf junge Geflüchtete vom Vorabend hat sich die sächsische Staatsministerin für Integration, Petra Köpping, sehr besorgt gezeigt. »Ich weiß nicht, ob ich von einer Pogromstimmung reden kann, aber ich weiß, dass es eine beängstigende Stimmung ist. Und das macht mir Sorgen«, sagte die SPD-Politikerin am Donnerstagabend in der ARD. Köpping räumte Probleme mit Rechtsextremismus in ihrem Bundesland ein. »Es gibt schon Regionen in Sachsen, wo Rechtsradikalismus und radikalisierte Einstellungen stärker sind als in anderen Regionen«, so Köpping. Sie ärgere sich darüber, dass es in Sachsen Menschen gebe, versuchten, den Zuzug von Geflüchteten zu verhindern. Diese würden »Möglichkeiten nutzen, Auseinandersetzungen in irgendeiner Form zu provozieren«. Die rassistischen Übergriffe vom Mittwochabend seien aber nicht repräsentativ für Bautzen. Es ärgere sie, »dass alles, was wir Gutes gemacht haben und auch aufgebaut haben, durch solche Ereignisse einfach überschattet« werde. Kritik an der sächsischen Integrationspolitik wies Köpping zurück: »Also so sehr viel falsch konnte man ja in Sachsen noch gar nicht machen, weil die Integration noch ganz neu im Aufbau ist«, sagte sie. Erst Mitte dieses Jahres sei ein neues Integrationspaket beschlossen worden. Es gebe aber in Sachsen noch Lücken, »die wir verbessern können«, räumte die SPD-Politikerin ein. Als Beispiele nannte Köpping die Dauer der Bearbeitung von Asylanträgen oder die Wartezeit auf Plätze an Schulen und in Integrationskursen. Dies sei »eine Zeit, wo sehr viel Frust entsteht«. Die Polizei setzt nun in Bautzen auf massive Präsenz. Man werde in den kommenden Tagen mit zusätzlichen Kräften vor Ort sein, sagte der Leiter des Bautzener Polizeireviers, Uwe Kilz. »Die unschönen Szenen, wie sie an den vergangenen Abenden am Kornmarkt zu sehen waren, gab es heute nicht«, sagte Kilz. Gegen 23.30 Uhr sei Ruhe auf dem Platz eingekehrt. Rechtsradikale hatten ursprünglich auch für Freitag und Sonntag Demonstrationen in der sächsischen Stadt angekündigt. Zumindest der Aufmarsch am Freitag wurde abgesagt: »Ab sofort werden wir Bautzens Politikern die Möglichkeit geben, Taten folgen zu lassen«, hieß es in einer bei Facebook verbreiteten Erklärung. Man werde nun wöchentlich entscheiden, »ob wir neu mobilisieren«. Ob sich sämtliche rechten Gruppen in der Region daran halten und sich nicht teilweise spontan doch zusammenfinden, ist zumindest fraglich. Kritik gab es von Seiten der LINKEN an der Entscheidung des Landkreises, gegen die an den Auseinandersetzungen vom Mittwoch in Bautzen beteiligten jugendliche Flüchtlinge eine Ausgangssperre ab 19 Uhr zu verhängen. Die als »störend Empfundenen« würden als Sündenböcke stigmatisiert, sagte die Migrationsexpertin der Landtagsfraktion, Juliane Nagel, am Freitag in Dresden. »Und diejenigen, die den Unfrieden durch ihre Unverträglichkeit gegenüber allem scheinbar Fremden ausgelöst haben, dürfen sich nach Herzenslust ausbreiten.« So würden Ruhe und Ordnung im demokratischen Sinne einer offenen Gesellschaft nicht funktionieren. Die Ausgangssperre sei ein vordemokratisches, autoritäres Sanktionsmittel, ein Eingriff in Grundrechte und eine Beschädigung von Integration. »So haben die Nazis erreicht, was sie wollten«, meinte Nagel. Bautzen war in den vergangenen Monaten wiederholt wegen rassistischer Vorfälle in die Schlagzeilen geraten. Im Februar hatten Schaulustige einem Brand in einer Flüchtlingsunterkunft zugesehen. Im März war Bundespräsident Joachim Gauck bei einem Besuch in Bautzen beschimpft und beleidigt worden. Damals hatte er mit Bürgern über die Flüchtlingskrise diskutiert. Die neuerlichen Vorfälle befeuerten die Debatte über Ausländerfeindlichkeit in Sachsen. Agenturen/nd
Redaktion nd-aktuell.de
In Bautzen haben einige Dutzend Linke gegen Rassismus protestiert. Erneut waren zahlreiche Rechtsradikale in der Stadt aufgelaufen, mit rechten Parolen, Symbolen und Gewalt gegen einen Journalisten.
Bautzen, linke Bewegung, Polizei, Rassismus, Rechtsextremismus, Sachsen
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1025703.attacke-auf-journalisten-in-bautzen.html
Gedenkstätte Lieberose braucht Geld
Peter Kotzan ist baff. Erst jetzt sieht er, dass bei der Inschrift wieder einmal Buchstaben fehlen. Jemand muss sie Stück für Stück aus dem Beton herausgebrochen haben. Die Dübel stecken noch drin. Vielleicht ist das schon länger so. Doch dass von »KZ Sachsenhausen« das »hausen« fehlt, bemerkte Kotzan nicht, weil die Zweige eines Nadelbaums diese Stelle etwas verdecken. Es ist nicht das erste Mal, dass unbekannt gebliebene Metalldiebe, mutwillige Zerstörer oder rechte Übeltäter das Mahnmal für die Opfer des KZ-Außenlagers Lieberose auf diese Weise beschädigen. Kotzan weiß das so genau, weil er sich von Anfang an um das 1982 an der Bahnhofstraße eröffnete kleine Museum gekümmert hat - und seitdem auch um das Mahnmal, dass bereits 1973 eingeweiht wurde und vom Museum ein paar Schritte den Hang hoch neben dem Friedhof von Lieberose liegt. In einem Rondell des Mahnmals beigesetzt ist die Asche von 577 ungarischen Juden, die Anfang 1945 bei der Räumung des Lagers ermordet worden sind. 1959 waren zwölf Skelette in einer Kiesgrube bei Staakow gefunden worden. In dem Massengrab in dieser Kiesgrube sind dann 1971 die sterblichen Überreste der genannten 577 KZ-Häftlinge gefunden worden. Um ihre Asche beizusetzen und um würdig an die Opfer zu erinnern, wurde das Mahnmal errichtet. Am historischen Standort des Lagers im benachbarten Jamlitz erschien das damals nicht möglich, weil dort bereits seine Siedlung mit Eigenheimen und Datschen entstanden war. Auf einem historischen Foto von der Einweihung des Mahnmals sieht alles tipptopp aus - dem Erinnern an die schrecklichen Ereignissen von 1945 angemessen. Doch inzwischen nagte der Zahn der Zeit an der Anlage. Die Treppenstufen sind brüchig, die Betonplatten vor dem Rondell sind von Rissen zerfurcht. Weil im Moment Sand die Lücken füllt, ist der Boden einigermaßen eben. Doch wenn Regen den Sand ausspült, entstehen Löcher. »Besucher sind hier schon gestolpert, zum Glück ist niemand gestürzt«, sagt Kotzan. Doch die Anlage könnte dringend eine Grundsanierung vertragen. Bereits seit 1996 ringt Kotzans Verein zur Förderung der antifaschistischen Mahn- und Gedenkstätte Lieberose um eine Lösung. Ein Kostenvoranschlag, in dem auch der Bau einer Rampe für Rollstühle enthalten ist, beziffert den finanziellen Aufwand mit 33 000 Euro. Doch eine Stiftung, die bereits eine Heizung und die Wärmedämmung für das Museum spendiert hatte, bewilligte neuerliche Anträge nicht. Bewegung kam erst wieder in die Sache, als Brandenburgs Finanzstaatssekretärin Daniela Trochowski (LINKE) im Februar 2017 zum Jahrestag der Befreiung des Lagers eine Rede hielt. Von Kotzan auf den Zustand des Mahnmals angesprochen, stellte Trochowski Lottomittel in Aussicht. 15 000 Euro würde das Finanzressort auszahlen. Doch es scheitert bislang an der Kofinanzierung. Das Amt Lieberose sah sich außer Stande, einen kommunalen Eigenanteil in Höhe von 18 000 Euro aufzubringen. Solange liegt der Antrag auf Lottomittel auf Eis, bedauert Finanzministeriumssprecherin Ingrid Mattern. Das Angebot steht aber, lässt Staatssekretärin Trochowski ausrichten. Man bemühe sich und sei auch zuversichtlich, eine Lösung zu finden. Mittlerweile beantragte das Amt Lieberose noch 4800 Euro beim Kulturministerium und weitere Mittel beim Landkreis Dahme-Spreewald. Komplett könne auf eine Eigenanteil aber nicht verzichtet werden, heißt es. Der Kreistagsabgeordnete Reinhard Krüger (LINKE) hat bei Landrat Stephan Loge (SPD) nachgefragt, was sich machen lässt. Nach Krügers Absicht kann die Sanierung nicht noch weiter auf die lange Bank geschoben werden. Denn wenn die Schäden weiter zunehmen, könnten sie so schwer werden, dass irgendwann eine Sperrung des Areals notwendig wird. Eine Antwort hat Krüger noch nicht erhalten. Wie »nd« beim Büro des Kreistags erfuhr, gibt es zwar schon einen Entwurf eines Antwortschreibens, dass aber noch keine Unterschrift trägt. Deshalb lasse sich über den Inhalt noch nichts sagen. Peter Kotzan und seine sechs Vereinsfreunde müssen sich also etwas gedulden. Auch die Besucher des Mahnmals. Ist das Museum nicht geöffnet, so können diese übrigens trotzdem etwas erfahren. Kotzan hat außen extra ein paar Informationstafeln angebracht. Zu lesen ist dort auch ein Erinnerungsbericht von Alfred Ehling: »Die ausgehungerten Häftlinge mussten im Dauerlauf zum Bahnhof rennen und schwere Betonplatten, die als Eisenbahnschwellen verwendet wurden, tragen. Die Betonplatten hatten eine Länge von 1,10 Meter und ein Gewicht von circa 250 Kilogramm. Wer dabei hinfiel, wurde von der Schwelle erschlagen und blieb tot liegen.« Im Museum sind Holzpantinen und eine Häftlingsjacke ausgestellt, die 1982 aus dem Fundus der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen übergeben wurde. Zwei Bretter mit der Aufschrift »Baracke Nr. 4« hat Kotzan von einem Mitbürger erhalten, der sie beim Abriss eines Schuppens entdeckte. Einst hatten Anwohner Baumaterial aus den Baracken des ehemaligen Lager herausgebrochen und sich daraus auf ihren Bauernhöfen Verschläge gebaut. Kotzan nahm die Bretter gern an, wollte sie jedoch nicht kommentarlos ins Museum hängen. Er suchte Lebensgeschichten von sechs Häftlingen heraus, die in der Baracke Nummer vier gelitten hatten und stellte die Kurzbiografien dazu - etwa die von Hermann Zwi-Hirsch (1906-1978), einem ungarischen Juden, der das Lager überlebte und nach Israel auswanderte. Zu den Überlebenden zählte auch Lagerarzt Viktor Braschnikow (1903-1984). Als Kriegsgefangener hatte er Flugblätter für seine Kameraden übersetzt - Flugblätter, die sowjetische Piloten hinter der Front abgeworfen hatten, um die Deutschen zu agitieren. Braschnikow wurde verraten und ins KZ überstellt. Lehrer Kotzan besuchte Braschnikow ein Jahr vor dessen Tod in der Sowjetunion. Eine Gedenktafel erinnert an den Arzt.
Andreas Fritsche
In Lieberose sind 577 jüdische Opfer des Faschismus beigesetzt. Um die KZ-Gedenkstätte zu sanieren, beantragte das Amt Lieberose Fördermittel beim Finanzministerium, beim Kulturministerium und beim Landkreis. Knackpunkt ist bislang die Kofinanzierung.
Holocaust, Konzentrationslager, Nationalsozialismus
Hauptstadtregion
Berlin Mahnmal
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1113945.gedenkstaette-lieberose-braucht-geld.html
Volkswagenfußball
Was ist eigentlich die Steigerungsform von allgegenwärtig? Der Volkswagenkonzern ist schon jetzt der mit Abstand größte Sponsor im deutschen Fußball. Kein Bundesliga- oder Pokalspiel, in dem nicht das Logo von VW oder einer anderen Konzernmarke auf Trikots, Interview-Rückwänden oder Banden prangt. Nur die Nationalmannschaft war bisher VW-frei. Das wird sich 2019 ändern: Dann löst VW Generalsponsor Mercedes ab. Als »wichtige Marketing- und Kommunikationsplattform« bezeichnet der Konzern den Fußball und lässt ihn sich einen dreistelligen Millionenbetrag im Jahr kosten. Geschäftskontakte lassen sich gut pflegen, wenn man die Partner zu allen wichtigen Spielen in die VIP-Loge einladen kann. Vor allem geht es VW darum, das durch den Abgasskandal angeschlagene Image aufzupolieren. Daher wurden die Fußballgelder auch vom Sparkurs des neuen VW-Chefs Matthias Müller verschont. Jetzt wo auch der wichtige Markt China fußballverrückt wird, ist es gut, international präsent zu sein - der eigene Werksverein VfL Wolfsburg ist weit davon entfernt. Die DFB-Funktionäre gelten als verknöchert und konservativ, was sie mit ihrem Zuschlag für VW bestätigen. Der Konzern ist nicht der einzige, aber doch der größte Betrüger bei gesundheitsschädlichen Autoabgasen. VW wäscht sein Image rein - auch dank Volkswagenfußball.
Redaktion nd-aktuell.de
Volkswagen statt Mercedes: Der deutsche Fußball hat einen neuen Top-Geldgeber. Europas größter Autobauer darf ab dem übernächsten Jahr mit den DFB-Superstars wie Neuer, Kroos und Müller werben. Ein Kommentar.
DFB, Fußball
Meinung
Kommentare
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1057492.volkswagenfussball.html
Beute und Beutegut
Was für eine Leidensgeschichte! Und wer ist schuld daran? Die Wissenschaft ganz gewiss nicht. Die Tragödie begann mit einem schlagzeilenverliebten Blaublüter namens Wilhelm von Boddien, der sich selbst als »Beutepommer« bezeichnet und dessen Vater und Bruder »für Führer, Volk und Vaterland« in den Krieg gezogen sind, den zweiten im 20. Jahrhundert von deutschem Boden entfesselten. Kurz nachdem die DDR Beute der Bundesrepublik ward, stieß er ins Horn und rührte die Trommel für den Wiederaufbau der Berliner Stadtresidenz der Hohenzollern, deren letzter Spross auf preußischem Königs- und deutschem Kaiserthron nicht in den Ersten Weltkrieg gestolpert ist, sondern diesen freudig segnete: »Blut muss fließen, viel Blut.« Raubritter Boddien hat es geschafft, Politik und Parlamentarier vor sich herzutreiben, einzuspannen, an die Kandare zu nehmen. Die sich dann devot etwas Säkular-Sinnvolles zum Füllen der wegen überbordend steigender Kosten auf Disney-Format heruntergehandelten Schlosshülle ausdenken mussten: Geburtsstunde des Humboldt-Forums. Eine feine Sache eigentlich - ein Kunst-, Musen- und Wissenschaftstempel, der Schätze aus dem Fundus diverser Museen und Archive dem gemeinen Volke zugänglich macht, akademischen wie populärwissenschaftlichen Foren Raum bietet sowie Unterhaltung, Entspannung und Begegnung nicht zu kurz kommen lässt. Doch ach, es gab stetig Krach. Neben explodierenden Kosten, Bauverzögerungen, Streit um die Generalintendanz und koloniales Raubgut krönte den Ärger die Bekrönung des Hauses mit christlich-missionarischem Kreuz. Ein Affront für Atheisten und Angehörige kolonial unterworfener, entrechteter und beraubter Völker. Jetzt die Eröffnung. In Etappen. Gut Ding will Weile haben? Boddien haben wir jedenfalls nichts zu danken.
Karlen Vesper
Karlen Vesper freut sich über das Humboldt-Forum - trotz alledem
Berlin, Beutekunst, Humboldt-Forum, Kolonialismus
Meinung
Kommentare Humboldt-Forum
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1154676.humboldt-forum-beute-und-beutegut.html
Mr. 99 Prozent
Drei Ziele präsentierte Peter Fischer im Jahr 2000, als ein Präsident für Eintracht Frankfurt gewählt werden sollte: 10 000 Mitglieder, ein neues Trainingszentrum und die Integration mehrerer Sportarten - weil er den Fußballklub auch als Bürgerinitiative sieht. Jetzt hat die Eintracht mehr als 50 000 Mitglieder. Am Riederwald steht ein modernes Sportleistungszentrum. Und genau dort wurde der 61-Jährige am vergangenen Sonntag mit 99 Prozent der Stimmen in seine mittlerweile sechste Amtszeit als Präsident des Frankfurter Klubs geschickt. Es war eine besondere Wahl, weil Peter Fischer ein besonderer Typ ist. Er begreift die große gesellschaftliche Bedeutung des Sports als Verantwortung. Und so positionierte er sich im Dezember als erster Präsident eines Profiklubs zu einem drängenden Thema: »Wer die AfD wählt, kann bei uns kein Mitglied sein.« Recht hat er. Denn mit ihren Satzungen haben sich die Vereine auf ein verbindliches Wertesystem geeinigt - gegen Rassismus und Diskriminierung, für Toleranz und Vielfalt. »In dieser Hinsicht muss der Sport auch politisch sein«, meinte Fischer schon immer. Und fragt jetzt: »Wo sind die anderen? Wo bekennt sich einer?« Bislang kam nur aus dem Seniorenrat beim Hamburger SV ein ähnlicher Vorstoß. Eigenständig sein, das kennt Fischer. Früh verließ er den elterlichen Bauernhof in Lich. Die Proteste gegen den damaligen Mainstream und die starke Studentenbewegung in Frankfurt am Main zogen ihn an. Er selbst machte lieber eine Lehre beim Kaufhof. Mit 19 war er Werbekaufmann und betrieb bald mehrere kleine Läden. Kritischer Zeitgeist, querdenkender Demokrat - so beschreibt er sich selbst. Den Ruf als Lebemann erwarb er sich durch seinen sonnengebräunten Teint, farbenfrohe Anzüge und die Beteiligung an Clubs auf den Balearen. Die Liebe zur Eintracht kam vom Vater. Fan ist Fischer also schon immer. Anders die hessischen AfD-Landessprecher Klaus Hermann und Robert Lambrou, die plötzlich Vereinsmitglieder werden wollen. Wollen sie den Fußball missbrauchen? Fischer jedenfalls will ihn schützen - und sinnvoll nutzen.
Alexander Ludewig
Peter Fischer, der alte und neue Präsident von Eintracht Frankfurt, stellt sich erfoglreich gegen die AfD
Hessen
Meinung
Kommentare Präsident von Eintracht Frankfurt
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1077812.mr-prozent.html
Linkenhassende Karrieristin
Für viele progressive Demokraten und Linke in den USA ist Neera Tanden ein rotes Tuch, auch wenn sie sich selbst als »Progressive« bezeichnet. Die Hillary-Clinton-Verbündete und persönliche Freundin der Familie arbeitete seit den 1990er Jahren für die berühmte Polit-Familie und hatte 2016 fleißig an der Legende von den angeblich frauenfeindlichen Sanders-Unterstützern, den »Bernie Bros«, mitgestrickt. Auch dieses Jahr fiel Tanden mit scharfer Polemik gegen linke Aktivisten in den USA auf. Die Leiterin des mitte-links Think Tanks Center For American Progress (CAP) ist ähnlich lange auf Twitter wie Donald Trump, hat aber mehrere Zehntausende Tweets mehr abgesetzt als der scheidende US-Präsident, oft ebenfalls spät nachts - in ihrem Fall gegen Republikaner und Linke gleichermaßen. Nun soll die gelernte Anwältin, politische Beraterin und erste indischstämmige Frau in dieser Position Leiterin des Office for Budget and Management unter Joe Biden werden und damit den Haushalt der US-Regierung verantworten - eine einflussreiche Stellung. Bereits unter US-Präsident Obama war sie ab 2008 mitverantwortlich für die Entstehung von Obamacare. CAP wurde zum wichtigsten regierungsnahen Think Tank. Tanden ist wenig zimperlich, ihre Fans unter zentristischen Demokraten feiern sie deswegen als »Powerfrau«. 2011 tauchte sie in den Wikileaks-Depeschen auf, forderte libysches Öl als »Ausgleich« zum Militäreinsatz im Land, um Haushaltslöcher in den Vereinigten Staaten zu stopfen. Ab 2011 wurde sie Präsidentin des CAP und bezeichnete die Mitarbeiter des CAP-Newsblog ThinkProgress als »verrückte Linke«. Der Think Tank mit einem Budget von 40 bis 50 Millionen Dollar pro Jahr ging unter ihrer Leitung gegen die unbequemen hauseigenen Journalisten vor, als diese sich gewerkschaftlich organisierten. Weniger aggressiv zeigte sich die US-Amerikanerin gegenüber den CAP-Geldgebern, darunter Großunternehmen wie Amazon und Facebook und der Milliardär und New Yorker Ex-Bürgermeister Michael Bloomberg. 2015 ließ das CAP - offenbar als Gefälligkeit gegenüber dem Spender - eine Bloomberg-kritische Passage aus einem CAP-Bericht zu Islamophobie in den USA streichen. 2019 setzte die liberale Technokratin ihren Feldzug gegen Bernie Sanders und insbesondere dessen Vorschlag zur Einführung einer allgemeinen staatlichen Krankenversicherung »Medicare For All« mit einem CAP-Gegenvorschlag zur langsameren, schrittweisen Einführung einer universalen Krankenversicherung fort – ihr Ansatz und der von Amerikas wohlmeinenden Liberalen zur Bewältigung gesellschaftlicher Probleme. Zur Freude von Konservativen attackierte sie Sanders auch direkt und persönlich, worauf dieser einen offenen Brief schrieb, in dem er Angriffe auf mehrere progressive Demokraten-Senatoren durch Tanden und das »Lächerlichmachen progressiver Ideen« kritisierte. Sanders zeigte sich ebenfalls »besorgt über den Einfluss, den Geld aus der Wirtschaft auf die Arbeit des CAP hat«. Weil die neue Leitung des OBM durch den Haushaltsausschuss des US-Senats bestätigt werden muss, könnte das Ausschussmitglied Sanders Tanden dort schon in Kürze unangenehme Fragen stellen. Darauf jedenfalls hoffen Unterstützer des demokratischen Sozialisten aus Vermont.
Moritz Wichmann
Die Präsidentin des liberalen Think Tanks »Center For American Progress« soll künftig die Haushaltspolitik der Joe-Biden-Regierung verantworten. Auf Twitter teilt Neera Tanden besonders gern gegen die US-Linke und die Politik von Bernie Sanders aus.
Bernie Sanders, Demokraten, Hillary Clinton, LINKE, linke Bewegung, Lobbyismus, Michael Bloomberg
Politik & Ökonomie
Politik Neera Tanden
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1145107.neera-tanden-linkenhassende-karrieristin.html
Ein Hufeisen weist den Weg
José und Jorge sind nackt. Sie schwimmen langsam durch die Bucht von Cala del Pilar. Badehosen haben sie nicht in den Rucksack gepackt, als sie heute Morgen mit dem Mountainbike aufgebrochen sind. »Die Schwimmsachen waren zu schwer«, scherzt Jorge. Dabei dürfen die beiden Spanier das, was sie sich vorgenommen haben, tatsächlich nicht auf die leichte Schulter nehmen. Sie wollen Menorca auf dem historischen »Camí de Cavalls« umrunden, dem historischen Pferdeweg, der unter großen Anstrengungen in den vergangenen Jahren wiederbelebt wurde. Pferde sieht man bei der Tour kaum. Dafür umso mehr Wanderer. Offiziell sind es 20 Abschnitte mit rund 185 Kilometern. Selbst wer zügig unterwegs ist, muss eine gute Woche planen, um Menorca zu Fuß zu umrunden. Deswegen kommen nun immer mehr Mountainbiker. Sie schaffen die Tour in drei Tagen, da bleibt noch genügend Zeit für Sonne und Strand oder die Hunderte Kilometer zusätzlicher Wege, die auf Menorca autofrei sind. Die beiden Freunde sind zwischenzeitlich aus dem Wasser gestiegen und haben ihre engen Radhosen übergestreift. Vor ihnen liegt einer der spektakulärsten Wegabschnitte im Norden von Els Alocs nach Cala Morell mit steilen Klippen, grandiosen Aussichtstürmen aus rotem Fels und blauen Wellen, die über den gelbsandigen Strand lecken. Der Pferdeweg ist nah am Wasser gebaut. Nur wenn es ein hoher Berg oder ein tief eingeschnittener Canyon verlangen, geht er einen Kompromiss ein und weicht ins Landesinnere aus. Für Wanderer sind keine großartigen Schwierigkeiten dabei. José und Jorge hingegen kommen gelegentlich an knifflige Stellen für Radfahrer, wo sie absteigen und schieben. »Das gehört dazu. Auch in der Sierra Nevada müssen wir unsere Bikes schon mal schultern«, sagt José. Der unermüdliche Tramuntana-Wind und das salzige Meerwasser haben im Norden Menorcas eine raue Landschaft geformt. Es halten sich nur tapfere Gesellen wie Meerlavendel, Meerfenchel und Heidebüsche auf den kargen Felsen. Sie vertragen die salzige Luft. Der kräftige Geruch von Beifuß und Rosmarin begleitet die beiden Mountainbiker, die schon nach kurzer Zeit wieder rote Waden haben. Schuld ist nicht die Sonne, sondern das korallenhaltige Gestein, das munter vor sich hin staubt. Zum Ende hin wendet sich der Weg von Meer und Sanddünen ab und führt zwischen Steppenhügeln hindurch in einen Steineichenwald, in dem sich kräftige Anstiege und zackige Abfahrten aneinander reihen. Auf dem Fahrrad kann sich das Szenario innerhalb von Sekunden wandeln. Der größte Unterschied wird aber deutlich, wenn man den Süden Menorcas erreicht hat. Der Wind ist freundlicher, die Landschaft flacher - wenngleich der »Camí de Cavalls« ein ständiges Auf und Ab bleibt. Abfahrt bedeutet oft, dass man in einer geschützten Badebucht landet. Zwischen hohen Felsen breitet sich ein weißer Sandteppich aus, auf dem meistens nur wenige Sonnenanbeter schlummern, weil der nächste Parkplatz stets einige Kilometer entfernt ist. Auf der zehn Kilometer langen Passage zwischen Son Saura und Cala Galdana passieren José und Jorge fünf Buchten. Heute haben sie ihre Badehosen eingepackt und brauchen deutlich länger für die Etappe als sie eingeplant haben. »Es ist jedes Mal so schön, dass man einfach ins Wasser muss«, sagt José. Bei der kompletten Umrundung Menorcas kommt man nur an einzelnen Strandbars vorbei, ansonsten befindet man sich weitab der Zivilisation - sieht man einmal von den beiden Städten Ciutadella de Menorca und Mahón sowie den Ferienanlagen im Südosten der Insel ab. Aber die Infrastruktur und Angebote rund um den ehemaligen Pferdeweg haben sich deutlich verbessert. Die Beschilderung ist sogar übertrieben gut: Alle 50 bis 70 Meter weist ein Holzpfosten mit Hufeisen-Logo den Weg. Mittlerweile gibt es auch einen Service für Gepäcktransport, den Ronald Fritz mit seinen Mitstreitern der »Coordinadora del Camí de Cavalls« vorangetrieben hat. Der Österreicher, der vor mehr als drei Jahrzehnten auf die Insel kam, schloss sich der Bürgerbewegung Menorca an und kämpfte dafür, dass Touristen den Weg wieder lückenlos bewandern können. Die ersten Etappen waren noch einfach zu meistern. Es genügte, zu den Bauern zu marschieren und sie um Erlaubnis zu bitten, über ihr Grundstück laufen zu dürfen. Wenngleich sie sich herrlich über die Wanderer um Fritz amüsierten. »Als wir weiterzogen, haben sie über uns gelacht und sich an den Kopf gelangt, dass jemand freiwillig, ohne Grund, läuft.« Die Bürgerbewegung setzte ein Puzzlestück an das andere, aber der Gegenwind wurde immer heftiger. Es gab Demonstrationen, juristische Auseinandersetzungen, am Ende sogar Enteignungen. Letztlich ging es um ein historisches Erbe, dass man Touristen zugänglich machen wollte. Die Wurzeln des Pferdeweges reichen laut der »Coordinadora del Camí de Cavalls« bis ins 13. Jahrhundert zurück, als die Spanier den Mauren die Insel abjagten. In der Folge hätten sie bewaffnete Reiter eingesetzt, die die Insel im Galopp umrundeten, um angreifende Schiffe frühzeitig zu entdecken. Mittlerweile ist der Pferdeweg einer der Hauptattraktionen Menorcas, das ohnehin schon stark auf Naturtourismus setzt und seine Landschaftsschutzgebiete vorbildlich hütet. »Wir wollen und brauchen touristischen Erfolg, aber nicht wie auf Mallorca«, sagt Fritz und deutet gen Westen, wo sich die Silhouette der großen Schwester abzeichnet. 43 Prozent der Landoberfläche Menorcas stehen unter Naturschutz, an der Küste sind es gar 70 Prozent. Es gibt 60 Buchten, 80 Prozent von ihnen sind unberührt geblieben. Deswegen kann es leicht passieren, dass aus einer dreitägigen Inselumrundung mit dem Mountainbike eine viertägige wird. Auch José und Jorge kommen später an als geplant. Sie haben sich fest vorgenommen, den morgigen Tag in der Hotelanlage zu nutzen, um im Pool zu schwimmen und in der Sonne zu entspannen. Zum Abschied sagt Jorge: »Aber übermorgen geht es wieder aufs Rad. Es gibt ja noch so viele Routen auf Menorca.« Anreise: Direktflüge z. B. mit Easyjet ab Berlin nach Menorca. Retourticket zum Teil unter 100 €. www.easyjet.com Pauschal: Der Veranstalter Rhomberg hat einen eigenen Menorca-Katalog aufgelegt. Flüge u. a. ab Berlin nach Menorca. Zahlreiche Hotels/Appartements und Ferienhäuser stehen zur Wahl. Eine Woche (Flug, Transfers, Unterkunft) ab etwa 800 €. www.rhomberg-reisen.com Unterkunft: Hotel »Artiem Audax« (Cala Galdana): umfangreiche Buffets, sehr gutes Biker-Frühstück, großzügige Zimmer, Mountainbike-Verleih im Haus. Geführte Touren und Aktivitäten. DZ ab rund 120 €/Nacht. www.artiemhotels.com Unterkünfte entlang der Strecke Torre de Fornells (Ses Salinas): www.hostalportfornells.com Sethotels (»Ciutadella« und »Mahon«): www.sethotels.com; Hamilton (S+anto Tomas): www.hamiltoncourt.com Touren, Gepäcktransport, Wanderungen, Kajak und Trailrunning: www.camidecavalls360.com Reiten auf dem Camí de Cavalls: www.cavallssonangel.com Die Recherche wurde unterstützt von Rhomberg Reisen.
Christian Schreiber
Der historische »Pferdeweg« auf Menorca erlebt ein Revival. Man muss fest im Sattel sitzen, um die Insel auf knapp 200 Kilometer zu umrunden. Dafür braucht man kein Pferd mehr, sondern ein Mountainbike - und eine gute Planung.
Menorca, Radfahren, Wandern
Reise Menorca
2021-07-02T14:14:41+0200
2021-07-02T14:14:41+0200
2023-01-20T21:57:11+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1153989.ein-hufeisen-weist-den-weg.html
Empörung in Ankara
Istanbul. Die »Washington Post« hatte geschrieben, Ankara habe Teheran bis zu zehn Iraner genannt, die bei Treffen in der Türkei Informationen an den israelischen Geheimdienst Mossad gegeben hätten. Die Regierung in Ankara stellt sich indes vor den Chef des türkischen Geheimdienstes MIT, Hakan ... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Die »Washington Post« hatte geschrieben, Ankara habe Teheran Iraner genannt, die bei Treffen in der Türkei Informationen an den Mossad gegeben hätten. Die Regierung in Ankara stellt sich indes vor den Chef des türkischen Geheimdienstes MIT.
Geheimdienste, Iran, Türkei
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/836712.empoerung-in-ankara.html
Entwickeln, nicht abschaffen
Wenn ein Drittel der Befragten in einer Umfrage erklärt, sie hätten das Gefühl, »nur scheinbar in einer Demokratie« zu leben, in der »Bürger nichts zu sagen« hätten, darf die Reaktion darauf nicht lauten: Seht her, aber wir leben doch in der besten aller denkbaren Demokratien! Bezeichnenderweise sehnen sich jene, die in der Corona-Pandemie am lautesten nach »Freiheit« brüllten und einen dauerhaften Abbau demokratischer Grundrechte befürchteten, nach weniger Diskussion, weniger Kompromiss und einer starken Führung – also dem exakten Gegenteil dessen, was eine Demokratie ausmacht. Der Verdacht liegt nahe, dass für solche autoritären Charaktere »Freiheit« und »Demokratie« nur Schlagworte sind, die kaschieren sollen, dass es ihnen in Wahrheit um die Durchsetzung von Eigeninteressen und Besitzstandswahrung geht, aber eben nicht um die Weiterentwicklung einer pluralistischen Gesellschaft. Hier weist unsere Demokratie tatsächlich Defizite auf, wenngleich es um die Ergänzung statt die Abschaffung des repräsentativen Parlamentarismus gehen muss. Obligatorische Bürgerräte in Kommunen gehören ebenso dazu wie erleichterte Volksentscheide auf Länderebene und die Digitalisierung von Wahlen. Das alles könnte politische Teilhabe stärken.
Robert D. Meyer
Wenn ein Drittel in einer Umfrage erklärt, sie hätten das Gefühl, »nur scheinbar in einer Demokratie« zu leben, in der »Bürger nichts zu sagen« hätten, darf die Reaktion nicht lauten: Aber wir leben doch in der besten aller denkbaren Demokratien!
Basisdemokratie, Corona-Krise, Demokratie, Parlament, Volksentscheid
Meinung
Kommentare Allensbach-Studie zur Demokratie
2022-04-11T16:23:50+0200
2022-04-11T16:23:50+0200
2022-04-11T19:30:57+0200
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1162942.entwickeln-nicht-abschaffen.html
Brandenburg: Mit Messer in der Notaufnahme
Die zunehmend besorgniserregende Situation im Gesundheitswesen geht auch an den christlichen Kliniken nicht vorbei. Ein Anspruchsdenken von Patienten, das sich in Aggressivität äußere, lasse sich häufiger beobachten, hieß es am Montag in Potsdam bei einem Pressetermin des Verbunds christlicher Kliniken.  »Die Menschen gehen härter in Auseinandersetzungen«, sagte Lutz Ausserfeld, kaufmännischer Vorstand des Evangelischen Diakonissenhauses Berlin-Teltow-Lehnin. Besonders angespannt sei die Situation zwischen Weihnachten und Neujahr gewesen, als zahlreiche Arztpraxen geschlossen hatten. »Unsere Rettungsstellen wurden geflutet.« Da aber auch in den Kliniken das Personal Urlaub habe oder auch mal erkrankt sei, »trifft uns das volle Unverständnis«. Von Zuständen wie in Berlin-Lichtenberg, wo ein Arzt und ein Pfleger von wütenden Patienten zusammengeschlagen worden waren, sei man bisher verschont geblieben, ergänzte Alexander Mommert, Geschäftsführer der Christlichen Krankenhäuser Potsdam. Doch die Notaufnahmen würden extrem häufig in Anspruch genommen: Menschen machten dort ihrem Unmut Luft, bedrohten in Einzelfällen das Personal oder zögen sogar Messer. Auf den Einsatz von Sicherheitspersonal habe man bisher aber verzichten können. Die unbefriedigende Situation hängt laut Verena Plocher, Geschäftsführerin de Immanuel-Klinikums Bernau, auch damit zusammen, dass die Zahl der Arztpraxen zu gering sei. Hinzu komme, dass Menschen den Rettungsdienst rufen, obwohl eigentlich kein Grund dafür vorliege. Vor allem während der Corona-Pandemie sei das Aggressionspotenzial gewachsen. Patienten erlebten immer stärker die Versorgungslücken und ließen ihren Ärger am Personal aus.  nd.Muckefuck ist unser Newsletter für Berlin am Morgen. Wir gehen wach durch die Stadt, sind vor Ort bei Entscheidungen zu Stadtpolitik – aber immer auch bei den Menschen, die diese betreffen. Muckefuck ist eine Kaffeelänge Berlin – ungefiltert und links. Jetzt anmelden und immer wissen, worum gestritten werden muss. Im Land Brandenburg haben sich 14 Kliniken zum Verbund christlicher Krankenhäuser zusammengeschlossen und sind nach Angaben von Geschäftsführer Mommert wie viele andere Häuser in kommunaler oder privater Trägerschaft »selbst zum Patienten geworden«. Nicht nur die steigenden Kosten, auch der Personalmangel mache ihnen zu schaffen, erklärte Alexander Mommert. Geprägt sei die Situation von einem »hohen Grad der Erschöpfung«, vom Ausstieg aus dem Beruf oder dem Wegziehen ins Ausland, wo höhere Löhne gezahlt werden. Das sei etwa in der Schweiz und in den skandinavischen Staaten der Fall. Er unterstrich, es sei inzwischen ein ungerechtfertigtes Vorurteil, dass Pfleger wenig Geld verdienen. Dies sei nicht mehr so. »Natürlich ist es ein Knochenjob. Aber man bekommt auch etwas zurück«, bestätigte Mommert. Die drei christlichen Krankenhäuser in Potsdam wollen künftig in einer gemeinsamen Struktur aufgehen, um Aufwand zu sparen. Laut Geschäftsführerin Plocher aus Bernau sind solche Fusionen auch in anderen Kliniken geplant. Das Bundesgesundheitsministerium drohe zusätzliche Meldepflichten und Strukturprüfungen an. Dies verhindere, »dass wir die Mittel dort einsetzen, wo wir sie eigentlich benötigen – für die medizinische Versorgung unserer Patienten«. Plocher kündigte an: »Wir werden auch in diesem Jahr einen ausgeglichenen Haushalt nicht erreichen.« Nötig sei dringend eine staatliche Zwischenfinanzierung, damit die Kliniken nicht Pleite gehen, bevor die Krankenhausreform greift.  Geschäftsführer Mommert lobte die brandenburgische Landesregierung für ihre vergleichsweise üppigen Zuschüsse für Investitionen. »Das hilft, wenn wir bauen oder wenn wir Geräte anschaffen.« Doch dürften diese Mittel nicht für den gefährdeten laufenden Betrieb verwendet werden. Laut Ausserfeld wird schon heute der Speiseröhrenkrebs nur noch in ihem Krankenhaus in Brandenburg behandelt, die Versorgung von untergewichtigen Frühgeborenen werde immer seltener. Die Krankenhausreform gehe davon aus, dass es zu viele Kliniken in Deutschland gebe. Weil kleine Klinken angeblich keine gute Qualität anbieten, soll die Versorgung in großen Krankenhäusern konzentriert werden. »Das geschieht nicht gerade zur Freude unserer Mitarbeiter. Sie sind zusätzlich verunsichert: Ist der Arbeitsplatz noch sicher oder nicht?«  Wie Ausserfeld ausführt, stiegen die Kosten im vergangenen Jahr wegen Inflation und anderer Faktoren um durchschnittlich zehn Prozent, die Einnahmen aber nur um vier Prozent. »Die Defizite bleiben bei uns hängen«, sagte Ausserfeld. Im vergangenen Jahr seien 40 Kliniken deutschlandweit in Insolvenz gegangen. Er rechne damit, dass es 2024 deutlich mehr sein werden.
Matthias Krauß
Berstend volle Krankenhäuser sorgten zwischen Weihnachten und Neujahr für Frust in Brandenburg. Vorfälle wie in Berlin blieben vorerst aus, doch die Lage ist angespannt.
Brandenburg, Christentum, Krankenhaus
Hauptstadtregion
Berlin Krankenhausreform
2024-01-08T15:51:25+0100
2024-01-08T15:51:25+0100
2024-01-10T12:51:44+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1179040.krankenhausreform-brandenburg-mit-messer-in-der-notaufnahme.html
Trumps traurige Turbulenzen
Washington. Noch in letzter Minute versuchte US-Präsident Donald Trump am Freitag, seine Partei hinter dem Gesetzentwurf für die Abschaffung von »Obamacare« zu versammeln: Entweder würden die Republikaner am Freitag für den von ihm unterstützten Entwurf stimmen, oder das Gesundheitssystem seines Vorgängers bleibe in Kraft. Trumps Haushaltschef Mick Mulvaney setzte den republikanischen Abgeordneten Donnerstagabend (Ortszeit) ein Ultimatum: Bei fehlender Mehrheit werde sich Trump anderen Dingen zuwenden. Zuvor war Trump mit der Drohung an den Republikaner Mark Meadows aus North Carolina zitiert worden: »Sie werde ich mir schnappen.« Die für Donnerstag geplante Abstimmung war wegen fehlender Stimmen bei Trumps eigener Partei auf Freitag verschoben worden. Sie sollte bis zum Abend (MEZ) über die Bühne gehen. Hinter den Kulissen wurde im US-Kongress tagsüber heftig, lautstark und mit unklaren Aussichten um Mehrheiten gerungen. Am Freitag hieß es in Medienberichten, mindestens 30 republikanische Abgeordnete hätten angekündigt, nicht für die vom Präsidenten unterstützte Gesetzesvorlage zu stimmen. Die Partei könnte sich aber höchstens 22 Abtrünnige erlauben. Seit Amtsantritt von Trump, informierte »Spiegel Online« am gleichen Tag, habe sich die Zahl ziviler Opfer in Irak und Syrien vervielfacht. Der Informationsdienst »Airwars«, der zivile Opfer des Krieges gegen den Islamischen Staat (IS) registriert, habe in diesen zwei Monaten 45 US-Luftangriffe mit rund 200 getöteten Zivilisten in Syrien gezählt. »Die Intensität der Angriffe 2017 ist beispiellos«, hieß es bei »Airwars«. 2016 seien pro Monat im Schnitt 35 Zivilisten bei Luftschlägen der US-geführten Koalition in Irak und Syrien ums Leben gekommen. Seit Januar 2017 seien mehr Zivilisten in Syrien durch US-amerikanische als durch russische Luftschläge getötet worden. Präsident Trump habe das Pentagon ausdrücklich um »Veränderungen bei allen Einsatzregeln und Beschränkungen, die über die Anforderungen des Völkerrechts hinausgehen«, gebeten. Für Millionen Besucher aus aller Welt wird die US-Regierung nach einem Bericht der »New York Times« den Zugang in die Vereinigten Staaten erschweren. Unter Berufung auf interne Mitteilungen von Außenminister Rex Tillerson an alle US-Botschaften weltweit heißt es, mit Ausnahme von 38 Ländern - darunter Deutschland und fast ganz Europa - würden die Sicherheitschecks für Visa künftig erheblich ausgeweitet. Deutsche Besucher können weiterhin unter dem Visa-Waiver-Programm (ESTA) einreisen, für sie ändert sich nichts. Die verschärften Maßnahmen sollen künftig eine Überprüfung des persönlichen Hintergrundes und zum Teil auch des Social-Media-Profils der Reisenden umfassen. Vorgesehen ist zudem, dass Antragsteller künftig auch ihre Arbeitgeber der vergangenen 15 Jahre und sämtliche E-Mail-Adressen, Telefonnummern und Social-Media-Nutzernamen offenlegen müssen. Agenturen/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Das Schleifen von Obamacare ist nicht Trumps einziges trauriges Thema. Bei US-Luftangriffen seit seinem Amtsantritt starben in Syrien 200 Zivilisten.
Syrien, USA, Visum
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1046025.trumps-traurige-turbulenzen.html
Woldegk: Brandstiftung in Wohnhaus mit Flüchtlingen
Update 7.55 Uhr: Anschlag auf Sachsens Justizminister Auf das Wohnhaus des sächsischen Justizministers Sebastian Gemkow in Leipzig ist offenbar ein Anschlag verübt worden. Wie der MDR berichtet, haben Unbekannte in der Nacht zum Dienstag Flaschen mit Buttersäure und Pflastersteine auf ein Fenster der Erdgeschosswohnung des CDU-Politikers geworfen. Der Staatsschutz habe die Ermittlungen aufgenommen. Berlin. Unbekannte haben in Woldegk in Mecklenburg- Vorpommern ein Mehrfamilienhaus angezündet, in dem auch zehn Flüchtlinge untergebracht waren. Nach Angaben der Polizei war der Brand am Montagabend im Keller des Hauses gelegt worden. Da der Qualm ins Treppenhaus zog, war den insgesamt 35 Bewohnern der Fluchtweg abgeschnitten. Die Feuerwehr musste die Menschen über eine Leiter retten. Ein 76-Jähriger und ein 14-jähriges Mädchen kamen mit Verdacht auf eine Rauchgasvergiftung ins Krankenhaus. Das Haus war zunächst unbewohnbar, so dass die Menschen in Notunterkünften unterbracht werden mussten. Die Kriminalpolizei hat die Ermittlungen aufgenommen. Bereits in der Nacht zum Sonntag war eine Flüchtlingsunterkunft in Traben-Trarbach (Rheinland-Pfalz) zum zweiten Mal innerhalb weniger Wochen attackiert worden. Etwa zehn Menschen hätten vor dem Haus ausländerfeindliche Parolen und Drohungen gerufen, berichtete die Polizei in Trier am Montag. Ein Schild sei von der Hauswand gerissen und durch ein offenes Fenster in die Wohnung geworfen worden. Außerdem hätten die Täter versucht, Fensterscheiben einzuwerfen. Am Freitagabend hatte ein Sprengstoffanschlag eine evangelische Jugend- und Flüchtlingsbegegnungsstätte im brandenburgischen Jüterbog zerstört. Agenturen/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Unbekannte haben in Woldegk im Nordosten ein Mehrfamilienhaus angezündet, in dem auch Flüchtlinge untergebracht waren. In Sachsen hat es einen Anschlag auf die Wohnung des Justizministers gegeben.
Brandanschlag, Brandstiftung, Flüchtlinge, Mecklenburg-Vorpommern
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/992371.woldegk-brandstiftung-in-wohnhaus-mit-fluechtlingen.html
»Als wir unsere Unschuld verloren«
Bernard Larsson ist Fotograf, er hat Fotodesign in München studiert, wurde Assistent beim Modemagazin »Vogue« in Paris. Mit 22 Jahren zieht es ihn nach Berlin, die Mauer ist gerade gebaut worden. Mit seinem schwedischen Pass kann er Ost- und Westberlin in den Blick nehmen. Auf dem Höhepunkt der Studentenbewegung, in den Jahren 1966 bis 1968, ist Larsson wieder in Berlin, diesmal im Auftrag vom »Stern«. Die Neugier treibt ihn, die Zeit ist aufgeputscht und aufregend, er will dabei sein. Am 2. Juni 1967 macht er in einem dunklen Garagenhof in Charlottenburg jene mittlerweile ikonografische Fotografie vom sterbenden Studenten Benno Ohnesorg. Schuss in den Hinterkopf, Freitagabend nach halb neun. Der Täter an der Waffe, der Polizist Karl-Heinz Kurras ist, wie sich später herausstellt, Mitarbeiter der Staatssicherheit. Nie wird richtig geklärt werden, ob und welche Rolle in diesem Zusammenhang die Stasi tatsächlich gespielt hat. Kurras nimmt das Geheimnis im Dezember 2014 mit in sein Grab. Nach dieser nie geahndeten Hinrichtung eines wehrlosen Studenten auf offener Straße ist die Welt eine andere. Dieser Todesschuss radikalisiert die Studentenbewegung, einige nehmen später den bewaffneten Kampf in der »Rote Armee Fraktion« (RAF) auf. »Als wir unsere Unschuld verloren«, ist der Text der Journalistin und Politikerin Luc Joachimsen im Buch überschrieben. Einen »Ausbruch fast kriegerischer Gewalt gegen erstaunt fassungslose Zivilisten«, bemerkt sie auf einem der Fotos von Larsson. Das persische Jubelkommando des Schahs stürmt mit Holzlatten gegen unbewaffnete Demonstranten los, deutsche Polizisten stehen dabei und greifen nicht ein. »Ist denn niemand hier, der helfen kann?«, schreit Friederike Hausmann, die sich über den sterbenden Benno Ohnesorg beugt. Hinter dem Auspuff eines VW-Käfers liegt der blutende Student, ein Dokument der Zeitgeschichte, eine Szene wie gestellt, eingefroren in diesem Moment. Im kommenden Mai wird Bernard Larsson 85 Jahre alt. Der betagte Fotograf ist extra aus München nach Berlin gekommen, um in der Charlottenburger Galerie sein Buch mit rund 100 Schwarz-Weiß-Abzügen vorzustellen. Er habe seine Fotografie immer politisch verstanden, sagt er, er wollte damit »etwas erzählen, etwas bewegen«, den Betrachter in seine Fotografien hineinziehen. Die Eckdaten sind schnell genannt. Dezember 1966: Vietnam-Demonstration; März 1967: Demonstration gegen die Notstandsgesetze; April 1967: Anti-Springerpresse-Demonstration; Juni 1967: Demonstration gegen den Schahbesuch; 2. Juni 1967: Hinrichtung von Benno Ohnesorg. Im Buch sind Texte von Franz Josef Degenhardt (»Spiel nicht mit den Schmuddelkindern«) und Dieter Süverkrüp (»Lied vom Tod«) abgedruckt, Essays von Zeitzeuginnen wie Ulla Hahn, Beate Klarsfeld, Alice Schwarzer. Auch Gregor Gysi kommt zu Wort. Er warnt, mit dem Blick zurück und auf die Fotografien von Larsson, vor drakonischen Maßnahmen des Staates und plädiert dafür, die Ursachen von Protesten auf der Straße zu ergründen und zu beseitigen, denn: »gesellschaftliche Entwicklung (komme) entgegen allem Beharrungswillen nie an ein Ende und (brauche) immer wieder das Engagement von Menschen«. Konstantin Wecker sieht im Fotografen Bernard Larsson »einen parteiischen Chronisten der Proteste gegen die Notstandsgesetze, den Nazi-Muff an den Universitäten und gegen den verbrecherischen Krieg der USA gegen Vietnam etc. ab 1967«. Und zugleich »einen Dokumentaristen des subkulturellen Aufbruchs der 1960er Jahre, zum Beispiel in seinen berührenden Fotos von Jimi Hendrix«. Leider ist im Buch kein biografisches Interview mit Bernard Larsson oder ein erhellender hintergründiger Text von ihm enthalten. In der Ausstellung zeigt er sich auch nicht als großer Redner. So bleibt Larsson selbst als Zeitzeuge hinter seinen Fotografien weitgehend verborgen. Jüngst waren in der Berliner Galerie Berinson Fotografien des Chronisten aus Ost- und Westberlin zu bewundern, entstanden in den Jahren 1961 bis 1964. Dokumente der Zeit auch diese. Grenzanlagen in Hohen-Neuendorf, Westberlin: Ein Haus ist zugemauert, weil es nun im Grenzstreifen steht. Eine Parole in großen Buchstaben: »Ganz Deutschland muß des Volkes eigen werden!« Ein Drehorgelspieler vor dem Bahnhof Friedrichstraße, DDR-Fähnchen schmücken seine Musiktruhe. Daneben einige Porträts: Helene Weigel vor ihrer Wohnung im Hof Chausseestraße 125; Wolf Biermann 1966 in seiner Wohnung Chausseestraße 131; Anna Seghers, Stefan Heym, Peter Handke. Eine Fundgrube erster Güte sind alle diese Fotos der Zeitgeschichte im vornehmen Schwarz-Weiß. Bernard Larsson selbst versteht sein sprechendes Werk bescheiden und zugleich selbstbewusst als »Quellenmaterial«. Bernard Larsson: Revolte. Die 68er-Bewegung in Bildern und Texten von Zeitzeug*innen. Goya-Verlag, 192 S., geb., 35 €.
Stefan Berkholz
An eine Zeit, als das Bild westdeutscher Städte machtvolle Demonstrationen dominierten, erinnert ein eindrucksvoller Bild-Text-Band mit Fotografien von Bernd Larsson und zeitgenössischen Stimmen.
Berlin, Fotografie
Feuilleton
Kultur Die 68er Revolte
2024-02-06T17:38:11+0100
2024-02-06T17:38:11+0100
2024-02-07T16:31:36+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1179823.als-wir-unsere-unschuld-verloren.html
Zur falschen Zeit am falschen Ort
Es gibt keine persönliche Verbindung zwischen den zehn Mordopfern des nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), keinen Anhaltspunkt, warum gerade sie ausgewählt wurden zu sterben. Bis auf die Polizistin Michèle Kiesewetter, deren Tod zusätzliche Rätsel ... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Prozess dient auch Rehabilitierung der Opfer
Einwanderung, Nationalsozialismus, NSU-Prozess
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/994180.zur-falschen-zeit-am-falschen-ort.html
Moskau kopiert den Hyde-Park
Selbst wer mit einem Stadtplan bewaffnet anrückt, hat Probleme, den mysteriösen Ort im Moskauer Sokolniki-Park zu finden. Von Hinweisschildern weit und breit keine Spur, ein tadschikischer Gastarbeiter, der am zentralen Springbrunnen die letzten Schneereste zusammenkehrt, zuckt hilflos mit den Schultern. Das Wort Gaid-Park hat er noch nie gehört. Gaid-Park ist die Transliteration für Hyde-Park. Und dieses Londoner Original, wo jeder für seine Weltverbesserungsvorschläge rekrutieren oder einfach nur seinem Frust Luft machen kann, hat die Moskauer Stadtregierung jetzt gleich zwei Mal kopiert. Entstanden war die Idee auf dem Höhepunkt der Protestbewegung nach den angeblich manipulierten Parlamentswahlen 2011. Bis zu 120 000 Menschen gingen damals allein in Moskau auf die Straße. Die Stadtoberen wollten Demonstranten weg vom Kreml und anderen zentralen Plätzen haben, scheuten abe... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Irina Wolkowa, Moskau
Selbst wer mit einem Stadtplan bewaffnet anrückt, hat Probleme, den mysteriösen Ort im Moskauer Sokolniki-Park zu finden. Gleich zwei Mal hat die Moskauer Stadtregierung den Londoner HydePark kopiert, um die Protestbewegung besser im Blick zu haben. Die protestiert gegen das Projekt.
Moskau, Opposition, Russland
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/820262.moskau-kopiert-den-hyde-park.html
Im Kampf für die Republik
Fünfzehn Jahre musste er warten, dann erschien »Der Untertan«, und mit ihm kam der Erfolg. Frank Wedekind und André Gide war es ähnlich ergangen. Die Auflagen am Anfang klein, der Gewinn unbeträchtlich. »Wir waren dazu erzogen«, schrieb Heinrich Mann Ende Mai 1928, »in allem Geistigen nur unser eigenes Gesetz anzuerkennen, nicht aber soziale Abhängigkeiten«. Mit einem knappen Rückblick antwortete er auf eine Frage der angesehenen »Literarischen Welt«, die von Autoren des Landes wissen wollte, warum ihre Bücher viel gelesen würden. Für ihn, bekannte er, zähle nicht allein der »innere Ruf«, um erfolgreich zu sein: »Mit allem, auch mit dem Schreiben, sind jetzt unmittelbar soziale Dienste zu leisten. Das weiß und befolge ich nach Kräften selbst.« Die zwanziger Jahre wurden seine große Zeit. Er lebte in München, hielt sich aber oft und lange in Berlin auf. 1928 nahm er seinen Wohnsitz endgültig in der Stadt, er reiste, hielt Vorträge, gab Interviews und schrieb. Schrieb leicht und schnell. Sein Arbeitstempo war enorm. 1925 hatte er die satirische Novelle »Kobes« und den Roman »Der Kopf« veröffentlicht, den Schlussteil seiner Trilogie über das Kaiserreich, die mit dem »Untertan« eröffnet und mit den »Armen« fortgesetzt worden war. Paul Zsolnay, sein neuer Verlag in Wien, startete eine Ausgabe der Gesammelten Werke, die 1927 schon mit dem Roman »Mutter Marie«, im Jahr darauf mit »Eugénie oder Die Bürgerzeit« verlängert wurde. Er schrieb die Novelle »Liane und Paul« (1926) mit ihrem »Inferno heutiger Atmosphäre«, das Singspiel »Bibi« (1928) und im Ostseebad Heringsdorf die ersten Seiten des Romans »Die große Sache«. Er legte eine Sammlung seiner Novellen vor und 1929 schließlich einen weiteren Essayband, einen Rückblick auf die Publizistik der letzten sieben Jahre, fünfhundertfünfzig Seiten über Berlin, Frank Wedekind, Theater, Film, Justiz und französische Literatur. Es war eine bescheidene Auswahl nur, ein Buch, das bündelte, was vorher in Zeitungen gestanden hatte, Gedenkartikel, Erinnerungen, politische Einlassungen, Gelegenheitsarbeiten. Freilich. Der Umfang all dessen, was für den Tag und die Stunde gedacht war, ließ sich nicht einmal ahnen. Der wird erst sichtbar, seit der kleine Aisthesis-Verlag in Bielefeld, fast unbemerkt von der Öffentlichkeit, sein ehrgeiziges Großprojekt vorantreibt: die Kritische Ausgabe der Essays und Aufsätze, 2009 mit den Bänden 5 und 6 begonnen und jetzt, wieder in zwei Halbbänden, mit Band 4 fortgesetzt. Er fasst die Texte der Jahre 1926 bis 1929 zusammen. »Von allen deutschen Schriftstellern«, hat Bruder Thomas 1925 erklärt, »ist Heinrich Mann der gesellschaftsbewußteste; er ist ein Mann, dessen Interessen in einem Ausmaß gesellschaftlich und politisch sind, das zwar in westeuropäischen und speziell romanischen Ländern nicht außergewöhnlich, bei uns aber ohne Beispiel ist …« Es war nicht übertrieben. Der Erzähler, während der Inflation noch gezwungen, seinen Unterhalt mit Zeitungsbeiträgen zu bestreiten, wurde zunehmend durch seine tagespolitischen Artikel, Appelle, Analysen und Gespräche wahrgenommen. Nie war der radikale Republikaner populärer als jetzt. Der Bruder hatte recht: Es gab keinen zweiten Schriftsteller in Deutschland, der sich, »ohne Respekt vor den herrschenden sozialpolitischen oder künstlerischen Konventionen« (Hermann Kesten), so vehement, so kritisch, auch so oft zu Wort meldete: gegen das Zensurgesetz der Regierung, das sich als Gesetz gegen Schmutz und Schund tarnte; gegen Antisemitismus; für eine »Politik der Verantwortung und Ordnung gegen die räuberische Anarchie«; für die Aussöhnung und Verständigung mit Frankreich; gegen die Verächter und Feinde der Republik; für eine Diktatur der Vernunft und den politischen Anspruch der neu gegründeten Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste. Am 27. Oktober 1926 war er ihr Mitglied geworden. »Aufgabe einer berufenen Vertretung der Dichtkunst ist es«, heißt es in seinem Bericht an die Akademie, »die Autorität in ihre Grenzen zu weisen und die geistige Freiheit vor Fallen, die ihr gelegt werden, zu schützen«. Er war rastlos. Im Mai 1927 entschuldigte er sich bei seinem französischen Freund Félix Bertaux, dass er so lange geschwiegen hatte. »Der Winter war stark überladen«, schrieb er, und er sei nie zur Ruhe gekommen. Und nun gehe es gleich wieder auf eine Vortragsreise, diesmal nach Zürich, Bern und Freiburg. Das Thema: die Literatur und die deutsch-französische Verständigung. Später, im November 1927, wird Heinrich Mann ausführlich erzählen, wie er 1925 zum zweiten Mal nach dem Krieg durch das Nachbarland reiste, nach Biarritz und Pau kam, wo er Henri Quatre fand, Frankreichs guten König (der dann der Held seines großen Exilromans wurde), und wie ihm ein Lehrer eines Abends gestand, er sei extra gekommen, um zu danken, »daß ich für Frankreich sei und für Freundschaft mit Frankreich«. Im Dezember 1927 war Heinrich Mann erneut in Paris. Im Palais du Trocadéro sprach er zu Ehren Victor Hugos, der als Erster die »Vereinigten Staaten von Europa« gefordert hat und so »sein großes Herz der Gesamtheit der Nationen« öffnete, für ihn, den Redner, ein Beispiel, das er brauchte. Er hatte schon auf vielen Tagungen und Kundgebungen gesprochen, aber nie vor einem Auditorium wie hier. Im riesigen Saal, der sonst für Volksfeierlichkeiten genutzt wurde, drängten sich fünftausend Menschen, um den »großen Republikaner« in ihrer Muttersprache zu hören und zu feiern. Vor sieben Jahren, meinte Félix Bertaux, der für den »Berliner Börsen-Courier« über diese denkwürdige Veranstaltung berichtete, sei Heinrich Mann in Frankreich noch unbekannt gewesen. Und es seien nicht die Romane, die ihm so viel Sympathie eintrugen. Es war sein überzeugendes Engagement für die Aussöhnung beider Völker. Heinrich Mann ist in jenen Jahren der geistige Repräsentant der Weimarer Republik geworden. Der neue Band seiner Publizistik, zu danken der Sorgfalt, dem Spürsinn und dem Finderglück der Herausgeberin Ariane Martin, erfasst noch die entlegenste Äußerung, all das weit Verstreute, nie wieder Gedruckte, Verschollene, die vielen Interviews, die unveröffentlichten Beiträge. Zu sehen ist in frappierender Vollständigkeit der Tagesschriftsteller und Essayist mit seinem Mut und seiner Sensibilität, der Kämpfer, der Antibürger, der Literat, der immer wieder auch über bewunderte Autoren schrieb, über Zola, Leonhard Frank, Gorki oder Ibsen. Selbst das Beiläufige, etwa eine kleine Erinnerung an die Weihnachtsfeste seiner Kindheit oder ein charmantes Plädoyer für den Bubikopf, den modischen Haarschnitt der Frauen, steht hier ganz selbstverständlich inmitten der großen, zumeist politischen Bekundungen. Das alles, chronologisch geordnet, ist im Kommentar, der den Textband im Umfang weit übertrifft, bewundernswert erläutert. Noch ist diese beispielhafte Edition, die der Publizistik Heinrich Manns endlich den Platz im Werk einräumt, der ihr zukommt, nicht komplett. Aber sechs Bände mit diesem wissenschaftlichen Anspruch in nur acht Jahren: Das hat Seltenheitswert. Heinrich Mann: Essays und Publizistik. Kritische Gesamtausgabe, Band 4: 1926 - 1929. Hg. von Ariane Martin, Teil 1: Texte, Teil 2: Anhang. Aisthesis, 2 Halbbände, 1425 S., geb., 278 €. Buchpräsentation mit Ariane Martin, dem Herausgeber der Gesamtausgabe, Volker Riedel, und Heinrich-Mann-Preisträger Gunnar Decker am 22. Februar, 20 Uhr, Akademie der Künste, Pariser Platz, Berlin.
Klaus Bellin
Heinrich Manns Essays, Aufsätze, Reden und Interviews der Jahre 1926 bis 1929
Frankreich, Literatur, Roma
Feuilleton
Kultur
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1079917.im-kampf-fuer-die-republik.html
Die LINKE will mit »Pulse of Europe« reden
Wenn sich plötzlich Bewegungen bilden und selbstständig auf die Straße gehen, ohne dabei mit linken Organisationen in Kontakt zu sein, ist das für selbige immer eine schwierige Angelegenheit. Auf der einen Seite, weil die politischen Inhalte, die da auf die Straße getragen werden, der Linken in den allermeisten Fällen zu unpolitisch oder nicht links genug sind. Und zweitens, weil sie häufig durchaus Probleme anprangern, die die Linke auch anprangert, selbst in ihren Mobilisierungen aber selten über den Kreis der Linkspolitisierten hinaus kommen. Mit »Pulse of Europe« ist genau so ein Fall eingetreten: Hier gehen seit Wochen Tausende auf die Straße, um für Europa und gegen rechtspopulistische Nationalismen zu demonstrieren – spätestens seit der »Blockupy«-Kampagne ein Kernthema linker Gruppen und Parteien. Gleichzeitig sind die politischen Ziele dieser Initiative mehr als schwammig definiert. Im Selbstverständnis ist die Rede von einer europäischen Identität, von Rechtsstaatlichkeit, freiheitlichem Denken, Demokratie und der EU als Friedensprojekt. Auch die Reformierung der EU wird gefordert – ohne konkret zu werden. Bereits 2016 wurde die Bewegung gegründet, in den vergangenen Wochen wuchs sie stark an. In linken Foren wird der politische Pluralismus und ein umkritischer Umgang mit der bestehenden EU kritisiert, aber auch der Ruf nach politischer Zusammenarbeit laut. Sebastian Weiermann forderte im »nd«, als Linke in der Bewegung dafür einzustehen, dass »die europäischen Werte, von denen bei ‘Pulse’ immer wieder die Rede ist, sich am Umgang der EU mit Geflüchteten und Armen messen lassen müssen. Dass aus der EU ein Projekt der sozialen Gerechtigkeit und Freizügigkeit werden muss, um nicht immer neue Krisen hervorzubringen.« Nun melden sich Bundestagsabgeordnete der LINKEN in einem Offenen Brief mit einem »Gesprächsangebot« an die OrganisatorInnen zu Wort. »Wir teilen die Sorge um den Aufstieg rechter und faschistischer Kräfte und begrüßen, dass viele Menschen gegen diesen aktiv werden«, heißt es in dem von Diether Dehm, Andrej Hunko, Alexander Ulrich und Fabio de Masi unterschriebenen Text. Man frage sich jedoch, »ob ein einfaches ‘Für die EU’ die richtige Antwort auf die aktuelle Krise sein kann«. Müsse die EU nicht verändert werden, damit sie überleben könne? Die Linkspolitiker schlagen vor, gemeinsam verstärkt über zwei politische Stoßrichtungen zu diskutieren: Erstens über die Frage, ob die EU »in erster Linie zur Sicherung des Friedens gegründet wurde«, wie es in den Thesen der Bewegung heißt. In dem Brief machen sie darauf aufmerksam, dass einige Aspekte europäischer Politik in eine andere Richtung weisen, darunter »das Zwei-Prozent-Ziel der NATO, die EU-Armee, die EU-’Verteidigungsunion’ und das laute Nachdenken über eine ‘Atommacht EU’«. Zweitens wollen die Abgeordneten die soziale Frage in Europa konkretisieren. Die wachsende soziale Ungleichheit innerhalb der EU-Mitgliedsstaaten und zwischen ihnen habe mit der vertraglichen Grundlage der EU zu tun, die auf Wettbewerb setze. Die Linkspolitiker fragen die OrganisatorInnen von »Pulse of Europe«, welche Reformen im sozialen Bereich ihnen konkret für die EU vorschweben. Es ist nicht das erste Mal, dass die LINKE-Abgeordneten Andrej Hunko und Diether Dehm Kontakt mit umstrittenen Bewegungen sucht. Auch die Montagsmahnwachen, deren OrganisatorInnen im Gegensatz zu »Pulse of Europe« Kontakte in die rechte Szene pflegten – mit dabei war etwa Jürgen Elsässer –, aber anfangs ein breites Spektrum von BürgerInnen anzogen, sorgte 2014 für Diskussionen in linken Gruppen und in der Partei. Einige Abgeordnete setzten sich dafür ein, mit den TeilnehmerInnen in einem solidarischen Austausch zu kommen, um über die Ziele der Bewegung zu diskutieren und rechten Verschwörungstheorien und Antisemitismus entgegen zu treten. Diese Intervention wurde damals in der Partei und in linken Organisationen stark kritisiert. Ein Parteibeschluss untersagte dann jede Zusammenarbeit mit den Mahnwachen, die als »rechtsextrem, verschwörungstheoretisch und antisemitisch« eingestuft wurden. Auch bei »Pulse of Europe« fürchten einige Linke eine Offenheit nach rechts. Geschürt werden solche Befürchtungen von Wortäußerungen einer Teilnehmerin in Dresden, die gesagt hatte, dass auch Pegida-Anhänger teilnehmen könnten – sollten sie für ein geeintes Europa demonstrieren wollen. Auch dass sich die Bewegung nicht als »links« definiert, sorgt für Unwohlsein. Die Bewegung wächst derweil an. Am vergangenen Sonntag waren in 68 Städten Europas Tausende auf die Straße gegangen, Schwerpunkt ist nach wie vor Deutschland. Initiiert wurden die Proteste von einem Ehepaar in Frankfurt am Main, von den RechtsanwältInnen Daniel und Sabine Röder. Aktionen gibt es inzwischen aber auch in acht französischen Städten, zudem in Amsterdam, Stockholm, Brüssel und Lissabon. Allein in Berlin waren am Wochenende rund 6500 Menschen auf der Straße.
Elsa Koester
In der Linken wird vermehrt über die Bewegung »Pulse of Europe« diskutiert. Abgeordnete der Linkspartei wenden sich nun mit einen Offenen Brief zu Wort - und fordern die Diskussion über ein soziales und friedliches Europa.
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