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Rüstungshilfe für deindustrialisierte Region
Lange galt die Panzerfabrik der US-Armee in Lima, Ohio, als die letzte ihrer Art. Nach der Finanzkrise 2008 drohte immer wieder die Schließung mit Jobverlusten für die verbliebenen 400 Mitarbeiter. Es wurde gemutmaßt, dass die Firma General Dynamics, die das 1942 errichtete Joint Systems Manufacturing Center in dem 38 000-Seelen-Nest seit 1982 im Auftrag der Armee betreibt, den Vertrag beendet. Erst im Jahr 2019 kam die Rettung durch Bestellungen der Trump-Regierung im Wert von rund zwei Milliarden Dollar. Dies war Teil einer Strategie der Reindustrialisierung des Mittleren Westens und der Aufrüstung gegen China. Heute redet keiner mehr von einer Schließung der Anlage rund 200 Kilometer von Cincinnati entfernt. Die Fabrik ist weltweit der einzige Produzent der »Abrams«-Panzer – benannt nach dem Vietnam-Ära-General Creighton Abrams –, wobei die Produktion mit zwölf Stück pro Monat gering ist. Taiwan bestellte schon 2019 insgesamt 108 der weiterentwickelten M1A2-Panzer, die bis 2024 geliefert werden sollen. Auch Polen hat man versprochen, 250 Stück als baldigen Ersatz für die an die Ukraine abgegebenen sowjetischen T72-Panzer zu liefern. Und so wird sich die Lieferung der jetzt versprochenen 31 »Abrams«-Panzer an die Ukraine hinziehen. Bezahlt wird dieses 400-Millionen-Dollar-Paket von der Ukraine Security Assistance Initiative. Laut der Zeitung »Politico« hat die US-Regierung die modernsten exportfähigen M1A2-Panzer versprochen, die Hightech-Kommunikationssysteme besitzen, die jede Bewegung von Freund und Feind minutiös verfolgen können. Die Panzer können zwei Ziele gleichzeitig beschießen und ankommende Raketen abwehren. Die Militärzeitung »Stars und Stripes« geht von einer Lieferung Ende 2023 oder im Frühjahr 2024 aus. Die modernen »Abrams«-Panzer waren ursprünglich nicht für den Export gedacht. 8000 sind im Besitz der US-Armee, 10 000 wurden produziert. Sie sind mit einem geheimen Schutzmaterial aus abgereichertem Uran versehen. Die äußerst schwere Metalllegierung wird für den Export ausgewechselt und in einer aufwendigen Prozedur durch eine Wolfram-Legierung ersetzt. Die Zeitschrift »Defense One« beteuert zudem, dass, anders als von Diplomaten in den letzten Wochen behauptet, auch die Verwendung von Dieselbrennstoff möglich ist, auch wenn der Panzer eigentlich von einer Gasturbine angetrieben wird. Durch die Digitalisierung ist die Aufgabe des Hauptschützen am Panzerturm zudem leichter geworden. Der ehemalige US-General Mark Hertling mahnt dennoch, dass jeder menschliche Bedienungsfehler hochgefährlich sein kann. Die Reparaturen der Maschinen für die Ukraine wird man wohl in Polen durchführen müssen. Trotzdem trommelt die Fachpresse jetzt wieder für die Vorteile der »Abrams«, die jetzt doch zunehmend für den Export gedacht sind. Der Bundesstaat Ohio leidet seit den 80er Jahren insgesamt unter einer Deindustrialisierung. Zuvor war die Stadt Lima ein führender Produzent von Lokomotiven, Industriemaschinen und Bussen. Die Regionaltageszeitung »Toledo Blade« kritisiert denn auch den neu gewählten Senator James David Vance, der als Trump-Anhänger eine Aufrüstung gegen China befürwortet, aber zusätzliche Militärhilfe für die Ukraine ablehnt. »Ohio spielt nun eine direkte Rolle in der Niederlage der einmarschierenden russischen Armee in der Ukraine: wegen des Abrams-Panzers, der in Lima, Ohio, gebaut wird«, kommentiert die Zeitung gegen Vance. »Es sollte ein Moment des Stolzes sein, wenn Ohio eine Rolle für die Sicherheit eines ehemaligen kommunistischen Staates spielen kann.« Denn für Ohio, wo die Anlage im Jahr 1942 von General Motors gebaut wurde, steht überhaupt viel auf dem Spiel. Heute, genauso wie in der Wirtschaftskrise nach 1929, wird einem krisengeschüttelten Kapitalismus durch die Waffenproduktion sehr geholfen. Waffen werden bestellt, gekauft, verbraucht oder eingemottet. Immer wieder von vorne...Trotz der politischen Umbrüche in Washington hat ein deindustrialisierter Bundesstaat wie Ohio einen kontinuierlichen Wunsch: den nach mehr Aufträgen aus Washington.
Anjana Shrivastava
Das neueste Modell der »Abrams«-Panzer aus dem Werk im wirtschaftlich schwachen Bundesstaat Ohio war eigentlich für die US-Armee konzipiert. Jetzt wird es zu einem Exportschlager.
Rüstungsexporte, USA, Waffenlieferungen
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt Militärexporte
2023-02-02T16:48:43+0100
2023-02-02T16:48:43+0100
2023-02-03T16:23:34+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1170671.ruestungshilfe-fuer-deindustrialisierte-region.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
Linke debattieren über »Alternative für Deutschland«
Berlin (nd). Die stellvertretende Linken-Vorsitzende Sara Wagenknecht ist mit Äußerungen über die Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) auf Kritik in den eigenen Reihen gestoßen. Wagenknecht hatte gegenüber dem Nachrichtensender n-tv unter anderem gesagt, es gebe in Sachen Kritik am Krisenkurs der Bundesregierung zwischen der AfD und der Linkspartei „viele Überschneidungen“. In der Europapolitik kritisiere die AfD „in vielen Punkten das Gleiche wie wir“, so Wagenkencht. Linken-Vorstandsmitglied Dominic Heilig wies diese Sichtweise zurück. „Es gibt keine Gemeinsamkeiten mit der AfD und auch keine gemeinsamen Forderungen“, erklärte er auf dem Kurznachrichtendienst Twitter. Auch der Bundestagsabgeordnete Steffen Bockhahn widersprach Wagenknecht „ganz entschieden“. Es gebe statt Überschneidungen vielmehr zahlreiche Punkte, in denen sich Linkspartei und AfD entgegenstünden. Man müsse die Partei ernst nehmen, aber sie sei „eine ... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht ist mit Äußerungen über die „Alternative für Deutschland“ auf Kritik in den eigenen Reihen gestoßen. Wagenknecht hatte gesagt, es gebe zwischen AfD und Linkspartei „viele Überschneidungen“. Andere Linken-Politiker wiesen das zurück.
AfD, Sahra Wagenknecht
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/820218.linke-debattieren-ueber-alternative-fuer-deutschland.html
Landesbank weg, Geld geblieben
»Wir sind plus/minus null aus der Katastrophe der Bankgesellschaft Berlin herausgekommen«, sagt der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) mit feierlicher Miene am Dienstag im Roten Rathaus. Eine »große Erleichterung« sei das. Anlass für den Auftritt zusammen mit seinem Parteifreund und Finanzsenator Matthias Kollatz ist, dass die berlinovo nun nicht mehr auf Bürgschaften des Landes angewiesen sei. Denn die einst als Bad Bank der Bankgesellschaft gegründete berlinovo ist nun finanziell soweit gesundet, dass die zuletzt 3,8 Milliarden Euro an Kreditgarantien nicht mehr benötigt werden. »Es ist gelungen, durch Ausschreibungen am Markt unverbürgt zu ähnlichen Konditionen Kredite zu bekommen wie verbürgt«, erläutert Kollatz. Rückblick: 2001 kam die horrende Schieflage der Bankgesellschaft Berlin ans Licht der Öffentlichkeit. Allein schon die rechtliche Konstruktion der Bank mit öffentlich-rechtlichen und privatwirtschaftlichen Teilen des 1994 gegründeten Instituts galt als bemerkenswert. Noch mehr waren es die Immobilienkredite und die für Anleger äußerst günstigen Immobilienfondsangebote. Zunächst musste der CDU-Politiker Klaus-Rüdiger Landowsky seinen Hut nehmen, im Juni 2001 stürzte auch der Senat des Regierenden Bürgermeisters Eberhard Diepgen (CDU), weil die SPD die Koalition aufgekündigt hatte. Natürlich waren auch die Sozialdemokraten nicht ganz unschuldig, waren sie doch im aus West-Berliner Zeiten geerbten Filz gut verwoben. Der aus den Neuwahlen hervorgegangene rot-rote Senat unter dem Regierenden Klaus Wowereit (SPD) übernahm schließlich Kreditbürgschaften aus Immobilienrisiken von 21,6 Milliarden Euro. Das entsprach damals einem knappen Berliner Jahreshaushalt. »Wir hatten das Bundesaufsichtsamt für Kreditwesen zu jener Zeit als ständigen Gast in den wöchentlichen SPD-Fraktionssitzungen«, berichtet Müller, der als »Zeitzeuge« zum Pressetermin gekommen ist, wie er sagt. »Man wollte mit den Elefanten spazieren gehen«, sagt Kollatz über den Berliner Größenwahn der Nachwendezeit, der im Bankenskandal mündete. Als »wichtigen Schritt zu einem wirtschaftlich stabilen und erfolgreichen Berlin« bezeichnet der Regierende das Ergebnis. »Wenn wir weiter Risiken reduzieren, bekommen wir noch mehr Spielraum«, sagt Müller. Er meint die Schulden des Landes, die noch bei 58 Milliarden Euro liegen. Die angekündigten Investitionen des Siemens-Konzerns in Höhe von 600 Millionen Euro und die Exzellenzstrategie der Universitäten »werden weitere positive Effekte bringen«, so der Senatschef. Perspektivisch soll aus der berlinovo eine ganz normale landeseigene Wohnungsbaugesellschaft werden. Doch bis es soweit ist müssen die verbliebenen 299 Fondszeichner ihre Anteile verkaufen. Ziel des Finanzsenators ist, dies bis 2025 zu erreichen. Es geht noch um ein knappes halbes Prozent der Anteile. Mit 14 000 Wohnungen, 6500 Apartments und 2800 Studentenapartments, von letzteren erst 585 realisiert, leiste berlinovo schon einen Beitrag zur Daseinsvorsorge, so Kollatz. Außerdem sollen Unterkünfte für 7500 Flüchtlinge entstehen, ein weiterer Standort mit 500 Plätzen ist bereits fertig. Kritik an der berlinovo kommt von der FDP. Deren haushaltspolitische Sprecherin Sibylle Meister hält die Vermietung von möblierten 2-Zimmer-Appartements für 1400 Euro monatlich für »keine Aufgabe einer landeseigenen Wohnungsbaugesellschaft«. auch die mietenpolitische Sprecherin der Grünen, Katrin Schmidberger, kritisiert, dass das Unternehmen nicht an die Preisbegrenzungen der Landeseigenen gebunden ist. »Ich erwarte, dass die berlinovo an die Vorgaben des Wohnraumgesetzes gebunden ist«, erklärt sie auf nd-Anfrage. »Die berlinovo nimmt im soliden Umfang Mieterhöhungen vor, beteiligt sich aber nicht am spekulativen Wettlauf«, entgegnet der Finanzsenator.
Nicolas Šustr
Der Skandal um die Landesbank Berlin 2001 kostete nicht nur Eberhard Diepgen das Amt. Der Landeshaushalt ist unter dem Strich jedoch glimpflich davongekommen, sagt der Senat.
Berlin, Immobilienwirtschaft, SPD, Wohnen
Hauptstadtregion
Berlin Landesbank-Skandal 2011
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1105626.landesbank-weg-geld-geblieben.html
Pflegesystem unterbesetzt
Berlin. In der Pflege läuft nicht alles ganz schlecht, aber mit mehr Personal könnte vieles deutlich verbessert werden - diesen Schluss kann man aus dem am Donnerstag vorgestellten Qualitätsbericht des Spitzenverbands der gesetzlichen Krankenkassen und ihres Medizinischen Diensts (MDS) für 2016 ziehen. Denn obwohl die Versorgung durch Heime und ambulante Dienste nach Ansicht der Krankenkassenexperten grundsätzlich gut läuft, gibt es in einigen Bereichen offensichtliche Verbesserungsmöglichkeiten. Demnach gibt es vor allem »Mängel« bei der Versorgung von Wunden und wundgelegenen Patienten. Auch die Vorbeugung sogenannter Druckgeschwüre durch langes Liegen läuft weiter nicht optimal. Peter Pick, Geschäftsführer des MDS, erklärte, bei jedem vierten Pflegebedürftigen erfolge die Wundversorgung nicht nach aktuellem Wissensstand. Deshalb müsse die Personalausstattung verbessert werden. Zudem könnten viele Maßnahmen im Tagesbetrieb besser umgesetzt werden. Ausführungen zum Personalmangel in Pflegeeinrichtungen fehlen im Bericht allerdings vollständig. Dabei geht etwa die Gewerkschaft ver.di davon aus, dass es bundesweit rund 70 000 Pfleger und Pflegerinnen zu wenig gibt. In den laufenden Koalitionsverhandlungen einigten sich Union und SPD jedoch gerade mal darauf, 8000 neue Stellen zu schaffen. Um bei diesem und anderen Notständen Abhilfe zu schaffen, starteten Beschäftigte aus dem Krankenpflege- und Pflegebereich in Berlin am Donnerstag ein Volksbegehren. 20 000 Unterschriften wollen das »Bündnis für mehr Personal im Krankenhaus« und ver.di in sechs Monaten sammeln. »Wenn der Gesetzgeber nicht handelt, tun wir es selbst«, sagte Sprecherin Lucy Redler. Gesundheitssenatorin Dilek Kolat (SPD) kündigte eine Bundesratsinitiative Berlins an. grg Seiten 4, 6 und 11
Redaktion nd-aktuell.de
Krankenkassen reden über Mängel, aber nicht über Personal / Volksbegehren in Berlin
Basisdemokratie, Berlin, Gesundheitspolitik, Krankenkasse, verdi
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1078211.pflegesystem-unterbesetzt.html
»Die Revolution war zu groß ...«
Statur: schlank, hager. Haare: rot. Bart: rot. Stirn: gewölbt. Augenbrauen: blond. Augen: grau. Nase: spitz. Gesichtsfarbe: blaß. Trägt eine Brille.» Mit erst 25 Jahren war er bereits im Visier der Schlapphüte: der 1823 in Mainz geborene Kaufmannssohn Ludwig Bamberger, einer der bedeutendsten Protagonisten des Liberalismus im 19. Jahrhundert und Mitbegründer der Deutschen Bank im Jahr vor der Reichseinigung. Auf der Leipziger Buchmesse stellte Rosemarie Schuder ihre frisch aus der Druckerei gekommene Biografie Bambergers vor. Eine Trilogie ist vollendet.« Innerhalb eines Jahrzehnts hat die Schriftstellerin drei mutige Kontrahenten des Eisernen Kanzlers Bismarck und Juden hassenden Historikers Treitschke aus den Schatten der Vergangenheit geholt. Nach Berthold Auerbach (»Deutsches Stiefmutterland«, 2003) und Eduard Lasker (»Der ›Fremdling aus dem Osten‹«, 2009) nun also ein Lebensbild Bambergers. Nicht unerwartet und überraschend für den das Vorwort verfassenden Direktor des Centrums Judaicum in Berlin, Hermann Simon. Die Lebenswege der drei - des Autors der »Schwarzwälder Dorfgeschichten« Auerbach, des Vorbereiters des BGB Lasker und des Bankiers Bamberger, alle jüdischer Herkunft, von Freiheitsdrang und Humanismus erfüllt - kreuzten sich. Auch mit denen anderer großer Namen ihres Säculums. Die Trilogie von Rosemarie Schuder bietet ein pralles Panorama einer Epoche, die nicht so fern ist, wie zu vermuten wäre. Die Biografin berichtet, wie der in seiner Heidelberger Studierstube in der Lektüre der »Naturgeschichte des Menschen« vertiefte junge Bamberger plötzlich von der Straße aus gerufen wird. Er tritt ans Fenster und erfährt vom Kommilitonen: »Denke dir, in Paris ist Revolution, Louis Philipp verjagt.« Bamberger ist enthusiasmiert: »Mit einem Schlag sah ich eine neue Welt entstehen.« Doch ähnliches wagt er für deutsche Landen nicht zu hoffen. Denn: »Alles schien so fest und schläfrig in den Windeln des Polizeikleinstaates eingebettet, daß selbst Wünsche nicht erwachen konnten.« Indes, auch der deutsche Michel wird aufgerüttelt. Bei aller Glückseligkeit, die Bamberger und seine geliebte Anna während der Freiheitsfeste ergreift, bleibt er skeptisch, »protestierte meine innere Stimme gegen das Vertrauen zu den Regierenden, von welchen die Demonstrationen überflossen«. Er sollte recht behalten; alle Hoffnungen auf Freiheit, Demokratie und Einigkeit werden alsbald von der Reaktion erstickt. Bis dahin allerdings streitet der just examinierte Jurist leidenschaftlich in Reden und mit der Feder gegen »eine allzuleichte Befriedigung über das oberflächlich Errungene«, nimmt am Demokratischen Kongress im Oktober 1848 in Berlin teil, erlebt hier »Schneider Weitling, der mit seinen radikal kommunistischen Anträgen in der schon sehr weit links stehenden Versammlung nur einen Heiterkeitserfolg erzielte, namentlich, als er den Grundsatz aufstellte, daß von Rechts wegen jeder Mensch eine Monatsbesoldung erhalten müsse«. Der Gründer des Bundes der Gerechten ein Vordenker des bedingungsloses Grundeinkommens? Wie auch immer, im Januar 1849 - die letzten Gefechte sind noch nicht geschlagen - urteilt Bamberger in der »Mainzer Zeitung« bereits: »Die Revolution ist in der Geburt umgekommen. Sie war zu groß für den gebärenden Mutterschoß.« Während er gleich zigtausenden Revolutionären, Demokraten, Freischärlern ins Exil flüchten muss, ordnet der Polizeipräsident von Berlin, Carl Ludwig Friedrich von Hinckeldey, die Anlegung der »Akte Bamberger« an (s.o.). Über Basel, Zürich und Genf in London angelangt, beschließt der in Abwesenheit zum Tode Verurteilte: »Der anstößige Vollbart mußte fallen.« Das Rote durfte nicht mehr allzu kenntlich erscheinen, mutmaßt Rosemarie Schuder. Bamberger arbeitet im Londoner Bankhaus seines Onkels, obwohl es ihm peinlich ist, ins Geldgeschäft einzusteigen; der Lebensunterhalt will verdient werden. In der Stadt an der Themse sucht ihn Karl Marx auf. Bamberger notiert: »Er machte mir den Eindruck eines bedeutenden, selbstbewußten, wohlerzogenen Mannes.« (hic!) Was heutige Leser schmunzeln lässt, ist leider ein verlorenes Gut. Bamberger waren Anstand und Höflichkeit im Umgang miteinander wichtig. Rosemarie Schuder verdanken wir die Überlieferung solch wertvoller Merksätze von ihm wie: »Warum gehört es in Deutschland zu den seltenen Ausnahmen, daß auf eine erwiesene Aufmerksamkeit, Gefälligkeit, ja mühevolle Dienstleistung ein dankendes Echo zurückschallt?« Oder, in seinem Artikel »Über die Grenzen des Humors in der Politik« aufgespürt: »Geschmacklos und empörend ist es, wenn ein übermächtiger Feind mit seinem hilflosen Gegner Possen treibt.« Nach Jahren in der Fremde zurückgekehrt, wird Bamberger Mitglied des Parlaments des Norddeutschen Bundes und dann des Reichstages. Hier ficht er heftige Rededuelle mit Bismarck aus, dessen persönlicher Berater er kurzzeitig war (wie auch für den 99-Tage Kaiser Friedrich III.). Eine dieser verbalen Schlachten wählte Rosemarie Schuder als Einstieg für die Biografie. Auf Bambergers Kritik an Bismarcks Wirtschaftspolitik erwidert dieser am 14. Juni 1882 indigniert: »Was hat denn der Herr Abgeordnete Bamberger für ein Recht, im Namen der deutschen Nation zu sprechen?« Um ihn sodann gar als »Sujet mixte« zu denunzieren. Vor allem der erwachte Nationalismus und erstarkende Antisemitismus verpflichten Bamberger immer wieder, zu warnen und zu mahnen: »Wo der Nationalhaß nach außen seine Schranken findet, wird der Feldzug nach innen eröffnet.« Wegen Treitschke verlässt er die Nationalliberale Partei. Auf dessen Artikel »Unsere Aussichten«, in dem der berüchtigte Satz: »Die Juden sind unser Unglück!« fällt, antwortet er mit seiner Schrift »Deutschthum und Judenthum«. Treitschkes Worte, so Bamberger, seien »in die Welt gegeben, um den Hass auf die Juden für Generationen unausrottbar zu machen«. Als dieser Hass nach der Macht in Deutschland greift, ediert der Journalist Ernst Feder, Sohn jüdischer Hutmacher (apropos: auch Rosemarie Schuder entstammt einer Hutmacherfamilie), die »Geheimen Tagebücher« des Ludwig Bambergers, das Publikationsverbot des 1899 (an einem 14. März wie Marx) verstorbenen Autors ignorierend. Ein Gebot in der Not. Man schrieb das Jahr 1932. Rosemarie Schuder: Ludwig Bamberger. Volksvertreter im Schatten Bismarcks. Niederlausitzer Verlag, Guben 2013. 350 S., geb., 19,95 €.
Karlen Vesper
Rosemarie Schuder zeichnet ein beeindruckendes Lebensbild von Ludwig Bamberger
Buchrezension, Revolution
Feuilleton
Kultur Politisches Buch
https://www.nd-aktuell.de//artikel/816463.die-revolution-war-zu-gross.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
Das Dilemma liegt im System
Alle haben irgendwie recht, und das ist das Problem: In Behörden zählt naturgemäß nicht der einzelne Mensch, er ist eine Verwaltungsnummer. Wenn das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheit rechtskonform seine Fälle abarbeitet, wird nicht nach den individuellen Beweggründen gefragt, die jemanden, der vor dem furchtbaren Krieg in der Ukraine flieht, umtreiben: Wo ist ein guter und sicherer Ort, wo finde ich mich zurecht, wo bin ich nicht zu weit entfernt von Menschen, die ich kenne? Nein, die Berliner Behörden arbeiten nach Schlüsseln und Vorgängen, und je weniger Menschen in der Stadt bleiben - bei allen humanitären Bekenntnissen - desto geringer ist zunächst einmal die Belastung für die Infrastruktur. Es ist ein Dilemma, aber es hat System. Das Problem von fehlendem Wohnraum, mangelnden Schul- und Kitaplätzen und bisweilen schlechtester medizinischer und pflegerischer Versorgung ist genauso wenig wegzudiskutieren wie die grassierende Obdachlosigkeit, Armut, miese Arbeits- und Ausbeutungsverhältnisse und eine mitunter massiv klaffende soziale Lücke in einzelnen Bezirken. Dass sich dennoch Tausende nicht erst in diesen Wochen bereit zeigen zu helfen, bis an die Grenze des Ausgebranntseins, kann die zuvor beschriebenen Zustände, die auf massiven staatlichen Verfehlungen beruhen, nicht wettmachen. An dem Punkt sehen Sozialpolitiker*innen manchmal klarer als Aktivist*innen. Man könnte es aber auch andersherum betrachten: der Druck, Verbesserungen für alle Menschen, die sich in Berlin zu Hause fühlen und das auch weiter wollen, voranzubringen, war nie so groß wie jetzt. Nur sind, trotz Mitte-links-Regierung, nicht die politischen Kräfte am Wirken, die dies ohne Rumgeeier tatsächlich durchsetzen würden.
Claudia Krieg
Berlin hat viele Probleme. Flüchtlinge gehören nicht dazu - zeigen aber durch ihre Bedürfnisse Verfehlungen auf, die mit dem Ausverkauf der Stadt an Investoren, fehlenden Investitionen in Bildung und Gesundheit und starrer Bürokratie zu tun haben.
Berlin
Meinung
Kommentare Ukraine-Flüchtlinge in Berlin
2022-04-06T16:58:30+0200
2022-04-06T16:58:30+0200
2022-04-07T08:51:48+0200
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1162808.das-dilemma-liegt-im-system.html
Ängste statt Arztbesuche
Auf welche Schwierigkeiten stoßen Menschen ohne Papiere in Deutschland, wenn sie gesundheitliche Probleme haben? Die Menschen wissen nie genau, was ihre Rechte sind. Auch wenn sie sich ohne geltende Aufenthaltserlaubnis in Deutschland aufhalten, können sie bestimmte Gesundheitsleistungen in Anspruch nehmen. Wenn sie beispielsweise einen Notfall haben und ins Krankenhaus müssen, dann muss sie das Krankenhaus auch aufnehmen und behandeln. Aber dann stellt sich die Frage der Kostenübernahme - wer bezahlt die Behandlung? Eigentlich springen in diesem Fall die Sozialbehörden ein, das ist ein einfacher Antrag. Jedoch bleiben Krankenhäuser manchmal auf den Kosten sitzen, weil Menschen ohne Papiere oft die Dokumente fehlen, die nachweisen, dass sie bedürftig sind. Bei Krankheiten, die kein akuter Notfall sind, aber trotzdem ärztlicher Behandlung bedürfen, ist die Sozialbehörde verpflichtet, eine Meldung an die Ausländerbehörde zu machen - das nennt sich Übermittlungspflicht. Und das bedeutet dann für die Betroffenen konsequenterweise, dass sie mit ihrer Abschiebung rechnen müssen. Christiane Borup leitet seit Januar 2021 die Programme von »Ärzte der Welt« in der Bundesrepublik. Die humanitäre Hilfsorganisation ist der deutsche Zweig der 1980 gegründeten international tätigen »Médecins du Monde«. Zuvor hat Christiane Borup 13 Jahre im Geschäftsbereich des Bundesgesundheitsministeriums gearbeitet und Public-Health-Projekte betreut. Mit ihr sprach Helena Piontek. Man muss sich also entscheiden, ob einem die Behandlung der eigenen Gesundheit wert ist, eine Abschiebung zu riskieren? Genau, deshalb setzen wir uns dafür ein, diese Übermittlung nach Paragraf 87 Aufenthaltsgesetz im Gesundheitsbereich einzuschränken. Im Bildungsbereich ist das schon der Fall. Das heißt, Kinder ohne geregelten Aufenthaltsstatus und ohne Papiere können erst mal zur Schule gehen, und die Bildungseinrichtungen sind von dieser Übermittlungspflicht ausgenommen. Das wollen wir analog auch für den Gesundheitsbereich schaffen, damit Menschen nicht mehr aus Angst vor Abschiebung von notwendigen Arztbesuchen abgehalten werden. Diese Praxis in Deutschland haben auch die Vereinten Nationen gerügt. Wie meinen Sie das? Der diskriminierungsfreie Zugang zu Gesundheitsversorgung wird im internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte als Menschenrecht definiert. Deutschland hat sich diesem Pakt verpflichtet. Die Übermittlungspflicht verstößt nicht nur gegen internationale Menschenrechte, sondern ist auch verfassungswidrig, weil jeder Mensch laut Grundgesetz ein Recht auf Zugang zu medizinischer Grundversorgung hat, unabhängig vom Aufenthaltsstatus. Und die Versorgung wird ja auch de jure gewährleistet, Betroffene können ihren Anspruch aber de facto wegen der Übermittlungspflicht nicht geltend machen. Damit wird ein Grundrecht zu migrationspolitischen Zwecken relativiert. Das darf nicht sein! Das hat auch schon das Verfassungsgericht entschieden. Als Leiterin der Inlandsprogramme von Ärzte der Welt haben Sie einen guten Blick für die Entwicklung der papierlosen Menschen in Deutschland. Wie hat sich deren Situation seit Beginn der Pandemie verändert? Viele Papierlose haben in prekären Verhältnissen gearbeitet und durch die Pandemie ihre Arbeit verloren. Viele, die normalerweise zwischen den europäischen Ländern ein- und ausreisen, zum Beispiel wegen saisonbedingten Arbeiten, saßen auf einmal hier fest, ohne Geld. Das heißt, wir haben dann auch Patient*innen gehabt, die an in Deutschland kaum vorstellbaren Sachen wie Hunger gelitten haben. Wie wirkt sich die Pandemie auf die gesundheitliche Versorgung der Betroffenen aus? Ihre Lage ist schwieriger geworden. Die meisten Einrichtungen, die ihnen sonst helfen konnten, wurden aufgrund von Corona vorübergehend geschlossen oder haben ihr Angebot stark einschränken müssen. Zu uns sind an einigen Orten dadurch mehr Menschen gekommen, auch von weiter weg. Viele können auch gar nicht richtig einschätzen: Was ist das für eine Krankheit, und wie kann ich mich davor schützen? Die Informationslage ist für diese Gruppe sehr schwierig, viele Informationen und Quellen, die für uns selbstverständlich zugänglich sind, erreichen diese Menschen gar nicht. Haben Papierlose in Deutschland Zugang zu Coronatest? Das ist ein Flickenteppich. Der Bund hat die Kompetenz für dieses Thema an die Länder abgegeben und die handhaben das teilweise sogar innerhalb einer Stadt unterschiedlich. Bei vielen Testangeboten muss man verpflichtend den Personalausweis oder die Versichertenkarte vorlegen, nur bei manchen geht das auch alleine mit dem Nachnamen oder einer Nummer. Aber genau dieser Flickenteppich ist die Schwierigkeit für diese Menschengruppe. Woher sollen sie das alles wissen? Viele Papierlose trauen sich überhaupt nicht nachzufragen, aus Angst, sie könnten der Ausländerbehörde gemeldet werden. Diese Menschen begegnen allem, was irgendwie institutionalisiert ist, mit großer Skepsis, weil sie nicht genau wissen, was da mit ihnen passiert. Wie begegnen Sie diesem Umstand in der Praxis? Wir haben informelle Lösungen mit Gesundheitsämtern angestrebt. In Berlin beispielsweise haben wir Betroffene mit Begleitperson zum Test geschickt und vereinbart, dass ein Alias als Name aufgenommen wird. Sind papierlose Menschen auch in der Impfstrategie bedacht? Wir sind momentan im Gespräch mit den Kommunen, auch hier gibt es keine einheitliche Lösung. Das Problem ist, dass wir und andere Organisationen für die Betroffenen zunächst einmal einen Bedarf formulieren müssen, also dass so und so viele Menschen aus diesen Gründen eine Impfung benötigen. Aber wir müssen einen Weg finden das zu tun, ohne die persönlichen Daten der Menschen zu übermitteln. Wir überlegen hier jetzt mit Codes zu arbeiten und die Impfdosen dann einfach im normalen Praxisbetrieb an unseren Standorten an die Betroffenen zu verimpfen.
Helena Piontek
Die Gesundheitsversorgung von Papierlosen in Deutschland ist stark verbesserungswürdig. Christiane Borup von der NGO »Ärzte der Welt« erklärt, was dringend getan werden müsste.
Gesundheitspolitik, Gesundheitswesen, Medizin, Migranten
Politik & Ökonomie
Politik Gesundheitsversorgung für Papierlose
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1151159.gesundheitsversorgung-fuer-papierlose-aengste-statt-arztbesuche.html
Dynamo mit Trotz nach Osnabrück
Der Frust wandelte sich schnell in Trotz: Zwar schlichen Spieler und Trainer von Fußball-Drittligist Dynamo Dresden mit hängenden Köpfen vom Dresdner Rasen. Schon im Kabinengang fanden sie aber ihren Mut für das entscheidende Relegationsspiel wieder. »Ich habe keinen Klassenunterschied gesehen. Wenn überhaupt, dann andersherum. Wir waren in allen Belangen besser«, meinte Dani Schahin nach dem 1:1 gegen Zweitligist VfL Osnabrück am Freitag. Obwohl Dynamo über mangelnde Chancenverwertung und das Eigentor-Geschenk für den Gegner klagte, blickte der Stürmer mit Zuversicht auf das Rückspiel am Dienstag. »Ich bin überzeugt davon, dass wir gewinnen, wenn wir wieder so auftreten«. Für die Schwarz-Gelben war der Verlauf des ersten Duells allerdings bitter: »Wir haben zwei Tore geschossen und trotzdem nicht gewonnen«, ärgerte sich Trainer Ralf Loose. Lars Jungnickel lenkte den Ball in der 65. Mi... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Tina Hofmann, dpa
Dresden erreichte im Heim-Relegationsspiel nur ein Unentschieden
2. Fußballbundesliga, 3. Fußballbundesliga, Dynamo Dresden, Fußball, VFL Osnabrück
Sport
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Amerika, wohin geht die Reise?
Mit »Dreizehn Kontemplationen gegen eine Intervention des Schalls« hob der interessante, überaus gut besuchte Abend an. Das Stück geht etwa so: Die Musiker bilden auf der Bühne zwei gestaffelte Reihen. Hinten, etwas erhöht, die Mexikaner vom Ensemble LIMINAR mit zunächst schwerlich auszumachendem Instrumentarium, vorn die nominierten deutschen Spieler vom Kammerensemble Neue Musik Berlin (KNM), drei Holzbläser, Streichtrio. Letztere präludieren mit ausgehaltenen Tönen und Akkorden. Nach gewisser Zeit zelebriert die hintere Reihe Geräusche, Töne aus Mundorgeln. Eine »Harfe« stimmt an, keine gewöhnliche, eine mexikanische, im Klang ähnlich dem Hackbrett, dem Cymbalom, der Zither. Pulte lancieren elektronische Gewebe in die Vorgänge. Von Kontemplation zu Kontemplation amalgamieren die Klangebenen in je anderer Art, lösen sich, reißen schnittförmig auseinander. Die Einförmigkeit der Mundorgelgeräusche und -töne verwandelt sich in Vielförmigkeit. Münder, daran Schläuche mit kuriosen Mundstücken, pusten komische Kakophonien aus. Je mehr kooperativer Musiziergeist herrscht, desto rhythmischer das Geschehen. Ganz unaufgeregt das Ende. »... gegen die Intervention des Schalls«. Komponiert hat das Stück Juan Felipe Waller, geboren 1971 in Mexiko City. Eine Uraufführung. Amerika, wohin geht die Reise? Das Projekt »Die Welt nach Tiepolo: Amerika«, programmiert von Thomas Bruns, der das KNM leitet, unternimmt eine Routenbeschreibung. Zwei hochklassige Ensembles aus sehr verschiedenen Hemisphären koproduzieren, als wäre dies das Selbstverständlichste von der Welt, bieten Neues und verzichten nicht, Meister früherer Tage mitsprechen zu lassen. Das KNM nennt seine Mitstreiter einfach »Friends«. Und die Mexikanischen Musiker von LIMINAR, die sie einluden, empfinden das nicht anders, so der Eindruck. Beide Gruppen, sie brauchten in dem Fall keinen Dirigenten, sind Freunde. Glückvoll ist, wie und was sie musizieren. Amerika steht im Fokus, das bessere, das ohne Mauern auskommt, eins, das die Völker vereint, statt sie gegeneinander zu hetzen, ein Kontinent, dessen Bewohner ihren Stoffwechsel mit der Natur »unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten Bedingungen vollzieht« (Karl Marx). Dies der klar empfindbare gedankliche Leitfaden des Abends. Eine Entdeckung die gebotenen vier Stücke von Julián Carillo, mexikanischer Komponist, Dirigent und Violinist (1875-1965). Carillo, wie Alois Hába und später Gerard Grisey (Spektralmusik) ein Mikrotonalist, hat er bereits um die Jahrhundertwende den Violinton in bis zu sechzehn Segmente aufgespalten und Theorien der Xstel-Ton-Komposition entwickelt. Sein »Preludio a Colón« (1924/25) ist mit Stimme, Flöte, Vierteltongitarre, Sechzehnteltonharfe und Streichquartett besetzt. Das klingt verstiegen. Aber diese ruhige, auf permanente Tonschwankungen und sonderbare Schwebungen zumeist im Terzbereich angelegte Komposition, die LIMINAR mit der Sängerin Carmina Escobar vorbrachte, vermag die Sinne zu fesseln. 1928 komponierte Carillo »I think of you«. Es erklang, ähnlicher besetzt, in wunderschöner Vokalität. Längstes Stück des Abends: Hugues Dufourts titelgebendes »L’Amerique d’aprés Tiepolo« für Ensemble. Das Werk eröffnet den vierteiligen Zyklus »Apollon und die Kontinente nach Tiepolo«, woran der Franzose zehn Jahre gearbeitet haben soll, und bezieht sich auf Abbildungen der berühmten Deckenfresken des Giovanni Battista Tiepolo, die um 1750 für die Residenz Würzburg entstanden: Auf 600 Quadratmetern stellte der venezianische Maler die vier damals bekannten Kontinente dar. Die drei noch folgenden Teile der KNM-Reihe werden sich folglich Europa, Asien und Afrika widmen. Ein clustergeschwängertes Klaviersolo leitet Dufourts Komposition ein, temperametvoll gespielt von Frank Gutschmidt. Vielfarbiges Solo- und Gruppenspiel fügt sich an. Groß die Rolle des meist schlegellos agierenden Percussionisten Axel Babel. Er tastet, streicht mit Bogen, triangelt, jongliert wie ein Clown, schabt, wirft, schlägt, spielt den Glöckner, wirbelt, zupft, steckt den Gong schlagend in die Zinkwanne mit Wasser. Dann - mit Blick auf Zaubereien und uralte Rituale - einsames Wiehern und Heulen aus gescheckten Blasebälgen. Zuletzt erklang mit beiden Gruppen eine Art ritueller Hymnus auf Gemeinschaft, Individualität und Freiheit: »Form 1« von James Tenney (1934 - 2006). 21 Musiker in Aktion, starr, in Gruppen kreisförmig angeordnet im Raum. Spiel mit Haltetönen, Einsatz des je Einzelnen in je verschiedenen Abständen. Tenor: Dissonanz gegen Konsonanz. Auf den Pulten Handys als Zeitmesser. Das Gesamte klingt wie ein im Raum ausgebreiteter symphonischer Teppich. Mutationen führen hin zu Alter Musik, wie sie in Kathedralen erklingt. Resümee: Ein jeder zieht anders am selben Strick. Der Einzelne im Kollektivum bleibt unbeschädigt, behält seine Würde. Nächste Konzerte: 29.4. (Europa), 24.6. (Asien), 30.9. (Afrika) nd-Leserreise »Würzburg - Auf den Spuren von Tiepolo« 8. bis 11.9., weitere Informationen: (030) 2978-1620
Stefan Amzoll
Das Kammerensemble Neue Musik Berlin nennt seine Mitstreiter – hier das mexikanische Ensemble LIMINAR – einfach »Friends«. Die Idee: gemeinsam musizieren, Neues bieten und Meister früherer Tage mitsprechen lassen.
Mexiko, Musik
Feuilleton
Kultur
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Zum falschen Zeitpunkt
Es war absehbar, dass das für Montag anberaumte nächste Treffen der Bundesregierung mit den Ministerpräsidenten der Länder ausfallen wird. Zu zerstritten scheinen letztere zu sein, zu unklar die Entscheidungsstrukturen, zu nebulös der künftige Kurs in der Pandemiebekämpfung. Ein weiteres Treffen mit einem Ergebnis, das dann kaum jemand so haben wollte, kann man sich schenken. Doch erst mal abzuwarten, was ebenfalls viele Beteiligte nicht gut finden, ist noch schlechter. Die verfahrene Situation hat damit zu tun, dass es längst nicht mehr nur um das Krisenmanagement geht, sondern auch um die staatlichen Strukturen samt der Rollenverteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden. Doch es ist der falsche Zeitpunkt, inmitten der Sars-CoV-2-Pandemie derartige Grundsatzdebatten anzustoßen, zumal wir durch die längst dominante britische Mutante B.1.1.7 in der womöglich kritischsten Situation stehen. Das gilt auch für die Änderung des Infektionsschutzgesetzes, die dem Bund mehr Kompetenzen geben soll und für heftige Kontroversen mit dem und im Bundesrat sorgen wird. Dieser Text stammt aus unser Wochenendausgabe. nd.Die Woche nimmt Geschehnisse in Politik und Gesellschaft hintergründig unter die Lupe. Politische und wirtschaftliche Analysen, Interviews, Reportagen und Features, immer ab Samstag am Kiosk oder gleich mit einem Wochenendabo linken Journalismus unterstützen. Aktuell braucht es die Bund-Länder-Treffen, aber klügere. Das Problem in Deutschland ist nicht, dass es keine geeigneten Maßnahmen oder Vorschläge gäbe. Es braucht aber mehr fachliche Beratung und weniger landesfürstliche Selbstherrlichkeit. Es braucht einen Minimalkonsens, einen einheitlichen Rahmen, der vor Ort Spielräume lässt, vielleicht auch nur einen Kompass für die hoffentlich letzten Monate dieser Pandemie. Nur das könnte das verloren gegangene Vertrauen in der Bevölkerung zurückbringen, was letztlich entscheidend für den Erfolg jeglicher Maßnahmen ist. Vor dieser Verantwortung sollten sich die Regierungen nicht wegducken.
Kurt Stenger
Aktuell braucht es die Bund-Länder-Treffen, aber klügere. s braucht einen Minimalkonsens, einen einheitlichen Rahmen, der vor Ort Spielräume lässt, vielleicht auch nur einen Kompass für die hoffentlich letzten Monate dieser Pandemie.
Angela Merkel, Corona, Lockdown
Meinung
Kommentare Bund-Länder-Treffen
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Union-Innenminister fordern höhere Strafen für Angriffe auf Polizisten
Berlin. Mehrere Innenminister der Unionsparteien haben nach dem Doppelmord an zwei Polizeibeamten in Rheinland-Pfalz höhere Strafen für Angriffe auf Polizisten gefordert. »Die Mindeststrafen müssen erhöht werden, auf mindestens ein halbes Jahr Haft«, sagte Sachsens Innenminister Roland Wöller (CDU) am Mittwoch dem Sender Bild TV. In der vergangenen Legislaturperiode seien zwar die Strafen auf bis zu fünf Jahre Haft verschärft worden, Geldbußen als Mindeststrafe reichten jedoch nicht aus. Auch Saarlands Innenminister Klaus Bouillon (CDU) forderte »deutliche Zeichen«. Der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul (CDU) mahnte mehr gesellschaftliche Rückendeckung für die Polizei an: »Die Polizisten wollen auch wissen, dass wir auch etwas für sie tun«, sagte er. Dazu gehöre bessere Ausrüstung. »Rumquatschen« reiche nicht. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) forderte Respekt vor der Polizei. »Das sind die Männer und Frauen, die jeden Tag und jede Nacht ihren Kopf für unsere Sicherheit hinhalten«, sagte er. Sie hätten »verdammt nochmal die volle Rückendeckung der politischen Führung aus allen Parteien verdient«. Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann Die Staatsanwaltschaft in Kaiserslautern teilte am Mittwoch mit, dass es keinen neuen Stand der Ermittlungen zu der Tat vom frühen Montagmorgen gebe. Eine 24-jährige Polizeianwärterin und ein 29-jähriger Polizist waren im Landkreis Kusel bei einer Verkehrskontrolle erschossen worden. Ein Haftrichter erließ am Dienstag Untersuchungshaft wegen gemeinschaftlichen Mordes gegen zwei Tatverdächtige. Ihnen werfen die Ermittler vor, mit dem Mord versucht zu haben, vorangegangene Jagdwilderei zu verdecken. Derweil bejubeln viele sogenannte »Querdenker« die Tat, wie entsprechende Einträge in Chatgruppen zeigen. Wegen des aus ihrer Sicht harten Vorgehens der Polizei gegen die häufig von Rechtsextremen organisierten und vorangetriebenen Corona-Demonstrationen sehen »Querdenker« die Beamten als Feinbild. »Mitleid hält sich in Grenzen«, schreibt ein Nutzer. Ein anderer: »2 weniger bei den Spaziergängen.« Ein dritter fordert, ein Spendenkonto für die Täter zu eröffnen. In Rheinland-Pfalz ist ein Gedenken an die Opfer geplant. »Es wird am Freitag um 10 Uhr landesweit eine Schweigeminute geben«, sagte ein Sprecher des Polizeipräsidiums in Kaiserslautern am Mittwoch. Ob es darüber hinaus zu einem anderen Zeitpunkt auch eine öffentliche Gedenkveranstaltung gebe werde, sei derzeit offen. Ebenfalls am Freitag ist in Kusel eine interne Trauerfeier mit den Angehörigen sowie mit Kolleginnen und Kollegen der Getöteten geplant. Ab 10 Uhr sollen auch die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer und Innenminister Roger Lewentz (beide SPD) unter den rund 200 Gästen in der örtlichen Fritz-Wunderlich-Halle sein. Agenturen/mze
Redaktion nd-aktuell.de
Nach dem Doppelmord an zwei Polizeibeamten beginnt die politische Debatte um Konsequenzen. Viele Querdenker stellen sich derweil auf die Seite der Täter, wie entsprechende Einträge in Chatgruppen zeigen.
CDU, Innenminister, Kusel, Mord, Polizei, Polizisten, Rheinland-Pfalz, Roland Wöller
Politik & Ökonomie
Politik Kusel
2022-02-02T14:58:12+0100
2022-02-02T14:58:12+0100
2023-01-20T19:24:37+0100
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Bilder, die fast zerbersten
Hass«, »Auf sie«, »Da bist du ja, Schlampe« und »Angriff« drohen Messer, Flaschen und anderer Hausrat in einem Comic-Strip der Protagonistin. Es ist nur ein Alptraum aus dem Jahr 1990, den die kanadische Comiczeichnerin Julie Doucet in Bilder gefasst hat, doch ist diese Bedrohung durch die unmittelbare Umgebung, das eigene Lebensumfeld, ein roter Faden, der sich durch die Strips der 1965 im kanadischen Montreal geborenen Künstlerin zieht. In der nun vom Reprodukt-Verlag vorgelegten Sammlung ihrer »allerschönsten Comicstrips«, so der Titel, treten immer wieder übergriffige Männer auf, die die Protagonistin psychisch und physisch ausnutzen. Oder sie scheitert an den gesellschaftlichen Erwartungen an sie als Frau. Anstatt jedoch unter diesen Zuständen zu leiden oder zu zerbrechen, geht die Protagonistin Julie, die allerdings nicht als mit der Zeichnerin identisch zu verstehen ist, zum Gegenangriff über. Der Gewalt gegen den weiblichen Körper, den Zurichtungen und Zuschreibungen wird mit Gegengewalt begegnet: Männer werden ermordet und kastriert, Städte mit Menstruationsblut geflutet. In ihren Träumen und Fantasien kann die gezeichnete Julie sich eine starke Persona erschaffen, die dem gesellschaftlichen Druck standhält. Für die Zeichnerin selbst war dies auf Dauer leider nicht möglich: Kurz vor der Jahrtausendwende beendete sie ihre Karriere als Comiczeichnerin unter anderem mit der Begründung: »Ich war es leid, ständig nur mit Männern zu tun zu haben.« Sie war eine der wenigen Zeichnerinnen in einer Szene, die sich damals noch fest in Männerhand befand und in der Doucet mit ihren radikalen Stories in der Tradition des amerikanischen Comic-Underground der 1960er- und 1970er-Jahre über ihre Alltagserfahrungen als Frau immer wieder aneckte - aber auch 1991 mit dem Harvey Award als »Best New Talent« ausgezeichnet wurde. Ihre Strips erschienen in ihrem eigenen seit 1988 publizierten Magazin »Dirty Plotte«, das 1991 vom kanadischen Verlag Drawn & Quarterly ins Programm übernommen wurde, vor allem aus diesem Kontext stammen die Arbeiten im Sammelband. Dass im Zentrum der Comics von Doucet der weibliche Körper steht, macht bereits der Name ihres Magazins deutlich: »Dirty Plotte«, ein aus Québec stammendes Slangwort für die weiblichen Genitalien. Auch in »Julie Douvcets allerschönste Comicstrips« ist eine Episode enthalten, in der sie mit diesem Ausdruck nicht vertrauten Lesern Auskunft über Herkunft und Bedeutung von »Plotte« gibt. Neben der medizinischen Bedeutung ist es vor allem die Zuschreibung von Männern, der Männerblick auf die Frau, der mit dem Begriff verknüpft ist: »Hey Mann, schau dir die Plotte an, nicht schlecht«, sagt ein Mann mit gierigem Blick zu seinem Kumpel. Der weibliche Körper, zeigt Doucet, hat sich permanent solchen Zuschreibungen zu erwehren, weshalb sie ihre offensiven Comics als ein Mittel nutzt, selbstbestimmt solche Zuschreibungen zu dekonstruieren. Gleichzeitig zeigt sie die schiere Überforderung, die sich für Frauen aus den Erwartungen und Zuschreibungen ergeben: Kaum überschaubare Bilder reihen sich aneinander, dem Betrachter wird durch eine Unzahl von Eindrücken kein Moment der Ruhe gegönnt. Die Zeichnungen lassen grafisch wenige Freiräume und sind für die Leser nicht auf den ersten Blick zu durchschauen. Auch die Textebene ist auf diese Weise gestaltet, die Sprechblasen scheinen der Protagonistin zuweilen noch den wenigen verbliebenen Raum streitig zu machen, sie zu erdrücken. Jedes Panel enthält eine solche Dichte an Information, dass die Bilder zu zerbersten scheinen. Befreiung versprechen Träume, Fantasien und vor allem: die Kunst. Die Comicstrips von Julie Doucet sind zwar einerseits Dokumente der Überforderung, andererseits jedoch Mittel des feministischen Kampfes, sie sind in ihrer Radikalität auch drei Jahrzehnte nach ihrem Erscheinen erfrischend, obwohl sich Frauen mittlerweile einen Platz in der Welt des Comics erobert haben. Anlässlich der Publikation von ihren »allerschönsten Comicstrips« war die Zeichnerin dann doch für einige Comiclesungen in Deutschland unterwegs. Julie Doucet: Julie Doucets allerschönste Comicstrips. Reprodukt, 176 S., geb., 20 €.
Jonas Engelmann
In den Comics von Julie Doucet werden Städte mit Menstruationsblut geflutet und Männer ermordet. Das waren ihre Fantasien, um dem gesellschaftlichen Druck standzuhalten. Nun sind ihre «allerschönsten Comics» erschienen.
Comic, Kanada
Feuilleton
Kultur Julie Doucet
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Bußgeld wegen AfD-Kritik
Dennis Uzon, frisch gewählter Linke-Kreisrat in Mühldorf am Inn, erhielt kürzlich Post vom Landkreis. Darin wird ihm eine vermeintliche »Ordnungswidrigkeit« zur Last gelegt, für die er 50 Euro Verwarnungsgeld an die Kreiskasse entrichten soll. Stein des Anstoßes ist eine »Mahnwache gegen Altersarmut«, zu der eine offenbar AfD-nahe Gruppierung »Fridays gegen Altersarmut« für Juli in Waldkraiburg aufgerufen hatte. Uzon wollte bei der Mahnwache eigene Akzente setzen und daran erinnern, dass AfD-Chef Jörg Meuthen bei genauerem Hinsehen die gesetzliche Rente abschaffen und damit der Altersarmut weiter Vorschub leisten will. Er und seine Mitstreiter hielten Plakate hoch, die auf AfD-Programmatik zum Thema Altersarmut und soziale Gerechtigkeit hinwiesen: Abschaffung der Erbschaftssteuer, keine Vermögenssteuer für Reiche, höheres Rentenalter, weniger Sozialleistungen und Privatisierung auch bei Gesundheit und Sozialversicherungen. »Die Forderungen der AfD treiben die Ausbeutung der Lohnabhängigen weiter voran«, so ein Fazit. Diese Aussagen passten den Veranstaltern nicht. Ein örtliches AfD-Stadtratsmitglied und andere drängten nach einem verbalen Schlagabtausch Uzon und seine Begleiter aus der Veranstaltung. Dies nahm die Staatsgewalt zum Anlass, um Uzons freie Meinungsäußerung zu einer illegalen Tat zu machen. »Kurz nach Beginn der Veranstaltung formierte sich abgesetzt eine Gegenversammlung, die von Ihnen angeführt wurde«, so das Amt. »Bei dieser Aktion handelt es sich um eine nicht genehmigte Versammlung, welche beim Landratsamt nicht angezeigt war«, schreibt die Behörde unter Verweis auf das Bayerische Versammlungsgesetz. Voraussetzungen für eine Spontanversammlung hätten nicht vorgelegen, zumal die Plakate »in keiner Verbindung zu dem Versammlungsthema standen«, so das Schreiben unter Berufung auf die örtliche Polizeiinspektion. Dass die rechten Demonstranten dem Corona-Abstand nicht einhielten, ist für die Staatsgewalt kein Thema. Uzon beharrt auf seinem Recht, bei einer Veranstaltung die reaktionäre Sozialpolitik der AfD zu kritisieren. Er hat den Münchner Rechtsanwalt Mathes Breuer Anwalt eingeschaltet und setzt auf Druck der Öffentlichkeit. »Natürlich ist es rechtlich zulässig, in eine angemeldete Veranstaltung zu gehen und dort oppositionelle Meinungen zu vertreten«, so Breuer auf nd-Anfrage. »Auf eine separate Anmeldung zu pochen, wäre widersinnig.« Zudem sei es »absurd«, wenn die Behörde behaupte, das von Uzon getragene Plakat habe »in keiner Verbindung zu dem Versammlungsthema« gestanden. Breuer hat Widerspruch gegen den Bescheid eingelegt und sieht das Vorgehen der Behörde im Zusammenhang mit einem zunehmenden Trend im Freistaat, mit Bußgeldern die Träger antifaschistischer Gegenproteste einzuschüchtern. »Viele nehmen die Zahlungsaufforderung hin und zahlen das Verwarnungsgeld stillschweigend«, so seine Wahrnehmung. Dass die AfD auch aus Sicht der Behörde treibende Kraft der Aktion war, ergibt sich offenbar auch daraus, dass in einem vom Landkreis an Uzon übermittelten Anhörungsbogen die Partei als Veranstalterin aufgeführt wurde. Kritische Beobachter vermuten eine Kumpanei zwischen AfD und Kreisverwaltung. »Sowohl die Anzeige als auch das Bußgeld werden wir nicht widerstandslos hinnehmen«, so Claus Debnar, Sprecher vom Linke-Kreisverband Mühldorf/Altötting.
Hans-Gerd Öfinger
In Bayern sehen kritische Beobachter einen Trend, antifaschistische Aktivisten mit Bußgeldern einzuschüchtern. Ein Mitglied der Linkspartei will eine entsprechende Strafe nicht hinnehmen.
AfD, Altersarmut, Armut, Rentenpolitik
Politik & Ökonomie
Politik
2020-08-27T17:56:58+0200
2020-08-27T17:56:58+0200
2023-01-21T10:24:38+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1141006.bussgeld-wegen-afd-kritik.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
Verdichtung und Zerfall
»Seek the extremes, that’s where all the action is.« Dieses Zitat der US-amerikanischen Malerin, Konzept- und Performance-Künstlerin Lee Lozano steht auf einem Gemälde von Gritli Faulhaber. Lozano, die sich nach einer kurzen, aber umso intensiveren Karriere vom Kunstbetrieb abwandte, gilt als Artist’s Artist – eine, die es wissen wollte und damit auch andere Künstler*innen anspornt. Faulhabers künstlerische Arbeit ist reich an Referenzen auf die feministische Kunstgeschichte. In ihrer Malerei entfaltet sie ein dichtes Geflecht aus Bildzitaten, visuellen Verweisen und Anspielungen und spinnt daraus ein konzeptuelles Hyperimage – eine hybride malerische Montage aus vielfältigen Bildfragmenten. Kein Bild steht für sich allein, alles weckt Assoziationen, schießt über sich hinaus, verlangt nach mehr Wissen und Erfahrungen. Ihre Malerei bricht mit Gattungskonventionen und setzt sich über Widersprüche hinweg. Medienreflexion und Emanzipation gehen Hand in Hand. Dennoch kippt diese fordernde, neugierige Kunst nicht in die gelehrte Pose, die sich in der belehrenden Zurschaustellung kunsthistorischen Wissens erschöpft. Faulhabers Malerei behält etwas Vorläufiges, Skizzenhaftes, Tastendes, Suchendes und dabei auch Unaufgeregtes. Als ob die Leinwände mit all den gemalten Fragmenten und Bezügen direkte Erweiterungen der Skizzenbücher und Arbeitshefte der Künstlerin wären. Private Fundstücke, Anregungen zum Weiterarbeiten. »Now I’m able to paint what you have processed photographing« – ein Zitat der Künstlerkollegin Maximiliane Baumgartner – steht auf einer anderen Arbeit, als wäre das Dargestellte nur ein bescheidener Schritt, um zu klären, was diese Malerei vermag. Nicht die Geste vollendeter Meisterschaft, sondern eine Malerei im Werden, ein Lernprozess gibt sich zu erkennen. »Weshalb wir nun eine große Lücke lassen, die als Hinweis genügen muss, dass diese Stelle bis zum Rand gefüllt ist«, heißt es in Virginia Woolfs »Orlando« (1928). Vergleichbare Großzügigkeit zeichnet auch Faulhabers sensiblen Umgang mit dem Bildraum aus. Für Goethe ist die Kunst »eine Vermittlerin des Unaussprechlichen«. Was ist daran bewegend, was politisch? Das erklären wir an einem aktuellen oder historischen Beispiel: Das Kunstwerk des Monats. Somit erscheint auch das erwähnte Zitat von Lee Lozano in einem anderen Licht. Nicht die Extreme transgressiver Grenzüberschreitung, im Exzess, mit aller Gewalt, werden gesucht, vielmehr geht es um eine maximale Offenheit, die überall ihren Reiz und neue Sensationen findet. Da die Welt von »starken Männern« in Politik und Wirtschaft dominiert wird, kann dies kaum zu hoch geschätzt werden. »Militant Joy«, wie Faulhaber eine ihrer fortgeführten Serien benennt. Diese extrem reduzierten kleinformatigen Arbeiten entstehen in wiederkehrenden Phasen, in denen der künstlerische Handlungsraum äußerst eingeschränkt ist. Die Künstlerin lebt mit ME/CFS, einer schweren neuroimmunologischen Erkrankung. Die Fähigkeit, so zu malen, wird zur Selbstbehauptung gegenüber dem eigenen Körper. Als ginge es darum, trotzig zu sagen: »Now I’m able to paint what you will never process photographing.« Diese Bilder jedoch allein aus dem Zustand der Krankheit zu erklären, wäre verkürzt. Sie sind weit mehr als die Dokumentation von Ablenkungsmanövern oder Bewältigungsstrategien. Das sind sie auch, aber eben nicht nur. Wer mehrere Gemälde der Serien nebeneinander sieht, wie es bis vor Kurzem im Neuen Essener Kunstverein möglich war, erkennt bald die feinen Unterschiede. Nicht alles funktioniert gleich. Nicht überall ist die gleiche Spannung zu sehen. Aus Flecken, Tupfern, Punkten, Strichen und allerhand Spuren ergibt sich ein reiches Spektrum rudimentärer malerischer Gesten. Manches verdichtet sich, anderes zerfällt. Hier erscheint eine Ordnung, dort wiederum nicht. »Ja, die Malerei, der Akt des Malens verläuft über das Chaos oder die Katastrophe«, wie Gilles Deleuze in seinen Vorlesungen »Über Malerei« (1981) bemerkte, die Anfang des Jahres auch in deutscher Übersetzung erschienen sind. Deleuze fragte sich auch: »Was geschieht, wenn nichts daraus hervorgeht, wenn die Katastrophe sich ausbreitet, wenn das zu einem Brei wird? Hat man in bestimmten Fällen nicht den Eindruck, jawohl, das Gemälde misslingt? Es kommt immer wieder vor, dass Maler scheitern, ihre Gemälde in die Ecke werfen – höchst erstaunlich das Ganze.« Für den Philosophen wird die Auseinandersetzung mit Malerei zu einem Nachdenken über Sinn und Sinnlosigkeit. Die Malerin Maria Lassnig hat es so beschrieben: »Die Ausformung des Bildes wird in Unruhe hin und her gezerrt, bis es an dem geheimnisvollen ›Punkt der Gewissheit‹ zur Ruhe kommt.« Dass Maler*innen ein gesteigertes Interesse an einer »Philosophie der Malerei« oder zumindest einem intensiven Nachdenken über ihre eigene Praxis haben, um sie mit Sinn und Bedeutung zu erfüllen, ist nachvollziehbar. Was aber darüber hinaus können geneigte Zeitungsleser*innen aus derlei Betrachtungen ziehen? Die Kunstgeschichte ist voll von gelehrten Interpretationen, die sich in selbstverliebtem Eskapismus eingerichtet haben. Überzeugte Beschwörungen einer Politik der Kunst sind oft nicht viel überzeugender. Und auch die »Militant Joy«, »alles zu können und alles zu dürfen«, wie es die Verfechter*innen einer rigorosen Kunstfreiheit einklagen, ist Symptom eines gekränkten Liberalismus. Warum sich dann noch intensiver der Kunstberatung widmen? Vielleicht dann doch, um nicht kirre zu werden in dieser verrückten Welt. Oder auch um das Zaudern zu üben: »um Situationen und Umstände« zu erfahren, »die deshalb zeichenhaft werden, weil in ihnen das Tun wie dessen Weltbezug wenigstens für Augenblicke problematisch geworden sind«, wie Joseph Vogl schreibt. Vielleicht hilft es, das eigene Wahrnehmungs- und Empfindungsvermögen weiter zu sensibilisieren, um dem postfaktischen Zynismus ringsherum zu begegnen. Faulhabers Malerei bietet die Möglichkeit, der kapitalistischen Zweckrationalität zumindest für einige Momente zu entkommen. Das kann nicht alles sein, ist aber auch nicht nichts.
Thorsten Schneider
Bei Gritli Faulhaber steht kein Bild für sich allein, alles schießt über sich hinaus, verlangt nach mehr Wissen und Erfahrungen. Ihre Malerei setzt sich über die Widersprüche hinweg. Fordern ohne zu belehren.
Malerei
Feuilleton
Kultur Gritli Faulhaber
2025-05-27T17:50:13+0200
2025-05-27T17:50:13+0200
2025-05-31T01:14:44+0200
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Blatters Ende im Fußball ist nah
Mit einem dicken Pflaster unter dem rechten Auge betrat Joseph Blatter zum vielleicht letzten Mal die FIFA-Zentrale. Nach einer Gesichtsoperation auch äußerlich angeschlagen stellte sich der suspendierte Präsident am Donnerstag der entscheidenden Vernehmung durch die Ethikhüter des Fußball-Weltverbands. Mit seiner Aussage vor dem deutschen Richter Hans-Joachim Eckert wollte der 79-Jährige doch noch die endgültige Verbannung aus dem Fußball abwenden. »Ich spüre, dass sich alles gut entwickelt«, hatte Blatter zuvor beteuert. Pünktlich zur Anhörung des FIFA-Chefs hing an den Züricher Kiosken die jüngste Ausgabe der »Weltwoche«, die auf dem Titel ausgerechnet den skandalumwitterten Blatter zum »Schweizer des Jahres« erklärte. Als »unermüdlichen und bewundernswerten Fußballkämpfer für eine bessere Welt«, wie ihn das konservative Blatt umschmeichelte, sieht Blatter sich auch selbst noch immer. »Eigentlich müsste man mir ein Diplom überr... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Christian Hollmann, Zürich
»Schweizer des Jahres«, Nobelpreiskandidat - Joseph Blatter begleiteten am Donnerstag viele Schmeicheleien zur Vernehmung vor der FIFA-Ethikkommission. Trotzdem könnte er aus dem Fußball verbannt werden.
Ethik, FIFA, Fußball, Schweiz
Sport
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Leben mit Gewalt und Zerstörung
Damaskus, Mitte November 2012. Früh legt sich der Abend über die syrische Hauptstadt. Die Menschen eilen zu einem der vielen Busbahnhöfe oder versuchen ein Taxi zu bekommen. Vom Bab Sharki, dem Osttor der Damaszener Altstadt, fließt der Verkehr in die südlichen und westlichen Viertel - sofern die Zugangsstraßen wegen der Kämpfe zwischen bewaffneten Gruppen und der syrischen Armee nicht gesperrt sind. Östlich der Khalil-Straße liegt das Viertel Al-Ihda'a Shariyeh, ein Labyrinth von Gassen und Wegen, dicht bebaut mit Werkstätten, Hütten und Häusern. Irgendwo hier tritt der Fluss Barada wieder an die Oberfläche. Der Barada durchfließt Damaskus von Westen nach Osten in sieben Nebenströmen und wässert die Ghota, das Land, das einst Obst- und Gemüsekorb und ein prächtiger Park der stolzen Oasenstadt war. Heute ist es weitgehend zugebaut, riesige Satellitenstädte beherbergen Millionen Menschen. Ein nahe der Khalil-Straße liegendes Café ist beliebter Treffpunkt für Arbeiter und Kunden aus dem einst geschäftigen Industrieviertel. Geheimnisvoll leuchtet ein in den Farben des Regenbogens angestrahlter Turm in den Nachthimmel, um Gäste anzulocken. Die aber bleiben aus, die meisten Werkstätten und Fabriken liegen verlassen. Zu unsicher ist es in Al-Ihda'a Shariyeh geworden, seit bewaffnete Aufständische im Schutz des Straßengewirrs vorrücken, um Waffen zu deponieren, Fahrzeuge mit Sprengstoff auszurüsten oder Angriffe zu starten. Bei einer Taxifahrt steuert der Fahrer den Wagen ruhig durch den Stau, ein kalter Luftzug weht durch die Fenster. Die Rückscheibe fehlt, eine notdürftig befestigte Plastikplane soll die Kunden vor dem Fahrtwind schützen. Die Frontscheibe auf der Beifahrerseite ist zersprungen, die Risse verzerren die Sicht auf die Straße. Er sei in der Ghota in eine Schießerei geraten, als er Kunden mit dem Taxi nach Hause bringen wollte, erklärt der Fahrer. Im Rif, dem Umland von Damaskus, sei es gefährlich geworden, viele schlechte Menschen seien unterwegs. »Sie stoppen Dich, um Dir das Geld oder das Auto zu stehlen«, sagt der Mann. »Wenn Du nicht tust, was die sagen, bist Du schnell tot.« Friedensaktivisten werden mit dem Tod bedroht Im Osten und Süden von Damaskus herrscht heute Gewalt und Tod. Bewaffnete Aufständische haben unter den unzufriedenen Bewohnern der Satellitenstädte in der Ghota guten Nährboden gefunden. Nach anfänglichen Demonstrationen und Protesten zogen die Sicherheitskräfte ein und begegneten den Unzufriedenen mit gewaltsamer Unterdrückung, viele Menschen starben, verschwanden oder wurden verhaftet. Rufe nach gewaltlosem Widerstand und dem Aufbau einer politischen Opposition wurden als »Verrat« beschimpft. Wer sich wie Mohamed Sheikhan in einer der politischen Oppositionsgruppen engagiert, wird häufig von staatlichen Sicherheitskräften wie auch von den bewaffneten Gruppen bedroht. Bei einem Treffen mit Freunden wirbt der junge Mann enthusiastisch für die Bewegung »Den Syrischen Staat aufbauen«, der er sich Anfang 2012 angeschlossen hat. Vernetzung, Bildung, Hilfe für die Inlandsflüchtlinge leisteten sie, wichtig sei die absolute Gewaltfreiheit. »Von Gewalt haben wir hier in Syrien schon viel zu viel«, ist Mohamed Sheikhan überzeugt. Dann zieht er sein Handy heraus und zeigt Kurznachrichten, die Unbekannte ihm schickten. »Sieht aus, als seist Du ein Dickkopf. Kein Problem, wir werden ihn bald abschneiden. F.S.A.« Das Kürzel steht für »Freie Syrische Armee«. »Es sei zu viel Blut geflossen«, halten Anhänger der »Freien Syrischen Armee« dem Prinzip der Gewaltlosigkeit entgegen. Doch die Mehrheit der syrischen Bevölkerung heißt die Bewaffneten nicht willkommen. Im Damaszener Stadtteil Rukn'Eddin, der mehrheitlich von Kurden bewohnt wird, haben Ältestenräte mehrmals dafür gesorgt, dass Bewaffnete unter den Einwohnern nicht Fuß fassen konnten, so hielten sie auch Armee und Sicherheitskräfte auf Distanz. Doch immer wieder versuchen Werber der »Freien Armee« junge, arbeitslose Männer zu überreden, Geld und Waffen anzunehmen, um in den »Heiligen Krieg« zu ziehen. »Wir sind arme Leute. Was wollen die von uns?«, empört sich Hannan, ein Hotelangestellter und Straßenverkäufer, der seine Frau, einen Sohn und drei Töchter ernähren muss. Über Demokratie und Freiheit würden vor allem Politiker aus Europa, den USA und den Golfstaaten reden. Und Oppositionelle, die im Westen, in den Fünf-Sterne-Hotels am Golf oder in der Türkei eine sichere Basis gefunden hätten. »Seit diese ›Freie Armee‹ hier aufgetaucht ist, geht es Syrien immer schlechter«, sagt Hannan. »Wir haben keine Arbeit mehr, kein Brot und kein Leben!« Am nächsten Morgen auf dem Weg in die Vorstädte ist eines der ärmeren Viertel, Hay Suhar, für den Durchgangsverkehr gesperrt. Ein ausgebranntes Taxi steht quer auf einer Kreuzung. Am Vorabend war es in die Luft geflogen, fern gezündet von unbekannten Attentätern. Nahe der Ringstraße liegt ein Rohbau in Trümmern. So sehe es nach einem Luftangriff aus, sagt der Fahrer. Ein Kampfjet der syrischen Luftwaffe, die seit Mitte Oktober im Osten und Süden der Hauptstadt Angriffe fliegt, dürfte das Gebäude zerstört haben. Das direkt daneben liegende Wohnhaus ist völlig intakt. Die Zufahrt zur Ringstraße ist durch die Trümmer des Gebäudes versperrt. Drei Frauen stapfen mit stoischer Ruhe durch den Steinhaufen. Auch die Zufahrt nach Tadamoun ist gesperrt. Soldaten kontrollieren die Fahrzeuge. »Was haben Sie denn in den Kartons?«, will einer wissen. »Handwerkssachen«, antwortet die Begleiterin. »Na, so lange Sie keine Altertümer davon tragen«, sagt der Soldat lachend und fügt hinzu: »Hier können sie leider nicht durchfahren«. Schüsse pfeifen über die Dächer von Tadamoun. »Besser wir kehren um«, meint der Fahrer und wechselt mit quietschenden Reifen die Fahrspur. Einwohner, die aus Tadamoun geflohen sind, berichten, dass die bewaffneten Aufständischen sie aus ihren Wohnungen drängen. Möbel werfen sie auf die Straßen und richten in Fenstern und auf Balkonen Schießstände ein. Auch Aischa musste mit Eltern und Schwestern ihre Wohnung in Tadamoun verlassen. Zuflucht hat sie in der Werkstatt von ANAT gefunden, wo sie als Stickerin gearbeitet hat. Das 1988 von der Deutschen Heike Weber gegründete Projekt gab landesweit mehr als 1000 Frauen Arbeit im traditionellen Stickereihandwerk. Trümmer zerbombter Häuser auf den Straßen Der Abzug internationaler Botschaften und Organisationen aus Damaskus im Frühjahr 2011 und die Wirtschaftssanktionen der EU und USA brachten den Verkauf zum Erliegen. Wegen Kämpfen in den Provinzen Idlib und Aleppo mussten bereits Werkstätten geschlossen werden, auch in Damaskus wird nun nicht mehr gearbeitet. Allein die Drusinnen Maha und Suheila in Khil Khila (Provinz Sweida) erhalten ab und zu einen Auftrag von Heike Weber. Bisher ist Sweida von Gewalt und Kämpfen verschont geblieben, doch wurden schon andere Volks- und Religionsgruppen wie die Tscherkessen auf dem Golan, die Christen in Homs und Aleppo, die Kurden im Norden Syriens in einen Konflikt gezogen, den sie ablehnen. Nach der französischen Mandatszeit schworen die Drusen »nie gegen die syrische Armee und nie gegen das syrische Volk« in den Krieg zu ziehen. »Möge Gott dem Volk Syriens helfen, diesen Konflikt zu überwinden«, sagt Suheila. In Damaskus hat inzwischen der Herbst Einzug gehalten. Es ist kühl und regnerisch. Der Berg des Scheichs (Hermon), der sich auf dem Golan erhebt und an klaren Tagen von Damaskus gut zu sehen ist, hat über Nacht eine weiße Kopfbedeckung erhalten. »Wenigstens scheinen wir guten Regen in diesem Jahr zu bekommen«, sagt Nabil, ein Agraringenieur, der auf dem Golan zu Hause ist. »Syrien braucht den Regen, um sich ernähren zu können. Und vielleicht gibt es in diesem Winter so viel Regen und Schnee, dass das Land von all dem Leid der letzten zwei Jahre rein gewaschen wird.« nd-Karte: W. Wegener
Karin Leukefeld, Damaskus
In vielen Teilen der Hauptstadt Syriens leben die Menschen in der Angst, zwischen die Fronten der »Freien Syrischen Armee« und der Luftangriffe der Regierungstruppen zu geraten.
Arabische Umbrüche, Bürgerkrieg, Krieg, Syrien
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Demonstrationen gegen CETA in Europa
Paris. In mehreren europäischen Ländern haben am Samstag tausende Menschen gegen das umstrittene Freihandelsabkommen zwischen der EU und Kanada (CETA) demonstriert. »Die europäischen Regierungen müssen heute die Ablehnung ihrer Bevölkerungen hören«, erklärte die Anti-Globalisierungsbewegung Attac. In Spaniens Hauptstadt Madrid demonstrierten mehrere tausend Menschen. Viele von ihnen riefen mit Blick auf das mit den USA geplante Freihandelsabkommen: »Nein zu Armut, Ungleichheit und zu TTIP«. In der französischen Hauptstadt Paris gingen nach Polizeiangaben etwa 1200 Menschen auf die Straße, die Organisatoren sprachen von 5000. Auch in den französischen Städten Lyon und Toulouse gab es Proteste. In Warschau versammelten sich etwa tausend Menschen gegen CETA und TTIP, in Krakau einige hundert. Die Aktivisten kritisieren, dass derartige Handelsabkommen nur großen Unternehmen und nicht den Bürgern nützten. AFP/nd
Redaktion nd-aktuell.de
CETA, Frankreich, Freihandel, Spanien, TTIP
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Von Ahlhaus erfolgreich becirct
Die Hamburger Grünen-Spitze konnte ihre mittlerweile handzahme Basis bei der Entscheidung über Schwarz-Grün auf Kurs halten – obwohl die Partei als großer Verlierer dasteht. Sie hat weder das Kohlekraftwerk Moorburg noch die geplante Elbvertiefung verhindert. Das sündhaft teure Prestigeprojekt Stadtbahn ist nicht in Sicht und die Schulreform mit Pauken und Trompeten untergegangen – nicht zuletzt aufgrund mangelhafter Unterstützung durch den Koalitionspartner. Der GAL droht, am Ende nicht viel mehr an grünen Forderungen durchgesetzt zu haben als das Hissen der Regenbogenfahne am Christopher Street Day – vor einem Rathaus, in dem bis gestern ein schwuler Bürgermeister residiert hat. Die Grüne Jugend allerdings will den endgültigen Profilverlust abwenden: Mit der Nichteinlösung wesentlicher Punkte des GAL-Wahlprogramms sei »eine Schwelle überschritten worden, die Neuwahlen unerlässlich macht«, heißt es in einem Positionsp... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Susann Witt-Stahl
Die Fortsetzung der schwarz-grünen Koalition ist seit der Landesmitgliederversammlung der Grün-Alternativen Liste (GAL) am Sonntag beschlossene Sache. Allein die Grüne Jugend will sich nicht recht damit abfinden.
CDU, Christoph Ahlhaus, Die Grünen, Hamburg
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Wie in Polen die Angst verwaltet wird
Am 11. Februar durfte Mariusz Trynkiewicz die Strafanstalt in Rzeszów verlassen. Erst am 3. März soll das Gericht über den Antrag der Gefängnisdirektion befinden, ob der Sexualstraftäter, der nach ihrer Ansicht eine Bedrohung für die Gesellschaft darstellt, in der für »solche« Täter eingerichteten Psychiatrie in Gostynin isoliert wird. Inzwischen steht Trynkiewicz - entgegen einer Klage seines Rechtsvertreters - unter scharfer Kontrolle. Innenminister Jakub Sienkiewicz informierte die Nation darüber, dass 25 Polizisten jeden Schritt des Mannes überwachen. Sie beschützten nicht nur die Gesellschaft vor der »Bestie aus Piotrkow«, sagte der Minister, sondern auch Trynkiewicz selbst. Er war 1989 wegen vierfachen Kindermordes zum Tode verurteilt worden, kam jedoch mit dem Leben davon, weil die Regierung Mieczyslaw Rakowskis 1988 ein Moratorium für die Vollstreckung der Todesstrafe beschlossen hatte. Durch das seit 1997 geltende neu... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Julian Bartosz, Wroclaw
Nach 25-jähriger Haft wurde in Polen ein vierfacher Kindermörder auf freien Fuß gesetzt. Der »Fall Trynkiewicz« erregt die Öffentlichkeit seither aufs heftigste.
Polen, Rechtsstaat
Politik & Ökonomie
Politik
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Maroder U-Bahn-Tunnel am Alexanderplatz in Berlin
»Der Waisentunnel ist von existenzieller Bedeutung für die Berliner U-Bahn«, heißt es von den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) auf nd-Anfrage. Der Tunnel wird nicht im Fahrgastbetrieb befahren, ist aber die einzige Gleisverbindung der U5 mit dem restlichen Gleisnetz des sogenannten Großprofils, zu denen auch U6 bis U9 gehören. Er zweigt bei der Jannowitzbrücke von der U8 ab und trifft zwischen Alexanderplatz und Rotes Rathaus auf die U5. Seit 2018 ist er gesperrt. Er ist im Bereich der rund 200 Meter langen Flussquerung so marode, dass ein Durchbruch der Spree droht. Die Strecke ist ein Relikt der ursprünglich angedachten Führung der U8, gebaut worden ist er während des Ersten Weltkriegs, bevor das damals vom Elektrokonzern AEG vorangetriebene Projekt abgebrochen worden ist. Ganz dicht war der in Notzeiten gebaute Tunnel nie, sämtliche Sanierungsversuche blieben letztlich erfolglos. Für die BVG ist die fehlende Verbindung ein ernsthaftes Problem. Denn mit der U5 ist auch deren Betriebswerkstatt Friedrichsfelde vom Restnetz abgeschnitten. Bis zur Sperrung war sie auch für die Züge von U8 und U9 zuständig – rund die Hälfte des Großprofilnetzes. Die tägliche Wartung für U6 und U7 wurde in der Betriebswerkstatt Britz erledigt. Seit vielen Jahren erstickt man in Britz, das nun für 82 Prozent des Wagenparks verantwortlich ist, in Arbeit, während die Hallen in Friedrichsfelde halbleer sind. Überführungen zwischen den einzelnen Netzteilen müssen aufwendig mit vier Wochen Vorlaufzeit per Tieflader über die Straße erfolgen. Das bekamen auch immer wieder Fahrgäste zu spüren. Beispielsweise 2022, als wegen eines Serienschadens der ausschließlich auf der U5 eingesetzten Baureihe IK17 von einem Tag auf den anderen elf Züge abgestellt werden mussten. Über Wochen gab es einen massiven Fahrzeugmangel auf der Linie, auch weil eine schnelle Überführung von anderen Linien unmöglich ist. nd.Muckefuck ist unser Newsletter für Berlin am Morgen. Wir gehen wach durch die Stadt, sind vor Ort bei Entscheidungen zu Stadtpolitik – aber immer auch bei den Menschen, die diese betreffen. Muckefuck ist eine Kaffeelänge Berlin – ungefiltert und links. Jetzt anmelden und immer wissen, worum gestritten werden muss. Auch die Senatsmobilitätsverwaltung bestätigt in einem aktuellen Bericht an den Hauptausschuss des Abgeordnetenhauses, dass ein Ersatzneubau »alternativlos erforderlich« sei. Nach langem Zögern hatte der BVG-Aufsichtsrat im Juni 2022 die Genehmigung zur Umsetzung erteilt. Derzeit läuft das Planfeststellungsverfahren. Ein halbes Jahr nach Planfeststellungsbeschluss könnten die Bauarbeiten starten, heißt es von der BVG. Vier Jahre würden Abriss und Neubau dauern, schätzt man. Mit Stand 2021 schätzt die BVG die Baukosten auf 55,5 Millionen Euro. Doch es gibt erhebliche Hürden. Einerseits hat das zuständige Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt Spree-Havel offenbar erhebliche Bedenken. Es seien in der Folge »zahlreiche vertiefende Berechnungen hinsichtlich Schiffbarkeit und Hydraulik«, insbesondere für den Fall eines hundertjährigen Hochwassers durchgeführt, heißt es in der Ausschussunterlage. Doch bis heute seien die »Konflikte zwischen den Verfahrensbeteiligten noch nicht behoben«. Außerdem gibt es ein politisches Problem. »Mich überzeugt ein automatischer Neubau des Waisentunnels unter der Spree noch nicht. Alternativen wurden meines Erachtens unzureichend geprüft«, sagt SPD-Haushaltspolitiker Sven Heinemann zu »nd«. Er halte die bisher genannten Kosten für »Augenwischerei«. Außerdem kämen noch langfristig »hohe Instandhaltungskosten« bei einem Tunnel unter der Spree hinzu. Als Alternativen schweben Heinemann zum Beispiel eine Verlängerung der U5 vom Hauptbahnhof zum Bahnhof Turmstraße der U9 mit dortiger Gleisverbindung vor oder eine Anbindung der Werkstatt Britz durch eine kurze Verlängerung eines Eisenbahn-Gütergleises. Die U5 hat bereits in Wuhletal eine direkte Bahnanbindung. Doch bereits Anfang 2022 hieß es in der Antwort auf eine Schriftliche Anfrage des Linke-Verkehrspolitikers Kristian Ronneburg zu diesen und weiteren Überlegungen, es seien »keine weiteren Alternativen für eine neue Anbindung der U5 an das U-Bahnnetz ersichtlich, die sich gegenüber dem Waisentunnel aus bautechnischen und wirtschaftlichen Gründen vorteilhaft erweisen könnten«. »Wenn Abriss und Neubau nun politisch aus Kostengründen nicht erwünscht sind, sollten CDU und SPD schleunigst Klarheit darüber herstellen, wie sie das Problem lösen möchten«, sagt Kristian Ronneburg. »Das Thema immer wieder aufzuwärmen macht so keinen Sinn. Je länger es dauert, desto teurer wird es«, so der Linke-Politiker weiter. Der Waisentunnel spielt in den Planungen für die U-Bahn-Zukunft eine wichtige Rolle. Denn U5 und U8 sollen als erste Linien in den nächsten Jahren auf das zeitgemäße Signalsystem CBTC umgestellt werden, bei dem Zug und Streckenausrüstung permanent Daten austauschen. Um eine teure Doppelausrüstung mit Alttechnik zu vermeiden, müssten die entsprechenden Züge alle in Friedrichsfelde stationiert werden. Die neue Signaltechnik kann nur eingeführt werden, weil die historisch größte Bestellung neuer Züge für die U-Bahn im Lauf der nächsten Jahre ausgeliefert werden soll. Dafür müssen die Werkstätten modernisiert und erweitert werden. Die bisher dafür ausgearbeiteten Pläne wären ohne Waisentunnel ebenfalls Makulatur. Eines hängt im U-Bahnnetz am anderen.
Nicolas Šustr
Der Waisentunnel am Alexanderplatz ist nur ein Betriebsgleis ohne Linienverkehr. Dass der marode Bau seit 2018 gesperrt ist, bekommen Fahrgäste jedoch immer wieder zu spüren. Politisch ist ein Neubau trotzdem umstritten.
Bahnverkehr, Berlin, BVG
Hauptstadtregion
Berlin Verkehr
2024-02-14T15:20:08+0100
2024-02-14T15:20:08+0100
2024-02-20T11:59:55+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1180005.maroder-u-bahn-tunnel-am-alexanderplatz-in-berlin.html
Paris: Warnungen vor »weichgespültem« Klimavertrag
Berlin. Nun liegt der neue Verhandlungstext für ein weltweites Klima-Abkommen in Paris vor. Doch während von Regierungen zu hören ist, damit sei man dem Ziel einen Schritt näher gekommen, sind Umweltverbände frustriert: Der bisherige Stand reiche keineswegs aus, um die nötige globale Kurskorrektur einzuleiten. Die Vorlage enthält zwar mehr ehrgeizige Ziele als frühere Entwürfe, die Entscheidung darüber bleibt aber ausdrücklich den weiteren Verhandlungen überlassen. Unter anderem ist noch nicht geklärt, ob die Erderwärmung auf »unter 2 Grad«, »deutlich unter 2 Grad« oder »unter 1,5 Grad« begrenzt werden soll. Auch die Frage, welche Staaten wie viel Geld für Klimaschutz in den Entwicklungsländern bereitstellen sollen und wer für »Verluste und Schäden« durch den Klimawandel aufkommt, ist noch offen. Frankreichs Außenminister Laurent Fabius sagte, der neue, von mehr als 40 auf 29 Seiten verkürzte Text solle den politischen Entsch... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Nun liegt der neue Verhandlungstext für ein weltweites Klima-Abkommen in Paris vor. Umweltverbände sind frustriert: Der bisherige Stand reiche keineswegs aus, um die nötige globale Kurskorrektur einzuleiten.
Frankreich, Klima, Klimakonferenz, Klimaschutz, Paris, Umwelt
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt
https://www.nd-aktuell.de//artikel/994234.paris-warnungen-vor-weichgespueltem-klimavertrag.html
Immer mehr Ältere haben Minijobs
Berlin. Immer mehr Rentner arbeiten in Deutschland in Minijobs. Im März 2015 waren es bundesweit knapp 904 000. Das sind deutlich mehr als 2003, als knapp 533 000 Über-65-Jährige geringfügig beschäftigt waren. Dies geht aus der Antwort der Bundesagentur für Arbeit auf eine Anfrage der LINKEN-Bundestagsabgeordneten Sabine Zimmermann hervor, die »nd« vorliegt. Wie die Statistik weiter zeigt, nahm die Zahl über die Jahre stetig zu. Die Branche mit den meisten Minijobbern über 65 Jahre ist mit 154 000 der Handel. Minijo... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
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900 000 Rentner derzeit geringfügig beschäftigt
Minijob, Renten
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt
https://www.nd-aktuell.de//artikel/988360.immer-mehr-aeltere-haben-minijobs.html
Niemand muss geräumt werden
Dennoch haben die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die genau wissen, was ihnen die Freiräume bedeuten, für die Spießer und Konservative nur abschätzige Kommentare übrig haben, nicht aufgegeben. Sie haben sich Verbündete gesucht und sich nicht unterkriegen lassen, trotz des machtvollen Gehabes von Bezirkspolitikern. Sie wollten sich nicht ausspielen lassen gegen andere Menschen in anderen Frei- und Kulturräumen, die immer rarer werden – zumindest die, in den es nicht vorrangig um Geld geht, sondern um die Musik und die alternativen Lebensweisen, mit denen Berlin sich Jahrzehnte lang selbst beworben hat. Um Geld ging es am Ende auch bei der »Potse«, denn der Verein musste eine Art Pfand hinterlegen, dass er auch wirklich aus den seit 2019 besetzten Räumlichkeiten auszieht. Dafür wurde Geld gesammelt, dass für viele Jugendliche sehr viel ist – und oben genannten Politikern mit entsprechendem Sälar nur ein müdes Lächeln wert sein dürfte. Es ist umso begrüßenswerter, dass sich die Berliner Linkspartei in das Geschehen eingemischt hat. Am Ende aber zeigt es nur: Niemand muss geräumt werden. Diese Stadt kann und muss lebenswert für alle sein und vor allem denen Freiräume ermöglichen, die damit nicht qua Geburt und Kontostand der Eltern ausgestattet sind. Dafür kämpfen zum Glück auch die »Potse«-Kids – und nicht nur für sich selbst.
Claudia Krieg
Die jugendlichen und jungen Erwachsenen, die genau wissen, was ihnen die Freiräume bedeuten, für die Spießer und Konservative nur abschätzige Kommentare übrig haben, haben nicht aufgegeben.
Berlin, Potse
Meinung
Kommentare Jugendzentrum Potse
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1152094.niemand-muss-geraeumt-werden.html
Petition gegen Humboldt-Forum-Fassade
In einer Bundestagspetition fordern Kulturschaffende einen anderen Umgang mit der rekonstruierten Schlossfassade des Humboldt-Forums in Berlin. Die Unterzeichner beabsichtigen, »die einseitige Preußenverherrlichung zu beenden, indem ausgelöschte Spuren der Geschichte des Ortes wieder veranschaulicht« werden. So heißt es in einer Mitteilung der Initiatoren, darunter Journalisten, Historiker und Architekten. Die Architektur der Fassade formuliere ein gesellschaftliches Selbstbild, das sich ungebrochen auf Preußen und das Deutsche Kaiserreich bis 1918 beziehe, so die Mitteilung. Dies sei gerade in Zeiten eines erstarkenden Rechtsradikalismus fatal. Der Bau habe die Spuren »an die deutsche Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts im Straßenraum ausradiert und durch eine idealisierte Deckerinnerung an eine imperialistische Monarchie abgelöst«, schreibt die Initiative »Schlossaneignung«. Die Petition war laut Angaben einer Sprecherin bereits im April erstellt worden und wurde jetzt zugelassen. Bis zum 7. November kann sie unterschrieben werden. In den sozialen Medien rief unter anderem der Schriftsteller Max Czollek zur Unterstützung auf. Die Petition fordert das Humboldt-Forum auch zur Aufklärung nach Zuschüssen durch rechte Spender auf. Die Rekonstruktion der Barock-Fassade des Ausstellungs- und Kulturzentrums war mit mehr als 100 Millionen Euro aus privaten Spenden finanziert worden. Die Stiftung Humboldt-Forum teilte mit, die Vorgängerbauten an mehreren Standorten in dem Gebäude zu thematisieren. »Diverse Kunstwerke, die im Ergebnis der Kunst-am-Bau-Wettbewerbe entstanden, setzen sich ebenfalls differenziert mit der Geschichte des Ortes auseinander«, heißt es in einer Stellungnahme. Zu Spenden aus umstrittenen Quellen teilte die Stiftung mit, dass sie vor zwei Jahren ihre Spendenrichtlinie überarbeitet habe. Die Stiftung nehme keine anonymen Spenden mehr an und behalte sich vor, im Einzelfall zu prüfen, ob Spender im Einklang mit den in der Spendenrichtlinie festgelegten Werten stehen. dpa/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Die rekonstruierte Fassade des Berliner Stadtschlosses ist umstritten. Nun fordert eine Petition Kunstschaffender den Bundestag zur Umgestaltung auf und will historische Spuren sichtbar machen.
Berlin
Hauptstadtregion
Berlin »Preußenverherrlichung«
2024-10-01T17:45:01+0200
2024-10-01T17:45:01+0200
2025-04-28T11:07:33+0200
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1185693.preussenverherrlichung-petition-gegen-humboldt-forum-fassade.html
CSU trifft sich im Kloster
Die CSU-Landesgruppe im Bundestag kam am Mittwoch im oberbayerischen Andechs zu einer eintägigen Klausurtagung zusammen, die unter anderem im Schatten des Landtagswahlkampfes in Bayern steht. Dort wird Anfang Oktober gewählt. An der Klausur nahmen auch CSU-Chef Markus Söder und der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz teil. Führende Vertreter der Union griffen zuletzt immer wieder betont scharf die Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP an. Schon vor der Klausur, die in einem Kloster stattfand, kam es erneut zu Anfeindungen in Richtung Ampel und insbesondere gegen die Grünen. Der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe Alexander Dobrindt betonte in einem Interview mit dem Deutschlandfunk, dass die CSU eine Koalition mit den Grünen in Bayern grundsätzlich ablehne. Die CSU habe mit den Freien Wählern in Bayern »eine erfolgreiche Koalition, und die wollen wir auch weiterführen«, sagte er in dem Interview. Die Grünen seien hingegen in der Ampel-Koalition im Bund maßgeblich für die negative Entwicklung in Deutschland verantwortlich. »Die Ampel ist die Koalition der großen Respektlosigkeit. Wir wollen dieser Respektlos-Ampel unsere Respekt-Agenda entgegensetzen«, so der CSU-Politiker. Auch in der Klimapolitik verfolge die Ampel aus Sicht des ehemaligen Verkehrsministers einen falschen Ansatz. Sie versuche mit negativem Wachstum das Klima zu retten. »Das Gegenteil wird aber der Fall sein. Klimaschutz macht man mit Technologie, nicht mit Verzicht.« Außerdem versuchte Dobrindt, seine Partei klar von der rechtsnationalistischen AfD abzugrenzen. »Die AfD ist ein harter politischer Gegner von uns«, sagte Dobrindt am Mittwoch im ARD-»Morgenmagazin«. Die Partei befinde sich »rechtsaußen« und wolle »ein anderes Deutschland«. Die AfD wolle jegliche Unterstützung für die von Russland angegriffene Ukraine einstellen, sagte Dobrindt. Jedem müsse klar sein, dass die Ukraine dann »überrollt« werden würde und sich dies dramatisch auf die Zahl der Schutzsuchenden hierzulande auswirken werde. »Wir werden nicht eine Million sondern zehn Millionen Flüchtlinge nach Deutschland bekommen.« Auch zum Vorstoß des CDU-Bundestagsabgeordneten Thorsten Frei äußerten sich Dobrindt und Markus Söder am Mittwoch. Frei hatte in einem Gastbeitrag in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« dafür plädiert, das Recht des einzelnen Menschen, auf europäischem Boden Asyl zu beantragen, abzuschaffen. Söder sagte bei einer Pressekonferenz während der Klausur, das sei ein »spannender Vorschlag«, fügte aber hinzu: »Ob er allerdings in der Kürze der Zeit umsetzbar ist und ob er tatsächlich die erwünschten Erträge bringt, das – glaube ich – steht noch offen.« Dobrindt betonte, der Vorschlag sei ein »Langfristprojekt«. Es gehe darum, wie man langfristig in Europa zu einem veränderten Asylsystem kommen könne. »Diese Diskussion gibt es. Und da hat Thorsten Frei einen wichtigen Beitrag dazu geleistet.« Die »Respekt-Agenda« der CSU sollte am Abend der Klausur (nach Redaktionsschluss) vorgestellt werden. Mit Agenturen Kommentar Seite 8
Pauline Jäckels
Am Mittwoch traf sich die CSU zur Sommerklausur, um für die Landtags­wahlen im Oktober ihr Profil zu schärfen und ihre neue »Respekt-Agenda« vorzustellen.
AfD, Asylpolitik, Bayern, CSU, Die Grünen, Flüchtlinge
Politik & Ökonomie
Politik Bayern
2023-07-19T17:41:08+0200
2023-07-19T17:41:08+0200
2023-07-20T13:00:13+0200
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1174881.csu-trifft-sich-im-kloster.html
Schluss mit der Obdachlosigkeit
Obdachlosigkeit ist in Berlin nicht zu übersehen. Jüngst sind mir zwei, drei Menschen aufgefallen, die ihre Betten auf dem »Prachtboulevard« Unter den Linden in Hauseingängen aufgeschlagen hatten. Notdürftige, unwürdige Schlafplätze bei dieser Kälte gibt es unter Brücken, in Hauseingängen oder in Ruinen. Im Hinterhof meines Hauses lebte in einer Art Schuppen einige Jahre ein Mann, der sein Geld mit eifrigem Flaschensammeln verdiente. Horst, wie ich ihn hier nennen möchte, war meistens bereits vor Sonnenaufgang unterwegs, um die Hinterlassenschaften der Nachtschwärmerinnen und Nachtschwärmer in unserem Kiez aufzulesen. Sein klappernder und klirrender Einkaufswagen war gegen 8 Uhr morgens, wenn andere zur Arbeit gingen, bereits randvoll mit Bier- und Pet-Flaschen gefüllt. Dass Horst im Hinterhof wohnte, wurde von den Nachbarinnen und Nachbarn unterstützt, auch die Hausverwaltung tolerierte es und wusste Bescheid. Ebenfalls durch deren solidarische Unterstützung hat Horst nun endlich eine Wohnung erhalten, er muss nicht mehr im Schuppen schlafen. Eine Wohnung zu bekommen ist der Schlüssel, um aus der Obdachlosigkeit, aber auch aus der noch verbreiteten Wohnungslosigkeit zu gelangen. Denn in Berlin leben ja nicht nur einige Tausend Menschen auf der Straße, sondern auch Zehntausende in Heimen und Gemeinschaftsunterkünften. Eigentlich hätten sie wie viele Geflüchtete beispielsweise nach Abschluss ihrer Asylverfahren Anspruch auf eine Wohnung. Nur finden die zuständigen Bezirke keine, weil der Markt so angespannt ist. Die immer weiter steigenden Mieten für neue Wohnungen dürften dieses Problem verschärfen. Das hatte bereits der letzte Senat erkannt, der einiges an Maßnahmen in die Wege leitete, um diese sozialen Missstände abzustellen. Nicht zuletzt mit dem Pilotprojekt »Housing First« wurde gezeigt, wie sinnvoll es ist, Menschen ohne Vorbedingungen erst mal ein Zuhause zur Verfügung zu stellen. Das Ziel, Obdach- und Wohnungslosigkeit bis 2030 zu beenden, wird nur zu erreichen sein, wenn wie bei Horst Behörden und solidarische Nachbarinnen und Nachbarn zusammen an einem Strang ziehen. Es ist eine Gemeinschaftsaufgabe, die es anzupacken gilt.
Martin Kröger
Eine Wohnung zu bekommen ist der Schlüssel, um aus der Obdachlosigkeit, aber auch aus der noch verbreiteten Wohnungslosigkeit zu gelangen. Denn in Berlin leben ja nicht nur einige Tausend Menschen auf der Straße, sondern auch Zehntausende in Heimen und Gemeinschaftsunterkünften.
Berlin, Elke Breitenbach, Katja Kipping, Obdachlosigkeit, Wohnen, Wohnungslosigkeit
Meinung
Kommentare Beendigung der Wohnungslosigkeit in Berlin bis 2030
2022-01-24T16:53:00+0100
2022-01-24T16:53:00+0100
2023-01-20T19:29:23+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1160716.schluss-mit-der-obdachlosigkeit.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
Betreiber kriegen Suezkanal nicht voll
Kairo. Ein Jahr nach der Erweiterung des Suezkanals ist das Milliardenprojekt einem Experten zufolge nicht die erhoffte Erfolgsgeschichte. »Die Versprechungen waren, was den zeitlichen Horizont angeht, sicher übertrieben«, sagte Schifffahrtsexperte Ulrich Malchow von der Hochschule Bremen. Das am 6. August 2015 eröffnete Großprojekt soll staatlichen Angaben zufolge mittelfristig seine Einnahmen verdoppeln. In den ersten zwölf Monaten stagnierte die Entwicklung der bedeutenden Wasserstraße aber bestenfalls. Dies liegt Malchow zufolge auch am konkurrierenden Panamakanal, der ebenfalls gerade erst erweitert wurde. dpa/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Krieg
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Nein sagen ist lebensgefährlich
Männliche Egos zu kränken ist für Frauen lebensgefährlich. Frauenmorde sind ein strukturelles Problem und wir müssen dringend anfangen, es so zu behandeln - auch in Deutschland. In Göttingen übergoss ein Mann vergangenen Donnerstag auf offener Straße eine Bekannte mit Brandbeschleuniger und zündete sie an. Eine Frau, die ihr zur Hilfe kam, stach Frank N. nieder. Er hatte sich laut Ermittler von der Bekanntschaft »mehr erhofft«. Die Tat ist kein tragischer Einzelfall. In Deutschland werden keine separaten Statistiken zu Frauenmorden geführt, doch laut Bundeskriminalamt versucht jeden Tag ein Partner oder Expartner, eine Frau umzubringen. Im Jahr 2017 wurden laut einer UN-Studie weltweit 50.000 Frauen von Partnern oder Familienangehörigen getötet, die Zahlen steigen. In Ländern wie Mexiko, Argentinien oder Spanien werden Femizide längst als das strukturelle Problem erkannt, das sie sind und entsprechend skandalisiert und bekämpft. In Deutschland bleiben solche Fälle dagegen oft genug unter dem Titel »Familiendrama« in den Randspalten der Regionalzeitungen. Als Gründe für Femizide nennt die UN-Studie Eifersucht, Angst, verlassen zu werden und den Wunsch, Frauen zu kontrollieren. Auch Frank N. fühlte sich offenbar zurückgewiesen. Wir müssen als Gesellschaft unser Männlichkeitsbild verändern - damit nein sagen aufhört, lebensgefährlich zu sein.
Lou Zucker
Lou Zucker über den Frauenmord in Göttingen - und unser Männlichkeitsbild
Feminismus, Femizid
Meinung
Kommentare Femizide
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Trump schottet aggressiv ab
Erneut musste Angela Merkel im Wahlkampf des Donald Trump als Schreckgespenst herhalten. Der republikanische Präsidentschaftskandidat präsentierte in Youngstown seine Strategie im Kampf gegen Terrorismus - und warf seiner demokratischen Konkurrentin vor, sie wolle die USA für Terroristen aus dem Ausland öffnen und verwundbar machen. Schlechtes Vorbild: Deutschland. Die Einwanderungspolitik dort habe die Sicherheitslage dramatisch verschlechtert. Und »Hillary Clinton will Amerikas Angela Merkel sein«, so Trumps Vorwurf. Für ihn ist klar: Weil viele der jüngsten Terrorattacken in den USA von Einwanderern oder ihren Kindern verübt wurden, seien für alle Migrante... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Olaf Standke
Anti-Terrorstrategie für Präsidentschaft präsentiert
Einwanderung, Islamismus, Terror, USA
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Politik
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AfD will Europas Rechte zusammenführen
Berlin. Die Rechtsaußen-Partei AfD will sich an die Spitze der europäischen Rechten stellen und diese zu mehr Kooperation bewegen. In einem Schreiben, das AfD-Vorstandsmitglieder an die Basis der Rechtsaußen-Partei sandten, heißt es: »Die AfD beschreitet keinen deutschen Sonderweg. Sie ist im Gegenteil Teil einer großen europäischen Bewegung.« Die Alternative für Deutschland wolle dazu beitragen, dass aus dem Stimmengewirr der Parteien, die s... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
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Die Rechtsaußen-Partei AfD will sich an die Spitze der europäischen Rechten stellen und diese zu mehr Kooperation bewegen. In einem Brief an die Parteibasis wirbt Frauke Petry für eine europäische Bewegung.
AfD, EU, Rechte, Rechtsextremismus, Rechtspopulismus
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»Der Konflikt zwischen nationaler und sozialer Frage ist zentral«
In Andalusien wollen die rechte Volkspartei (PP) und die neoliberale Partei Ciudadanos (Bürger) mithilfe von rechtsextremen Abgeordneten der VOX erstmals nach 36 Jahren sozialdemokratischer Herrschaft die Regierung bilden. In der mit 8,4 Millionen Menschen bevölkerungsreichsten Region kam VOX auf elf Prozent. Der Katalonien-Konflikt wird als ein Grund genannt, weshalb die extreme spanische Rechte im Aufwind ist. Zu Recht? Antonio Santamaría (AS): Für den Wahlerfolg der VOX in Andalusien ist der Katalonien-Konflikt die zentrale Ursache. Andalusien und Katalonien haben sehr viele Verbindungen. 2,5 Millionen Andalusier sind zwecks Arbeit in den 50er und 60er Jahren nach Katalonien migriert, weswegen bis heute viele verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Regionen bestehen. Man muss sich vor Augen halten, dass in Katalonien 7,4 Millionen Menschen leben, um die Dimension der andalusischen Migration einordnen zu können. Des... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Martin Ling
In Spanien ist 2019 eine weitere Polarisierung rund um den Katalonien-Konflikt in Sicht, was den Rechtstrend bei den Regionalwahlen in Spanien am 26. Mai befeuern könnte. Ein Ausweg könnte in der Konstruktion eines föderalen Spaniens bestehen.
Die Linke, Europäische Union, Italien, linke Parteien
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Amt oder Würde
Union, FDP, SPD und Grüne haben Joachim Gauck für die Bundespräsidentenwahl am 18. März nominiert. Die LINKE wurde als einzige im Bundestag vertretene Partei von vornherein von der Nachfolgesuche für den zurückgetretenen Christian Wulff ausgeschlossen. SPD und Grüne haben dies fraglos hingenommen. Thomas Oppermann, Fraktionsgeschäftsführer der SPD, meinte gleichwohl die LINKE rügen zu müssen, dass sie sich nicht brav gefügt, sondern mit Beate Klarsfeld eine eigene Kandidatin nominiert hat. Die LINKE hätte »über ihren Schatten springen« sollen, sagte Oppermann. Das stand den anderen zuvor auch frei. SPD und Grüne hätten Courage zeigen und Merkels Gesprächsangebot freundlich etwa so beantworten können: Gerne überlegen wir gemeinsam, aber - bei allen Differenzen - ohne Ausgrenzung mit allen Bundestagsfraktionen. Doch der eigene Schatten von SPD und Grünen ist zu groß und ihre Sprungkraft zu gering, um solches von ihnen zu erwarten. Nun also Beate Klarsfeld versus Joachim Gauck. Letzterem ist die Mehrheit der Bundesversammlung sicher. Für die öffentliche Debatte ist dennoch etwas gewonnen - oder nicht? »nd« fragte, was die Kandidatur von Beate Klarsfeld für die politische Kultur in Deutschland bedeutet. Beate Klarsfelds mutiger Protest gegen Nazis in Führungsgremien der Parteien wie auch im Staatsapparat der alten Bundesrepublik sowie ihr Engagement für eine Bestrafung von Naziverbrechern und Mördern war eine emanzipatorische Leistung und bleibt ein humanistisches Verdienst. Mit ihren spektakulären Aktionen hat sie den Opfern des Faschismus wieder eine Stimme gegeben. Ihre öffentliche Empörung hat kontroverse Debatten angestoßen, letztlich aber das Bewusstsein, Verantwortung für die Schandtaten des Naziregimes zu übernehmen, gestärkt und somit die Erinnerungs- und Gedenkkultur in der Bundesrepublik maßgeblich verändert. Mit ihrer Nominierung wird ihr antifaschistisches Lebenswerk gewürdigt und zugleich ein klares Zeichen gegen Rassismus, Antisemitismus und Neonazismus im 21. Jahrhundert gesetzt. Hans Coppi (69, Historiker, Sohn der von den Nazis ermordeten Widerstandskämpfer Hans und Hilde Coppi) Beate Klarsfelds historische Ohrfeige, dem Edelnazi-Kanzler Kiesinger voll aufs Auge gedrückt, war seinerzeit ein starkes Zeichen, vergleichbar der schwarzen Handschuhfaust des Tommie Smith in Mexico oder dem Kniefall des Willy Brandt in Warschau, erstaunlich, überraschend und als verwackeltes, schreiendes Foto eingebrannt in meine Erinnerung. Ihre gesammelten »Auszeichnungen« hingegen interessieren mich nicht, ebensowenig die derzeitige Nominierung durch die Partei DIE LINKE. Offenbar wird diese Nominierung verstanden als Ersatz für das Bundesverdienstkreuz. Nuja, kein starkes Zeichen, eine Geste, eine schwache. Vielleicht bringt es ein findiger Hacker namens Anonymous fertig, den Ehrensold für das Würstchen aus Großburgwedel umzuleiten nach Paris aufs Konto von Beate Klarsfeld - das hätte was! Ehre und Sold für eine Frau, der sowas gebührt! Walter Mossmann, 70, Autor, Regisseur, Liedermacher, Wegbereiter der Anti-AKW-Bewegung in der Bundesrepublik Ich finde es richtig, dass die von allen Parteien wie Unberührbare ausgegrenzte LINKE einen mehr als symbolischen Akzent setzt. Denn Beate Klarsfeld ist eine echte Gegenkandidatin, die ihr Leben ganz in den Dienst der Aufklärung von NS-Verbrechen gestellt hat. Etwa indem sie geholfen hat, den »Schlächter von Lyon« Klaus Barbie aufzuspüren, der – in Frankreich zum Tode verurteilt wegen tausender Folterungen, Deportationen und Hinrichtungen – mithilfe westlicher Geheimdienste in Bolivien untergetaucht war.Mit dem designierten Bundespräsidenten Joachim Gauck steht ihr ein Mann gegenüber, der das Beharren auf deutscher Schuld »fast neurotisch« findet. Nicht nur in seiner »Stiftung Aufarbeitung« verschiebt er daher die Notwendigkeit der Verbrechensaufklärung einseitig in Richtung Kommunismus. So hat er u. a. daran mitgewirkt, aus der Gedenkstätte für Opfer der Wehrmachtsjustiz in Torgau eine zu machen, die auch der von der sowjetischen Militäradministration verurteilten NS-Täter gedenkt. Vielleicht hilft die Konfrontation mit Frau Klarsfeld, dass Gauck als Bundespräsident NS-Verbrechen nicht relativiert. Daniela Dahn, 62, Schriftstellerin, Trägerin der Louise-Schroeder-Medaille, des Ludwig-Börne- und Kurt-Tucholsky-Preises Frau Klarsfeld ist eine starke und anerkannte Frau. Wer sich sein ganzes Leben lang der Aufarbeitung von NS-Verbrechen, der Verantwortung und dem Gedenken an die Shoa widmet, ist für mich eine bemerkenswerte Persönlichkeit. Und wenn ihr enthusiastisches Engagement für Israel nun sogar auch noch ein wenig auf die Linkspartei abfärben könnte, wäre das ganz besonders schön. Dieter Graumann, 61, Sohn polnischer Holocaust-Überlebender, Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland Als Kämpfer gegen den Faschismus unterstütze ich Frau Klarsfeld zu hundert Prozent. Sie steht für die gleiche Sache, für die wir deutschen Antifaschisten in den Armeen der Alliierten einst unser Leben einsetzten: für ein nazifreies, demokratisches und friedliebendes Deutschland. Moritz Mebel, 89, Mitglied der Leibniz-Sozietät, kämpfte als Emigrant in der Roten Armee gegen den Hitler-Faschismus Nach Bundespräsidenten mit NS-Vorgeschichte täte eine Amtsträgerin gut, die einen anderen Teil der Nazi-Vergangenheitsbewältigung verkörpert. Frau Klarsfelds Ohrfeige für Kiesinger war ein starker symbolischer Befreiungsakt und steht herausragend neben Willy Brandts Kniefall in Warschau. Als anständiger Christ hätte Kiesinger die andere Backe auch noch hinhalten, sein Leben fürderhin der Nazijägerei widmen und Frau Klarsfeld für diese Befreiungstat mit dem Bundesverdienstkreuz auszeichnen sollen. Aber Bundesverdienstkreuze bekommen in Deutschland eher Investoren vom Schlage eines Anno August Jagdfeld – für sein eben pleite gegangenes Luxusobjekt Heiligendamm. Und da muss erst eine krude Truppe wie die Linkspartei kommen, um Frau Klarsfeld auf einen symbolischen Chancenlos-Platz für die Präsidentenamt-Bewerbung abzuschieben? Arnulf Rating, 60, Kabarettist, ausgezeichnet u. a. mit dem Deutschen Kabarett- und dem Deutschen Kleinkunstpreis Mit der Kandidatur wird ihr Kampf gewürdigt und zugleich erhält er neue Impulse. Deutsche Renten für SS-Verbrecher im Baltikum und die Weigerung, NS-Opfer in Griechenland und Italien zu entschädigen und die Täter zu bestrafen, weisen ebenso auf weitere antifaschistische Aufgaben hin wie der Terror der Neonazis in Deutschland. Ulrich Sander, 70, Autor und Bundessprecher der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes VVN-BdA Joachim Gauck wäre nicht meine erste Wahl gewesen, aber ich teile den bei vielen Linken verbreiteten, sehr eifrigen Widerwillen gegen ihn nicht. Wie man hört, ruft auch Beate Klarsfeld bei einigen unter uns Protest hervor, sie selbst und ihr Mann seien zu »israelfreundlich« heißt es hier und dort. Dieser mich beunruhigende Protest gegen sie könnte ein Grund sein, Beate Klarsfeld zu unterstützen. Andrej Hermlin, 46, Pianist und Leiter des Swing Dance Orchestra, Sohn des Schriftstellers Stephan Hermlin Beate Klarsfeld schätze ich wegen ihrer Verdienste (gestern und heute) in der Bekämpfung des Nazipacks. Ob sie dem Druck des Amtes standhalten würde, bezweifle ich. Klaus Wagenbach, 81, Gründer und langjähriger Inhaber des Wagenbach-Verlages, ausgezeichnet u. a. mit dem Kurt-Wolff-Preis Wäre 1932 bei der Reichstagswahl Hitlers Türöffner Hindenburg eine antifaschistische Frau von Mut, Geist und Welt wie Beate Klarsfeld entgegengestellt worden, hätte die nationale Mehrheit den Ostelbier dennoch gewählt. Hindenburg besiegte einst die Russen bei Tannenberg, Gauck die Bolschewisten an der Elbe. Folgt auf Weimar I ein Weimar II in Berlin? Gerhard Zwerenz, 86, Schriftsteller, Deserteur der Wehrmacht, Träger u. a. des Alternativen Georg-Büchner-Preises Erst als Frau Klarsfeld sich des Symbols der Ohrfeige bediente, gelang es durch diese Ungehörigkeit, ihrem und auch unserem Anliegen weltweit Gehör zu verschaffen. Die Symbolik verschärfend kam hinzu, dass diese Aktion die einer ungehorsamen Tochter an einem Vertreter der schuldigen Vätergeneration war. ... Frau Klarsfeld war uns allen weit voraus. Sie gehört zu denen, die auf keinem Auge blind waren, die keiner Partei angehörten, ihrem Gewissen folgten und den Satz von Böll ernstnahmen: »Das Recht ist auf Seiten der Opfer.« Und deshalb hat sie ihrem Gewissen folgend das gemacht, was sie für richtig hielt und zwar schutzlos. ... Sie ist die wahre Patriotin! Nicht wie später die Politiker, die sich mit ihren Patriotismus-Worthülsen spreizten. Das war in dieser frühen Zeit eine Einsamkeit, zwischen allen Stühlen zu sitzen. Das heißt, sich nicht anlehnen zu können, nicht gestützt zu werden; das ist eine sehr unbequeme Sitzhaltung, soll aber für das Rückgrat sehr förderlich sein.(Günter Wallraff schickte uns seine Laudatio anlässlich der Verleihung des Georg-Elser-Preises an Beate Klarsfeld am 8. November 2009, zu der er unverändert stehe.) Günter Wallraff,69, Schriftsteller und Enthüllungsjournalist, ausgezeichnet u. a. mit der Carl-von-Ossietzky-Medaille
Jürgen Reents
Union, FDP, SPD und Grüne haben Joachim Gauck für die Bundespräsidentenwahl am 18. März nominiert. Die LINKE wurde als einzige im Bundestag vertretene Partei von vornherein von der Nachfolgesuche für den zurückgetretenen Christian Wulff ausgeschlossen. »nd« fragte, was die Kandidatur von Beate Klarsfeld für die politische Kultur in Deutschland bedeutet
Beate Klarsfeld
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Auf die Fresse
Fairness ist gut, Entertainment ist besser. Würdevolles Verlieren mag zwar edel und ritterlich sein, weshalb es definitiv mehr Applaus gibt, der Siegerin die Hand zu reichen, als sie rigoros zu verstümmeln. Mehr Action aber bietet es, wenn die Vizeweltmeisterin im Eiskunstlauf ihrer siegreichen Gegnerin noch auf dem Podest eine Kopfnuss verpasst und mit der Kufe drei Finger abschneidet - das wissen wir spätestens, seit die talentierte Tonya Harding der talentierteren Nancy Kerrigan 1994 per Eisenstange das Knie zertrümmerte: nicht fair, nicht ritterlich, nicht edel, aber boulevardesk bis ins Extreme ausschlachtbar. Was aus der Attentäterin wurde, wissen nur Eingeweihte, aber ganz ausgeschlossen ist es nicht, dass sie zehn Jahre später mit zehn Kilo mehr hinterm Tresen eines amerikanischen Sportgeschäfts stand und ihr Schicksal beklagte wie Lola Bouvier. Hardings fiktive Nachfolgerin war einst für die entfingerte Hand ihrer Konkurrentin verantwortlich. Zehn Jahre später steht sie mit zehn Kilo mehr hinterm Tresen eines französischen Sportgeschäfts und hört erst auf, ihr Schicksal zu beklagen, als jemand Lolas verschütteten Ehrgeiz weckt: ein Derby Girl. So heißen die Teilnehmerinnen eines Vollkontaktsports, bei dem martialisch gekleidete Frauen auf vier Rollen durch Turnhallen rasen und sich dabei gegenseitig von der Bahn checken. »Derby Girl«, so heißt auch eine ZDFneo-Serie, in der genau dies im Mittelpunkt steht. Als Lola (Chloé Jouannet) einer Ladendiebin nachrennt, endet ihre Verfolgungsjagd nämlich beim Training des Spitzenteams der örtlichen Roller-Derby-Liga. Dummerweise kann sie besser Eiskunstlaufen als Rollerskaten. Und dann werden die »Black Weirdos« auch noch von Lolas alter Schulhofrivalin Jennifer (Sophie de Fürst) geführt, weshalb sie sich den Losern der »Cannibal Licornes« anschließt. Damit schlägt Regisseurin Nikola Lange ein halbes Dutzend dramaturgischer Fliegen mit nur einer Serienklappe. Nach eigenem Drehbuch überträgt sie Davids biblischen Kampf gegen Goliath auf moderne Frauen des MeToo-Zeitalters, die so burschikos wie sexy sind und dabei ein komödiantisches Drama von funkensprühender Bedeutsamkeit aufführen, das auf Instagram genauso funktionieren würde wie bei Joko & Klaas oder am Filmmittwoch im Ersten. Roller Derbys sind schließlich cineastisches Eye Candy vom Feinsten - das erkannte Justin B. Herman schon 1949 und erhielt für seinen Kurzfilm »Roller Derby Girl« beinahe den Oscar. 60 Jahre später stieß Drew Barrymores Regiedebüt »Roller Girl« ins selbe Horn weiblicher Selbstermächtigung, während TV-Serien wie »The Glades« zumindest episodenweise ins Revier jener »Rollergirls« tauchen, das eine gleichnamige Dokuserie 2006 bekannt machte: knallharte Mädchen mit Helm und Hotpants, stilistisch und habituell eher »Mad Max« als »Sex and the City«, aber auch für Telenovela-Fans attraktiv. Denn während »Derby Girl« seine Hauptfiguren ständig leicht bekleidet auf Rennpisten hetzt, pulverisiert der Zehnteiler »Rollergirls« diverse Film- und Fernsehklischees. Denen zufolge sind Männer unverdrossen härter, stärker, derber als Frauen, die ihrerseits hübscher, schlanker, gefälliger sind. Nikola Langes Personal hingegen, das bis auf Lolas besorgten Vater (Olivier Mag) und ihren schüchternen Schwarm Mickaël (Adrien Ménielle) ohnehin fast ohne Y-Chromosomen auskommt, ist so divers, als hätten es Gleichstellungsbeauftragte gecastet. Dick und dünn, schwarz und weiß, tough und zart, arm und reich, feminin und androgyn, kämpfen vielleicht nicht alle einträchtig, am Ende aber gemeinsam um ihren Platz in einer Klassengesellschaft, die abseits vom Sport kaum noch echte Aufstiegschancen bietet. Obwohl »Derby Girl« also spürbaren Spaß am Slapstick hat, gern mit dem Humor aufgerissener Augen arbeitet und so sexistisch synchronisiert wurde, als seien die Übersetzer von Harvey Weinstein engagiert, ist die Serie ein glühendes Manifest gegen Bodyshaming, Misogynie und Rassismus, aber für Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit. Entertainment ist gut, mit Fairness noch besser. »Derby Girl« in der Mediathek von ZDFneo
Jan Freitag
Roller Girls gibt es schon länger auf der Leinwand, doch die Serie »Derby Girl« zeigt nicht nur schlanke Girls, sondern ist so divers, als hätte die Gleichstellungsbeauftragte gecastet. Und sie ist ein Manifest für Schwesterlichkeit.
Feminismus, Film, Frankreich, Frauen, Sport
Feuilleton
Kultur Derby Girl
2021-05-03T16:46:10+0200
2021-05-03T16:46:10+0200
2023-01-20T22:47:36+0100
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Dichterin des Holocaust
Sie entstammte dem assimilierten jüdischen Großbürgertum, entwickelte sich unter dem Einfluss von Selma Lagerlöf zur Schriftstellerin und wurde zu einer «Zeitzeugin des Holocaust, wofür sie 1966 den Nobelpreis für Literatur zugesprochen bekam. Sie vermied es lebenslang, über ihr Leben zu sprechen, wollte allein durch ihr schriftstellerisches Werk gelten und ist bis heute im Unterschied zu anderen deutschen Nobelpreisträgern wie Thomas Mann und Günther Grass in der breiten Öffentlichkeit weitgehend unbekannt. Erst die spektakuläre Sonderausstellung »Flucht und Verwandlung. Nelly Sachs« 2010 im Jüdischen Museum in Berlin bescherte ihr eine größere Aufmerksamkeit. Wieder nur von kurzer Dauer. Erneute Erinnerung zum 50. Todestag ist wünschenswert. Geboren 1891 unter dem Namen Leonie Sachs in Berlin als Tochter eines Erfinders und Gummiwarenfabrikanten absolvierte »Nelly«, wie sie gerufen wurde, zwei Höhere Töchterschulen. Abitur war für Mädchen noch nicht möglich. Schon in jungen Jahren offenbarte sie großes Interesse für Literatur, Musik und Tanz. In ihrer Begeisterung über den Roman »Gösta Berling« von Selma Lagerlöf schrieb sie einen Brief an die schwedische Autorin, woraus sich ein lebenslanger Briefwechsel entwickelte. Ab ihrem 17. Lebensjahr verfasste Nelly Sachs eigene Gedichte und Puppenspiele. 1921 erschien mit Unterstützung von Stefan Zweig ihr erster Gedichtband »Legenden und Erzählungen«. Um 1930 druckten diverse Berliner Zeitungen Gedichte von ihr. Nach dem frühen Tod des Vaters an Krebs bewohnte sie mit ihrer Mutter ein familieneigenes Mietshaus in der Berliner Lessingstraße, das angesichts der ausufernden Judenfeindlichkeit der Nazis zu einem Refugium gedieh, unterbrochen durch Wohnungsübergriffe der SA und Gestapoverhöre. In der Atmosphäre wachsender Angst beschäftigte sich Nelly mit der jüdischen Geschichte und Literatur. Erst zu Kriegsbeginn entschlossen sich die beiden Sachs für das Exil. Lesen Sie mehr unter: 8.Mai - Befreiung Deutschlands vom Hitlerfaschismus Über den schwedischen Prinzen Eugen und Selma Lagerlöf erhielten Mutter und Tochter ein Visum, mit dem sie im Mai 1940 nach Stockholm entkamen. Da war der Transportbefehl für ein KZ bereits ausgefertigt. Alle Verwandten wurden Opfer des Holocaust. Nelly Sachs übersetzte schwedische Lyrik ins Deutsche, schrieb Gedichte und Dramen, in denen sie das Grauen des Holocaust festhielt. Johannes R. Becher sorgte für deren Veröffentlichung nach Kriegsende: »In den Wohnungen des Todes« und »Sternenverdunklung«. In der BRD blieb die Dichterin lange ungedruckt. An ihrem 75. Geburtstag erhielt die von Krankheit bereits gezeichnete Dichterin zusammen mit dem israelischen Dichter Samuel Joseph Agnon den Literaturnobelpreis. Das Preisgeld schenkte sie Bedürftigen. Sie starb am 12. Mai 1970 in Stockholm.
Martin Stolzenau
Nelly Sachs entkam nur knapp dem Holocaust. Von ihrem eignen Leben wollte sie nie erzählen. Sie wollte allein durch ihr schriftstellerisches Werk gelten und ist bis heute in der breiten Öffentlichkeit weitgehend unbekannt.
Antisemitismus, Berlin, Holocaust, Juden, Literatur, Schweden
Feuilleton
Kultur Nelly Sachs
2020-05-03T16:11:42+0200
2020-05-03T16:11:42+0200
2023-01-21T11:24:21+0100
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Proteste gegen rechten Schulterschluss
Vor europäischen Gipfeltreffen wie dem der Verteidigungsminister in Wien am Mittwoch und Donnerstag, auf dem die Fortführung des Mittelmeerprogramms EuNavFor beraten werden soll, wollten die rechten Führer Italiens und Ungarns ein Zeichen setzen: In der Mailänder Präfektur trafen sich Italiens Innenminister Matteo Salvini von der Lega und der Budapester Premier Viktor Orbán am Dienstag zu einem politischen Gespräch. Beide Politiker berieten, wie Europa noch stärker vor Flüchtlingen abzuschotten sei und in welche Richtung man die EU lenken wolle. »Wir stehen vor einer entscheidenden Wandlung in Europa«, erklärte Salvini, der gemeinsam mit Orbán vor die Presse trat. Es gehe vor allem darum, den »verweichlichten« Flüchtlingskurs Frankreichs zu stoppen und ein »deutliches Signal gegen illegale Einwanderung« zu setzen, so beide Politiker. Ähnlich der Grenzsicherungen in Südungarn werde Italien auch seine Grenzen zu Frankreich bei Ventimiglia sichern, erklärte Salvini. Politischer Hauptfeind sei derzeit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Gegen dessen Politik wolle man im kommenden Jahr gemeinsam bei den Europawahlen antreten. Orbán erwog, die Lega und »seinen Freund Matteo« in die Fraktion der Europäischen Volkspartei zu integrieren. Bislang ist Italien dort nur mit den Abgeordneten der Forza Italia und Alternativa Populare vertreten. Frankreichs Präsident reagierte auf die Angriffe und nahm die Herausforderung an. »Ich werde den Nationalisten und denen, die diese Hassrede befürworten, kein Stück nachgeben«, sagte Macron am Mittwoch bei einem Besuch in Dänemark vor Journalisten. »Und wenn sie in mir ihren Hauptgegner sehen wollten, haben sie recht.« Der ungarische Regierungschef Orbán vertritt die restriktive Migrationspolitik nicht nur seines Landes, sondern auch des informellen Bündnisses der Visegréd-Staaten, zu denen noch Polen, die Slowakei und Tschechien zählen. Bislang war das osteuropäische Bündnis ein »kleines Ärgernis« am östlichen Rand der EU. Sollte Orbán mit seinem Besuch in Mailand jedoch eine stärkere Allianz zwischen Ungarn und Italien schließen und das Belpaese gar in den Visegréd-Vertrag kooptieren, dürfte Brüssel schärferer Gegenwind ins Gesicht blasen. Genau dies ist das Ziel der neuen Freunde Salvini und Orbán. Allerdings findet die Vision eines rechten Italiens in der Opposition zu einem europäischen Integrationskurs keinen großen Anklang beim Koalitionspartner, der Fünf-Sterne-Bewegung. Salvinis Amtskollege aus der Sternebewegung, Luigi Di Maio, erklärte, die ungarische Haltung verhindere eine Verteilung der Flüchtlinge auf die EU-Mitglieder und schlage somit auf Italien zurück. Rechtspopulismus könne für Italien keine politische Lösung bringen, so Di Maio mit Blick auf die eigene eher links gerichtete Anhängerschaft, aus der bereits seit geraumer Zeit Unmut über Salvinis Flüchtlingspolitik grollt. Und auch beim parteilosen Regierungschef Italiens, Giuseppe Conte, stieß das Treffen Salvini-Orbán auf deutliche Ablehnung. »Innenminister haben nicht das Recht, gegenüber einem ausländischen Regierungschef als Vertreter der Regierung oder gar Italiens aufzutreten«, so der verärgerte Conte. Ein Bild des Unmuts bot sich zudem im Straßenbild des lombardischen Hauptorts: Mehr als 15 000 Menschen schlossen sich der Protestdemonstration gegen den ausländerfeindlichen Kurs der Lega und des sie in der Regierung vertretenden Innenministers und Vizepremiers an. Aufgerufen zu den Protesten unter den Losungen »Europa ohne Mauern« und »Wir bleiben menschlich« hatten die Demokratische Partei, Liberi e Uguali (Frei und Gleich, Leu), die Gewerkschaft CGIL, der italienische Partisanenverband, Studentenorganisationen sowie soziale Zentren.
Wolf H. Wagner, Florenz
Viktor Orbán und Matteo Salvini wenden sich gegen eine weitere Aufnahme von Migranten. Das stößt auf Kritik von der Straße - und von Salvinis Koalitionspartner. Mehr als 15.000 Menschen schlossen sich einer Protestdemonstration an.
Asylpolitik, Einwanderung, Europäische Union, Flüchtlinge, Frankreich, Italien, Ungarn
Politik & Ökonomie
Politik Orban und Salvini
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Berliner Tuntenhaus wackelt
Für das Tuntenhaus in der Kastanienallee in Prenzlauer Berg sind die nächsten Tage entscheidend: Bis zum 15. Mai können die Käufer*innen des ältesten queeren Hausprojekts Berlins eine sogenannte Abwendungsvereinbarung unterzeichnen und damit 34 Jahren gemeinschaftlichen Zusammenlebens ein Ende setzen. Um sie am Unterschreiben der Vereinbarung zu hindern, reisten die Tuntenhausbewohner*innen am Wochenende nach Bayern. »Es war eine wirklich bezaubernde Demonstration«, erzählt Bewohnerin Jil Brest im Gespräch mit »nd«. Aus Berlin reisten am Samstag 32 Menschen nach Wörth an die Isar. Laut Brest kamen noch mal so viele Unterstützer*innen aus der Umgebung. Eine Wörtherin habe den Tuntenhaus-Demonstrierenden Blümchen geschenkt, eine andere habe gerufen »Super, dass ihr das Maul aufmacht«, erzählt Brest, die sich über die große Unterstützung in der bayerischen Provinz freut. Als sich die Wörther Käufer*innen vor knapp zwei Wochen dem Tuntenhaus gegenüber zu erkennen gaben, habe es nahegelegen, dass diese den Kauf nun tatsächlich erwägen, heißt es in einer Mitteilung des Hauses. Warum sich die Käufer*innen genau jetzt meldeten, sei den Bewohner*innen unklar, rasches Handeln aber geboten. 1000 Kilometer Weg nahm die queere Szene daher auf sich. Laut der Mitteilung seien die Käufer*innen seit Jahrzehnten in Berlin aktiv, würden den Immobiliensektor kennen und erwägen, die Abwendungsvereinbarung zu unterzeichnen. Diese ist entscheidend für die Zukunft der Gemeinschaft. Denn nach dem Verkauf an die damals unbekannten Bayern im Februar steht und fällt das Tuntenhaus mit der Nutzung des Vorkaufsrechts. Wir erinnern uns: Seit einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts von 2021 kann der Bezirk nur innerhalb von drei Monaten das Vorkaufsrecht anwenden, wenn eine besondere Baufälligkeit vorliegt. Dass diese baulichen Missstände vorliegen, bestätigte das Bezirksamt Pankow »nd« bereits im März. Mit der Unterzeichnung der Abwendungsvereinbarung müsste der Eigentümer sich verpflichten, diese Mängel zu beheben. Die Pressestelle der Bausenatsverwaltung sagte »nd«, zu Staffelmietverträgen stehe in den dem Senat bekannten Abwendungen nichts. Ansonsten habe der Eigentümer die Mietpreisbremse einzuhalten und die Wohnungen nur für die zulässige Miete öffentlich anzubieten. Erhaltenswert finden Stimmen aus Politik und Zivilgesellschaft den Schutzraum für Queers allemal: Landespolitiker*innen von Linke bis CDU sprachen sich für den Erhalt in städtischer Hand aus. Bausenator Christian Gaebler (SPD) sprach davon, dass sowohl der Verkauf an eine landeseigene Wohnungsgesellschaft als auch die Überführung in eine Genossenschaft denkbar seien. Streit gibt es zwischen Senat und Bezirk um die Frage der Finanzierung. Während Grüne und Linke den Senat auffordern, Mittel für einen Vorkauf bereitzustellen, sieht Gaebler den Bezirk in der Pflicht. Nach fast drei Monaten intensiven Kampfes blicken die Tuntenhausbewohner*innen auf acht Wochenenden der offenen Tür mit kulturell buntem Programm bei sich zu Hause zurück. Sie organisierten fünf Kundgebungen vor dem Abgeordnetenhaus und eine »Rave-Kundgebung« vor der Haustür mit über 3000 Teilnehmer*innen, darunter die Abgeordneten Mathias Schulz (SPD) und Klaus Lederer (Linke). Nicht immer leicht sei es gewesen, so viel Trubel, Öffentlichkeitsarbeit, Beziehungspflege und das Haarewaschen unter einen Hut zu bekommen, sagt Jil Brest. Der Kampf um das Vorkaufsrecht habe sich angefühlt »wie unfreiwillige vorgezogene Neuwahlen, bei denen wir als Opposition antreten«. Dankbar für die Solidarität sind die Tuntenhausbewohner*innen allemal. Deutschlandweit standen ihnen queere Projekte und mietenpolitisch Bewegte nicht nur mit Energie, sondern auch mit Expertise zur Seite, wie beispielsweise die Weichselstraße 52 aus Neukölln. Dieser Fall bleibt ein Unikat in der bezirklichen Ausübung des Vorkaufsrechts seit dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts von 2021. Wie die Geschichte für das Tuntenhaus ausgeht, zeigt sich bis zum 15. Mai. Politische Aktionen haben die Tuntenhausbewohner*innen nicht geplant, man sei aber bereit, »flexibel zu reagieren«.
Jule Meier
Am 15. Mai endet eine wichtige Frist für das queere Tuntenhaus in Pankow. Um ihren Wohnraum doch noch zu retten, statteten Berliner Queers den Käufer*innen in Bayern einen Besuch ab.
Bayern, Berlin, linker Feminismus, Mieten, Mieten und Wohnen
Hauptstadtregion
Berlin Verdrängung
2024-05-07T17:43:06+0200
2024-05-07T17:43:06+0200
2024-05-15T13:20:32+0200
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Eine Reise durch die Begriffswelt
Friedrich Dieckmanns Buch ist eine Sammlung von kurzen Texten, die sich mit verschiedenen Begriffen - von Freiheit und Heimat bis hin zu Lachen und Rausch - beschäftigen. Das sei ein vages Genre, meinte Dieckmann am vergangenen Mittwoch, als er bei »nd im Club« zu Gast war. Anlässlich der Lesung aus seiner »Weltverwunderung - Nachdenken über Hauptwörter« kam er mit dem Moderator Paul Werner Wagner ins Gespräch. Neben dem Vorlesen einiger Passagen des Buches wurde auch über die Entstehungsgeschichte und die Intention dieses Werkes gesprochen. Dieckmann ist im Jahr 1937 in Dresden geboren. Er hat Germanistik, Philosophie und Physik studiert und lebt seit dem Jahr 1963 als freier Schriftsteller in Berlin. Die Sprache des Buches ist philosophisch geprägt. Die Passagen sind reich an Anekdoten und Zitaten, die für eine angenehme Lektüre sorgen. Dabei erlebt man die großen Namen der Geschichte teilweise anders als gewöhnt. Etwa bekommen wir mit, dass niemand produktiver als Richard Wagner erfahren habe, wie intelligent und einfühlsam Papageien sein könnten. Oder dass Arthur Schopenhauer sagte: »Wenn es keine Hunde gäbe, wollte ich nicht leben«. Die Herangehensweise, wie der Autor sich mit jedem Begriff auseinandersetzt, ist kreativ. Es wird beispielsweise anhand der bildenden Künste von »epochalen Freundschaften« gesprochen. »Eines Tages standen beide, Goethe und Schiller, in Bronze gegossen überlebensgroß vor dem Weimarer Theater ...«. Der Künstler sei beauftragt worden, die beiden lebensgroß zu schaffen. Dieckmann: »Ein Kunststück, das er meisterte, ohne in Gleichmacherei zu verfallen. Gegenüber einem andern Freundespaar von welthistorischer Ausstrahlung entzog sich in Berlin-Mitte der Bildhauer dem Größenproblem, indem er den einen - Marx - auf eine Bank setzte und den andern - Engels - stehend neben und zugleich hinter ihn platzierte.« In dieser Hinsicht wird die Freundschaft zwischen beiden interpretiert. Der eine werde vom andern als dominierend anerkannt und geduldet, »dieser andere ist der liebende Teil von beiden.« Jede Passage in Dieckmanns Werk wirkt wie eine vielfältige Reise durch die Begriffswelt. So bewegt man sich stets zwischen den philosophischen, alltäglichen oder politischen Räumen. Nehmen wir das Kapitel über den Rausch als Beispiel, wo wir mit Nietzsche und Schopenhauer beginnen, das Wort zu verstehen. Und fast am Ende landen wir in einem Militärhospital in Marokko! Wie das geschieht, hat mit den Feinheiten dieses Buches zu tun. Durch Nietzsche werden verschiedene Arten des Rausches vorgestellt. Sie reichen vom Frühlingsrausch bis hin zum Rausch des Festes, des Sieges und nicht zuletzt zu dem des Willens, wobei der Autor darauf hinweist, das Deutsche kenne keinen Frühlingsrausch, aber den Glücks- und den Siegesrausch. Nietzsches »Rausch der Grausamkeit« bringt Dieckmann dann mit dem Blutrausch zusammen. Krieg, Amoklauf und »der ganze Hitlerismus« werden dadurch erklärt. »Die todesverachtende Lust am Extremen« leitet uns dann in die Richtung Unterhaltungsindustrie: zum Geschwindigkeitsrausch, dem Base-Jumping und Bungee-Jumping. Später und wieder dank Nietzsches »Narkotika« kommen wir zu dem Wort Rauschgift. Ab hier übernimmt Baudelaires als »der Klassiker der Haschisch-Literatur«. Anschließend wird noch Walter Benjamins euphorische Erfahrung mit Haschisch mitgeteilt, begleitet mit einem Zitat von ihm: »Versailles ist dem, der Haschisch gegessen hat, nicht zu groß, und die Ewigkeit dauert ihm nicht zu lange.« Demgegenüber erfahren wir über das Erlebnis von Klaus und Erika Mann in der marokkanischen Stadt Fez, wo ein paar Teelöffel mehr vom Pulver sie zu einem »schizophrenen Chaos« brachte: »Die beiden wurden von einem Taxi ins Militärhospital gebracht und dort mit einem Schlafmittel von ihrem Haschisch-Choc kuriert.« Diese Passage heißt übrigens: »Auf die Dosis kommt es an.« Friedrich Dieckmann: Weltverwunderung - Nachdenken über Hauptwörter. Quintus Verlag, 184 Seiten, 18 Euro.
Bahareh Ebrahimi
Bei »nd im Club« hat Friedrich Dieckmann sein Buch »Weltverwunderung« präsentiert
Dresden, Literatur
Feuilleton
Kultur
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Potsdams OB lehnt Rot-Rot ab
Potsdam (dpa/ND). Der wiedergewählte Potsdamer Oberbürgermeister Jann Jakobs (SPD) bleibt bei seiner Ablehnung eines rot-roten Bündnisses mit der LINKEN in Brandenburgs Landeshauptstadt. Er werde an der bisherigen »Rathaus-Kooperation« mit CDU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen festhalten, sagte Jakobs am Montag vor Journalisten. Diese Parteien hatten ihn in der Stichwahl am Sonntag unterstützt, nachdem zuvor ihre eigenen Kandidaten im ersten Wahldurchgang gescheitert waren. Dagegen erneuerte der LINKEN-Fraktionschef in der Stadtverordnetenversammlung, Hans-Jürgen Scharfenberg, sein Angebot fü... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
SPD-Politiker gewann Wahl überraschend klar
Hans-Jürgen Scharfenberg, Jann Jakobs, LINKE, Potsdam, SPD
Hauptstadtregion
Brandenburg Brandenburg
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Weiterhin U-Haft nach Attacke auf Obdachlosen
Nach der Feuerattacke gegen einen schlafenden Obdachlosen kommen die Ermittlungen gegen die sieben Verdächtigen in U-Haft laut Staatsanwaltschaft zügig voran. Wie Sprecher Martin Steltner am Montag sagte, seien die Aufnahmen von Überwachungskameras bedeutsam für die Ermittlungen. Den jungen Männern zwischen 15 und 21 Jahren wird gemeinschaftlicher versuchter Mord vorgeworfen. Laut Staatsanwaltschaft kamen die Männer als Flüchtlinge nach Deutschland, sechs aus Syrien und einer aus Libyen. Die meisten von ihnen seien minderjährig und allein eingereist. Laut den Ermittlungen waren sie in verschiedenen Flüchtlingsunterkünften untergebracht. Als Hauptverdächtiger gilt ein 21-jähriger Syrer. Die Tatverdächtigen sollen in der Nacht zum ersten Weihnachtsfeiertag die Kleidung des Mannes, der nach Angaben von Ermittlern aus Polen stammt, in Brand gesteckt haben. Nur durch das beherzte Eingreifen von Passanten, die sofort die Flammen löschten, wurde der 37-Jährige nicht verletzt. dpa/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Asylpolitik, Flüchtlinge, Justiz
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Jemenitischer Präsident verließ Klinik
Sanaa/Riad (dpa/ND). Der bei einem Anschlag schwer verletzte jemenitische Präsident Ali Abdullah Saleh ist nach wochenlanger Behandlung aus dem Krankenhaus in der saudischen Hauptstadt Riad entlassen worden. Vorerst sei eine Rückkehr nach Jemen aber nicht geplant, verlautete aus offiziellen Kreisen in Riad. Er werde noch ambulant behandelt. Saleh war bei einem Bombenanschlag vor zwei Monaten verletzt worden. Eine mächtige Protestbewegung verlangt seit Februar den Rücktritt des seit 33 Jahren herrschenden Staatschefs. Die Aktionen gegen ihn gingen auch während seiner Abwesenheit weiter, so in der Hauptstadt Sanaa (Bild rechts). Foto: dpa/Yahya Arhab
Redaktion nd-aktuell.de
Jemen
Politik & Ökonomie
Politik
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Eine virtuelle Menschenkette
Das Deutsche Hygiene-Museum in Dresden (DHMD) wird manchmal im Scherz »Museum vom Händewaschen« genannt; es geht auf eine Hygieneschau 1911 zurück, die ein Mundwasserfabrikant organisierte. In der NS-Zeit aber ging es in dem Haus weniger um Gesundheitserziehung, sagt Direktor Klaus Vogel; es war vielmehr die »zentrale Propagandastelle« für die Rassenlehre der Nazis, die »quasi-wissenschaftliche Unterstützung« für deren Euthanasiepolitik liefern sollte. Das Museum erinnert an das düstere Kapitel in seiner Geschichte oft, besonders aber am 13. Februar, dem Jahrestag der Bombenangriffe im Jahr 1945 auf die Stadt, bei denen ihr Zentrum großflächig zerstört wurde und bis zu 25 000 Menschen starben. Neue Nazis nutzen das Datum, um die deutsche Kriegsschuld zu relativieren; sie sprechen von »Bombenholocaust«. Viele Bürger pflegten lange Zeit nur ein »stilles Gedenken« an die Opfer, ohne die Vorgeschichte der Angriffe zu reflektieren. Institutionen wie das DHMD setzen dem ein kritisches Erinnern entgegen: Das sei, sagt Vogel, »quasi in unsere DNA eingeschrieben«. In diesem Jahr müssen für das Gedenken neue Formen gesucht werden. Diskussionsveranstaltungen sind wegen Corona ebenso unmöglich wie Stadtführungen. Die Initiative »Weltoffenes Dresden« (WOD), in der Kulturinstitutionen wie das DHMD für eine offene und tolerante Stadt werben, setzt deshalb auf Plakate, die von Künstlern gestaltet und teils mit Klang- oder Videoinstallationen ergänzt werden. Auf den Plakaten des Hygiene-Museums sind Gebäudesilhouetten mit offenen und geschlossenen Fenstern und einer Friedenstaube zu sehen, »sehr plakativ und sehr wirksam«, sagt Vogel. Die Philharmonie zeigt vor dem Kulturpalast Noten aus dem »Deutschen Requiem« von Johannes Brahms, das das Orchester gemeinsam mit dem Kreuzchor beim ersten Gedenkkonzert im Februar 1946 aufführte. Der Kunstverein »riesa efau« hat die Devise »Hass ist krass. Liebe ist krasser« auf ein Plakat gebannt. Die Semperoper erinnert an zwei in der NS-Diktatur verfemte Komponisten - auf ihrem Vorplatz, der damals »Adolf-Hitler-Platz« hieß. Die Plakate werden ergänzt durch virtuelles Material auf der WOD-Internetseite. Virtuell wird dieses Jahr auch die Menschenkette gebildet, mit der am Jahrestag seit mehreren Jahren jeweils Tausende Bürger einen symbolischen Ring um die Innenstadt schließen und sich dabei die Hände reichen. Wegen des Lockdowns ist das diesmal nicht möglich. Deshalb soll eine Menschenkette im Videoformat auf Fassaden von sechs prominenten Gebäuden projiziert werden, darunter die Synagoge sowie Frauen- und Kreuzkirche. Noch bis zu diesem Mittwoch können Bürger ein Foto von sich in Hochformat und mit seitlich ausgestreckten Händen auf der Homepage der Stadt hochladen. Die Aktion richtet sich nicht nur gegen die rechtsextreme Vereinnahmung des Gedenkens, sondern auch gegen »Querdenker«: Hass und Hetze auf Dresdens Straßen würden »auch die in zwei Lockdowns mit all ihren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen erreichten Fortschritte im Kampf gegen Corona gefährden«, heißt es im Aufruf. Derweil beklagt das Bündnis »Dresden nazifrei« ausbleibende Informationen darüber, welche Aktionen von Rechtsaußen am Jahrestag in der Stadt stattfinden. Man wolle »Klarheit darüber, wo die Nazis am Samstag stehen oder gar laufen werden«, heißt es in einer Erklärung. Es sei »weiterhin nicht klar, wo und wie sich die Versammlungen im Stadtgebiet verteilen«. Das Bündnis ruft zu Protest gegen eventuelle rechte Aufmärsche auf: »solidarisch, mit Abstand und Maske, aber konsequent und entschlossen«. Sowohl bei Hygieneregeln als auch mit Blick auf Nazis gebe es »keine Kompromisse«. Aktuelle Informationen über Proteste sollen kurzfristig über soziale Medien verbreitet werden.
Hendrik Lasch
Am 13. Februar wird in Dresden an die Zerstörung 1945 erinnert - und an deren Vorgeschichte. Dieses Jahr können viele Aktionen indes nur virtuell stattfinden.
Dresden, Rechtsradikalismus, Sachsen
Politik & Ökonomie
Politik Dresden
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1148125.dresden-eine-virtuelle-menschenkette.html
Steigende Telefonkosten in Peking und Brüssel
Um zu verstehen, wie sehr sich die politische Lage Chinas verändert hat, muss man sich nur die Liste der Auslandstelefonate von Präsident Xi Jinping seit Jahresbeginn anschauen. Das letzte von zwei Telefonaten mit US-Präsident Donald Trump datiert vom 7. Februar. Xi versicherte Trump damals, dass sein Land rechtzeitig gehandelt habe, um das Virus einzudämmen. Dazu riet er den USA, die Situation in Ruhe zu evaluieren. Mit Bundeskanzlerin Angela Merkel hingegen telefonierte Xi vergangene Woche bereits zum vierten Mal, es folgte das fünfte Telefongespräch mit französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Seit der US-geführten Invasion im Irak 2003 hat Peking nicht mehr so intensiv auf die EU geblickt wie dieser Tage. Denn wie die Volksrepublik steht auch die EU unter Druck von Trump, der am Samstag vor Hummerfarmern mit neuen Zöllen sowohl auf chinesische als auch auf Produkte aus der EU drohte. Doch es sind nicht nur die angespannten Beziehungen mit den USA, die an diesem Mittwoch beim Strategischen Dialog von EU und China auf der Tagesordnung stehen. Wenn an diesem Tag EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen per Videoanruf mit dem chinesischen Premierminister Li Keqiang spricht und der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik Josep Borell mit dem chinesischen Außenminister Wang Yi, werden auch Unstimmigkeiten zwischen Brüssel und Peking auf der Themenliste stehen. Und von denen gibt es einige: So stocken die Gespräche über ein bilaterales Investitionsabkommen; die EU kritisiert China für dessen Umgang mit der chinesischen Sonderverwaltungszone Hongkong; China kritisiert Hindernisse für den Staatskonzern Huawei beim Ausbau des 5G-Netzes in der EU. Doch es gibt auch Gemeinsamkeiten zwischen China und der EU: Anders als die USA haben beide ein Interesse an der Aufrechterhaltung der Prinzipien der gegenwärtigen internationalen Ordnung. Bei ihrem Telefonat vergangene Woche sprachen Merkel und Xi über eine engere Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des Klimawandels und über ihre Bereitschaft, die Welthandelsorganisation weiter zu stützen. Sie bestätigten auch die pandemiebedingte Verschiebung des für den 27. September in Leipzig geplanten EU-China-Gipfels, bei dem Xi mit den den 27. EU-Staats- und Regierungschefs zusammenkommen sollte. Auch wenn es nicht in den offiziellen Protokollen des Telefonate Xis mit Macron steht, soll der französische Präsident laut Journalisten der Nachrichtenagentur Reuters gesagt haben, dass Frankreich die Situation in Hongkong genau beobachte. Anders als die USA hat die EU keine Sanktionen wegen des geplanten umstrittenen chinesischen Sicherheitsgesetzes für Hongkong und der damit befürchteten Aushöhlung von »Ein Land, zwei Systeme« in der ehemaligen britischen Kolonie angekündigt. Der Strategische Dialog und der Gipfel im September hätten die Höhepunkte des »EU-China-Jahres« werden sollen. Doch die Pandemie und die sich verschärfende Konfrontation zwischen den USA und China haben in der EU Spuren hinterlassen: Die Stimmung gegenüber China verschlechtert sich, nicht zuletzt weil die Volksrepublik anders als versprochen die Öffnung ihres Marktes verzögert. In der Coronakrise werden in der EU vermehrt Stimmen laut, die fordern, dass die Staatenverbund nicht seine wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit verlieren dürfe. Einzelne EU-Staaten wie Deutschland überlegen, wie sie verhindern können, dass durch die Viruskrise in Schwierigkeiten steckende Unternehmen durch chinesische Staatsunternehmen aufgekauft werden. Auch wächst die Kritik an China, dass es die EU-Mitgliedsländer gegeneinander ausspiele und dass die EU in Aussicht auf Geschäfte mit China Werte aufgebe. Was ein herausragendes Jahr im Verhältnis der EU mit China werden sollte, droht in einer sich rapide wandelnden Welt zu einem konfliktreichen zu werden.
Alexander Isele
Die beiden größten Volkswirtschaften der Welt, die USA und China, befinden sich auf politischem, wirtschaftlichem und technologischem Konfrontationskurs. Die Europäische Union steckt dazwischen.
Angela Merkel, China, Donald Trump, Europäische Union, Frankreich, USA
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1137696.steigende-telefonkosten-in-peking-und-bruessel.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
Egon Bahr: NATO-Mitgliedschaft ist für Ukraine nicht möglich
Berlin. Der SPD-Politiker Egon Bahr sieht die Sanktionen des Westens gegen Russland kritisch. »Die Wirtschaft wird ihre Interessen nicht auf dem Altar der Politik opfern«, sagte Bahr im Interview mit »«neues deutschland». Die Ostsee-Pipeline wertet er als Gewinn gemeinsamer Sicherheit. Nach Überzeugung des einstigen engen Vertrauten von Willy Brandt wolle Russlands Präsident Putin «die Ukraine gar nicht haben». Bahr forderte die Anerkennung der territorialen Integrität der Krim - «und zwar von allen Seiten». Gleichzeitig müsse akzeptiert werden, «dass eine NATO-Mitgliedschaft für die Ukraine unmöglich ist». Für eine EU-Vollmitgliedschaft ist die Ukraine nach Ansicht Bahrs «noch auf lange Zeit nicht reif». Der Architekt der Neuen Ostpolitik und Ostverträge der 1970er Jahre wünscht sich zur Lösung des Ukraine-Konfliktes eine sofortige Rückkehr zum Minsker Friedensvertrag und der NATO-Russland-Akte. Im «nd»-Gespräch äußert sich der Sozialdemokrat auch zum Streit um den Begriff Unrechtsstaat für die DDR sowie zu den Querelen um eine rot-rot-grüne Landesregierung in Thüringen. In diesem Zusammenhang bemerkt Bahr: «Ich kann mich nur wundern, wenn Herr Gauck eine absolut demokratische Wahl nicht anerkennt. Oder bezweifelt oder bekrittelt.» Das vollständige Interview mit Egon Bahr lesen Sie in der nd-Samstagausgabe.
Redaktion nd-aktuell.de
Die Sanktionen gegen Russland sieht Egon Bahr kritisch, eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine schließt der Architekt der Neuen Ostpolitik aus. Im "nd"-Gespräch äußert sich Bahr aber auch zu Rot-Rot-Grün in Thüringen.
Egon Bahr, Russland, Thüringen, Ukraine
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/952359.egon-bahr-nato-mitgliedschaft-ist-fuer-ukraine-nicht-moeglich.html
Rache am weltgrößten Idiotenchor
Rache, so heißt es selbst in Zeiten zivilisierterer Problemlösungskonzepte, ist süß. Dass Rache auch ganz schön lustig sein kann, belegt dagegen einer, der allen Grund zur Vergeltung hätte: Jimmy Hartwig. Anfang der 80er Jahre beschimpften Deutschlands Fußball-Hooligans den farbigen Offenbacher in Diensten des HSV mal wieder mit Worten, die nun unterm N-Wort firmieren. Da sei er in die Kurve gegangen und habe den Takt vorgegeben. Hartwig grinst fröhlich, als er die Anekdote erzählt: »Ich habe den größten Idiotenchor der Welt dirigiert.« Humor ist eben, noch ein Sprichwort, wenn man trotzdem lacht. Und zu lachen gab es wenig für Menschen wie den Sohn eines US-Soldaten. Im Gegenteil. Wenn Torsten Körner in seiner Amazon-Doku »Schwarze Adler« knapp zwei Stunden lang schildert, wie es deutschen Nationalspielern und -spielerinnen dunkler Hautfarbe im Land der industriellen Auslöschung Andersartiger ergangen ist, könnte man ständig heulen. Über Erwin Kostedde zum Beispiel. Als der Sprössling eines afroamerikanischen GIs nach Holocaust und Krieg in Münster aufwächst, ist sein Teint Anlass für drastische Vorurteile. Aus den Erinnerungen des 74-Jährigen ist allerdings keinerlei Bitterkeit darüber herauszuhören. Eher schon nüchterner Pragmatismus im Umgang mit lebenslangem Rassismus, der beim Zusehen demütig macht und stumm. »Ich bin ein harter Hund gewesen«, berichtet Kostedde über eine Kindheit voller Kränkungen, der eine Bundesligakarriere mit unverändert verbalen Attacken folgte, »aber das lässt einen nicht los.« Und weil er es so unverstellt, bewegend, nachsichtig ausdrückt - weil auch die wachsende Zahl von Nachfolgern des ersten nichtdeutschen Auswahlspielers trotz aller Ablehnungen, die jenen bis heute entgegenschlägt, so gradlinig bleiben, so aufrecht und würdevoll -, lässt einen dieser Film kaum mehr los. Schließlich arbeitet Hartwig sich chronologisch durchs Gedärm einer fußballverrückten Nation, deren beste Elf nie nur Topsportler waren, sondern Volksdeputierte, Projektionsflächen, Platzhalter für 80 Millionen Bundestrainer mit mehrheitlich rückständiger Auffassung von Zugehörigkeit und Integration. Von Erwin Kostedde oder Anthony Baffoe über Beverly Ranger und Steffi Jones bis zu Gerald Asamoah, Patrick Owomoyela, Jordan Torunarigha erzählen uns Körners Protagonisten also aus einem Land, das ihnen zwar das Wichtigste verdankt, was es abseits von Familie, Beruf, und Autos hat. Dankbarkeit, gar Anerkennung darf dafür allerdings bis heute keiner erwarten. Das macht die Doku »Schwarze Adler« zur sehenswerten Studie einer abweisenden, selbstgerechten, im Kern unverändert xenophoben Gesellschaft, die im gewaltigen Kontrast zu den Opfern ihrer Ablehnung steht. Sie alle nämlich vermitteln ein gleichsam warmherziges wie sachliches Heimatgefühl, dass die CSU vor Neid erblassen müsste. Ohne Pathos und Patriotismus äußern alle Titelhelden ihren Stolz, das deutsche Trikot zu tragen. Selbst Leroy Sanés Vater Souleymane, den Anfang der 90er Jahre noch das komplette Stadion von Energie Cottbus mit Affengebrüll bedachte, fühlt sich aufrichtig geborgen. Und wenn Ex-Jugendnationalspielerin Shary Reeves betont, sie »liebe dieses Land«, aber weinend »und es macht so müde« hinzufügt, zeigt die deutsch-afrikanische Kölnerin mehr Herz für ihren Lebensmittelpunkt als ein ganzer AfD-Parteitag. Diesen Kontrast zwischen Anspruch und Realität vertont Regisseur Körner mit Variationen der Nationalhymne, die mal gutmütig klingen, mal bedrohlich, aber stets passend zum Lebensgefühl seiner Zeitzeugen. Eher düster klingt sie bei der Aussage von Otto Addo, Sohn eines ghanaischen Arztes und heute Jugendtrainer in Dortmund. Ob bei der Wohnungs- oder der Jobsuche, klagt der Deutsche Meister von 2002 mit Hamburger Akzent, die Probleme dunkelhäutiger Menschen seien »dieselben wie vor 20, 30 Jahren«. Oder 1975, als der damals zweitbeste Mittelstürmer das dritte Länderspiel machte. Es war zugleich sein letztes. »Schwarze Adler«, ab 15.4. auf Amazon Prime Video
Jan Freitag
Die Doku »Schwarze Adler« porträtiert deutsche Nationalspieler mit dunkler Hautfarbe und zeigt ein Land, das bis heute rassistisch ist
Rassismus
Feuilleton
Kultur
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1150767.rache-am-weltgroessten-idiotenchor.html?sstr=schwarze%20adler
Israels Regierung steuert planlos in die Zukunft
Erneut musste sich die israelische Regierung vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) für seine Kriegsführung im Gazastreifen verantworten. Südafrikas neuer Eilantrag soll die laufende Offensive auf Rafah stoppen, und zur Diskussion steht erneut, ob die Militäraktionen der israelischen Armee den Tatbestand des Völkermords erfüllen; Hinweise darauf hatte der IGH bereits anerkannt. Auch wenn die Richter erst in ein paar Tagen eine Entscheidung bekannt geben, lässt sich bereits erkennen, dass sich die Ausgangslage nicht geändert hat: Israel weist jeden Vorwurf des Völkermords zurück und rechtfertigt seinen Militäreinsatz in Rafah als Selbstverteidigung gegen ein »militärisches Bollwerk der Hamas«; die von Südafrika vorgebrachten Vorwürfe seien eine »Verdrehung der Wirklichkeit«. Es ist die immer gleiche Rechtfertigung für einen Krieg, der bereits über 35 000 Palästinensern das Leben gekostet hat und das Maß legitimer Selbstverteidigung längst überschritten hat. Die israelische Regierung schert sich wenig um internationale Regeln und Kritik an ihrer Kriegsstrategie, straft Organisationen wie die Uno mit Miss-, ja Verachtung ab. Das ist nicht neu, aber unter der Regierung von Benjamin Netanjahu zu einer konstanten politischen Linie geworden. Israels Regierung agiert perspektivlos, steht ohne Plan da, was nach dem Krieg aus dem Gazastreifen werden soll. Netanjahu hat nur Krieg im Kopf. Wenn der gewonnen ist, will er über die Zukunft des Trümmerfelds Gaza nachdenken.
Cyrus Salimi-Asl
Per Eilantrag beim Internationalen Gerichtshof (IGH) will Südafrika Israels laufende Offensive auf Rafah im südlichen Gazastreifen stoppen. Erneut wird dabei die Frage eines möglichen Völkermords verhandelt.
Gaza, Genozid, Internationaler Gerichtshof, Israel, Nahost, Südafrika
Meinung
Kommentare Internationaler Gerichtshof
2024-05-17T17:31:19+0200
2024-05-17T17:31:19+0200
2024-05-23T16:08:55+0200
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1182285.internationaler-gerichtshof-israels-regierung-steuert-planlos-in-die-zukunft.html
Türkei: CHP will weitere Wahlen annullieren lassen
Istanbul. Die türkische Oppositionspartei CHP hat am Mittwoch einen Antrag auf die Annullierung der Präsidenten- und Parlamentswahl von 2018 sowie aller Wahlgänge der Kommunalwahlen vom 31. März 2019 gestellt. Sie reagierte damit auf die Entscheidung der W... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Erneute Proteste in Istanbul gegen Absetzung des Bürgermeisters
linke Parteien, Türkei
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1118341.tuerkei-chp-will-weitere-wahlen-annullieren-lassen.html
Ruhe nach dem Sturm
»Auch in den Vorjahren hatten die Demonstrationen immer wieder in Gewalt geendet.« Dieser schöne Satz steht auf spiegelonline.de. Hier ist die Welt noch in Ordnung. Bis zu diesem Satz berichtet der Text von Flaschenwürfen, immerhin einem (1) umgekippten Auto, bis hin schließlich zu diesem kleinen, aber feinen »auch«. An dieser Stelle ein Hinweis für all jene Leser, die sich fragen, was an dieser Präposition nun so besonders ist. Einfach: Die Revolutionäre 1. Mai-Demonstration wurde in diesem Jahr nicht vorzeitig beendet. Spiegel-online indes, der konservative Sittenwächter der Medienlandschaft, konnte ja nicht mal von den offiziel... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Sarah Liebigt über einen friedlichen 1. Mai
1. Mai, Berlin
Meinung
Kommentare Meine Sicht
https://www.nd-aktuell.de//artikel/820492.ruhe-nach-dem-sturm.html
Vizepremier Salvini riskiert 30 Jahre Haft
Italiens Innenminister und Vizepremier Matteo Salvini hat für den Rekord gesorgt: Am Freitag übergab der Staatsanwalt von Agrigento. Luigi Patronaggio, dem »Tribunale dei Ministri« in Palermo eine 50-seitige Anklageschrift, in der von erpresserischer Geiselnahme bis Amtsmissbrauch die Rede ist. Die sizilianische Teilsektion des Ministergerichts - der einzigen Instanz, vor der sich Regierungsmitglieder zu verantworten haben - muss nun binnen 90 Tagen entscheiden, ob sie ein Gerichtsverfahren eröffnen will. Sollte es zu Prozess und Verurteilung kommen, könnten dem Minister bis zu 30 Jahre Haft drohen. Die Klageschrift verweist auf fünf Straftaten, die dem rechtspopulistischen Chef der Lega vorgeworfen werden. An erster Stelle steht »erpresserische Geiselnahme« gemäß Artikel 289 des italienischen Strafgesetzbuches. Staatsanwalt Patronaggio hält es für erwiesen, dass Salvini die 177 Flüchtlinge, die tagelang auf dem Küstenwachschiff »U.Diciotti« festgehalten wurden, als Mittel zur Erpressung der EU genutzt hat, um die Flüchtlingsregeln des Dubliner Abkommens zu unterminieren. Weitere Anklagepunkte sind »Menschenraub« und »gesetzwidrige Freiheitsberaubung« im Zusammenhang damit, dass die Menschen ohne jeglichen Strafvorwurf zehn Tage an Bord des Schiffes festgehalten wurden. Hinzu kommt der Punkt »Unterlassung von Amtshandlungen«. Der Innenminister hätte dem Küstenwachschiff einen sicheren Hafen zur Anlandung der Flüchtlinge zuweisen müssen. Im selben Zusammenhang wird Salvini »Amtsmissbrauch« in mindestens acht Fällen vorgeworfen. Der Innenminister habe zudem die Europäische Menschenrechtskonvention verletzt sowie gegen verschiedene Verfassungsartikel verstoßen. Der Lega-Chef reagierte in seiner bekannt provokanten Art. Er sei bereit, vor dem Gericht auszusagen, jede erneute Klage sei für ihn wie eine »Medaille«, schließlich würden diese Vorwürfe sein Bestreben auszeichnen, »die Sicherheit des italienischen Volkes zu verteidigen«. Salvini gefällt sich offenbar in der Rolle des Märtyrers. Wie die Tageszeitung »La Repubblica« nachrechnete, war der Lega-Chef in den drei Monaten seiner Amtszeit an 60 Tagen auf Parteiveranstaltungen und Kundgebungen im ganzen Land aufgetreten, darunter bei 23 Wahlkampfveranstaltungen. Politische Aktivitäten, die weder mit dem Ministeramt noch mit dem des Vizepremiers zu tun hatten. Und das zu einer Zeit, da in Italien an vielen Orten Notstand vorherrscht - von den Erdbebengebieten in den Abruzzen bis hin zur Lage nach dem Brückeneinsturz von Genua. Hinzu kommt, dass die Lega gerade selbst in deutlichen Schwierigkeiten steckt. Das Überprüfungsgericht von Genua verhandelt den Fall schwarzer Kassen und illegaler Parteienfinanzierung sowie die Veruntreuung von Staatsmitteln. Für den 5. September wird das abschließende Urteil erwartet: Der rechtspopulistischen Partei droht eine Rückzahlung von 49 Millionen Euro an den Staat - dann, so Staatssekretär Giancarlo Giorgetti, könnte sie »den Laden schließen«.
Wolf H. Wagner, Florenz
Es ist selten, dass sich ein Regierungsmitglied einer Anklage stellen muss. Noch seltener, wenn das bereits am 92. Tag nach Amtsantritt geschieht.
Asylpolitik, Flüchtlinge, Italien, Menschenrechte
Politik & Ökonomie
Politik
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Dr. Motte flattert wieder
Der laut wummernde Bass lässt den Boden unter den Füßen vibrieren. Noch stehen die Umzugswagen, auch »Floats« genannt, still. Rund 200 000 Menschen sollen am Samstag gekommen sein, um »Rave the Planet« hautnah mitzuerleben. Die Polizei spricht lediglich von etwa 45 000 Teilnehmern. Es ist die Neuauflage der einst weltbekannten Loveparade, die der Berliner DJ Dr. Motte im Juli 1989 ins Leben rief. Damals tanzten 150 Teilnehmer über die Straße, zehn Jahre später waren es 1,5 Millionen. Nach langem Streit über die im Tiergarten angerichteten Schäden und die Kosten der Müllentsorgung fand die letzte Berliner Loveparade 2006 statt. Ab 2007 gab es sie an wechselnden Orten im Ruhrgebiet, bis 2010 bei einer Massenpanik am viel zu engen Eingang in Duisburg 21 Menschen ums Leben kamen und 652 verletzt wurden. »Wir sensibilisieren, fördern Offenheit und vernetzen Kulturschaffende, damit die elektronische Musikkultur sich weiter entfalten kann«, heißt es nun. Die Vision sei es, »dass Techno als Kulturform anerkannt«, erhalten, gefördert und geschützt wird. Außerdem soll die Berliner Clubkultur Teil des UNESCO-Weltkulturerbes werden. »Hier volltanken«, ist am Samstag auf einem mit Smileys bemalten Schild zu lesen. Daneben sticht ein schwarz gekleideter Mann auf einer bunt funkelnden eierförmigen Statue hervor. Er trägt eine Maske und hisst eine Flagge mit der Aufschrift eines Hamburger Clubs. Die Menschen stehen dicht an dicht auf dem Kurfürstendamm, einige tanzen bereits und versuchen, ihren Rhythmus zur ohrenbetäubend lauten Musik zu finden. Auf einem Schild steht in rosa Schrift unter einem Schallplattenspieler: »Es wird getanzt, was auf den Teller kommt.« »Los jetzt«, schreit ein ordinär gekleideter Mann in einem kurzen ruhigen Moment. Viele Anwesende stimmen ein, beginnen zu jubeln und zu pfeifen. Die Menschen grölen sich in Rage. Wie bestellt setzen sich die Reifen des ersten Musikwagens im Schritttempo in Bewegung. Schrilles Kreischen, die Menge bebt vor Aufregung. Die Menschen sind bunt gekleidet, abseits der Norm, das scheint der Standard zu sein. Eine junge Frau mit feuerrotem Haar tanzt, die Hände in die Luft gestreckt. Sie trägt eine giftgrüne Hose mit Schlangenoptik, dazu ein bunt gemustertes Oberteil und darüber eine beige glitzernde Jacke. Ihre Lippen sind schwarz geschminkt, die rechte Schläfe ziert eine gelb-pinke Bemalung mit bunten Glitzersteinchen. »Ich bin spontan hergekommen, weil mich ein Freund darauf angesprochen hatte. Ich hätte es sonst gar nicht mitbekommen«, sagt Vicky. Die 29-Jährige erzählt, dass sie vor etlichen Jahren auf einer Geburtstagsparty von Dr. Motte gearbeitet hat. Daher verstehe sie den »Spirit« der Veranstaltung. Darum habe sie sich so herausgeputzt. Die erste Loveparade 1989 – Motto: »Friede, Freude, Eierkuchen« – fand bei Nieselregen statt. 33 Jahre später wiederholt sich die Techno-Parade am selben Ort unter, nun ja, ähnlichen Umständen. Kurzzeitig regnet es in Strömen, doch die Tausenden von Menschen lassen sich davon nicht die Stimmung verderben. Im Gegenteil: Regenschirme werden aufgespannt und als Accessoire in die Bewegungen integriert. Die Parade zieht vom U-Bahnhof Uhlandstraße über den Kurfürstendamm zum Potsdamer Platz und vorbei am Brandenburger Tor. Das Ziel ist die Siegessäule – wie auch bei der allerersten Loveparade. Als Demonstration angemeldet, muss die Veranstaltung gesetzlich verpflichtend einen Redeanteil von mindestens 50 Prozent haben. Im Laufe des Tages stoppt die Musik vereinzelt zwischen den insgesamt 18 Musikwagen. Zwischendurch läuft eine vorgefertigte Aufnahme von Dr. Motte vom Band, die kaum zu verstehen ist. Insgesamt sieben Forderungen formulieren die Veranstalter auf der Homepage von »Rave the Planet«. Kommt die Botschaft auch in der Menge vor Ort an? Die 20-jährige Emilia weiß um das Bestreben der Veranstaltung und ist deshalb erschienen. »Davon gehört habe ich bisher aber eigentlich nicht«, sagt sie. Sie sei aber auch erst ein paar Stunden nach Beginn des Umzugs dazugestoßen. Auch wenn die offiziellen Forderungen des als Demonstration angemeldeten Raves nach Förderung und Anerkennung der elektronischen Musik- und Tanzkultur harmlos klingen, bewegt sich der Umzug teils in einem politisch mindestens heiklen Umfeld. Das zeigt ein Video, das die Initiative Geradedenken am Sonntag beim Kurznachrichtendienst Twitter verbreitete. Darin hält Dr. Motte auf einem der Party-Wagen einen Sticker der sogenannten Freedom Parade hoch und macht dabei anbetende Verbeugungen. Das Logo, eine Kombination aus Herzen, Peace-Zeichen und Corona-Virus, stammt aus einer Szene von Impfgegner*innen und Pandemie-Leugner*innen mit ausgeprägtem Querfront- und Rechtsdrall. Der DJ twitterte daraufhin: »Ich wusste das nicht. Ich entschuldige mich.« Warum Matthias Roeingh alias Dr. Motte ein ihm angeblich unbekanntes Motiv verehrungsvoll vor die Massen hielt, erklärt das Statement nicht. Mit viel Nachsicht ließe sich auf Roeinghs Überschwang verweisen. Die Veranstaltung »Rave the Planet« war im Sommer 2021 pandemiebedingt abgesagt worden, am Samstag fiel der Nachholtermin auf Matthias Roeinghs 62. Geburtstag.
Sabrina Lösch
Am Samstag gab es in Berlin mit »Rave the Planet« eine Parade, an der sich auch Dr. Motte beteiligte. Sie sollte eigentlich bereits im vergangenen Jahr stattfinden, wurde aber wegen der Corona-Pandemie verschoben.
Musik, Tanz
Hauptstadtregion
Berlin Loveparade
2022-07-10T16:41:32+0200
2022-07-10T16:41:32+0200
2023-01-20T18:02:15+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1165191.loveparade-dr-motte-flattert-wieder.html
Nicht nur reden, etwas tun!
Sie wurde als Tochter eines Bankkaufmanns geboren und wuchs zusammen mit drei Geschwistern in der Nähe von Magdeburg auf. Nach der Oberschulprüfung besuchte sie das Gymnasium, an dem sie sich mit einem ihrer Brüder für die deutsch-sowjetische Freundschaft einsetzte. Im Verlauf ihrer Schulzeit erkrankte sie schwer und musste sechs Wochen auf einer Isolierstation zubringen. Schon damals fasste sie den Entschluss, Schriftstellerin zu werden. Mit 17 gewann sie einen Ideenwettbewerb für Laienspiele an der Volksbühne. Wenig später wurden erste Laienspiele von ihr in Berlin gedruckt. Gern hätte sie Theaterwissenschaften studiert, doch wegen eines Unfalls musste sie davon Abstand nehmen. Nach einer kurzen pädagogischen Ausbildung unterrichtete sie an ihrer ehemaligen Schule, dann begann sie als freie Autorin zu arbeiten. Im gleichen Jahr heiratete sie einen Maschinenschlosser, wurde schwanger und erlitt eine Fehlgeburt. Daraufhin wollte sie sich das Leben nehmen. Aber ihr Suizidversuch scheiterte. In den folgenden zwei Jahren veröffentlichte sie drei Erzählungen, von denen eine als Vorlage für ein Fernsehspiel diente. Sie schildert darin die Liebe einer jungen Bäuerin zu einem sowjetischen Kriegsgefangenen während des Zweiten Weltkriegs. In Würdigung ihres Schaffens wurde sie bereits mit 23 in den Deutschen Schriftstellerverband aufgenommen und später sogar in den Vorstand gewählt. Nach der Scheidung von ihrem ersten Mann heiratete sie einen Schriftstellerkollegen und zog mit ihm nach Hoyerswerda, um dort unmittelbar etwas für den Aufbau des Sozialismus zu tun. Im Kombinat Schwarze Pumpe arbeitete sie in einer Rohrlegerbrigade und leitete einen Zirkel Schreibender Arbeiter - ganz im Sinne des Bitterfelder Wegs, dem sie sich seinerzeit ebenso verpflichtet fühlte wie dem Sozialistischen Realismus. Sie verfasste mehrere Erzählungen in dieser Stilrichtung und erhielt den Literaturpreis des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes. Ihre zweite Ehe war zu dieser Zeit bereits zerrüttet. Sie ließ sich scheiden und heiratete wenig später erneut, einen ehemaligen Philosophiestudenten, der zweimal aus der Partei geflogen war. Über ihn schrieb sie: »Ein schrecklicher Mensch. Wir hatten sofort eine ›Antenne‹ füreinander. Wir stritten uns erbittert: Gefühl gegen Verstand.« Aber auch diese Ehe hielt nicht. Als er sie betrog und verließ, war die nächste Scheidung unvermeidbar. Immer öfter spielte sie mit dem Gedanken, aus Hoyerswerda wegzugehen, denn mit ihrer Kritik am Ausbau des Zentrums der Stadt hatte sie sich zahlreiche Feinde unter den Funktionären gemacht. Überdies weigerte sie sich, eine zustimmende Erklärung des Schriftstellerverbands zum Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die CSSR zu unterzeichnen. Im Alter von 35 Jahren wurde bei ihr Krebs diagnostiziert. Eine Operation sowie eine nachfolgende Chemotherapie brachten nicht den gewünschten Erfolg. Dennoch schrieb sie weiter, rauchte, trank und stürzte sich in Affären. Auch ihren Glauben an die DDR gab sie nicht auf. »Ein interessantes Land, trotz allem, und es lohnt sich wieder, sich zu schlagen: für das, was wir uns einmal unter Sozialismus vorgestellt haben«, teilte sie ihrem Bruder mit. In Neubrandenburg, wo sie zuletzt lebte, heiratete sie ein viertes Mal, einen Arzt, der ihr endlich Geborgenheit schenkte. Obwohl sie häufig unter starken Schmerzen litt, arbeitete sie wie besessen an einem Roman, in den sie viele eigene Erfahrungen einfließen ließ. »Das Buch muss fertig werden«, notierte sie, »es enthält wenigstens eine Spur dessen, was ich zu sagen habe.« Doch ihr Wunsch ging nicht in Erfüllung, ihr großes Werk blieb unvollendet. Denn ihr Gesundheitszustand hatte sich trotz einer erneuten Operation rapide verschlechtert. Die letzten Tage ihres Lebens verbrachte sie in einem Berliner Krankenhaus, in dem sie mit 39 Jahren starb. Wer war’s?
Redaktion nd-aktuell.de
Von Hoffnungen, Illusionen und vier Versuchen, das Glück zu zwingen
Bildungspolitik, Literatur, Sozialismus
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Kultur
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Lieder aus einer untergegangenen Welt
Frage in die Runde: Wer sind die für die 80er Jahre typischsten Musiker? Michael Jackson, der in jeder Hinsicht die Trennung zwischen Schwarz und Weiß aufhob? Oder Prince, der das 80er-Motto »Any-thing goes« (»Alles ist möglich«) musikalisch umsetzte, indem er alle denkbaren Stile miteinander verrührte? Oder Madonna, die sich immer wieder neu erfand und damit nicht nur Frauen signalisierte, dass Identität veränderbar war - »ich bin mein eigenes Experiment, ich bin mein eigenes Kunstwerk.« Oder Frankie Goes To Hollywood, die wie keine zweite Band den Größenwahn, Narzissmus und Rausch jenes Jahrzehnts verkörperten? Alles richtig. Und doch ist keine Formation typischer für jene Zeit als Shakatak, die 1980 - pünktlich zum Jahrzehntbeginn - gegründet wurden. Denn während Madonna & Co. sich auch in anderen Jahrzehnten behaupteten oder behauptet hätten, fanden Shakatak nur in den 80ern den kulturellen Nährboden und das gesellschaftliche Klima vor, in dem sie gedeihen konnten. Das lag natürlich an den zahllosen Neonbars, die damals in Westeuropa aus dem Boden schossen und die eine unaufdringliche, zeitgemäße Klangtapete benötigten - immer nur Whiskymelancholie (Sinatra, Knef, französische Chansonniers), das hätte auf Dauer kein Cocktailschlürfer ausgehalten. Es lag zudem daran, dass in dem Maß, in dem der Kalte Krieg milder wurde, auch die Menschen auftauten, lockerer wurden, entspannten. Die Zeit der Parolen, der geballten Fäuste, des überbordenden Pathos war (trotz BAP und U2) vorbei. Anders als noch in den 70ern mussten Lieder nicht mehr das Leben verändern, denn dieses war ja eigentlich ganz okay. Also hörten viele Menschen Musik, die auch ganz okay war. Und die beste und erfolgreichste unter den ganz okayen Bands war Shakatak, weil deren Musiker ihre Instrumente so gut beherrschten, dass man das Ergebnis - mit ein wenig Wohlwollen - als »Jazz-Funk« bezeichnen konnte. Das tat niemandem weh. So wie das Leben damals kaum einem wehtat. Terrorismus war nur eine Erinnerung an Schießereien, die Jahre zurücklagen. Mit Extremismus beschäftigten sich allenfalls noch hauptberufliche Verfassungsschützer und nebenberufliche Soziologiestudenten. Und Krieg? Ja, davon hatte man gehört. Irgendwo am Hindukusch bekämpften Russen und Afghanen einander. Aber was, bitte sehr, hatte das mit dem Leben in Westeuropa zu tun? Heute wissen wir: eine Menge. Der große und cleane Kalte Krieg ist von vielen schmutzigen Klein- und Kleinstkriegen abgelöst worden. Nur Shakatak, die gibt es immer noch. Ihre heutigen Songs klingen nicht viel anders als 1980. Zu ihrem 40-jährigen Jubiläum haben sie jetzt »All Around The World«, eine 4er-Box mit Hits und Raritäten herausgebracht. Übrigens nicht auf Vinyl, sondern auf CD. Wer in den 80ern modern sein wollte, mottete seine Schallplatten ein und stieg auf die kleinen digitalen Scheiben um. Selbst in der Wahl des Tonträgers sind Shakatak also sich und ihrem Jahrzehnt treu geblieben - was irgendwie Hoffnung macht. Shakatak: »All Around The World« (Secret)
Frank Jöricke
Shakatak, die musikalische Verkörperung der 80er, feiern ihr 40-jähriges Bestehen
Musik
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Kultur
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Bausteine eines Abkommens
ND: Erwarten Sie von den Verhandlungen in Cancún ein verbindliches Abkommen zur Treibhausgasreduzierung? Schneidewind: Ein umfassendes verbindliches Abkommen wohl nicht, aber hoffentlich erste Bausteine, die in den nächsten Runden zu verbindlichen Abkommen führen. Die Hoffnung ist, auch nachdem die Biodiversitätskonferenz in Nagoya so gut ausgegangen ist, dass man nun mit einem etwas positiveren Elan nach Cancún fährt. Anders als in Nagoya sind diesmal allerdings die USA mit von der Partie. Und trotz aller Bekenntnisse von Präsident Barack Obama ist dessen Bewegungsfreiheit ja begrenzt ... Das ist richtig. Vor allem nach dem Ergebnis der jüngsten Wahlen in den USA sind die Verhandlungsspielräume der amerikanischen Administration in Cancún ziemlich eng. In Kopenhagen ist man sich ja wenigstens einig geworden, dass die Klimaerwärmung unter zwei Grad bleiben muss. Dafür dürften noch rund 700 Milliarden Tonnen CO2 in die Atmosphäre geblase... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Der Ökonom Prof. Dr. Uwe Schneidewind ist Präsident und wissenschaftlicher Geschäftsführer des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie. Steffen Schmidt befragte ihn für ND nach Erfolgsaussichten der am Montag beginnenden UN-Klimakonferenz in Cancún und nach den notwendigen Zielen einer erfolgversprechenden Klimaschutzpolitik.
Interview, UN-Klimagipfel
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Politik UN-Klimagipfel
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Seehofer schließt Abschiebungen nach Syrien aus
Hamburg. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) hat Abschiebungen nach Syrien zum jetzigen Zeitpunkt ausgeschlossen. Auch straffällig gewordene Flüchtlinge könnten nicht in das Bürgerkriegsland zurückgeschickt werden, sagte er dem »Spiegel« laut Vorabmeldung vom Freitag. Der neue Lagebericht des Auswärtigen Amtes zu Syrien sei »plausibel«, erklärte der Minister: »Im Moment kann in keine Region Syriens abgeschoben werden, das gilt auch für Kriminelle.« Im Wahlkampf um den CDU-Vorsitz hatte kürzlich Annegret Kramp-Karrenbauer gefordert, im Zweifelsfall müsse man straffällig gewordene Syrer trotz des nicht beendeten Bürgerkriegs in ihr Heimatland zurückschicken. Der derzeitige Stopp von Abschiebungen nach Syrien läuft im Dezember aus. Auf Grundlage des Lageberichts des Auswärtigen Amtes will die Innenministerkonferenz in der kommenden Woche in Magdeburg über Abschiebungen beraten. Medienberichten zufolge warnt das Außenministerium in seinem Bericht deutlich vor Abschiebungen in das Bürgerkriegsland. Rückkehrern drohe in dem Bürgerkriegsland Gefahr für Leib und Leben, heißt es dem Papier, über das »Süddeutsche Zeitung«, NDR und WDR Anfang der Woche berichtet hatten. »In keinem Teil Syriens besteht ein umfassender, langfristiger und verlässlicher Schutz für verfolgte Personen«, zitieren die Medien aus dem Papier, das auf den 13. November datiert ist. Pro Asyl begrüßte Seehofers Aussagen zu Syrien. Die Organisation forderte zugleich, auch nach Afghanistan und Irak dürften keine Abschiebungen stattfinden. Die Innenminister müssten kommende Woche auch für diese Staaten einen Abschiebestopp beschließen. Agenturen/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Das Auswärtige Amt besagt in seinem Lagebericht, dass keine Region Syriens sicher ist. Überraschenderweise glaubt Bundesinnenminister Horst Seehofer den Kollegen. Es bleibt beim Abschiebestopp für das Bürgerkriegsland.
Asylpolitik, Auswärtiges Amt, Seehofer
Politik & Ökonomie
Politik Asylpolitik
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Die Völkischen übernehmen das AfD-Ruder
Als es in Hamburg am Rande des G20-Gipfels Anfang Juli zu Ausschreitungen kam, da sah die AfD ihre Chance, mit dem Wahlkampfthema »Gewalt von Links« wieder in die Schlagzeilen zu kommen. Gleich fünf Pressemitteilungen zu den Ereignissen wurden von der Bundespartei innerhalb weniger Tage veröffentlicht. Spitzenkandidatin Alice Weidel meldete sich drei Mal zu Wort, auch Parteichefin Frauke Petry und Vorstandsmitglied André Poggenburg äußerten sich. Inhaltlich war das Gesagte erwartbar, in ihrer Kernaussage glichen sich die Äußerungen. Verkürzt lässt sich der Inhalt zusammenfassen: Alle sind wieder einmal Schuld am Untergang des Abendlandes - selbstverständlich mit Ausnahme der AfD. Interessanter als die verbalen Schläge gegen politische Konkurrenten ist die Selbsteinschätzung, die die AfD mitliefert. Während Weidel Angela Merkel als »Extremismuskanzlerin« bezeichnete, sei die AfD »die einzige Partei, die uneingeschränkt bereit ist, Recht und Ordnung auch rigoros durchzusetzen«. Bei Poggenburg hieß es sogar explizit in einer Mitteilung: »Die AfD-Fraktion Sachsen-Anhalt tritt seit jeher entschieden gegen jede Form des Extremismus ein.« Im Subtext will nicht nur Poggenburg den Wählern signalisieren: Die AfD sei nicht nur Partei einer nicht näher definierten »Mitte der Gesellschaft«, sie sei zugleich eine Partei des politischen Ausgleichs, die radikale Positionen ablehne, und, wie es Parteistratege Marc Jongen 2016 formulierte, die »Lobby des Volkes«. Während die AfD also die Kanzlerin als politische Extremistin brandmarkt, sieht die Partei in ihren eigenen Reihen keinerlei kritische Entwicklung. Eine Analyse von Studierenden der Sozialwissenschaften der Ruhr-Universität Bochum, die »nd« vorliegt, kommt zu einem anderen Schluss: Trotz anderslautender Beteuerungen baue der völkisch-nationalistische Flügel rund um den Thüringer AfD-Chef Björn Höcke sukzessive seine Vormachtstellung aus. Schafft es die Rechtsaußenpartei in den nächsten Bundestag, und danach sieht es derzeit aus, könnte es sich bei einer Mehrheit der AfD-Abgeordneten um Unterstützer des Höcke-Kurses handeln. Kernstück der Analyse bilden die von den 16 AfD-Landesverbänden aufgestellten Listen zur Bundestagswahl (Stand: Ende Mai 2017). Auf diesen finden sich laut Studie insgesamt 196 Kandidaten. Darunter ließen sich 79 Personen ausmachen, die »Höcke direkt unterstützen und Verbindungen zu anderen rechten Organisationen haben«. Dazu heißt es: »Trotz der Bemühungen der AfD, sich als bürgernahe Volkspartei darzustellen, zeigen sich auf den Landeslisten für die Bundestagswahl zahlreiche Verstrickungen von Parteimitgliedern in die extrem rechte Szene.« Unter den 79 Kandidaten mit Bezug zu Höcke sollen sich auffallend viele Anhänger des sogenannten Flügels befinden, einer völkisch-nationalistischen Gruppierung innerhalb der AfD. Von sich Reden machte der »Flügel« im Jahr 2015 durch die »Erfurter Resolution«, die das Ziel formulierte, die Partei auf einen radikaleren einzuschwören. Parteichef Jörg Meuthen gab einmal an, der »Flügel« repräsentiere etwa 20 Prozent der AfD-Mitglieder. Unter den Bundestagskandidaten finden sich außerdem Sympathisanten und Unterstützer der »Patriotischen Plattform«, einer weiteren AfD-Gruppierung, die zuletzt laut »Spiegel« zunehmend ins Blickfeld des Verfassungsschutzes geriet, weil deren Mitglieder durch »rechtsextreme Positionen« auffielen. Ein Kandidat mit Bezug zur »Patriotischen Plattform« ist deren Schriftführer Alexander Tassis, der zugleich Abgeordneter in der Bremischen Bürgerschaft ist. Eine seiner bekanntesten Provokationen war ein Vergleich zwischen Merkel, Adolf Hitler und Walter Ulbricht. Via Facebook erklärte Tassis im Juli 2016: »Merkel geht mit Hitler und Ulbricht [sic!] ein als eine der drei großen Schadensbringer zwischen 1933 und 2033.« Tassis selbst dürfte mit dem dritten Platz auf der Bremer Landesliste keine Chance auf einen Einzug in den Bundestag haben. Spitzenkandidat wurde dagegen Landeschef Frank Magnitz. Er selbst will sich innerhalb der AfD keinem Flügel zuordnen, wie er im März gegenüber der »taz« erklärte, doch die engen Verbindungen zwischen dem Bremer und dem Thüringer Landesverband sind kein Geheimnis. So trat Magnitz im Mai 2016 an der Seite Höckes bei einer Demonstration in Erfurt auf, an der neben der AfD auch zahlreiche Pegida-Anhänger teilnahmen. Die rassistische Bewegung liefert das nächste passende Stichwort: Laut Analyse tummeln sich auf den Landeslisten mehrere Unterstützer von Pegida und Pegida-nahen Organisationen. Einer der bekanntesten Vertreter ist Jens Maier. Im Frühjahr dieses Jahres sorgte der Dresdner Richter für Schlagzeilen, weil er als Vorredner Höckes bei dessen bekannter »Denkmal-der-Schande-Rede« auftrat. Als Einpeitscher brachte er das Ballhaus Watzke zum Kochen, was ihm schließlich den Beinamen »Kleiner Höcke« einbrachte. Mit Sätzen wie »Ich erkläre hiermit diesen Schuldkult für beendet, für endgültig beendet« steht der Richter am Landgericht Dresden dem Thüringer Original ideologisch in nichts nach. Maier plädierte mehrfach dafür, die Grenzen zwischen AfD und Pegida einzureißen. Anfang Juni machte er Nägel mit Köpfen. Im direkten Anschluss an eine Pegida-Kundgebung hielt er auf dem Dresdner Altmarkt eine Rede. Formal waren beide Veranstaltungen getrennt, für den Beobachter war es ein Event. Maier indes konnte sich mit seinem Auftritt schon einmal für den anstehenden Bundestagswahlkampf warmreden. Auf Platz zwei der sächsischen Landesliste direkt hinter Petry gilt sein Einzug ins Parlament als sicher. Ähnlich sieht es mit Siegbert Droese aus, der direkt dahinter folgt. Der sächsische AfD-Vizechef lehnt nicht nur vehement das von Petry forcierte Parteiausschlussverfahren gegen Maier ab, ähnlich wie der »kleine Höcke« suchte Droese in der Vegangenheit auch die Nähe zu Pegida. 2016 bezeichnete er die rassistische Straßenbewegung als »Bereicherung des politischen Diskurses« und bot den Schulterschluss an. Letztlich wurde er nur von seinem Leipziger Kreisverband zurückgepfiffen. Deutlich weniger ins Gewicht fallen dagegen jene 37 von 196 Kandidaten, die laut Analyse »mehr oder weniger eindeutig der gemäßigten Strömung der Partei« zuzuordnen sind. Dazu gehören im Wesentlichen Unterstützer von Parteichefin Petry und Personen, die ihren »Zukunftsantrag« auf dem Kölner Bundesparteitag Mai mittrugen. Wobei die Autoren der Analyse einräumen, dass der Begriff »gemäßigt« vorsichtig zu benutzen sei. Die Parteivorsitzende tätigte zurückblickend mehrfach Äußerungen, die auch aus den Reihen der Höcke-Unterstützer hätten stammen können. »Petry hat in der Vergangenheit vor allem mit ihrer Forderung, den Begriff ›völkisch‹ wieder positiv zu besetzen und die deutsche Außengrenze mit Waffengewalt zu verteidigen, für Aufsehen gesorgt«, heißt es in der Analyse. Die eigentlichen Flügelkämpfe verliefen weniger entlang ideologischer Grenzen, sondern teilten die Partei vielmehr in eine parlamentsorientierte und eine bewegungsorientierte Gruppe. Zu dieser Einschätzung kam kürzlich auch eine Studie des Wissenschaftszentrums Berlin und der Universität Kassel, die das Verhalten der AfD in den Landtagen untersuchte. Die größte Unbekannte auf den Landeslisten ist jene Gruppe, die laut Analyse als die »Unauffälligen« bezeichnet werden. In diese Kategorie fallen in der Analyse 80 von 196 Kandidaten. Diese seien »bisher zu unauffällig und zu wenig in Öffentlichkeit und Medien präsent, als dass man ihre politische Ausrichtung in der Partei bewerten könnte«. Obwohl auf allen 16 Landeslisten das Lager der politisch noch schwer zu verortenden AfD-Kandidaten klar dominiert, gelang es den völkischen Nationalisten um Höcke und Poggenburg dennoch, sich in vielen Fällen aussichtsreiche vordere Listenplätze zu erkämpfen. Diese sind für den einzelnen Kandidaten auch dringend nötig, hatte die AfD in den Umfragen zur Bundestagswahl doch zuletzt deutlich an Zustimmung verloren und bewegt sich derzeit zwischen neun und sieben Prozent. Während sich in der Gesamtheit aller Landeslisten keine »klare Dominanz der Rechten« abzeichne, sehe dies bei einer möglichen AfD-Bundestagsfraktion anders aus, heißt es in der Analyse. Auf Grundlage eines Wahlergebnisses von 8,5 Prozent sowie Schätzungen zu den erwartbaren Ergebnissen in den Ländern auf Basis aktueller Umfragen lässt sich abschätzen, wie sich die künftige Fraktion zusammensetzen könnte. Das Ergebnis alarmiert: Bei einem Zweitstimmenergebnis von 8,5 Prozent würde die AfD mit etwa 58 Abgeordneten in den Bundestag einziehen. Während dabei laut Analyse nur sieben Parlamentarier zum Lager der »Unscheinbaren« zählen würden, kämen die Gemäßigten auf 20 und die völkisch Nationalen auf 31 Mandate. Möglich würde solch ein Ergebnis sowohl durch die klare Dominanz des Höcke-Flügels in einigen Landesverbänden, darunter in Thüringen und Sachsen-Anhalt, als auch durch den hohen Organisationsgrad der völkischen Nationalisten auf den jeweiligen Nominierungsparteitagen in den vergangenen Monaten. »Auch wenn die AfD immer wieder behauptet, die Rechten in der Partei wären Einzelfälle, kann bei einer genaueren Betrachtung der Listenkandidaten für den Bundestag von Einzelfällen kaum die Rede sein«, lautet das Fazit der Analyse. Parteitmitglieder, die dem Höcke-Lager zuzuordnen sind, seien letztlich auf allen Landeslisten zu finden. Gelingt der AfD der Einzug in den Bundestag, drohen sie die Mehrheit in der Fraktion zu übernehmen.
Robert D. Meyer
Die AfD behauptet, besonders radikale Kräfte hätten in der Partei keinen Platz. Doch eine Analyse der Ruhr-Universität Bochum zeigt: Genau diese Gruppe könnte in einer Fraktion im Bundestag die Mehrheit stellen.
AfD, Bundestagswahl, Sachsen, Thüringen
Politik & Ökonomie
Politik
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Schrei aus der Tiefe
Ein makabres Vergnügen bereitete Bodo Ramelow in seiner Eröffnungsrede zur 11. Höhler Biennale, die den Titel »LandUNTER« trägt: Er sei vor die Wand gestellt worden, um dann unter die Erde gebracht zu werden. Und tatsächlich war das auch ganz wortwörtlich passiert, allerdings ohne, dass der thüringische Ministerpräsident sein Leben lassen musste. Den Schirmherren begeisterte, wie ihm Initiatorin und Kuratorin Gitta Heil die komplex gestaltete Reliefwand »Lied des Lebens« (1981) im Kultur- und Kongresszentrum Gera erklärte. In den unterirdischen Höhlern zeigte sich ihm dann, wie die 23 ausstellenden Künstlerinnen und Künstler aus dem In- und Ausland »über eine Welt in der Krise, eine Welt im Chaos reflektieren«. Seit 2003 dienen die Geraer Höhler alle zwei Jahre als Ausstellungsort für zeitgenössische Installationskunst. Vom 16. bis zum 19. Jahrhundert erbaut, durchziehen die Keller, Nischen und Gänge die Unterwelt der Altstadt. Früher lagerte hier Biergebräu, das anstatt des schlechten Wassers vom Kleinkind bis zum Greis jeder trank. Der fast labyrinthische Charakter der Naturfelsen und unverputzten Gewölbe in unregelmäßigen Stollengängen kann durch die Beschränkung der »bespielten« Höhler von fünf auf zunächst drei und dann zwei zwar noch erahnt, aber nicht mehr wie zuvor erlebt werden. Doch weiterhin werden neugierige Besucher, bei Gefahr von Kopfnüssen, zum Bücken gezwungen, wenn sie zu den Installationen vordringen wollen. Diese sollen den Höhler-Standort einerseits bewahren, während ihnen andererseits die Aufgabe zukommt, ihn originell zu verwandeln. Licht, Klang, Zeit, Bewegung und der innovative Einsatz von Materialien wie Karton, Papier, Weidenruten, Stahl, Glas, Schirm, Glaskugeln, Porzellan-Brötchen, Mulch, Steinzeugkeramik, Plastikverpackungen, Strandsand mit abgelagertem Müll, sowie auch LED- oder Klang-Installationen und Videokunst führen zu einer gestalthaften Zeichenfindung, die ein kritisches Zeitgefühl und historische Erfahrungen vermittelt. Manche Künstler agitieren in ihren Katalogerklärungen mit unerfüllbaren Intentionen. Werden bei ökologischen Problemen, dem Schwinden der Artenvielfalt oder dem Schicksal der Flüchtlinge mit Versiegelung der Höhler durch Bildflächen oder mit den Formen der Kindergartenzeichenwelt von Papierschiffchen Emotionen geweckt? Das ist durchaus fraglich. Doch mit originellem Geistesblitz, mit verblüffender Ortsausdeutung und mit Materialkombinationen, Lichteinsätzen und Suggestion überzeugt die Biennale und prägt die Höhler-Installation als authentische Kunstform aus. Philipp Geist hat für die Eröffnung eine großartige Lichtinstallation geschaffen. Susanne Worschech gelang es, Tonkrüge voll mit scheinbar eisigen Kratern in Lebensräume für Pflanzen zu verwandeln. Claudia Katrin Leyh schreckt mit den die Räume besetzenden Geistern aus umgeformter Plastikverpackung. An die Geschichte der Höhler als Luftschutzräume und an »die verlorenen Seelen unter der Stadt« erinnert Karsten Kunert mit negativ gespiegelten Masken. Tief berührt der »Schrei« von Christian Sachs, ein aus vielen Glasstäben kunstvoll gestalteter Kopf auf einer Stele. Durch die äußere Schalenwand kann nach der Frage des Künstlers »Bin ich außen fragil, innen hohl?« die Struktur der Wand der Innenseite erblickt werden. Nach Heiner Müller entsteht der Mund mit dem Schrei, so ist es in seinem Stück »Germania Tod in Berlin« (1977) zu lesen. Er bezog sich auf das Shakespeare-Zitat »Die Zeit ist aus den Fugen« – auch seinerzeit, 13 Jahre vor dem Zerfall der DDR, war die Zeit im Osten Deutschlands aus den Fugen geraten. Viele Förderer und Sponsoren, vor allem die Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen und die Sparkasse Gera-Greiz, welche zusammen den ersten Deutschen Installationskunstpreis ausgelobt haben, tragen diese besondere Kultur. Der Formtopos der Höhler, »helle Formen vor dunkler Wölbung«, wird mit dem abwechslungsreichen Material der Installationen und ihrer unerschöpflichen Ikonografie auf sehr unterschiedliche Weise realisiert. Das hält vieles offen für die Zukunft der Geraer Biennale. 11. Höhler Biennale »LandUNTER«, bis zum 13. Oktober in Gera
Peter Arlt
Bei Gefahr von Kopfnüssen müssen sich Besucher der 11. Höhler Biennale in Gera unter die Erde begeben. Doch das Risiko lohnt sich für die originellen Installationen, die in den Gängen unter der Altstadt zu sehen sind.
Thüringen
Feuilleton
Kultur 11. Höhler Biennale
2023-08-09T12:21:52+0200
2023-08-09T12:21:52+0200
2023-08-09T23:16:47+0200
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Militärisch inneffizient und ethisch verwerflich
Bei diesem Titel muss man an Olaf Groehler denken, den 1995 viel zu früh verstorbenen Bombenkriegsexperten der DDR. Und siehe da, der britische Historiker Richard Overy stützt sich in seinem neuen Buch auf dessen Forschungen, nennt in seinem Literaturverzeichnis zwei Bücher Groehlers: »Bombenkrieg gegen Deutschland« und »Geschichte des Luftkrieges«. Das ist man von bundesdeutschen Historikern nicht gewöhnt. Overy, der übrigens ein Schwager des Bestsellerautors Ken Follett ist, konzentriert sich in seiner monumentalen, kritischen Monografie auf die deutsche Luftwaffe, die britische Royal Air Force und die US Air Force. Er beschränkt sich nicht auf die bekanntesten Kriegsschauplätze England und Deutschland, sondern beschreibt auch systematisch die deutschen Bombardements sowjetischer Städte sowie die Luftangriffe der Westmächte auf französische Hafenstädte wie Brest, die als Basen für deutsche U-Boote dienten. Ein oft vergessener, marginal erscheinender Aspekt wird am Anfang erinnert: Ein Bulgare hatte die Fliegerbombe erfunden; und am Beispiel Sofia beschreibt Overy, in welch bedenklicher Weise Churchill das Flächenbombardement einer Großstadt als politisches Kampfmittel einsetzte - etwa, um Bulgarien aus dem Bündnis mit den Achsenmächten zu zwingen. Buch im nd-Shop bestellen: * Richard Overy: Der Bombenkrieg. Europa 1939 – 1945. A. d. Engl. v. Hainer Kober. Rowohlt Berlin. 1052 S., geb., 39,95 €. Militärstrategische Überlegungen nehmen naturgemäß besonders großen Raum in diesem Buch ein. In allen beteiligten Staaten gab es Rivalitäten zwischen den drei Teilstreitkräften Heer, Marine und Luftwaffe. Und überall konkurrierende Auffassungen, ob Flugzeuge lediglich zur Unterstützung der Land- und Seestreitkräfte eingesetzt werden sollten oder ihnen eigene kriegsentscheidende Angriffe gegen die Wirtschaft und die Bevölkerung des Gegners zukämen. Overy schildert den Luftkrieg vor allem auch aus Sicht der betroffenen Zivilisten und macht dabei auf im Krieg weiter fortbestehende soziale Unterschiede aufmerksam. Am 14. September 1940 führte Phil Piratin, ein britischer Kommunist aus Stepney, 70 Menschen aus seinem armen Stadtteil in das wohlhabende Londoner West End, um sich in dem feudalen Luftschutzkeller unter dem Savoy-Hotel einzuquartieren: »Die Gruppe ließ sich in die Sessel fallen und weigerte sich zu gehen, als die Polizei herbeigerufen wurde. Mitleidige Kellner servierten Brot, Butter und Tee auf Silbertabletts. Als der Bombenangriff vorüber war, führte Piratin seine Leute wieder hinaus.« Nach Overys eher zurückhaltender Schätzung beklagte Europa im Zweiten Weltkrieg 600 000 Bombentote und weit mehr als eine Million Schwerverletzte. Den Bombenkrieg nennt er militärisch ineffizient und rechtlich wie ethisch nicht vertretbar. Die Moral der bombardierten Bevölkerungen konnte entgegen den Erwartungen der führenden Militärs weder in Großbritannien, Deutschland, Polen oder der Sowjetunion gebrochen werden. Die Beschädigung der kriegswirtschaftlich wichtigen Industrien war nicht kriegsentscheidend. Dies belegt Overy an den Beispielen der alliierten Bombardements gegen Hamburg, Kassel, das Ruhrgebiet, Lübeck, Dresden und Berlin. Als am 17. August 1943 die Kugellagerfabriken in Schweinfurt und die Fertigungsstätten der Me-109 in Regensburg von der 8. Amerikanischen Luftflotte mit der bis dahin größten konzertierten Aktion von 367 Bombern angegriffen wurden, waren die Schäden an den Fabriken irrelevant im Vergleich zu den Verlusten der Angreifer. Sie bombardierten die stark geschützte kriegswichtige Industriebetriebe dann nicht mehr. Der Bombenterror wandte sich fortan wieder hauptsächlich gegen die Zivilbevölkerung. Die Rüstungsproduktion in Deutschland boomte trotz der massiven Bombardements im Sommer 1944. Ebenso konnten die Bomben der deutschen Luftwaffe weder in England noch in der Sowjetunion entscheidende Lücken in die Kriegswirtschaft schlagen. Einige der im und auch noch nach dem Krieg erhobenen gegenseitigen Anschuldigungen verweist Overy in den Bereich der Gräuelpropaganda. Er bestätigt aber, dass Churchill von Anfang an das Flächenbombardement deutscher Städte für gerechtfertigt hielt und Hitler sich die Anordnung von Terrorangriffen lange persönlich vorbehielt. Overys Buch ist eine historiographische Glanzleistung und ein Buch gegen den Krieg.
Harald Loch
Richard Overy beschreibt den Bombenkrieg in Europa 1939 bis 1945
Buchmesse, Buchmesse Frankfurt Main, Literatur
Feuilleton
Kultur Buchmesse Frankfurt/Main
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Interview mit einem Racheengel
Wieder ein Grenzerlebnis: Das freie Theaterprojekt aufBruch inszeniert in der Jugendstrafanstalt (JSA) Berlin. Diese vierte Zusammenarbeit zwischen JSA und aufBruch ist zugleich die zweite Kooperation mit der Musikschule Fanny Hensel aus Mitte. Zehn Häftlinge, meist mit migrantischem Hintergrund, zwei Streicher und drei singende Songwriter, alle ähnlichen Alters, finden sich gemeinsam auf der Szene im Kultursaal. Für die einen ist bitterer Ernst, was hier verhandelt wird. Die anderen suchen sich in deren Denken hineinzuversetzen – die jedenfalls, die eigene Songs beisteuern. Auch das Stück »Dann ist eben alles passiert« basiert auf der Realität: den Prominenten-Morden der Manson Family Ende der 1960er. Besonders der Mord an der schwangeren Filmaktrice Sharon Tate und ihren Freunden bei einer Party löste weltweit Entsetzen aus. Wie passten Europas Studentenproteste jener Ära, Amerikas Flower-Power und die Brutalität der Hippiekomm... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Volkmar Draeger
Insassen der Jugendstrafanstalt verbinden auf der Bühne ihre Geschichten mit den Manson-Morden
Theater
Hauptstadtregion
Brandenburg
https://www.nd-aktuell.de//artikel/160482.interview-mit-einem-racheengel.html
Brutale Folgen der EU-Abschreckungspolitik
»Was wir in Moria vorgefunden haben, war Unmenschlichkeit und Gewalt. Es war ein Freiluftgefängnis. Wir sind Überlebende der Folter, aber in Moria wurden wir nicht einmal als Menschen behandelt. Uns wurde gesagt, dass unser Herkunftsland sicher ist und wir zurückgewiesen und zurückgeschickt werden.« Diese beklemmenden Zeilen hat eine Gruppe von Geflüchteten geschrieben, die zuerst grausame und unmenschlicher Behandlung in ihren Ländern erlebten und die dann Opfer der EU-Migrationspolitik wurden. Die Verfasser*innen sind aktuelle und ehemalige Patient*innen der Rehabilitationsklinik von Ärzte ohne Grenzen in Athen. Die Nichtregierungsorganisation hat die Migrant*innen in ihrem jüngsten Report zitiert, der das politisch verursachte Leid von Geflüchteten auf griechischen Inseln thematisiert und am 10. Juni veröffentlicht wurde. Der Report der Organisation macht deutlich, dass die systematische Verletzung von Menschenrechten für Geflüchtete in Griechenland keine Ausnahme, sondern die Regel und beabsichtigt ist - es geht darum, Migrant*innen abzuschrecken. »Ziel des EU-Modells der Lager an den Grenzen ist nicht nur, Asylanträge zu bearbeiten, sondern auch Migrant*innen davon abzuhalten, in Europa Zuflucht zu suchen«, schreibt Ärzte ohne Grenzen. Daher müssen Menschen, die auf der Flucht Gewalt und Not erlebt haben, unter entsetzlichen Bedingungen verharren, ohne zu wissen, wie es für sie weitergeht. Lebensnotwendige Güter werden vorenthalten. So wird in dem Report beschrieben, dass es auf Samos über ein Jahr kein sauberes Trinkwasser gab. Die Mediziner*innen mussten die Menschen mit Tanklastern versorgen. Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch. In dem Bericht zieht Ärzte ohne Grenzen Bilanz von fünf Jahren medizinischer Versorgung auf den griechischen Inseln. Der Bericht basiert auf Dokumentationen und medizinischen Daten von Mitarbeiter*innen auf Lesbos, Samos und Chios, sowie auf Aussagen von Patient*innen und Mitarbeiter*innen von Ärzte ohne Grenzen. 2019 und 2020 hat Ärzte ohne Grenzen in den psychologischen Kliniken auf Lesbos, Samos und Chios insgesamt 1369 Patienten behandelt. Viele zeigten schwere Krankheitsbilder wie posttraumatische Belastungsstörungen. 180 Menschen, davon zwei Drittel Kinder, mussten wegen Selbstverletzungen und Suizidversuchen behandelt werden - das jüngste Kind war dabei sechs Jahre alt. Die Organisation hofft, dass ihr Report zu einem Umdenken bei den Regierungen der Europäischen Union führt. Die sollen die oft lebensgefährlichen und nicht selten tödlichen Folgen der staatlichen Abschreckungspolitik anerkennen und diesen gefährlichen Ansatz beenden. Doch für einen solchen Optimismus scheint es wenig Grund zu geben. So wurden am 12. Juni vier junge Geflüchtete in Griechenland zu zehn Jahren Haft verurteilt, weil sie der Brandstiftung des Lagers Moria für schuldig gesprochen wurden. Prozessbeobachter*innen sprachen von einen Schauprozess und von konstruierten Beweisen. Doch selbst wenn die Vorwürfe den Tatsachen entsprächen, müsste eine Zerstörung des Lagers Moria eigentlich als Notwehr gelten, wenn man den Report über die dortigen Lebensbedingungen gelesen hat. Die Situation der Migrant*innen hat sich auch nach der Zerstörung des Lagers nicht verbessert. Das Lager Moria dient als Blaupause für das neue, gefängnisähnliche Zentrum auf Samos. Dort sollen Menschen in Schiffscontainern festhalten werden, umgeben von Stacheldraht, mit kontrolliertem Ein- und Ausgang. »Das kann man nicht als eine Verbesserung der Lebensbedingungen verkaufen. Stattdessen wird dieses Lager die psychische Gesundheit der Menschen weiter verschlechtern«, warnt Iorgos Karagiannis, der Landeskoordinator von Ärzte ohne Grenzen in Griechenland. Daher sind die Forderungen, die Ärzte ohne Grenzen an die EU stellt, weiterhin aktuell. Dazu gehören die verstärkte Aufnahme von Migrant*innen nach Deutschland, eine langfristige europäische Lösung für Migrant*innen ohne Vorbedingungen und keine Asylverfahren an den europäischen Außengrenzen. Damit wendet sich die Organisation gegen Bestrebungen von Regierungen wie der von Dänemark, die Asylverfahren in Länder außerhalb der Europäischen Union auszulagern. Menschenrechtler*innen sehen darin eine weitere Einschränkung des Asylrechts.
Peter Nowak
Ärzte ohne Grenzen zieht Bilanz von fünf Jahren medizinischer Versorgung in Flüchtlingslagern in Griechenland. Die Organisation wirft der EU vor, Menschenrechtsverletzungen zu wollen.
Ärzte ohne Grenzen, Asylpolitik, Einwanderung, Europäische Union, Flüchtlinge, Griechenland
Politik & Ökonomie
Politik Ärzte ohne Grenzen
2021-06-27T16:58:42+0200
2021-06-27T16:58:42+0200
2023-01-20T22:00:54+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1153795.brutale-folgen-der-eu-abschreckungspolitik.html
Ein Jahr und ein Tag mit Union
Wenn die Fußballer des 1. FC Union Berlin an diesem Sonnabend mit der Pokalpartie beim Zweitligisten Karlsruher SC zum ersten Pflichtspiel der neuen Saison antreten, ist Matthias Koch dabei. Natürlich, denn der Fotograf und Sportjournalist ist eigentlich immer dabei - seit 21 Jahren. Und das nicht nur bei Liga- und Pokalpartien, sondern auch bei Testspielen, in Trainingslagern und bei den Übungseinheiten der Köpenicker in der Alten Försterei. Mit seinem neuen Buch »Union rockt die Bundesliga« bebildert und beschreibt er eine einzigartige Saison. »Die gesamtdeutsche Erstligapremiere der Eisernen ist für mich als gebürtigen Köpenicker etwas ganz Besonderes«, schreibt Koch in seiner Einleitung. Daneben ist ein Foto zu sehen, dass ihn mit Stativ und Kamera auf seinem »Corona-Baum« zeigt, wie er den abgesägten Stumpf nennt. Von dort konnte er »mit Sondergenehmigung des Bezirksamtes und der Duldung von Union« auch die Zeit dokumentieren, in der das Trainingsgelände »über Monate verschlossen« war. Bundesliga und Pandemie: »Es war für mich die spannendste Zeit als Autor, aber auch die arbeitsreichste«, erzählt Koch dem »nd«. Platz für ein Parallelleben habe es da kaum gegeben. Sein Dank ging deshalb, wieder einmal, auch an seine Frau Jana und die gemeinsame Tochter Maxi für deren Verständnis. Das Ergebnis seiner Arbeit sind 165 unterhaltsame und informative Seiten. Ein Jahr und ein Tag mit dem 1. FC Union: Vom Auftakt am 27. Juni 2019 bis zum Saisonabschluss am 28. Juni 2020 führt Koch chronologisch durch die Saison. Zu jedem Pflichtspiel gibt es Aufstellungen, Torschützen, einen kurzen Infotext - und eine eigene Geschichte. Wie diese zum Bundesligaauftakt gegen RB Leipzig: »Schon vor dem Spiel erregt Union mit der Aktion ›Endlich dabei‹ Aufmerksamkeit. Verstorbene Fans, Spieler und Mitarbeiter, die die Bundesliga nicht mehr erleben können, werden auf besondere Weise geehrt. Angehörige und Freunde halten Banner hoch, auf denen Schwarz-Weiß-Porträts der Toten zu sehen sind. Die Anzeigetafel zeigt später 22 467 anstatt der sonst üblichen 22 012 Besucher an.« Blättert man durch das Buch, kann man sich schnell darin verlieren. Das Besondere und Beeindruckende ist die Bebilderung: 447 Fotos sind zu sehen. Die Auswahl fiel Koch nicht leicht, weil er sich durch rund 50 000 eigene Fotos habe kämpfen müssen, wie er »nd« verriet. Flaschensammler vor dem Stadion, Stürmer Sebastian Polter umringt von den Eisernen Müggelheimern in rot-weiß gestreifter Bademode nach ihrem Sieg beim jährlichen Drachenbootrennen, eine Fanfahrt mit der Dampflok zum Spiel nach Leipzig oder Kinder die im Dreck liegen, um unter dem verhangenen Zaun doch etwas vom Training der Mannschaft zu sehen - Matthias Koch kann mit Bildern Geschichten eines besonderen Vereins erzählen, die anderen verborgen bleiben. Einzigartiges findet man auf den Seiten 106 bis 111. »Solch einen Corona-Ticker gibt es so nicht noch mal«, meint Koch. Vom Ausbruch des Virus über die allgemeinen Auswirkungen auf den Fußball und das Geschehen rund um Union im Speziellen bis hin zum ersten Geisterspiel der Berliner am 17. Mai gegen den FC Bayern ist die Entwicklung aufgeführt. Zahlenfans finden im Statistikteil sogar eine »Geisterspiel-Tabelle«. Zwischen all den faktenreichen Seiten wird es auch immer mal wieder persönlich, wenn einige der Protagonisten in Wort und Bild porträtiert werden. Den Anfang macht Torwart Rafal Gikiewicz, der in diesem Sommer zum FC Augsburg wechselte. Der »Unioner des Jahres 2019« hat das Vorwort zum Buch geschrieben. In seinen zwei Jahren als Aktiver hat er den Verein so erlebt, wie er oft von außen beschrieben wird: »Union steht für Kampf, Familie und Zusammenhalt.« Interessantes erfährt man auch über Oliver Ruhnert. »Er sitzt als Fraktionsvorsitzender ehrenamtlich für die Linke im Rat seiner Heimatstadt Iserlohn. Ruhnert empfindet es als Vorteil, dabei über andere Perspektiven nachdenken zu müssen«, schreibt Koch über Unions Sportchef. Michael Parensen beschreibt sich selbst - von A bis Z. Das G steht für Geschäftsstelle: »Statt Spind, Kraftraum und grünem Rasen heißt es für mich jetzt PC, Schreibtisch und hoffentlich ein Blick ins Grüne.« Nach elfeinhalb Jahren im rot-weißen Trikot arbeitet Unions Rekordspieler nun an anderer Stelle für weitere Erfolge der Köpenicker. An diesem Sonnabend fängt wieder alles bei Null an. Wer noch mal zurückblicken will, dem ist Kochs Buch zu empfehlen. Matthias Koch: Union rockt die Bundesliga. Verlag Die Werkstatt, 165 S., geb, 19,66 €.
Alexander Ludewig
In seinem neuen Buch »Union rockt die Bundesliga« erzählt Journalist und Fotograf Matthias Koch mit eindrucksvollen Bildern die Geschichten eines besonderen Fußballvereins, die anderen verborgen bleiben.
1. FC Union Berlin, Berlin, Fußball
Sport
Sport Union Berlin
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1141665.union-berlin-ein-jahr-und-ein-tag-mit-union.html
Historische Abstimmung in Argentinien
Seit Tagen kommt es in Argentiniens Hauptstadt Buenos Aires zu Demonstrationen von Befürwortern und Gegnern des Gesetzes, das das Recht auf eine legale, sichere und kostenlose Abtreibung garantieren soll. Dabei sind beide Seite unschwer an den Farben ihrer Halstücher zu erkennen: Grün ist das Symbol der Befürworter, Hellblau das Symbol der Gegner. Während die grünen Tücher auf eine lange Tradition zurückgehen, tauchten die Hellblauen erst vor wenigen Monaten auf. Nach den Worten von Nina Brugo, Mitgründerin der »Kampagne für das Recht auf eine legale, sichere und kostenlose Abtreibung«, gab es die ersten grünen Halstücher bereits im Jahr 2003. Auf einem damaligen landesweiten Frauentreffen stellte sich die Kampagne vor. Da es damals aber nicht genügend Stoff in der Farbe Lila gegeben hätte, sei schließlich die Farbe Grün gewählt worden. Seither verteilte die Kampagne jährlich rund 8000 grüne Halstücher. 2018 waren es jedoch bereits über 200 000. Hatte sich zuvor nur eine Kooperative um die Herstellung gekümmert, so sind es mittlerweile neun. 15 Jahre nach Gründung der Kampagne und mit dem Rückhalt von über 350 Gruppen und Organisationen aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen hat der Gesetzesentwurf den Sprung in den Kongress geschafft, das Zweikammernparlament Argentiniens. Jetzt geht es darum, ob jede Frau künftig selbst über einen Abbruch während der ersten 14 Wochen der Schwangerschaft entscheiden kann. Nach dieser Frist soll eine Abtreibung im Fall einer Vergewaltigung, bei Gefahr für das Leben der Frau und bei schwerwiegenden Missbildungen beim Fötus erlaubt sein. Bereits Mitte Juni hatte das Abgeordnetenhaus mit knapper Mehrheit für den Gesetzesentwurf gestimmt. Jetzt muss der Senat entscheiden. Auch hier ist ein enges Ergebnis absehbar. Der Ausgang der Abstimmung ist offen. Derweil freut sich Marco auf gute Geschäfte. Mit seinen Halstüchern in den Farben Grün und Hellblau steht der fliegende Händler vor dem Kongressgebäude. Dass er zwei äußerst unterschiedliche Zielgruppen im Visier hat, macht ihm nicht aus. »Ich bin Neutraler und beide Halstücher schützen auch gut gegen Winterwind«, lächelt der 36-Jährige. In den vergangenen Wochen haben sich beide Seiten erneut in Stellung gebracht. Neue Argumente wurden nicht ausgetauscht, alles wurde schon mehrfach gesagt und wiederholt. Der Tonfall hat sich wesentlich verschärft. Mit seinem Vergleich von Abtreibungen mit nationalsozialistischen Praktiken hatte der argentinische Papst Franziskus aus Rom das Signal zum Angriff gegeben. Nur wenig später forderte Víctor Fernández, der neue Erzbischof von La Plata, Präsident Mauricio Macri zum Eingreifen auf. Macri müsse notfalls mit seinem Präsidentenveto das Gesetz verhindern, »sollte er eine tiefe Überzeugung zu diesem Thema haben«, so Fernández. Marco hofft auf einen kräftigen Umsatz. Am Mittwoch wird der große Vorplatz vor dem Kongressgebäude durch Absperrungen wieder zweigeteilt sein. Auf der einen Seite wird die Farbe Grün dominieren, auf der anderen Seite Hellblau. Marta Miley bückt sich nach einem grünen Halstuch. Ihre 19-jährige Enkelin habe die 69-Jährige überzeugt, habe ihr davon erzählt, dass es in Argentinien zwischen 300.000 und 500.000 heimliche Abtreibungen im Jahr gebe und dass seit 1983 über 3000 Frauen an den Folgen eines solchen Eingriffs gestorben seien. »Meine Generation hat vielleicht die meisten Schwierigkeiten, das alles zu akzeptieren«, so Miley. Den tief sitzenden Katechismus könne man nicht allein durch eine Abstimmung über Nacht überwinden. »Aber wir können damit den Jungen auch nicht den Weg versperren.« Marco packt jetzt seine Ware zusammen. Fünf grüne und vier blaue Tücher, so die Bilanz des Nachmittags. Das habe nichts zu bedeuten. »Morgen kann es anders herum sein.« Was er nach der Abstimmung mit seinem Halstuchverkauf mache? »Keine Sorge, dann verkaufe ich orangefarbene.« Die seien das Symbol der kürzlich gestarteten Kampagne für eine komplette Trennung von Staat und katholischer Kirche.
Jürgen Vogt, Buenos Aires
Am Mittwoch wird im argentinischen Senat über die Lockerung des strikten Abtreibungsverbots entschieden, wie es das Abgeordnetenhaus vorschlägt. Der Ausgang der Abstimmung ist offen.
Abtreibung, Argentinien, Christentum
Politik & Ökonomie
Politik Recht auf Abtreibung
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1096586.recht-auf-abtreibung-historische-abstimmung-in-argentinien.html
Kategorie illegal
Berlin. »Kein Mensch ist illegal«. Der Spruch auf dem T-Shirt des Flüchtlings ist eher Ausdruck einer Hoffnung denn Zustandsbeschreibung der Realität. Tatsächlich wird es für viele Flüchtlinge bald noch schwerer, der Illegalisierung zu entkommen. Denn derzeit berät die Bundesinnenministerkonferenz über die Umsetzung der Beschlüsse des gemeinsamen Flüchtlingsgipfels von Bund und Ländern. Am 18. Juni hatte man sich im Kanzleramt darauf verständigt, dass die Anträge von Flüchtlingen aus Staaten mit »besonders niedriger Schutzquote« schneller bearbeit... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Deutschland will Flüchtlinge stärker nach Herkunftsländern sortieren
Flüchtlinge
Politik & Ökonomie
Politik
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Auf dem Weg zum Supertreibhaus
Eine »Heißzeit«, ein rasanter Anstieg des Meeresspiegels, viele unbewohnbare Orte auf der Erde - das ist nicht die Vorschau einer Reihe apokalyptischer Hollywood-Filme, sondern die Prognose eines internationalen Forscherteams, die jetzt in den »Proceedings« der Nationalen Akademie der Wissenschaften der USA, kurz PNAS, veröffentlicht wurde. Selbst wenn das Zwei-Grad-Ziel bei der Erderwärmung eingehalten werde, heißt es in der Studie, könnten kritische Prozesse im Klimasystem angestoßen werden, die eine weitere Erwärmung der Erde auslösen und den Planeten in eine »Heißzeit« kippen lassen könnten. Die globalen Durchschnittstemperaturen würden dann dauerhaft um vier bis fünf Grad höher liegen als im Vergleich zum vorindus-triellen Zeitalter. Der Meeresspiegel könnte zwischen 10 und 60 Metern ansteigen. Das Pariser Klimaabkommen ist eigentlich eine Verheißung: Wenn die Weltgemeinschaft den Vertrag einhält und es schafft, die Erderwärmung auf 1,5 bis 2 Grad Celsius zu begrenzen, werden die Auswirkungen des Klimawandels beherrschbar bleiben. Diese Annahme wird in der jetzt veröffentlichten Studie infrage gestellt. Wie kommen die Wissenschaftler zu ihrer drastischen Prognose? Sie haben sich die sogenannten Kippelemente genauer angesehen. Dabei handelt es sich um Vorgänge im Erdsystem von überregionalem Ausmaß, beispielsweise das Auftauen der Permafrostböden in Russland, Kanada und Nordeuropa, das Schwinden des Amazonas-Regenwaldes oder der borealen Nadelwälder, das Abschmelzen des Grönlandeises oder den Verlust von Meereis in Arktis und Antarktis. Wenn menschliche Einflüsse dort zu starken Veränderungen führen, kann es sein, dass diese Elemente in einen anderen Zustand übergehen - sie kippen, und zwar irreversibel. Die Wissenschaftler befürchten: Je näher die Erderwärmung sich der kritischen Zwei-Grad-Grenze nähert, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die natürlichen Kohlenstoffsenken kippen und künftig mehr Treibhausgase freisetzen, als sie zurzeit aufnehmen. Jedes Jahr binden die Wälder, Ozeane und Böden etwa 4,5 Milliarden Tonnen Kohlenstoff, der sonst in die Atmosphäre gelangen und die Temperaturen zusätzlich erhöhen würde. Der Modell-Michel und die Hitze Bundesbürger zeigen beim Klimawandel Anpassungsfähigkeit und werden besser gewarnt als früher Wenn ein Kippelement umgekippt ist, ist es sehr wahrscheinlich, dass dadurch ein weiteres wichtiges Element im Erdsystem negativ beeinflusst wird. »Diese Kippelemente könnten sich wie eine Reihe von Dominosteinen verhalten«, sagt Johan Rockström, Leiter des Stockholm Resilience Centre und designierter Ko-Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK). Einige Kippelemente können einen sich selbst beschleunigenden starken Klimawandel in Gang setzen, der dann nicht mehr rückgängig zu machen wäre. »Es könnte sehr schwierig oder sogar unmöglich sein, die ganze Reihe von Dominosteinen davon abzuhalten umzukippen«, warnt Rockström. »Manche Orte auf der Erde könnten unbewohnbar werden, wenn die ›Heißzeit‹ Realität würde.« Derzeit liegt die globale Durchschnittstemperatur bereits um gut ein Grad über dem vorindustriellen Niveau und steigt um etwa 0,17 Grad pro Jahrzehnt an. »Die Treibhausgasemissionen aus Industrie und Landwirtschaft bringen unser Klima und letztlich das ganze Erdsystem aus dem Gleichgewicht«, sagt PIK-Direktor Hans Joachim Schellnhuber. Derzeit wisse die Forschung nicht, ob das Klimasystem bei etwa zwei Grad über dem vorindustriellen Niveau »geparkt« werden könne - so wie es das Pariser Klimaabkommen vorsieht. »Oder ob es weiter abrutschen würde in ein dauerhaftes Supertreibhaus-Klima«, so Schellnhuber. Bei wie viel Grad Erwärmung mit einem solchen Supertreibhaus gerechnet werden muss, lässt die Studie offen. Deutlich sagen dagegen die Forscher, wie sich dieses Horror-Szenario vermeiden ließe: durch eine entschlossene Minderung der Treibhausgasemissionen sowie eine angepasste Bewirtschaftung von Wäldern und Böden, sodass diese natürlichen CO2-Senken auch künftig ihre Funktion im Erdsystem erfüllen können.
Sandra Kirchner
Sollte das UN-Ziel, die Erderwärmung auf maximal zwei Gad zu begrenzen, verfehlt werden, droht laut einer neuen Studie ein wahres Horror-Szenario.
Klimaabkommen, Klimapolitik, Klimaschutz, Klimawandel
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt Heißzeit
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1096639.heisszeit-auf-dem-weg-zum-supertreibhaus.html
Fernsehduell mit Boxhandschuhen
Vor dem Eingang der Spielstätte »Reithalle« des Potsdamer Hans-Otto-Theaters zieht Péter Vida eine Show ab. Mit Umhang und Boxhandschuhen posiert er für Fotos und gibt Interviews. Es ist Dienstagabend und aus der Reithalle in der Schiffbauergasse sendet der rbb gleich live seine »Wahlarena« mit fünf Spitzenkandidaten für die Brandenburger Landtagswahl am 1. September. Péter Vida ist Spitzenkandidat der Freien Wähler und wäre gern mit in den Ring gestiegen. Doch der rbb hat ihn nicht eingeladen. Vida hat vergeblich dagegen geklagt. Das Verwaltungsgericht entschied letztendlich, dass der rbb die Zahl der Gäste begrenzen darf, wenn er es redaktionell ausreichend begründen kann. Nun übertragen die Freien Wähler die Fernsehsendung parallel im Internet und Vida gibt per Facebook live seinen Senf dazu. Wenn zu viele Spitzenkandidaten miteinander und mit dem Moderatoren und dem Publikum sprechen, dann ufert es aus. Die Entscheidung des rbb ist insofern nachvollziehbar. Unverständlich ist aber, warum Vida nicht mitdiskutieren darf, obwohl er im Landtag sitzt und mit etwas Glück wieder einzieht, während Hans-Peter Goetz (FDP) dabei sei kann, obwohl seine Partei nicht im Landtag vertreten ist und am 1. September wieder an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern könnte. Goetz redet dann in der Sendung ziemlich viel - mehr als Kathrin Dannenberg (LINKE), die spürbar seltener zu Wort kommt als ihre Konkurrenten. Das liegt zum Teil daran, dass das Publikum und die Zuschauer daheim Fragen stellen und sich aussuchen dürfen, wer ihnen antwortet. Zum Teil lenken das auch die Moderatoren Tatjana Jury und Marc Langebeck. Einmal wird es Dannenberg zu bunt und sie redet einfach rein, lässt sich von Tatjana Jury nicht abwürgen. Es ist, als Andreas Kalbitz (AfD) bei einer Frage zu den Flüchtlingen plötzlich so soft formuliert, wie die AfD 2014 mal angefangen hat, bevor sie sich extrem radikalisierte. Kalbitz poltert nicht so wie sonst bei Kundgebungen und Parteitagen, und er erkennt prinzipiell das Asylrecht an. Auch benötigte Fachkräfte sollen seinetwegen einwandern dürfen ... Das kann Dannenberg nicht ruhig mit anhören. »Er verkauft sich hier als Saubermann«, bemerkt sie empört und liefert sich ein Wortgefecht mit Kalbitz. »Sie haben sich in Cottbus mit Höcke hingestellt und Reden geschwungen von Messerstechern«, hält sie ihm vor. Dafür spendet ihr das Publikum den lautesten Beifall, denn es an diesem Abend in der alten Reithalle gibt. Als Kalbitz behauptet, die AfD schüre keine Ängste, erntet er Hohnlachen. Dass er hier im Saal unter den 100 Menschen im Publikum nur wenige Anhänger hat, zeigte sich bereits, als die Kandidaten vor der Sendung ins Studio einliefen. Alle bekommen höflich Applaus, etwas mehr als die anderen Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD). Doch als Kalbitz die Arena betritt, verebbt das Klatschen schlagartig. Jeder Spitzenkandidat durfte drei Leute mit hineinnehmen. Ansonsten hat der rbb ausgewählte Bürger eingeladen, die sich darum bewerben konnten, und außerdem Vertreter von Verbänden. Ein solcher Vertreter ist Werner-Siegwart Schippel, Präsident des Landesfeuerwehrverbandes. Er spendet Ministerpräsident Woidke Beifall, als dieser die neu eingeführte Prämie für Kameraden der Freiwilligen Feuerwehr herausstreicht und schüttelt mit dem Kopf, als sich Ingo Senftleben (CDU) über die angeblich mangelhafte Ausrüstung der Feuerwehrleute beschwert. Dazu muss man wissen, dass Schippel von 1994 bis 2014 SPD-Landtagsabgeordneter gewesen ist. Gleich die erste Frage aus dem Publikum ist eine Steilvorlage für Woidke. Die 17-jährige Leonie Pilz aus Zeuthen erinnert an den Zuzug, den Brandenburg derzeit erlebt, und möchte von ihm wissen, was zu tun ist, damit die Menschen gern im Bundesland leben und arbeiten. Der Ministerpräsident bedankt sich für die Frage, denn sie stützt seine These, dass sich Brandenburg unter seiner Regierung erfolgreich entwickelt, da kein anderes ostdeutsches Flächenland Zuzug erlebt. Kunststück, denn die anderen profitieren ja nicht von der Nähe zur Bundeshauptstadt Berlin. Aber Leonie sagt noch extra, sie sei mit der Antwort zufrieden. So leichtes Spiel hat Vizelinksfraktionschefin Dannenberg nicht, als die 68-jährige Christine Floss von Moderator Langebeck das Mikrofon hingehalten bekommt. Denn Floss äußert leise Zweifel, ob sich Brandenburg wirklich leisten kann, die Elternbeiträge für die Kitas abzuschaffen. Und sie will wissen, ob es dann nicht auch angebracht wäre, die Kostenbeiträge für die Tagespflege der Senioren zu streichen. Dannenberg macht den Fehler, dass sie nur erklärt, warum es richtig wäre, die Kitabeiträge komplett abzuschaffen, da in Brandenburg gegenwärtig nur das letzte Jahr vor der Einschulung gebührenfrei ist. Erst auf Nachfrage bedauert die Spitzenkandidatin, die Pflege sei Bundessache. Da müsse man im Bundesrat aktiv werden. Damit gibt sich Christine Floss aber nicht zufrieden. Das höre sie nun immer wieder und nichts geschehe, schimpft Floss. Hier kann CDU-Fraktionschef Ingo Senftleben Punkte sammeln. Mit der Mahnung, die Generationen nicht gegeneinander auszuspielen, kommt er erst einmal zu Wort und nutzt die Gelegenheit, das Landespflegegeld herauszustreichen, das die CDU in ihrem Wahlprogramm verspricht. Er wusste, dass die Frage kommt. Denn Floss kündigte vor der Sendung an, was sie fragen will. Die CDU hatte das zufällig mitgehört. Nach 90 Minuten Sendezeit mit einer Panne - es wird ein Faktencheck zu den Flüchtlingen angesagt, aber ein Filmchen zum Nahverkehr eingespielt - ist Schluss. Ein paar Leute im Publikum melden sich, als die Moderatoren sich erkundigen, wer im Verlaufe der Sendung seine Meinung geändert habe und nun eine andere Partei ankreuzen wolle. Draußen packen die Freien Wähler ein. Die Piraten sind schon davongesegelt. Sie hatten sich mit einem Schiff neben Vida postiert und waren auf seiner Welle mitgeschwommen. »Wenn schon, dann alle«, argumentierte ihr Spitzenkandidat Thomas Bennühr die Einladungspraxis des rbb. Wenn schon, dann wäre Bennühr ebenfalls gern befragt worden. Allerdings sind die Umfragewerte der Piraten nicht nennenswert. Sie tauchen in den Balkendiagrammen bei den Sonstigen unter.
Andreas Fritsche
In 90 Minuten durfte Hans-Peter Goetz (FDP) viel reden und Kathrin Dannenberg (LINKE) wenig. Für ihre deutlichen Worte an Andreas Kalbitz (AfD) bekam sie jedoch den lautesten Beifall des Abends.
Brandenburg, Landtagswahl 2019
Hauptstadtregion
Brandenburg Wahlarena Brandenburg
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1124688.wahlarena-brandenburg-fernsehduell-mit-boxhandschuhen.html?
Hunderttausend unbearbeitete Asylgesuche
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) hat nach Informationen der Nachrichtenagentur dpa im vergangenen Jahr 190 800 Asylanträge entgegengenommen. Unter den 148 000 Erstanträgen waren 25 900 Anträge von Kindern im Alter unter einem Jahr, die in Deutschland geboren wurden. Insgesamt ist das ein leichter Anstieg der Asylanträge im Vergleich zu 2019 (166 000). Ein Vergleich mit 2020 – in dem Jahr wurden 122 000 Anträge gestellt – ist laut Bundesinnenministerium aufgrund der weltweiten Reisebeschränkungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie wenig aussagekräftig. Zum Vergleich: 2017 waren es über 222 600 Asylanträge gewesen, 2015 über 476 600 und 2016 über 745 500. 21,4 Prozent aller Anträge wurden abgelehnt. Anderweitig »erledigt« hätten sich 36,7 Prozent: etwa durch Zuweisung in ein anderes EU-Land nach dem »Dublin«-Verfahren oder weil der Antrag zurückgezogen wurde. Über rund 108 000 Anträge habe die Behörde noch nicht entschieden. Das ist eine Verdopplung im Vergleich zum Vorjahr. Hilfsorganisationen beklagen, dass sich Verfahren aufgrund bürokratischer Hürden in die Länge ziehen. Das Innenministerium begründete die Verzögerungen zum einen mit der zeitweiligen Zurückstellung von Entscheidungen zu Afghanistan wegen der veränderten Lage im Land, zum anderen mit »Sekundärmigration innerhalb der EU«. Damit sind Schutzsuchende gemeint, die in andern EU-Ländern registriert sind und in Deutschland Asyl suchen. Die meisten Asylsuchenden kamen 2021 mit 70 000 Anträgen aus Syrien. Zugenommen hat die Zahl der Schutzsuchenden aus Afghanistan mit 31 000 Anträgen. Einige ehemalige Ortskräfte der Bundeswehr und anderer deutscher Institutionen hatten vorab eine Aufnahmezusage erhalten und müssen daher nicht Asyl beantragen. Viele Schutzsuchende bekommen keine Chance, einen Asylantrag zu stellen. An den Außengrenzen wird immer wieder von gewaltsamen Zurückweisungen berichtet. Eine Jury aus Sprachwissenschaftler*innen hat am Mittwoch nun »Pushback« als beschönigende Bezeichnung dieser Praxis zum »Unwort des Jahres« gewählt. Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl hat das zum Anlass genommen, Sanktionen für das Zurückdrängen von Flüchtlingen an den Grenzen zu fordern. »Diese Praxis muss aufhören«, erklärte Pro-Asyl-Geschäftsführer Günter Burkhardt.
Ulrike Wagener
Menschen werden mit Gewalt daran gehindert, in die EU zu flüchten. Trotzdem ist es mehr Schutzsuchenden als in den vergangenen Jahren gelungen, in Deutschland einen Antrag auf Asyl zu stellen.
Asylpolitik, Europäische Union, Flüchtlinge
Politik & Ökonomie
Politik Migration
2022-01-12T17:01:57+0100
2022-01-12T17:01:57+0100
2023-01-20T19:37:02+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1160353.migration-hunderttausend-unbearbeitete-asylgesuche.html
Keine Überlebenden bei Flug MH370
Kuala Lumpur. Die Familien der chinesischen Insassen an Bord des Flugzeugs der Malaysia Airlines haben die Nachricht vom Absturz mit Wut und Erschütterung aufgenommen. Im Pekinger Lido Hotel, wo sie am Montag informiert wurden, dass niemand überlebt habe, kam es anschließend zu Tumulten zwischen Verwandten und Reportern. Wütende Angehörige gingen auf wartende Medienvertreter los. Diese hatten den Saal belagert, in dem die Familien die erschütternden Informationen erhalten hatten und trauerten. Eine Frau schlug empört mit der Tasche auf Kameras ein. »Haut ab!«, schrie sie. Zuvor waren mehrere Verwandte mit tränenüberströmten Gesichtern aus dem Raum gekommen und von Reportern gejagt worden. Einige brachen vor laufenden Kameras auf dem Weg zusammen. Eine Angehörige schlug auf eine Kamera ein, die einen Mann am Boden filmte. Die Verwandten waren bereits vor der Pressekonferenz des malaysischen Ministerpräsidenten Najib Razak in de... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Die Suche nach dem verschollenen Flug MH370 ist zu Ende: Das Flugzeug mit 239 Menschen an Bord sei über dem südlichen Indischen Ozean abgesürzt, sagte am Montag Malaysias Regierungschef Najib Razak.
Flugzeugabsturz, Malaysia
Politik & Ökonomie
Politik
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Giffey gibt die Linie vor
Mit einer Regierungserklärung zu Beginn einer Legislatur wird der große Rahmen abgesteckt. Pläne, Vorhaben und Konzepte werden durch eine Regierung dargelegt, um Ziele zu verdeutlichen, die in den kommenden fünf Jahren erreicht werden sollen. Das ist alles natürlich nicht rechtlich verbindlich, aber politisch zeigt es, wo eine Regierung wie der neue rot-grün-rote Senat hinwill. Am Anfang setzte Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey am Donnerstag im Plenum des Abgeordnetenhauses ein Zeichen der Erinnerung angesichts des Gedenktages 27. Januars. Die SPD-Politikerin mahnte, niemals zu vergessen, welche Verbrechen, welches Leid von der NS-Diktatur ausgingen. »Eine Diktatur, die ihre Machtzentrale, in unserer Stadt hatte«, erinnerte Giffey. Die Regierende zog in ihrer Rede eine große Linie vom Berlin der 1920er Jahre bis in die Gegenwart und die Zukunft. Es brauche Aufbruchswillen und Tatendrang. »Die Herausforderungen des Wohnungsbaus müssen wir heute wie damals meistern in einer wachsenden Stadt«, erklärte Giffey mit Blick auf die großen Bauprogramme, bei denen seinerzeit 160 000 neue Wohnungen errichtet wurden, die teilweise bis heute eine hohe Lebensqualität bieten. Bis 2030 hat sich Rot-Grün-Rot vorgenommen, ebenfalls 200 000 neue Wohnungen zu bauen, die zum Teil auch im unteren und mittleren Preissegment entstehen sollen. Für dieses Ziel soll sich an diesem Freitag auch erstmals ein großes Wohnungsbündnis treffen, in dem öffentliche, aber auch private Investoren und Genossenschaften im Roten Rathaus zusammenkommen wollen. Erneut verband Giffey in ihrer Rede die Bildung des neuen rot-grün-roten Senats mit einem Zukunftsversprechen. Man wolle die »Zukunftshauptstadt« sozial, ökologisch und wirtschaftlich gestalten, hieß es. »Ich wünsche mir, dass die Wohnungen, die wir heute bauen, auch in 100 Jahren noch lebenswerte Quartiere sind.« Außerdem wünsche sie sich, dass die Menschen in fünf Jahren bei der nächsten Wahl sagen würden, dass der Senat geliefert habe. Die Ziele will die SPD-Politikerin mit den Prinzipien der Gemeinsamkeit und der Partnerschaft verfolgen. Als inhaltliche Schwerpunkte zählte Giffey neben der »Chefinnensache« Wohnungspolitik, die Überwindung der Corona-Pandemie und ihrer Folgen sowie die Aufstellung eines Doppelhaushaltes auf, der garantiert, dass der Senat auch in den kommenden Jahren viel Geld investieren könne. »Wir haben uns darauf verständigt, dass wir uns nicht aus der Krise heraussparen, sondern dass wir investieren.« Auch für die Bereiche der inneren und der sozialen Sicherheit stellte Giffey Fortschritte in Aussicht. Neben der personellen Aufstockung der Polizei und der Ordnungsämter sprach Giffey in zeitlicher Nähe auch von der Bekämpfung der Obdachlosigkeit. Auch an anderer Stelle ließ Giffey soziale Forderungen aufblitzen, etwas als sie im Zusammenhang der Wirtschaftsförderung auch die Einhaltung von fairen Arbeitsbedingungen und guten Löhnen einforderte. »Hip ist, wer sich gut um seine Leute kümmert«, so die Regierende, die in ihrer Ansprache auch häufig Bezug auf ihr Team von Senatorinnen und Senatoren nahm. Naturgemäß schlägt bei Regierungserklärungen auch die Stunde der Opposition, für die solche Anlässe die Chancen zu einer quasi Generalabrechnung bietet. Der formale Oppositionsführer Kai Wegner von der CDU erklärte: »Was Sie, Frau Giffey, präsentiert haben, das ist kein Neuanfang, das ist kein Neustart, das ist ein quälendes Weiter-so.« Der Chef der CDU-Fraktion kritisierte, dass die Vorhaben von Rot-Grün-Rot »erschreckend ambitionslos« seien. Es gebe »keine verbindende Erzählung, kein gemeinsames Projekt«. Wegner zielte auch auf aktuelle Schwenks des Senats in der Test- und Quarantäne-Strategie zur Eindämmung der Corona-Pandemie ab, die er als »Chaos« einstufte. Im Hinblick auf das soziale »Topthema« soziale Wohnungspolitik sagte Wegner, dass die Koalitionsparteien beim Thema erfolgreicher Volksentscheid Deutsche Wohnen & Co enteignen aufeinander zurasen würden wie zwei Güterzüge. Wegner erinnerte die Regierende auch daran, dass sie sich im Wahlkampf gegen die Enteignung von privaten Wohnungskonzernen ausgesprochen habe: »Was ihre rote Linien wert sind, wissen die Berlinerinnen und Berliner jetzt.« Dass ausgerechnet der ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete und Bauexperte Wegner sich als Verfechter eines sozialen Wohnungsbaus gerierte, brachte anschließend SPD-Fraktionschef Raed Saleh auf Betriebstemperatur. »Du warst einer der Köpfe, die jeden Schritt des Mieterschutzes im Bundestag verhindert haben - jahrelang«, betonte Saleh. »Da ruft der falsche Prophet«, sagte der SPD-Fraktionschef unter großem Applaus der Abgeordneten der Regierungsfraktionen. Deutlich Position bezog ebenfalls die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Antje Kapek. Sie attackierte die AfD-Fraktionschefin Kristin Brinker für ihre Ausführungen zur deutschen Geschichte. »Am 27. Januar als Vorsitzende einer rechtsextremen Partei das Leid und das Elend von sechs Millionen ermordeten Jüdinnen und Juden zu verhöhnen, ist widerlich«, sagte Kapek, sicherlich stellvertretend nicht nur im Namen der rot-grün-roten Koalitionsfraktionen. Kapek erinnerte auch an die humanitäre Verantwortung Berlins, Geflüchtete aufzunehmen. Dass Berlins Weg aus der Coronakrise nur ein solidarischer sein könne, sagte auch die Fraktionschefin der Linken, Anne Helm. Die Krise haben insbesondere die Defizite im Öffentlichen Sektor aufgezeigt. Es sei deshalb richtig, dass sich Rot-Grün-Rot bereits Ende vergangenen Jahres zu einer Unterstützung der Beschäftigten im Krankenhauswesen durchringen konnte. »Es ist ein starkes Signal, dass sich diese Koalition für einen Entlastungstarifvertrag bei Charité und Vivantes eingesetzt hat«, so Helm.
Martin Kröger
Franziska Giffey will mit Rot-Grün-Rot in Berlin den Neustart nach der Pandemie organisieren, die soziale Wohnungsfrage lösen und die Wirtschaft stärken. Die Opposition wirft dem Senat Führungslosigkeit und Unfähigkeit vor.
Berlin, Franziska Giffey, LINKE, Regierungserklärung, Rot-Grün, Rot-Grün-Rot, SPD, Wohnen
Hauptstadtregion
Berlin Regierungserklärung der Berliner Regierenden Bürgermeisterin
2022-01-27T17:19:33+0100
2022-01-27T17:19:33+0100
2023-01-20T19:27:27+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1160817.giffey-gibt-die-linie-vor.html
Gastgewerbe ohne Fachpersonal
Die Beschäftigungslücke im Gastgewerbe wird vor allem mit Ungelernten und Minijobbern gefüllt. Zu diesem Schluss kommt eine Analyse im Auftrag der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) und der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, welche die Auswirkungen der Corona-Pandemie und der Erhöhung des Mindestlohns auf die Branche untersucht hat. Laut der Studie arbeiteten im Jahr 2022 rund 100 000 Menschen weniger in den drei Teilbranchen Gastronomie, Beherbergung und Catering als vor der Pandemie, als diese insgesamt 2,3 Millionen Beschäftigte verzeichneten. Viele Beschäftigte seien während der Pandemie abgewandert, etwa in den Einzelhandel oder die Logistik. Zwar seien seit dem pandemiebedingten Tiefstand aus dem Jahr 2021 in der Branche 224 000 Beschäftigte hinzugekommen, an Entwarnung dachte bei der Vorstellung der Studie am Dienstag in Berlin allerdings niemand. So berichteten mehr als drei Viertel der 4000 für die Studie befragten Beschäftigten von einem belastenden Personalmangel. Auch in einer im September vom Branchenverband Dehoga veröffentlichten Studie benannten 65 Prozent der Betriebe akuten Arbeitskräftemangel als Problem. Das Jobcenter listete im August 25 000 offene Stellen in der Branche, die Dunkelziffer dürfte laut den Studienautoren deutlich höher sein. Auch dass sich der Personalmangel weiter verschärfen könnte, zeigen die Umfragedaten: 34 Prozent der Beschäftigten sehen keine Zukunft für sich im Gastgewerbe. Als Hauptgrund dafür wird die niedrige Bezahlung genannt. Das Gastgewerbe ist die Niedriglohnbranche schlechthin: Vor der Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro im vergangenen Jahr arbeiteten zwei Drittel der dort Beschäftigten zu einem Lohn von unter 12,50 Euro. Zwar hätten mehr als die Hälfte der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und fast 90 Prozent der Minijobber von der Mindestlohnerhöhung profitiert, die Zugewinne seien aber durch die Inflation teils wieder aufgezehrt worden, so die Studie. Auch viele Tarifverträge starten in der Branche mit Einstiegslöhnen nur knapp über dem Mindestlohn. Der NGG-Vorsitzende Guido Zeitler sprach angesichts der Befunde von einer existenziellen Situation für die Branche, die Pandemie habe dabei noch als Katalysator gewirkt. Zwar sei die finanzielle Situation mancher Betriebe angespannt, die Personalnot jedoch hausgemacht. So habe auch die Ermöglichung einer Mitgliedschaft in der Dehoga ohne Tarifvertrag dazu beigetragen, dass die Tarifbindung in der Branche zwischen 2010 und 2022 von 37 Prozent der Betriebe auf 20 Prozent zurückgegangen sei. Auch erreichten Tarifverträge insbesondere in der von Kleinbetrieben geprägten Gastronomie nur wenige Beschäftigte. Daher sieht Zeitler auch die Politik gefragt, durch Tariftreueregelungen bei öffentlichen Aufgaben, durch Arbeitsschutzkontrollen und den Schutz des Achtstundentages vor Lockerungen. Letzteres fordert die Dehoga, um einem weiteren Attraktivitätsverlust der Branche entgegenzuwirken. Laut aktuellen Schätzungen der Bundesagentur für Arbeit (BA) gehe die derzeitige Erholung der Beschäftigung weiter, erklärte die Studienautorin Katrin Schmid. »Es wird mehr Beschäftigte geben als vor der Pandemie, allerdings mit einer veränderten Beschäftigungsstruktur«, sagte die Sozialökonomin. So gehe die BA von einem Zuwachs von 2,8 Prozent bei den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten in 2023 aus. Mit 9,8 Prozent liege der erwartete Aufwuchs bei Minijobs jedoch deutlich darüber. Auch der bisherige Zuwachs geht laut der Studie zu etwa zwei Dritteln auf die Ausweitung geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse zurück. Zudem sei mit 35 Prozent ein hoher Anteil an Ungelernten am jüngsten Personalaufwuchs zu verzeichnen. »Wenn sich dieser Trend fortsetzt, haben wir in der Zukunft noch weniger Fachkräfte«, so Schmid. Die mangelnde Attraktivität der Branche äußert sich auch in fehlendem Nachwuchs. Der Studie nach hat sich die Anzahl der Auszubildenden zwischen 2007 und 2022 um zwei Drittel auf etwa 37 000 reduziert. Lediglich 16 Prozent der Betriebe bildeten 2022 noch aus, viele Stellen blieben unbesetzt. Beim Ranking des DGB-Ausbildungsreports landen Berufe aus dem Gastgewerbe auf den hinteren Rängen, die Abbrecherquoten lagen bei Köchinnen und Köchen zuletzt bei 46 Prozent, in der Systemgastronomie beendeten mehr als die Hälfte der Auszubildenden ihre Lehre nicht. Viele beklagten häufige Überstunden und ausbildungsfremde Tätigkeiten, also den Einsatz als günstige Arbeitskräfte. Dass die Gewerkschaft den von Zeitler geforderten Startlohn von 3000 Euro brutto für Fachkräfte in Vollzeit zeitnah durchsetzen kann, erscheint unwahrscheinlich. Bereits jetzt klagen viele Betriebe laut Dehoga-Umfrage über gestiegene Personalkosten und Umsatzeinbrüche angesichts gestiegener Preise. Auch der NGG-Chef glaubt nicht an eine schnelle Lösung, doch er hält einen Neustart in der Branche für unumgänglich: »Die Löhne müssen rauf, die Arbeitszeiten runter. Tarifverträge müssen endlich für alle gelten. Die Zeiten der Ausbeutung sind vorbei – wenn dieses Signal ausbleibt, werden wir wegen Personalmangel in Zukunft noch öfter vor geschlossenen Türen stehen.«
Moritz Aschemeyer
Das Gewerbe klagt seit einiger Zeit über Personalmangel. Dieser ist aber großenteils selbstverschuldet, wie eine Gewerkschaftsstudie zeigt.
Gastronomie, Mindestlohn, Tarifpolitik
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt Personalmangel
2023-10-17T17:21:06+0200
2023-10-17T17:21:06+0200
2023-10-20T13:15:52+0200
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1177087.personalmangel-gastgewerbe-ohne-fachpersonal.html
Fest der Kulturen
Spätrömische Dekadenz und Steuerparadiese – so lautet das diesjährige Motto des Vereins El Patio (spanisch für der Innenhof) beim Karneval der Kulturen. Mit der Startnummer sechs nehmen die ehrenamtlichen Mitglieder von El Patio am Pfingstsonntag am Straßenumzug teil – wahrscheinlich zum letzten Mal. »Der Senat für Integration hat bisher unsere Miete von 9000 Euro im Jahr übernommen. Jetzt wird uns aber der Geldhahn zugedreht, und wir können uns die Räumlichkeiten nicht mehr leisten«, erklärt Felipe Orobon am Mittwochabend, während er noch an der Palme des Steuerparadieses herumwerkelt. Noch bestehe allerdings Hoffnung, andere Geldgeber aufzutreiben. Der soziokulturelle Verein bietet Rechts-, Sozial-, Gesundheits- und psychologische Beratung für spanisch und portugiesischsprachige Migranten an. Spanisches Theater, Salsa-, Musik- und Kochabende machen außerdem das kulturelle Angebot von El Patio aus. Gegründet wurde der »Innenhof« bereits 1986 mit dem Ziel, eine Begegnungsstätte für Spanier, Südamerikaner und Deutsche zu werden. Vielleicht auch, um ein Stück Heimat in der Fremde zu finden. Heute ist das Angebot vielfältiger. »Oft kommen Flüchtlingsfamilien, die keine Unterkunft haben. Ihnen geben wir ein Dach über den Kopf und Informationen, wo sie längerfristige Hilfe bekommen«, so der 53-jährige Orobon. Rund 500 Menschen machen jährlich von den Beratungsangeboten Gebrauch. Aber auch das einzige spanische Puppentheater Berlins wird hier aufgeführt. Ein Gefühl von südländischer Gastfreundschaft und Gelassenheit kommt bei El Patio schnell auf, so auch am Mittwochabend. »Hola«, schallt es aus allen Ecken, sobald jemand das Büro im Stadtteil Moabit betritt. Rotwein und Oliven stehen auf dem Tisch, Musik tönt aus der Anlage, übertönt vom Bohren und Hämmern an der Karnevalskulisse. Auch die Kostüme sind noch nicht fertig, aber stressen lässt sich hier niemand, schließlich sind es bis Sonntag noch ein paar Tage. »Die Palme wird noch angemalt, dann hängen wir CDs an die Zweige. Sie symbolisieren den Datenhandel«, sagt Orobon. Die Vereinsmitglieder werden sich in Tuniken hüllen. Wer den Eselskopf, der Westerwelle verkörpern soll, aufsetzen wird, muss noch zwischen den rund 50 Mitgliedern ausgehandelt werden. Für El Patio – Karnevalspreisträger 2007 – sind Politik und Karneval unzertrennlich. Letztes Jahr ging es um Armut im Rentenalter, davor um Bootsflüchtlinge vor den Küsten Spaniens. Besonders kreativ zeigte sich der »Innenhof« 2004 beim Thema Guantanamo: »Wir haben eine Düsenjet-Attrappe gebaut, die Guantanamo Airline, wo Stewardessen die Passagiere gefoltert haben. Dazu haben wir One-Way-Tickets in die Karibik verteilt«, erinnert sich Orobon und lacht. Leider werde ihre Message nur von wenigen Besuchern verstanden, die Mehrzahl möchte einfach feiern. Feiern kann man ab heute. Das Straßenfest beginnt um 16 Uhr und geht bis einschließlich Montag. Am Sonntag kann man ab 12.30 Uhr unter anderem die bis dahin fertig gewordene Palme von El Patio bestaunen. www.elpatio-berlin.de Informationen zur Route und zum Programm unter www.karneval-berlin.de
Nissrine Messaoudi
Spätrömische Dekadenz und Steuerparadiese – so lautet das diesjährige Motto des Vereins El Patio (spanisch für der Innenhof) beim Karneval der Kulturen. Mit der Startnummer sechs nehmen die ehrenamtlichen Mitglieder von El Patio am Pfingstsonntag am Straßenumzug teil – wahrscheinlich zum letzten Mal. »Der Senat für Integration hat bisher unsere Miete von 9000 Euro im Jahr übernommen. Jetzt wird uns aber der Geldhahn zugedreht, und wir können uns die Räumlichkeiten nicht mehr leisten«, erklärt F...
Berlin, Karneval der Kulturen, Politik, Spätrömische Dekadenz
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Todesschütze war im Gerichtssaal aggressiv und gereizt
München (AFP/dpa/nd-Otto). Der Todesschütze von Dachau ist in dem gegen ihn geführten Verfahren als »verbal aggressiv, unruhig und gereizt« aufgefallen. »Es konnte sich aber keiner vorstellen, dass er tätlich aggressiv wird. Dafür gab es keine Anhaltspunkte«, sagte Thomas Dickert, Ministerialdirigent im Justizministerium, am Donnerstag in München. Nach Angaben von Justizministerin Beate Merk (CSU) handelte es sich um ein Routineverfahren. Kein Mensch habe damit rechnen können, dass so eine brutale Straftat begangen würde. Gegen den Speditionsbesitzer sei vorher noch nie ein Strafverfahren geführt worden, sagte Dickert. Am Mittwoch hatte der 54-Jährige im Amtsgericht Dachau einen 31 Jahre alten Staatsanwalt erschossen. Sogleich kam die Frage auf, ob die Justizgebäude nicht besser kontrolliert werden sollten. Der Münchner Generalstaatsanwalt Christoph Strötz äußerte sich hierzu im Bayerischen Rundfunk: Die Sicherheitsfrage werde bei Prozessen intensiv diskutiert, und man habe ein Sicherheitskonzept erstellt. Aber »uns ist bewusst, dass wir nicht alle 250 bayerischen Justizgebäude zu Sicherheits- und Trutzburgen ausbauen können«, sagte er weiter.
Redaktion nd-aktuell.de
Dachau, Staatsanwalt
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Würde spenden und keinen Müll
Die Lager von Hilfsorganisationen wie der Berliner Stadtmission quellen aktuell über: Der Krieg Russlands gegen die Ukraine geht in die dritte Woche, viele wollen den Geflüchteten aus Kiew, dem Donbass oder Mariupol schnell und unbürokratisch helfen und vor allem mit Kleidung für Kinder und Erwachsene etwas Gutes tun. Doch gut gemeint ist nicht immer gut geholfen. Wenn Hilfsorganisationen tonnenweise mit Altkleidern bedacht werden, müssen sie das Personal verdoppeln - und das kostet. Denn die Kleider gilt es zunächst zu begutachten, zu sortierten, zu transportieren und später zu verteilen. Pro eingekleidetem Menschen entstehen so Personal- und Logistik-Kosten in Höhe von rund 15 Euro. Diese lohnt es sich auszugeben, wenn am Ende jemand frisch und ordentlich eingekleidet ist. Aber wirklich nur dann! Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann Bei der Berliner Stadtmission stehen in Friedenszeiten Menschen ohne Obdach im Fokus. Doch die Zielgruppe ist unwichtig, wenn es darum geht, zu beschreiben, was gute und was schlechte Kleiderspenden sind. Aktuell müssen wir rund 80 Prozent der bei uns abgegebenen Kleiderspenden entsorgen. Kostenpflichtig entsorgen. Letztlich zahlt die Berliner Stadtmission also, ohne einen Gegenwert zu bekommen. Im Gegenteil. Dieses Geld aber - und das gilt für jede wohltätige Organisation - wird dringend gebraucht und fehlt dann an anderer Stelle für wichtige soziale Projekte. So musste die Berliner Stadtmission im Jahr 2021 insgesamt 72 Tonnen textilen Müll entsorgen. Die Kosten dafür: rund 11 000 Euro. Wichtig ist dabei zu erwähnen, dass ordentliche Kleiderspenden, die nicht geeignet sind für die Zielgruppe, in den vereinseigenen Secondhandläden verkauft werden. Der Erlös fließt dann in Angebote wie die Kleiderkammer für bedürftige Menschen. Zudem gehen Materialien wie Wolldecken, Knöpfe, Meterware oder auch löchrige Jeans zurück in den textilen Kreislauf: Upcycling-Designer können im Materialpool des Textilhafens stöbern und dort ressourcenschonend Textilien für ihre Kollektionen beziehen. Trotz des Versuchs, alles Verwertbare noch zu nutzen, bleibt die Berliner Stadtmission auf 11 000 Euro Kosten für die Müllentsorgung sitzen. Das muss aber nicht sein: Jeder kann aus unsinnigen Kleiderspenden sinnvolle Gaben machen, wenn er oder sie ein paar Hinweise beachtet. Denn wir als Berliner Stadtmission brauchen Anziehsachen für unsere Gäste - aber sie müssen nutzbar sein! Wer mit Spenden Bedürftige unterstützen möchte, sollte sich zuerst informieren, was überhaupt benötigt wird. Das steht häufig auf der Homepage sozialer Vereine. Fast immer gilt: Saisonal spenden. Mitten im Winter Sommerkleidchen abzugeben, ist eine schlechte Idee. Denn oft haben Hilfsorganisationen keine oder nur sehr begrenzte Lagerflächen und können im Winter nicht tonnenweise Anziehsachen für den Sommer horten. Auch bringen Menschen häufig Sachen vorbei, die defekt sind: Da fehlt der Knopf an der Jeans, der Reißverschluss an der Jacke oder die Gummis an den Unterhosen sind mal mehr mal weniger ausgeleiert. Doch selbst ein Schlüppi, der nur ein bisschen rutscht, rutscht eben und ist alles andere als bequem und hilfreich. Wenn man die freundlichen Spenderinnen und Spender darauf hinweist, sind die meisten schnell beleidigt. Denn sie denken, wir von der Berliner Stadtmission würden die Sachen vor der Ausgabe an unsere Gäste reparieren. Aber Hilfsorganisationen haben weder Zeit noch Geld und Personal, um tonnenweise Kleidung auszubessern. Der Fortschritt ist ein Zelt - Zugige Passage im Berliner Hauptbahnhof hat als Ankunftsort für Ukraine-Flüchtlinge ausgedient Auch ungewaschene Kleidung oder solche mit Flecken findet oft den Weg in den Altkleidercontainer. Für Obdachlose und Kriegsflüchtlinge sei das doch noch gut, so offenbar die landläufige Meinung. Die Spenderinnen und Spender vergessen dabei: Wenn jemand eine Kleiderspende erhält, dann geben wir ihm oder ihr damit mehr als eine Jacke und eine Hose. Der bedürftige Mensch, der gerade selbst nicht die Mittel hat, um sich neu einzukleiden, erhält damit ein Stück Würde zurück. »Spenden Sie nur, was Sie einem Freund oder einer Freundin noch geben würden« - mit diesem Grundsatz können Menschen ihre gut gemeinten Gaben prüfen, bevor sie diese abgeben. Alles andere kann direkt in den Müll - ohne den Umweg über Hilfsorganisationen.
Barbara Breuer
Viele Menschen spenden derzeit Kleidung für ukrainische Geflüchtete. Doch gut gemeint ist nicht immer gut geholfen, weiß Barbara Breuer von der Berliner Stadtmission und kritisiert Müll unter den Sachspenden: »Aktuell müssen wir rund 80 Prozent der bei uns abgegebenen Kleiderspenden entsorgen.«
Berlin, Flüchtlinge, Spenden, Stadtmission, Ukraine
Meinung
Kommentare Kleiderspenden für die Ukraine
2022-03-15T14:11:10+0100
2022-03-15T14:11:10+0100
2023-01-20T19:01:42+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1162125.wuerde-spenden-und-keinen-muell.html
1,4 Milliarden leiden unter Wassermangel
Köln. Mehr als 1,4 Milliarden Menschen weltweit leben nach Angaben der Vereinten Nationen ohne ausreichende Versorgung mit sauberem Wasser. Unter den Opfern der globalen Wassernot seien 450 Millionen Kinder, warnte das Hilfswerk Unicef am Donnerstag in Köln. Damit habe jedes fünfte Kind weltweit nicht genug Wasser, um seinen täglichen Bedarf zu decken. Die Wasserkrise macht laut Unicef besonders den Menschen in armen Ländern zu schaffen. Der Klimawandel werde die Krise noch verschlimmern, warnte Exekutivdirektorin Henrietta Fore anlässlich des Weltwassertages am kommenden Montag. Die Wasserknappheit führe zu Mangelernährung und begünstige die Ausbreitung von Krankheiten. Bei Kindern könnten Wachstumsstörungen auftreten. Den Angaben nach leben Kinder in mehr als 80 Ländern in Gebieten »mit hoher oder extrem hoher Wasserunsicherheit«. Im östlichen und südlichen Afrika sei der Anteil der betroffenen Jungen und Mädchen am höchsten. Mehr als die Hälfte der Kinder dort habe Schwierigkeiten, täglich Zugang zu ausreichend Wasser zu bekommen. Auch West- und Zentralafrika, Südasien und der Nahe Osten seien besonders vom Wassermangel betroffen. In Südasien leben laut Unicef die meisten Kinder in »hoher oder extrem hoher Wasserunsicherheit«, es seien mehr als 155 Millionen Mädchen und Jungen. Angesichts der Wasserkrise kündigte das Kinderhilfswerk der UN eine Initiative unter dem Motto »Wassersicherheit für alle« (»Water Security for All«) an. Langfristiges Ziel sei es, jedem Kind eine ausreichende Wasserversorgung zu geben, hieß es. Die Initiative solle Ressourcen, Partnerschaften und Innovationen bündeln und Unterstützung für die Krisengebiete mobilisieren, in denen Investitionen in die Wasser- und Sanitärversorgung sowie Hygiene am dringendsten seien. epd/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Unicef: Jedes fünfte Kind weltweit ist unterversorgt
Kinderrechte, Unicef
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Internationaler Freiwilliger der YPG wirft USA Verrat vor
Die Unterstützung der USA für die türkische Offensive in Nordsyrien sorgt für Unmut unter ausländischen Freiwilligen, die auf Seiten der Kurden gegen den Islamischen Staat kämpfen. Ein ehemaliges Mitglied der Internationalen Brigaden aus den Vereinigten Staaten erhob schwere Vorwürfe: »Die Entscheidung ist ein Schlag ins Gesicht der Kurden. Aber nicht nur gegen sie, sondern auch gegen die ausländischen Freiwilligen«, erklärte Erwin Stran der kurdischen Nachrichtenagentur »Ara News«. »Wir haben unter anderem alleine zwei Amerikaner bei der Operation zur Einnahme von Manbidsch verloren«, sagte er weiter. »Von den Verlusten der Kurden ganz zu schweigen.« Nun sei die kurdische Offensive jedoch vor einem Zusammenschluss der getrennten Rojava-Kantone gestoppt worden. Nach Angaben der kurdisch-arabischen Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) waren insgesamt 264 Kämpfer bei der Befreiung von Manbidsch gestorben. Darunter sollen sich mindestens sechs Internationalisten befunden haben. Die beiden gefallenen Amerikaner waren laut kurdischen Nachrichtenagenturen der aus Maryland stammende William Savage und Levi Jonathan Shirley. Auch der Brite Dean Carl Evans, der Slowene Martin Gruden und der Portugiese Mario Nunes sollen laut »Rudaw« zu den Opfern gehören. Der vormals in der YPG aktive Erwin Stran nannte die Deckung von Washington für die türkische Invasion einen »Verrat der US-Regierung«. »Es sieht zumindest danach aus«, fügte er hinzu. »Dieselbe Luftunterstützung, die Kurden in ihrem Kampf gegen den Islamischen Staat hatten, unterstützt jetzt eine Operation, die die Kurden zum Rückzug zwingt.« Stran war nach eigener Aussage über drei Monate nur zwei Kilometer von Dscharabulus entfernt stationiert. Die kurdischen Volksverteidigungseinheiten der YPG haben sich derweil bei den ausländischen Freiwilligen für ihren Einsatz bedankt. Der Vorsitzende der mit der Miliz verbundenen Partei PYD, Salih Muslim, erklärte gegenüber »Ara News«, dass die Internationalisten »humanistische Werte« verteidigen. Sie bekämpfen einen Gegner, der eine »Bedrohung für alle Menschen« ist. Auch aus Deutschland haben sich mehrere Personen den kurdischen Einheiten angeschlossen. Wie viele es genau sind, ist nicht bekannt. Einige wenige von ihnen haben Interviews gegeben. Der 21-jährige Kevin Joachim aus Karlsruhe, die 19-jährige Ivana Hoffmann aus Duisburg und der 55-jährige Günter Helsten aus Göppingen waren im Kampf gegen den Islamischen Staat gefallen. »Die Kurden sind sehr glücklich über die ausländischen Kämpfer. Sie fühlen sich nicht alleine«, erklärte Salih Muslim. »In der Vergangenheit hatten die Kurden nur die Berge als Freunde, aber heute haben wir Amerikaner, Briten, Franzosen, Deutsche und viele andere.«
Sebastian Bähr
Die Unterstützung der USA für die türkische Offensive in Nordsyrien sorgt für Unmut unter ausländischen Kämpfern, die gegen den IS kämpften. Ein Mitglied der Internationalen Brigaden erhob schwere Vorwürfe.
Deutschland, IS, Kurden, Kurdistan, Syrien, Türkei, USA
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Pensionierter Hobbykünstler
Einmal folgte dem immensen und sich scheinbar zeitlos in ihm aufbäumenden Angstschub ein drei Tage währender Muskelkater. Sein Körper zitterte, krampfte, wehrte sich. Einzige Erleichterung war das stundenlange Im-Kreis-Laufen, wie er herausfand. Sein Körper, danach stark erschöpft, brauchte 72 Stunden, um sich zu erholen. Was muss das für eine Angst gewesen sein? Hussam Naggar, 1971 in Aleppo geboren, ist mitten im Zivildienst in einem Behindertenheim in Markgröningen bei Ludwigsburg in Baden-Württemberg Anfang der 90er Jahre, als er das erste Mal eine Psychose erlebt. Naggar betreut eine Wohngruppe mit 13 bis 14 Bewohner*innen, alle mit schweren und schwersten körperlichen und geistigen Behinderungen. Er soll einen der Bewohner mit fortschreitender Muskeldystrophie in seinen Rollstuhl setzen. Der Bewohner hat in einer Behindertenwerkstatt zu arbeiten, auf diese Vereinbarung besteht die Dienstleiterin – sofort, jetzt! Er, Naggar, gerade Anfang 20, spürt, dass hier gleich zwei Menschen gegen ihren Willen zu etwas gezwungen werden, das sie nicht tun wollen. »Ich habe ihn verteidigt, habe gesagt, dass er einen freien Willen hat und auch das Recht auf Krankmachen.« Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen. Was Naggar an diesem Tag erlebt, wirkt wie ein Trigger. Vor allem, weil es ihm ohnehin schwerfällt, sich unterzuordnen. Der Stress auf der Arbeit ist enorm. An diesem Tag ist es genug, seine Psyche sucht nach Erlösung. Während andere kündigen, sich beim Betriebsrat beschweren, sich in Sport oder vielleicht Alkohol flüchten, nur noch Dienst nach Vorschrift machen, ist es bei Naggar der Geist, der sich verabschiedet. Er erlebt eine Astralreise, eine außerkörperliche Erfahrung, bei der er im All schwebt, die Welt von oben betrachtet und dabei auf die Kaaba sieht, den schwarzen Quader im Innenraum der Heiligen Moschee in Mekka. Was zunächst für Menschen, die nichts mit Esoterik anfangen können, völlig plemplem klingt, war für Naggar in diesem Moment ein reales Erlebnis. Die Psychose ist der Fluchtpunkt aus dem Stress, den er erlebt. »Ich geriet in euphorische Zustände und hatte gleichzeitig Angst vor Menschen und wähnte überall Verschwörungen«, sagt Naggar über diese Zeit heute. Er kommt das erste und einzige Mal ins Stocken, als er davon erzählen will, wie diese erste Psychose konkret aussah. Wir machen eine Pause. Naggar geht rauchen. Religiöse Halluzinationen sind bei einer Schizophrenie nicht selten. Naggar wird von seinem Vater islamisch erzogen, betet fünfmal am Tag. In persönlichen Krisen ist man oft mit Grundfragen des Daseins konfrontiert, und diese spielen gerade in der Religion eine besondere Rolle. Eine Studie aus den 80er Jahren belegt, dass Menschen mit religiöser Sozialisation eher zu solchen Wahnvorstellungen neigen als nicht gläubige Erkrankte. Sein Vater, ein syrischer Arzt, der in den 50er Jahren seine Facharztausbildung in Hannover absolvierte, ist Anhänger der Muslimbruderschaft. »Ich wurde sehr fromm und traditionell erzogen. In keinster Weise säkular. Und zu Hause wurde ständig politisiert, schon von Kindesbeinen an.« Naggars Vater wird auf den instabilen Zustand seines Sohnes aufmerksam und veranlasst eine ambulante psychiatrische Behandlung. »In der Akutphase sind aufmerksame Angehörige wichtig, die spüren, ob man für Hilfe zugänglich ist – sonst bleibt man im Wahnsystem gefangen«, sagt Naggar. Er bekommt Neuroleptika und wird für den Rest des Zivildienstes freigestellt. »Es hat mir bei allem Stress Spaß gemacht, dort zu arbeiten«, sagt Naggar. Nach dem Ende der Behandlung wird er stark depressiv. Nichts Ungewöhnliches nach einem Schub. Trotzdem schafft er es, nach der Behandlung ein Medizinstudium abzuschließen. Doch anstatt eine Doktorarbeit zu verfassen, schreibt er sich für zwei Semester an der Kunstakademie ein. In dieser Zeit erlebt er keine weiteren Schübe. Schizophrenie ist wohl eine der am stärksten mythologisierten Erkrankungen, auch weil so wenig über ihre Entstehung bekannt ist. Dabei hat sie nichts mit einer gespaltenen Persönlichkeit zu tun, wie oft angenommen wird. »Es gibt das Krankheitsbild der dissoziativen Identitätsstörung, das man früher auch ›multiple Persönlichkeitsstörung‹ nannte«, sagt Robert Bittner, Oberarzt und stellvertretender Leiter der Psychiatrie an der Uniklinik in Frankfurt am Main in einem Interview mit dem Fachmagazin der Polytechnischen Gesellschaft Frankfurt. »Das ist ein sehr seltenes Krankheitsbild und hat mit der Schizophrenie überhaupt nichts zu tun.« Tatsächlich bedeutet Schizophrenie aus dem Griechischen übersetzt »gespaltenes Bewusstsein«, damit ist jedoch das Nebeneinander von auffälligen Verhaltensweisen wie etwa Wahnvorstellungen gemeint, während Sprache und Motorik eher unbeeinträchtigt bleiben. »Die auf Vorurteilen sowie fehlendem oder falschem Wissen über Schizophrenie in der Bevölkerung aufbauende und durch undifferenzierte Medienberichte immer wieder geschürte Stigmatisierung und Diskriminierung der Betroffenen erhöhen zusätzlich die Belastung und fördern soziale Ausgrenzung und Vereinsamung«, heißt es in einem Gesundheitsmonitoring des Robert-Koch-Instituts (RKI). Wenn überhaupt über die Krankheit berichtet wird, dann meist in einem Zusammenhang mit Gewaltdelikten. Dabei weisen Fachärzte und auch das RKI darauf hin, dass die meisten Patienten nie gewalttätig sind. Zwar gibt es einzelne Fälle, bei denen Personen während einer Psychose aggressiv werden, aber hier spielen auch Faktoren eine Rolle, die nichts oder nur indirekt etwas mit der Erkrankung zu tun haben wie etwa Alkohol- oder Drogenmissbrauch. Meist ist es eher umgekehrt: Menschen, die unter Psychosen leiden, werden überproportional häufig Opfer von Gewalt. Auch das »nd« berichtet, wenn es um Schizophrenie geht, vielfach von Polizeigewalt gegenüber Erkrankten (manchmal sogar mit Todesfolge). Hussam Naggar erzählt von einer Episode am Stuttgarter Hauptbahnhof im Jahr 2002, als er – so ist seine Version – eine Frau »schubste«, die er »doppelzüngig« sprechen hörte und deshalb in ihr den Teufel wähnte. Er wurde von der Bundespolizei festgenommen. Ein fünfmonatiger Aufenthalt in einer offenen Psychiatrie folgte. Dort entstand die literarische Vorlage für den 26-seitigen Text »Zwangseinweisung«, in dem es heißt: »Er konnte die sich zerstreuende Welt nur missverstehen, da sein Verstand sich im Wahn auflöste …« Naggar will nicht relativieren, aber erklären: »Es ist passiert, aber es passierte nicht aus niederen Motiven, sondern das Handeln war eine Abspaltung der eigenen Angst auf die Mitmenschen.« Naggar schreibt in seinem Tagebuch auch von der Ambivalenz, die seinen Aufenthalt in der Klinik bestimmte: »Es war Not am Mann und es lag aus weitsichtigem Mitgefühl Handlungsbedarf vor. Ein in sich selbst windender Zusammenzuckender und sich Weigernder. Absolut unzugänglich. In den Zwangsmaßnahmen des ärztlichen Personals wähnte er eine Bedrohung – hatte schreckliche Angst und keine Zuneigung konnte diese mildern.« Er schreibt aber auch von Fünf-Punkt-Fixiergurten und wie er stundenlang, völlig mit Medikamenten sediert, alleine auf einem dunklen Klinikflur auf einer Trage liegt, nach Getränken fragt, ihn aber niemand hört. »Die gut brutalen Pfleger bei gesüßtem Kaffee mit Milch im Sozialraum. Eine gespenstische Stille in einer nun sterilen Weite – verchromter Bettrahmen.« Wie Schizophrenie entsteht, ist bis heute nicht medizinisch geklärt. Aus vielen einzelnen Puzzleteilen setzt sich aber folgendes Bild zusammen: Trifft eine bestimmte genetische Vorbelastung auf ungünstige äußere Umwelteinflüsse (kritische Lebensereignisse – die Episode am Stuttgarter Bahnhof ereignete sich kurz nach Naggars Trennung von seiner Frau und nach 9/11), so kann diese Kombination schizophrene Psychosen auslösen. Meistens handelt es sich dabei um Wahnvorstellungen, Trugwahrnehmungen oder Realitätsverlust wie etwa Allmachtsfantasien. Weltweit leidet etwa ein Prozent der Menschen an einer Schizophrenie. Der Gipfel der Ersterkrankung wird bei Männern in der Altersgruppe der 20- bis 25-Jährigen, bei Frauen zwischen dem 25. und 30. Lebensjahr erreicht. Bei etwa einem Viertel der Betroffenen bleibt es bei einer einzigen psychotischen Episode. Knapp über die Hälfte der Erkrankten erlebt nach einer ersten akuten Psychose innerhalb von zwei Jahren einen Rückfall. Etwa ein weiteres Viertel leidet dauerhaft unter psychotischen Phasen. Hussam Naggar hat seit zehn Jahren keinen Schub mehr gehabt und ein, wie er es nennt, »Selbstlernprogramm« für sich entwickelt: Er befindet sich immer noch in therapeutischer Behandlung, meidet Situationen, die er als Warnung empfindet, nimmt Medikamente, geht täglich auf den Stepper im Fitnessstudio, praktiziert Sitzmeditation und macht Kunst. Gelebte Freiheit sei ihm das Wichtigste im Leben, sagt er. Deswegen lässt er sich mit seiner Kunst auch nicht institutionell vereinnahmen, was sich gut darin ausdrückt, dass er die abfällige Etikettierung »Hobbykünstler«, die ihm 2003 von einem Dozenten bei einem Gelage verliehen wurde, nun für sich in eine Auszeichnung umpolt. Als »pensionierter Hobbykünstler« postet er regelmäßig Collagen auf Facebook und Instagram: Versatzstücke von Verpackungsmüll – des reichlichen Abfalls in Berlin-Wedding, den er sammelt, verklebt und mit schwarzen und vielfarbigen Textilisolierbändern zu einem Puzzle zusammensetzt. Auf eine E-Mail, ganz am Anfang unseres wochenlangen Austausches, in der wir einen Treffpunkt vereinbaren wollen, antwortet Naggar: »Tatsächlich beziehe ich 600 Euro an Berufsunfähigkeitsrente und entziehe mich so gut es geht dem sogenannten Kunstsystem, damit ich mir ja keinen ›Namen‹ mache.«
Text: Christin Odoj, Foto: Doro Zinn
Hussam Naggar erlebte mit Anfang 20 seine erste Psychose. Die Schizophrenie war jahrelang Teil seines Lebens, mittlerweile gilt er als genesen. Heute helfen ihm Therapie, Meditation und ein Stepper, um sich zu schützen.
Feuilleton
Kultur Umgang mit Schizophrenie
2024-06-14T14:50:01+0200
2024-06-14T14:50:01+0200
2024-12-16T08:06:10+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1182962.umgang-mit-schizophrenie-pensionierter-hobbykuenstler.html
Beruhigung durch Blockade
In der Kreuzberger Bergmannstraße sollen Flaneure mehr Platz bekommen, zurückstecken müssen dafür Autofahrer. Am Donnerstagabend wollen Senat und Bezirk ihren Entwurf für die sogenannte Begegnungszone vorstellen. Die Pläne, den Autoverkehr in der Ausgeh- und Touristenmeile in Kreuzberg 61 zurückzudrängen, sind eigentlich kein Problem in der bürgerlich-linksalternativen Gegend. Doch die Erfahrung mit einem ähnlichen Projekt in der Schöneberger Maaßenstraße, das zumindest optisch nach einhelliger Meinung misslungen ist, ließ die Anwohner zweifeln. Dementsprechend gingen auch hier in der von Oktober 2015 bis Juni 2016 dauernden Beteiligungsphase viele auf die Barrikaden. Temporär installierbare »Begegnungsmodule« sollen es nun richten, die den Fahrbahnquerschnitt der Straße auf 6,50 Meter halbieren. »Die kann man sich ungefähr wie die Holzterrassen vorstellen, die viele Menschen in ihren Gärten haben«, sagt Hans-Peter Hubert von der Bürger... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Nicolas Šustr
So hässlich wie in Schöneberg soll die Verkehrsberuhigung in der Bergmannstraße nicht ausfallen, ansonsten freuen sich die Kreuzberger über weniger Autos.
Verkehr
Hauptstadtregion
Berlin
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1030756.beruhigung-durch-blockade.html
Opposition sieht Grundrechte in Sachsen gefährdet
Dresden. Eine Reform des sächsischen Polizeigesetzes wird von der Opposition im Landtag scharf kritisiert. Die Linken-Fraktion warnte am Mittwoch vor einem massiven Eingriff in die Grundrechte und vor einer Militarisierung der Polizei. Die Grünen-Fraktion äußerte Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der geplanten Gesetzesänderung. Zudem forderten beide Fraktionen das Innenministerium auf, den Entwurf vollständig öffentlich zu machen. Sachsens Innenminister Roland Wöller (CDU) hatte zuvor in Dresden Details zu den geplanten Änderungen bekanntgegeben. Um die Terrorabwehr zu stärken, sollen demnach unter anderem erweiterte Befugnisse zur Überwachung sogenannter terroristischer Gefährder und eine stärkere Bewaffnung von Einsatzkräften gesetzlich festgeschrieben werden. Laut Innenministerium sieht der Entwurf unter anderem »breitere Observationsmöglichkeiten« und »neue Durchsuchungsbefugnisse« vor. Auch eine Norm zur Überwachung terroristischer Gefährder durch Fußfesseln ist enthalten. Für eine bessere Terrorabwehr soll »die Bewaffnung der sächsischen Polizei erweitert« werden. Spezialeinheiten sollen »in besonderen Einsatzsituationen auch über Waffen mit erforderlicher Reichweite und hoher Durchschlagskraft, zum Beispiel Maschinengewehre, verfügen«, hieß es weiter. Laut Wöller sind zwei neue Gesetze vorgesehen, die bis 2019 das bisherige Polizeigesetz ersetzen und die Polizeiarbeit des Landes und der Kommunen getrennt regeln sollen. Das schwarz-rote Kabinett hat dem Entwurf bereits zugestimmt. Nach einer Anhörung durch Experten und Verbände soll der Entwurf laut Innenministerium in den Landtag eingebracht werden. Wöller bezeichnete den Gesetzentwurf als »Qualitätssprung und eine deutliche Verbesserung gegenüber geltendem Recht«. Die sächsische Polizei benötige moderne Einsatzmittel sowie »zeitgemäße Regeln und rechtliche Instrumentarien für eine erfolgreiche Gefahrenabwehr«, betonte der Minister. Der innenpolitische Sprecher der Linksfraktion, Enrico Stange, kritisierte, die Landesregierung wolle unter dem Vorwand von Terrorbekämpfung und Sicherheit tiefe Eingriffe in die Grundrechte erleichtern. Die vorgesehene Bewaffnung bezeichnete er als »sehr bedenklich«. Bei allem Verständnis für eine effektive Polizeiarbeit und den Willen zur Terrorbekämpfung dürfe »die freiheitlich-demokratische Grundordnung nicht für die nicht garantierbare absolute Sicherheit geopfert werden«, betonte Stange. Der innenpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion, Valentin Lippmann, bezeichnete den Gesetzentwurf als »Frontalangriff auf die Bürgerrechte«. Wöller habe offenbar den Wunsch, »den Freistaat in Richtung eines Polizeistaates zu entwickeln«, kritisierte der Politiker. Er habe »erhebliche Bedenken, ob die geplanten Maßnahmen verfassungsgemäß sind«, fügte Lippmann hinzu. Von der mitregierenden SPD verlange er »ein Bekenntnis zu den Grundrechten«. SPD-Innenexperte Albrecht Pallas sagte, mit dem Entwurf reagiere Sachsen auf gestiegene Anforderungen und neue Phänomene »etwa bei der politisch oder religiös motivierten Kriminalität und des Terrorismus«. Der SPD sei eine ausgewogene Balance zwischen Sicherheit und Freiheit sehr wichtig, betonte Pallas. epd/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Fußfesseln, Maschinengewehre, mehr Überwachung: Mit einer Änderung des Polizeigesetzes will Sachsens Landesregierung die Terrorabwehr stärken. LINKE und Grüne im Landtag befürchten Eingriffe in die Grundrechte.
Grünen, Landesregierung, LINKE, Polizei, Sachsen
Politik & Ökonomie
Politik Sächsisches Polizeigesetz
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1085754.saechsisches-polizeigesetz-opposition-sieht-grundrechte-in-sachsen-gefaehrdet.html
Glücksspiel in Berlin
 In Berlin gibt es derzeit rund 600 Spielhallen, viele Betreiber müssen jedoch mit dem Aus rechnen. Noch gilt ein Bestandsschutz, aber dieses Jahr werden alle Berliner Spielhallen ihre Konzession verlieren - wer danach eine neue Konzession erhalten wird, steht noch nicht fest.  Das 2011 novellierte Glücksspielgesetz sieht strenge Auflagen vor. So dürfen nur noch acht statt früher zwölf Spielgeräte aufgestellt werden. Der Mindestabstand zwischen Spielhallen beträgt 500 Meter.  Laut Angaben der Arbeitsgruppe Spielsucht an der Charité beteiligt sich etwa die Hälfte aller Erwachsenen mindestens einmal im Jahr an Glücksspielen. In Berlin gelten rund 35 000 Menschen als spielsüchtig.  Unterstützung gibt es bei der Landesstelle Berlin für Suchtfragen e. V. (www.landesstelle-berlin.de) sowie bei SEKIS - Selbsthilfe Kontakt und Informationsstelle (www.sekis-berlin.de)
Redaktion nd-aktuell.de
Berlin
Hauptstadtregion
Berlin
https://www.nd-aktuell.de//artikel/996735.gluecksspiel-in-berlin.html
Studenten wollen Anti-Pegida-Bündnis gründen
Berlin. Drei Monate nach Beginn der fremdenfeindlichen Pegida-Kundgebungen haben linke Studenten dazu aufgerufen, sich gegen das Bündnis zu engagieren. Die Linke.SDS zeigte sich am Donnerstag in einer Pressemittelung angesi... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Linke.SDS ruft zu bundesweitem Kampf gegen Fremdenfeindlichkeit auf
Dresden, Pegida, Studenten
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/959328.studenten-wollen-anti-pegida-buendnis-gruenden.html
Missverstandene Inklusion im modernen Kapitalismus
Je populärer Inklusion wird, desto mehr wird diese zum Greenwashing 2.0. Genauso wie die Organic Fashion von einigen Kleidungshersteller*innen nicht zur Rettung des Planeten beiträgt, so geht es bei vielen Diversity Kampagnen und Inklusionsveranstaltungen um genau das Gleiche: Profitmaximierung. Nur handelt es sich hierbei nicht um Textilproduktion, sondern um Marketing, für welches Menschen mit Behinderung genutzt werden, die davon selbst kaum profitieren. Ich bin keine Gegnerin von Inklusion und gewissermaßen bin ich auch selbst daran beteiligt, meine eigene Behinderung zu vermarkten, um mehr Aufmerksamkeit für das Thema zu schaffen. Mir selbst fehlt seit meiner Geburt die rechte Hand und erst seit etwa zwei Jahren nutze ich eine bionische Handprothese, die sehr cool und futuristisch aussieht. Dies ist der springende Punkt: Seitdem ich nicht mehr einhändig bin, was aus gesellschaftlicher Sicht leider immer noch für erschrockene Blicke sorgt, begegnen mir die Menschen mit positivem Erstaunen und Interesse. Zum einen ist es fraglich, inwiefern ich nun ungefragt als Inspiration wahrgenommen werde und zum anderen ist es sehr verletzend, dass dies in vielen Kontexten nur mit meinem elektronischen Gadget möglich ist. Greta Niewiadomski engagiert sich für die Rechte Behinderter. Die 20-Jährige studiert seit 2020 Psychologie in Würzburg, zudem ist sie ehrenamtliche Betreuerin in einem jährlichen Jugendcamp für Kinder mit Amputationen. Auf Instagram bloggt sie unter @gretamariq. Seitdem ich die Prothese trage, bekomme ich Shootinganfragen von Modelabels, die meine Behinderung nun für »gesellschaftstauglich« halten und mich vorher extra nochmal bitten, an die »Luke-Skywalker-Hand« zu denken. Das ist keine Inklusion und leider auch kein ernsthaftes Interesse daran, dass Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft wahrgenommen und gleichgestellt werden. Geht es dabei tatsächlich um den Marktwert von Behinderungen und sollen sie wirklich ästhetisch sein? Echte Inklusion müsste anders aussehen: Es geht dabei um den Einschluss jedes Menschen, unabhängig von äußerlichen Merkmalen, Fähigkeiten, Meinungen und Abstammungen. Dies hebt alle Personen auf dieselbe Stufe, soll im Optimalfall jegliche Hierarchien unterbinden und Handlungsspielräume lassen, um die gemeinsame Umsetzung eines Projekts oder eines Zusammenlebens bzw. Arbeitens zu ermöglichen. Inklusive Projekte müssen nicht plakativ als solche bezeichnet werden, um ihren Zweck zu erfüllen. Sonst würde ich ja inklusiv studieren, in den Urlaub fahren und ins Kino gehen. Umgekehrt sind eben nicht alle Inklusionsprojekte inklusiv. Tatsächlich wird bei aktuellen Inklusionsmaßnahmen aber eines am wenigsten berücksichtigt: die Betroffenen. Damit meine ich nicht ausschließlich die Menschen mit Behinderung, sondern alle Beteiligten. Denn zuallererst entstehen bei einigen Inklusionsprojekten Hierarchien, indem Menschen mit Behinderung nicht als gleichwertig, sondern als hilfsbedürftig und somit abhängig klassifiziert werden. Dies verhindert einen Umgang auf Augenhöhe und sorgt für erhebliche Selbstzweifel auf der einen und eine ungesunde, erhabene Selbstwahrnehmung auf der anderen Seite. Visueller Wahlkampf - Menschen mit Behinderung wurden im Wahlkampf ignoriert, kritisiert Julia Probst Auf dem Weg zu echter Inklusion stolpern wir über ein gewaltiges Hindernis: Den Kapitalismus. Es handelt sich hierbei um ein System, das von Leistung, Wachstum und Ungerechtigkeiten auf Kosten vieler lebt. Dabei wird sich an den aus ökonomischer Sicht »Stärksten« orientiert und wenig Rücksicht auf psychische Gesundheit, Gleichberechtigung und Empathie genommen, solange dies für den kurzfristigen Aufschwung nicht zufällig von vehementer Bedeutung ist. Doch auch ohne einen plötzlichen Systemwandel könnte die eigene Wahrnehmung von Menschen mit und ohne Behinderung überprüft werden. Wie auch bei rassistischen und sexistischen Aussagen im Netz müssen wir ableistischem Content konsequent entgegentreten und hierbei nenne ich die Tatsache, dass sich prominente Personen mit rollstuhlfahrenden Kindern fotografieren lassen, nur als ein Beispiel von vielen. Menschen mit Behinderung werden an den Rand der Gesellschaft gedrängt und als Belastung, anstatt als Bereicherung wahrgenommen. Deutlich wird dies anhand der Tatsache, dass in Deutschland etwa zehn Prozent der Einwohner*innen eine Behinderung haben. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass kaum ein Freund*innenkreis dies widerspiegelt. Menschen mit und ohne Behinderung werden vom Kapitalismus behindert, der echte Inklusion verhindert.
Greta Niewiadomski
Viele Unternehmen und Organisationen behaupten, inklusiv zu arbeiten. Doch das stimmt nicht, meint Greta Niewiadomski. Je populärer Inklusion wird, desto mehr wird diese zum Greenwashing 2.0 - zur Profitmaximierung.
Behinderung, Inklusion, Kapitalismus
Meinung
Kommentare Menschen mit Behinderung
2021-10-19T09:53:30+0200
2021-10-19T09:53:30+0200
2023-01-20T20:28:04+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1157768.missverstandene-inklusion-im-modernen-kapitalismus.html
Infokanal der Apokalypse
In einem Strategiemeeting neulich wurden wir gefragt: »Wo seht ihr unser Team in zehn Jahren – werden wir eine große Jubiläumsfeier in Berlin abhalten?« »Ich glaube kaum«, antwortete jemand, »weil es dann in Berlin kein Wasser mehr gibt.« Betretene Gesichter, betretenes Schweigen. Die Anwesenden waren Journalist*innen, also Leute, die durchaus Zugang zu Informationen über die drohende Klimakatastrophe haben. Aber wie viele in der Medienbranche, in der Politik und überhaupt die meisten Menschen landauf, landab ziehen wir es vor, uns mit zweitrangigen Themen zu beschäftigen. Dabei müssten wir dringend unser Publikum darauf vorbereiten, was alles auf uns zukommt. Außer rechtsgerichteten Prepper-Magazinen scheint die deutsche Medienlandschaft den Klimawandel und die daraus folgende drastische Veränderung des sozialen Gefüges jedoch mehrheitlich zu ignorieren. In diesen Tagen, mit extremer Hitze in Europa und Überflutungen in Asien, lauten die Schlagzeilen »Jahrhundert-Hitze« oder ähnlich. Das heißt: Es wird weiterhin suggeriert, dass die derzeitigen Wetterereignisse ein seltener Ausreißer sind – und nicht das, was bald unser Alltag sein wird. Meteorolog*innen wie Özden Terli im ZDF bauen regelmäßig Statistiken über schmelzendes Arktis-Eis in den abendlichen Wetterbericht ein; Klimaforscher*innen wie Stefan Rahmstorf schreiben alarmierende Artikel auf Wissenschaftsseiten der »Zeit«; aber in allen anderen Rubriken taucht das Thema kaum auf. Dabei würden wir alle davon profitieren. Hier ein paar konstruktive Vorschläge, zum Beispiel für die Zeitschrift »Haus & Garten«: Hitzeresistente Nahrungspflanzen vorstellen, die man auf dem Balkon anbauen kann, falls die Lieferketten zusammenbrechen. Oder ganz neue Kochrezepte bei »Grill den Henssler« auf VOX, die damit beginnen, dass die Kochshow-Promis ein Tier auf freier Wildbahn jagen, erlegen und häuten müssen, bevor sie es grillen. Da könnte auch die »Sportschau« etwas Nützliches beisteuern: Schluss mit all dem Fußball, dafür aber Speerwerfen – und zwar auf ein bewegliches Ziel. Mit vier Beinen. Sheila Mysorekar ist Vorsitzende der Neuen Deutschen Organisationen, einem Netzwerk postmigrantischer Organisationen. Die Sendung »Expeditionen ins Tierreich« könnte uns schon mal vorbeugend beibringen, welche – tja, wie soll ich es nennen – unorthodoxe Nahrungsquellen es notfalls für uns gäbe: Dackel ja, Igel auch, aber Feuersalamander nicht, die sind nämlich giftig. Die Meerschweinchen der Kinder sind hingegen essbar. Für Modezeitschriften eröffnet sich mit Klimakatastrophen-Specials eine ganz neue Produktpalette: »Brigitte« zeigt uns, wie wir Klamotten aus alten Autositzbezügen zusammenheften, denn Autos hat dann keiner mehr. »Vogue« präsentiert den neuen Survival-Chic-Look, diesmal Sonnenhüte aus recycelten Asbestplatten: »Bleiben Sie cool bei 50 Grad plus!« Ich persönlich beschäftige mich auch lieber mit schöneren Dingen als Überlebensstrategien auf einem brennenden Planeten. Aber Medien – zumindest die Öffentlich-Rechtlichen – sollten ihrem Publikum solche Informationen zugänglich machen, die wirklich nützlich für sie sind. Und das sind heutzutage jegliche Strategien, um die Klimakatastrophe aufzuhalten oder zumindest die Chancen für die Menschheit zu erhöhen, mit der neuen Situation zurecht zu kommen. Nicht nur mit Extremwetter, sondern auch mit dem nachfolgenden Zusammenbruch unserer Gesellschaften. Das bedeutet: Medien müssen den Menschen nachdrücklich und immer wieder erklären, warum es notwendig ist, andere Energiequellen als Öl und Gas zu nutzen. Warum es eine ausgezeichnete Idee ist, ein Tempolimit auf Autobahnen einzuführen. Warum wir lieber Fahrrad fahren oder öffentliche Verkehrsmittel nutzen sollten anstatt Auto oder Flugzeug. Warum es die Erde schützt, wenn wir alle weniger Fleisch essen. Und zwar als Schlagzeile jeder Zeitung und Aufmacher jeder Sendung. Wenn wir das nicht machen, werden wir bald eine ganz andere Art von Informationen brauchen: Life-Hack-Videos, wie man einen Brunnen gräbt. Die Apothekerzeitschrift mit Anleitung zur Do-it-yourself-Blinddarm-Operation. Reisemagazine über die besten Fluchtrouten – und zwar raus aus Europa. Wir im sicheren und satten Deutschland werden uns noch wundern, wie schnell sich die Lage ändern kann.
Sheila Mysorekar
Medien sollten sich allmählich darauf umstellen, wirklich notwendige Informationen zu verbreiten. Zum Beispiel, wie man in der Klimakatastrophe überlebt, schreibt Sheila Mysorekar.
Medienkritik
Meinung
Kommentare Klimakrise
2023-07-20T12:12:38+0200
2023-07-20T12:12:38+0200
2023-07-21T13:55:24+0200
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1174889.klimakrise-infokanal-der-apokalypse.html
Moderiertes Aufstehen
Neue Kulisse, internationale Stars: Rund drei Wochen vor der Verleihung des achten Deutschen Radiopreises stehen die ersten Nominierungen fest. In vier Kategorien können sich nun jeweils drei potenzielle Preisträger Hoffnungen auf eine der begehrten Auszeichnung machen. Zu den Nominierten gehören unter anderem der Sender Bayern 1 für »Die blaue Couch« in der Kategorie »Bestes Interview«, der Sender NDR 2 mit der Comedy »Wir sind die Freeses«. Wolfgang Leikermoser (Antenne Bayern, »Guten Morgen Bayern«), John Ment (Radio Hamburg, »Mission Aufstehen! Die Radio Hamburg Morningshow«) und Philipp Schmid (NDR Kultur, »Klassisch in den Tag«) können darauf hoffen, in der Kategorie Bester Moderator gewürdigt zu werden. Die Stifter des Deutschen Radiopreises sind die Hörfunkprogramme der ARD, Deutschlandradio und die Privatradios in Deutschland. Die Preisträger werden am 7. September in der Elbphilharmonie in Hamburg gekürt. dpa/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Radiopreis-Nominierung
Bayern, Hamburg, Öffentlich-Rechtlicher Rundfunk
Feuilleton
Kultur
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1179625.rechter-vandalismus-im-berliner-gruenflaechenamt.html
Es werde Licht
Schlendert man von Unter den Linden Richtung Pariser Platz und Brandenburger Tor, fällt er schon von weitem auf: der achtarmige Chanukkaleuchter mit dem Stern Davids, auch Chanukkia genannt, der sich seit fünf Tagen vor dem Wahrzeichen Berlins erhebt. Zehn Meter ist er hoch. Damit ist der Leuchter der größte seiner Art in ganz Europa. »Die Chanukkia vor dem Brandenburger Tor ist ein Symbol für Frieden, Versöhnung und Toleranz,« sagt Rabbiner Yehuda Teichtal. Der aus Brooklyn stammende Gemeinderabbiner ist seit 1996 Vorsitzender des Jüdischen Bildungszentrums Chabad Lubawitsch in Berlin. Bereits zum elften Mal organisiert die traditionell-orthodoxe Chabad Gemeinde Aufbau und Unterhalt des großen Kandelabers in Mitte. In diesem Jahr kommen noch 20 kleinere Leuchter hinzu, die im gesamten Stadtgebiet verteilt aufgestellt sind. »Mit der Präsenz im öffentlichen Raum wollen wir die positive Botschaft von Chanukka mit allen Menschen in Berlin teilen und zum friedlichen Miteinander aufrufen«, erklärt Teichtal. Jüdischen Menschen mache die Chanukkia im Herzen der Hauptstadt zudem Mut, ihre jüdische Tradition und Religion nicht zu verstecken, sondern bewusst im Alltag zu zeigen, so der 42-Jährige. Nach dem Überfall auf einen Rabbiner in Schöneberg vor zwei Jahren sowie weiteren antisemitischen Taten war eine Debatte darüber entbrannt, ob Juden sich in Berlin offen zu ihrer Religion bekennen können. Das Licht des Chanukkaleuchters - es ist in diesem Zusammenhang auch der Sieg von Toleranz und Demokratie gegen Antisemitismus und Stigmatisierung. Der Tradition entsprechend erinnert Chanukka, was aus dem Hebräischen übersetzt so viel wie »Weihung« bedeutet, an den Sieg der Makkabäer über die Armeen der Seleukiden und an die Wiedereinweihung des Tempels in Jerusalem im Jahr 164 vor Christus. Das Chanukkawunder bezieht sich auf ein Ölfläschchen im Tempel, das der Überlieferung nach geweihtes Lampenöl für acht Tage enthielt. So bot es den Priestern genügend Zeit, neues Öl zu weihen. Damit entstand der Brauch des achtarmigen Leuchters, dessen Kerzen täglich um eine weitere erweitert angezündet werden. Die Überlieferung und Tradition bewahren und gleichzeitig in der modernen Gesellschaft leben und wirken, das ist Rabbiner Teichtal und seiner Gemeinde wichtig. Deswegen begeht das Bildungszentrum neben dem täglichen »Kerzenzündeln« das Fest, das noch bis zum 24. Dezember andauert, mit vielen weiteren Veranstaltungen. Während der Festtage gehen Gemeindemitglieder beispielsweise in Berliner Krankenhäuser, um Kindern Geschenke zu bringen. Im Geist von Chanukka, ganz unabhängig von Herkunft und Religion.
Jérôme Lombard
Acht Lichter für den Frieden: In diesen Tagen feiern Juden weltweit das Lichterfest Chanukka. Dass die größte Chanukkia Europas im Herzen Berlins steht, zeugt vom Selbstbewusstsein der Gemeinde.
Hauptstadtregion
Berlin
https://www.nd-aktuell.de//artikel/956285.es-werde-licht.html
Im Einerlei alltäglicher Daseinsvorsorge
Es gibt in der heteronormativen Mehrheitsgesellschaft so einige Mythen darüber, wie homosexuelle Menschen ihr Dasein gestalten. Das hartnäckigste Klischee: Party, Party, Party - garniert mit flatterhafter Promiskuität in lässigen Szenevierteln angesagter Metropolen. Also ein eklatanter Mangel an allem, was heterosexuelle monogame Normalbeziehungen angeblich ausmacht: Häuslichkeit zum Beispiel, Ruhe oder Treue. Heterosexuelle Normbeziehungsmenschen, die sich zur Serie »Feel Good« verirren, könnte es also irritieren, was die feminine George der burschikosen Mae, drei Sendeminuten nachdem sie sich in einem Londoner Kleinkunsttheater kennengelernt haben, überreicht: den Wohnungsschlüssel. Bis dahin durfte das Publikum in Zeitraffer sehen, wie sich zwei frisch Verliebte zwischen Arbeit, Alltag und Sex näherkommen. Das Tempo, in dem die Hauptfiguren von Ausnahmezustand auf Gewohnheit umschalten, dürfte aber trotz Dutzender Serien aus dem LGBTIQ-Kosmos noch immer manches Vorurteil untergraben. Kurz zumindest, denn dann schaltet »Feel Good« von Gewohnheit wieder zurück auf Ausnahme: Kaum dass Georges und Maes Glück Konturen annimmt, erfährt Erstere nämlich, dass die Stand-up-Komikerin Mae drogenabhängig war. Und womöglich noch ist. Die ersten sechs Folgen geht es auch um Diversität; George hatte schließlich auch ohne die verschwiegenen Suchtprobleme Skrupel, ihre Freundin im eigenen Umfeld vorzuzeigen. Maes Eltern hingegen machen beim Skypen aus Kanada ein wenig zu inbrünstig auf verständnisvoll. Doch anders als in Hochglanzformaten wie »L-Word« und »Queer as Folk«, »Queer Eye« oder »Modern Family« ist das Diverse an »Feel Good« eher ein Vehikel zur Erzählung großstädtischer Problemlagen - von der prekären Beschäftigung vermeintlich eigenständiger Rädchen im Hamsterrad des Kapitalismus bis hin zum Selbstoptimierungszwang der digitalen Leistungsgesellschaft. Wir beobachten George und Mae dabei, wie ihr Glück vom Einerlei alltäglicher Daseinsvorsorge bedroht wird - und dies in einer sprachlichen Beiläufigkeit, die es so womöglich nur in britischer Produktion gibt. »Ist Alkohol nicht verboten?«, fragt Mae eine Leidensgenossin, als beide nach der gemeinsamen Selbsthilfegruppe mit Sektglas auf einer Vernissage stehen. »Drogen sind verboten«, antwortet ihre neue Freundin Maggie da tonlos, »Alkohol ist«, Pause, »britisch.« So treffsicher, lakonisch und trocken, dabei aber stets von empathischer Wärme durchströmt, klingt es in den halbstündigen Episoden andauernd. Und das hat gleich mehrere Ursachen. Die wichtigste: Nach eigenem Drehbuch spielt sich die kanadische bekennend bisexuelle Stand-up-Komikerin Mae Martin als nach London emigrierte Stand-up- Spaßmacherin Mae selbst und befindet sich dabei unter der Regie von Ally Pankiw in Gesellschaft fantastischer Kolleginnen. Allen voran Charlotte Ritchie als George, die ihrer fragilen Geliebten gleichermaßen Halt gibt und den Boden unter den Füßen wegzieht. »Friends«-Star Lisa Kudrow verleiht Maes Mutter Linda derweil eine Form öliger Scheintoleranz, die Eltern im Umgang mit ihren nicht normativen Kindern gerne zeigen, während sich der Vater Malcom (Adrian Lukis) immer dann fröhlich aus dem Videochat verabschiedet, wenn schlecht verdrängte Spannungen zur Sprache kommen, also sehr schnell. Auch der Komiker Phil Burgers spielt eine bärige Netflix-Variante seiner selbst. So hinreißend komisch er seine Figur als drittes Rad am WG-Wagen spielt: Neu ist sein Rollentypus in dieser Wohnsituation nicht, im Gegenteil. Bis hin zum ulkigen Trinkspiel, das Mae und George beim ersten Date spielen, gleicht »Feel Good« der australischen Serie »Please Like Me«, die denkbar lustigste Dramedy über homosexuelle Normalität. Schließlich ist auch deren Autor, Star und Regisseur Josh Thomas ein dauerscheiternder Zappelphilipp auf der Suche nach Geborgenheit. Selbst sein manischer Blick gleicht dabei dem von Mae. Dass seine Erzählung ein schwules Vorbild dieser lesbischen Geschichte plus Drogen ist, ändert aber nichts daran, dass beide warmherzig und vielschichtig, lustig und traurig, sachlich und überdreht genug sind, um nebeneinander im Regal der besten Fernsehfiktionen über die Liebe zu stehen - ganz gleich, welche Sexualität dabei ausgelebt wird. Und wenn sogar das kritische Zielgruppenmagazin »L-Mag« als größtes Manko von »Feel Good« das abrupte Ende moniert und auf eine zweite Staffel hofft, »die dann gerne auch mehr als nur Beziehungs- und Coming-out-Probleme erzählt«, kann Mae Martin nicht alles schlecht gemacht haben beim guten Kopieren. »Feel Good« auf Netflix
Jan Freitag
Lakonisch und trocken: Die Serie »Feel Good« über Kokainprobleme, den Londoner Mietmarkt und die große Liebe
Großbritannien, Homosexualität
Feuilleton
Kultur
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1138575.im-einerlei-alltaeglicher-daseinsvorsorge.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
Siegesfeier unter Heimatfreunden
Die Spuren des Farbangriffs an der »Mutter Heimat« sind am Donnerstag verschwunden, der Sockel der Statue ist gesäumt von Blumen. Ihr gegenüber hat seit einigen Jahren die russischsprachige Organisation »Wesen der Zeit« ihre Mini-Ausstellung zum Großen Vaterländischen Krieg aufgebaut. Hier werden die Besucher*innen des »Djen Pobjedi« (Tag des Sieges) traditionell mit russischen Heimatliedern beschallt. Viele kaufen hier auch die sogenannten Georgsbänder und befestigen sie gleich an der Kleidung. Das im Zuge der Ukraine-Krise immer populärer gewordene Band gilt in Russland, wo es viele Menschen in den Tagen um den 9. Mai am Revers tragen, als Zeichen des nationalen Bekenntnisses. Es ist, so steht es zumindest auf den ausliegenden Informationszetteln auf Deutsch und Russisch, ein »Symbol für den Volkswiderstand und den Kampf gegen den aufstrebenden Faschismus«. Gemeint ist das Unabhängigkeitsstreben der Ukraine. Fast alle der Tausenden Menschen, die sich hier wie jedes Jahr in den Vormittagsstunden des 9. Mai im Treptower Park versammeln, sprechen Russisch miteinander, die Stimmung ist zu dieser Zeit eher andächtig als ausgelassen. Viele Familien und alte Menschen sind gekommen. Ein junges Paar Anfang 20 läuft vorbei, die Frau trägt ein uniformartiges Kostüm, ihr Begleiter in Camouflage hat sich eine russische Nationalflagge um die Schultern gehängt. Ottilia Liliental ist 17 Jahre alt. »Ich bin hier, weil ich einen deutsch-russischen Youtube-Kanal betreibe und die Leute mich fragen: Wie feiert man in Berlin den 9. Mai?«, sagt sie. Das junge Mädchen blinzelt in die Sonne, die am 74. Tag des Sieges über den Faschismus zwischen den Regenwolken über dem Treptower Ehrenmal durchbricht. Auch ihre Mutter und ihre kleine Schwester sind mitgekommen, mit beiden spricht sie Russisch. »Das habe ich aber erst in der Schule richtig gelernt.« Wie auch in den letzten Jahren ist nach der offiziellen Kranzniederlegung der Botschaften Russlands und ehemaliger sowjetischer Teilrepubliken am Morgen eine Demonstration der paramilitärisch erscheinenden Bikergruppierung »Nachtwölfe« über die Anlage des Ehrenmals gezogen. In der Berichterstattung haben die »Nachtwölfe« die Traditionsverbände, die über lange Zeit die Feierlichkeiten durch ihre uniformierten Aufzüge prägten, verdrängt. Insgesamt fiel die Show der nationalistischen Rocker aber kleiner aus als in den vergangenen Jahren: Etwa 200 von ihnen haben sich am Donnerstag versammelt. Flaggen und Motorradkennzeichen verweisen auf die Beteiligung polnischer und serbischer Nationalisten an der demonstrativen Fahrt »von Moskau nach Berlin«, bei der sich die Gruppen abwechseln. In Polizeibegleitung marschieren zwei Dutzend Männer mit Flaggen, die das Porträt des tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow zeigen. Auch eine große Gruppe deutscher Rocker in der Kluft der »Wölfe« zieht vorbei. »Etliche Personen, die sich hier als Teil einer neuen Friedensbewegung inszenieren, sind dem politischen Querfront-Spektrum zuzuordnen«, gibt ein anwesender Mitarbeiter der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus (MBR) Auskunft. Dazu gehören Beteiligte von rechten Gruppen wie BÄRgida und »Merkel muss weg«, die unlängst vom Berliner Verfassungsschutz zum festen muslim- und fremdenfeindlichen Spektrum Berlins erklärt wurden. Der Verein »Staatenlos-Info«, der der Reichsbürgerbewegung nahesteht, war dieses Jahr am Treptower Ehrenmal nicht vertreten. Dafür hatte der Thüringer AfD-Abgeordnete Robby Schlundt am Morgen bei der offiziellen Kranzniederlegung seinen Auftritt. Er versuchte, sich mit einem Kranz der AfD-Bundestagsfraktion neben die Vertreter der russischen Botschaft zu drängen. Auch wenn er vom Sicherheitspersonal abgewiesen wurde, hing sein Gebinde am Ende neben dem der Linksfraktion unterhalb der Statue des Soldaten, der das Kind auf dem Arm trägt. »Der Ort ist ideal, um Kindern zu erklären, was Krieg bedeutet« sagt ein Erzieher eines Treptower Kindergartens. Er verbringt den ganzen Tag mit einer Schar von Vier- bis Fünfjährigen am Ehrenmal. Die Kinder haben sich unterhalb der Skulpturen der knienden Soldaten mit Decken und Verpflegung niedergelassen. Vielleicht werden im nächsten Jahr, wenn der 8. Mai in Berlin gesetzlicher Feiertag ist, ihre Eltern mit ihnen hierherkommen.
Claudia Krieg
Am 8. und 9. Mai feiern Tausende den Jahrestag der Befreiung vom Faschismus am Sowjetischen Ehrenmal. Die als »Putins Leibgarde« gehandelte Bikergruppe »Nachtwölfe« ist kleiner als letztes Jahr.
Berlin, Russland, Treptow-Köpenick
Hauptstadtregion
Berlin Tag des Sieges
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Verteilvorteil
Das Aufatmen der Großen Koalition war weithin vernehmbar: Wir sind regierungsfähig! Die vermeintliche Stärke ist jedoch ein Zeichen der Schwäche. Denn die Koalitionspartner sind sich ihrer Sache und vor allem: ihrer Regierungspartner offenbar alles andere als sicher. Das ist nachvollziehbar, wo sich Unionsparteien nach Monaten Parteienzwist grollen und misstrauen und die SPD um demonstrative Abgrenzung bemüht ist, so, als befinde sie sich nur vorübergehend in schlechter Gesellschaft. Kein Zweifel, es wird verteilt. Aber es wird nicht umverteilt, etwa von oben nach unten. Klientelpolitik ist Antrieb der Koalition, volle Kassen machen sie möglich. In der Sache zeigen sich die Sozialdemokraten erneut hasenfüßig. Der Vorstoß zur Rentensicherung bis zum Jahr 2040, der eine halbherzige Festschreibung des zu geringen Rentenniveaus im Sinn hatte, ist vorerst zu den Akten gelegt, während die Union die Senkung der Arbeitslosenbeiträge über das vereinbarte Maß hinaus durchsetzte. Dass Steuergelder für Qualifizierung eingesetzt werden sollen, wie die SPD es wollte, wirkt bei um ihre Rente besorgten Wählern dagegen als Überholvorgang auf einem Nebengleis. Das nun als großer sozialer Wurf gepriesene Gesetzespaket verteilt den Segen der Koalition gleichmäßig auf die verschiedenen Klientele der Parteien. Neben Arbeitslosen, Müttern oder Versicherten profitiert auch die Wirtschaft, deren Beiträge zur Arbeitslosenversicherung paritätisch mitsinken. Und im Hintergrund wartet Minister Spahn, der die Pflegebeiträge anheben will.
Uwe Kalbe
Uwe Kalbe über die Einigung der Koalition auf ihr Sozialpaket
Arbeitslosigkeit, Große Koalition, Rentenpolitik
Meinung
Kommentare Krise der Großen Koalition
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Den Stechern auf den Sack gehen
Speyer. Im Kampf gegen die Asiatische Tigermücke in Deutschland testen Wissenschaftler nun den Einsatz sterilisierter Männchen. Wenn die Weibchen mit diesen Männchen kopulierten, bekämen sie keine lebensfähigen Nachkommen, sagte der Biologe Norbert Becker in Speyer. »Die Weibchen werden schwanger, aber die haben Totgeburten.« Becker ist wissenschaftlicher Direktor der kommunalen Aktionsgemeinschaft zur Bekämpfung der Schnakenplage (Kabs) und Direktor des Instituts für Dipterologie, das die Tigermücken bekämpft. Die aus Asien stammende Stechmücke gilt als besonderes Risiko, weil sie mehr als 20 Virusarten übertragen kann, darunter gefährliche Varianten wie das Dengue-Fieber, das für geschwächte Menschen tödlich enden kann. Die Tiere, die in Italien bereits verbreitet sind, kamen in den vergangenen Jahren nach Deutschland - auf Güterzügen und Lastwagen entlang der Autobahn Basel-Frankfurt (A5). Nachweise gibt es unter anderem in Freiburg und Heidelberg, wo seit Sommer 2016 ein Versuch mit sterilisierten Männchen läuft. In Rheinland-Pfalz und im Saarland ist den Experten noch keine Tigermücke ins Netz gegangen. Sie könne aber entlang der Autobahnen Hockenheim-Koblenz (A61) und Saarbrücken-Mannheim (A6) auftreten, sagte Becker. Die Wissenschaftler hätten nun den Plan, den Lebensraum der Tiere - zusätzlich zur herkömmlichen Bekämpfung - mit unfruchtbaren Männchen zu »überfluten«, erklärte er. »Wir müssen alle Möglichkeiten in Betracht ziehen, um dieses Tierchen wieder loszuwerden«, sagte der Biologe. »Und da gibt es keine halbgaren Lösungen, da gibt es nur eine massive Bekämpfung.« Sterilisiert werden die Plagegeister in Bologna, wo sich ein Kollege Beckers mit STI (sterile insect techniqe) befasst. Dem habe man hiesige Tigermücken für die Zucht geschickt. Die Puppen der Männchen, die kleiner sind als die der Weibchen, werden mit einem Netz ausgesiebt und mit Gammastrahlen sterilisiert. Die Tiere könnten danach zwar noch mit wild lebenden Männchen konkurrieren, »aber das Sperma ist zu 99 Prozent nicht okay«, erklärte Becker. In Käfigen mit je eintausend Männchen reisen die Tiere dann nach Deutschland. Im Heidelberger Stadtteil Wieblingen werden einmal wöchentlich abends unfruchtbare Mücken freigelassen. Gibt es nachweisbare Erfolge? »Es zeichnet sich ab, dass es effektiv ist«, sagte Becker. Belastbare Daten gebe es aber noch nicht. Im Sommer 2016 waren acht Mal Tiere freigelassen worden. Damals habe man festgestellt, dass die Schlüpfrate um 15 Prozent gesunken sei. »Aber wir wollen noch weiter«, sagte Becker. »Bekämpfung plus Reduzierung der Schlüpfrate müsste nach unseren Berechnungen zum Zusammenbruch der Population führen.« Deswegen habe man in diesem Jahr nicht erst im August, sondern bereits im Mai mit der Aussetzung begonnen und die Zahl der sterilisierten Männchen pro Hektar von 1000 auf 3000 erhöht. Nach Beckers Angaben ist geplant, auch in Freiburg sterile Männchen auszusetzen. Mit dieser Methode, die in Deutschland entwickelt worden sei, könne man gezielt eine Art bekämpfen. Sie sei besser als die bisherige Bekämpfung mit dem biologischen Wirkstoff Bti, den die Kabs seit langem im Kampf gegen heimische Stechmücken einsetzt. Allerdings müsse man die Kapazität für die Sterilisierung der Tiere in Italien im Blick behalten. »Die müssen ja jetzt doppelt so viele Mücken züchten und behandeln«, sagte Becker. »Ob das jetzt so ad hoc geht, wissen wir noch nicht.« Nötig wäre es schon. Denn ein früherer Versuch hat gezeigt, dass der Einsatz von zu wenig Tieren nicht fruchtet. Becker erinnert an einen Mainzer Professor, der in den 1980er Jahren erstmals die STI-Technik im südhessischen Gebiet Kühkopf-Knoblochsaue bei Groß-Gerau gegen Rheinschnaken habe anwenden wollen. Diese Mücken legten pro Hektar aber bis zu 300 Millionen Eier ab. »Das heißt: Wenn Sie da nicht Millionen züchten und freilasssen, verpufft das.« Der Professor habe dort 30 000 Tiere ausgesetzt, wo vermutlich eine Milliarde schlüpften. »Und da hat man überhaupt nichts gemerkt.« dpa/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Sie gilt als fliegendes Sicherheitsrisiko: Die Asiatische Tigermücke zeigt sich inzwischen auch in Deutschland. Wissenschaftler wollen nun ermitteln, wie man sie bekämpfen kann.
Wissenschaft
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Mehrheit der Schotten für Austritt aus Großbritannien
Berlin. Kurz vor dem EU-Gipfel zum Brexit hat die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon um Unterstützung der Europäischen Union für die Unabhängigkeit Schottlands geworben. »Die schottische Regierung glaubt, dass die beste Zukunft für unser Land als unabhängige Nation innerhalb der EU liegt«, schrieb Sturgeon in einem Gastbeitrag für die Zeitung »Die Welt«. Den Brexit bezeichnete sie als »verantwortungslos«, »töricht« und »schädlich für die Wirtschaft«. Der Regierung des britischen Premierministers Boris Johnson warf Sturgeon »Ruchlosigkeit« in ihrem Vorgehen bei der Trennung von der EU vor. Da die Regierung in London entschlossen sei, »Konsens und Solidarität den Rücken zu kehren«, brauche Schottland »einen alternativen Weg nach vorn«. Die Grundwerte der Europäischen Union wie Achtung der Menschenwürde und Menschenrechte, Freiheit, Demokratie, Gleichberechtigung und Rechtsstaatlichkeit seien allesamt »Werte, hinter denen wir mit voller Überzeugung stehen«, betonte die schottische Regierungschefin. Eine am Mittwoch veröffentlichte Umfrage zeigt, dass die Unterstützung der Schotten für die Unabhängigkeit von Großbritannien auf ein Rekordhoch gestiegen ist. In der Erhebung des Instituts Ipsos Mori sprachen sich 58 Prozent für die Unabhängigkeit aus. Die Befragung ergab auch eine starke Unterstützung für Sturgeon und ihre Schottische Nationalpartei (SNP). Für die Umfrage waren Anfang Oktober 1045 Schotten ab 16 Jahren befragt worden. Sollte Sturgeons Partei bei der schottischen Parlamentswahl im kommenden Jahr die Mehrheit erhalten, erhöhe das auch die Wahrscheinlichkeit eines neuen Unabhängigkeitsreferendums, sagte Institutsdirektorin Emily Gray. Premier Johnson hatte allerdings wiederholt ausgeschlossen, die Befugnisse für die Organisation eines Referendums auf die schottische Regionalregierung zu übertragen. Boris, das Kunstprodukt Der Journalist Jan Roß hat eine neue Biografie über Boris Johnson geschrieben - und erliegt dabei schwerwiegenden Missverständnissen Bei der jüngsten Abstimmung im Jahr 2014 hatten 55 Prozent der Schotten für einen Verbleib in Großbritannien gestimmt. Die SNP argumentiert jedoch, dass angesichts des Brexits eine neue Abstimmung nötig sei. Bei bei dem britischen Referendum über den EU-Austritt von 2016 hatte sich eine Mehrheit der Schotten für den Verbleib in der Europäischen Union ausgesprochen. Die EU-Staats- und Regierungschefs befassen sich am Donnerstag mit den Verhandlungen über ein Handelsabkommen mit Großbritannien nach dem Brexit. Sie wollen laut einem vorbereiteten Erklärungsentwurf ihre »Besorgnis« über bisher unzureichende Ergebnisse äußern und eine nochmalige Intensivierung der Verhandlungen fordern. Zugleich rufen sie dazu auf, die Vorbereitungen auf ein mögliches Scheitern der Gespräche zu beschleunigen. AFP/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Kurz vor dem EU-Gipfel zum Brexit hat die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon um Unterstützung der Europäischen Union für die Unabhängigkeit Schottlands geworben. Im eigenen Land hat sie bereits Rückenwind.
Brexit, EU, Großbritannien, Schottland
Politik & Ökonomie
Politik Brexit-Folgen
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Prämie ans Finanzamt
ND: Sie kommen direkt aus Doha, wo Sie am Vorabend zum Auftakt der neuen Diamond-League-Serie mit 21,14 m Zweiter geworden sind. Nun ein Sieg in Halle – trotz Stress. Bartels: Ich wollte unbedingt hier starten, was fast schief gegangen wäre, weil ich mit meinem ursprünglichen Flug neun Stunden Verspätung gehabt hätte. Es war auch eine Umstellung: In Doha waren 40 Grad, in Halle war es lausig kalt und der Ring vom Regen glatt. Ich bin also nicht unzufrieden. Sind Sie von Ihrer 21,14-m-Weite in Doha überrascht? Ja, denn beim Einstoßen lag der beste Stoß bei 20,50 m. Sie haben dort 6000 Dollar Prämie kassiert. Und nun? Das Finanzamt verlangt von mir eine hohe Steuerrückzahlung für 2009. Dafür kann ich das Geld ganz gut gebrauchen. Was ist im EM-Jahr Ihr Ziel? Eine Medaille, aber es wäre vermessen zu sagen: Ich verteidige meinen EM-Titel von 2006. In Europa gibt es derzeit vier 21-m-Stoßer. Darauf stelle ich mich ein. Gespräch: Jürgen Holz
Redaktion nd-aktuell.de
Der 32-jährige Kugelstoßer Ralf Bartels (Neubrandenburg), im letzten Jahr WM-Dritter mit 21,37 m, siegte in Halle mit 20,76 m.
Halle - Saale, Kugelstoßen
Sport
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Mehr als Brot und Spiele
Der Fußball als ewiger Glücksspender und Wirtschaftsmotor: Spätestens seit der Weltmeisterschaft 2006 ist die Sportart in Deutschland zum Symbol für gelungene Integration und einen gesunden Patriotismus geworden. Mit dem Gewinn der WM 2014 steigerte sich die öffentliche Wahrnehmung fast bis zur Hysterie. Zudem: In den vergangenen Jahren starteten Bundesliga, Verbände und Vereine, aber auch einzelne Spieler, Kampagnen, Projekte oder Stiftungen, um sich sozial zu engagieren. Sportjournalist und nd-Autor Ronny Blaschke wagt in seinem neuen Buch »Gesellschaftsspielchen: Fußball zwischen Hilfsbereitschaft und Heuchelei« einen Blick hinter die »Fassade der Fürsorglichkeit«. Denn, gemessen am milliardenschweren Gesamtumsatz des Profibetriebs sind die Maßnahmen oft halbherzig, schlecht finanziert, befristet oder zielen nur auf die Verbesserung des eigenen Images. Blaschke geht es aber nicht um eine allgemeine Kritik an der Milliarden... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Alexander Isele
Der Fußball ist nicht einfach nur ein Sport, sondern auch ein wichtiger sozialer Faktor. Doch auf dem Gebiet fehlt ihm eine Gesamtstrategie, meint Sportjournalist und nd-Autor Ronny Blaschke. Das Potenzial dafür gibt es.
DFB, Flüchtlinge, Fußball, Homophobie, Kommerz
Sport
Sport
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Hartz IV-Reform
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Redaktion nd-aktuell.de
SPD stellt Forderungskatalog für Zustimmung vor
Bildungspaket, Hartz IV, SPD
Politik & Ökonomie
Politik
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Weber will rechtes Bündnis für EU-Wahl
Der konservativen Europäischen Volkspartei EVP schwimmen die Felle davon. Zwar stellt sie die stärkste Fraktion im EU-Parlament, doch sie verliert seit Jahren an Stimmen und somit auch an Abgeordneten. Um das auszugleichen, ist Fraktionschef Manfred Weber auf der Suche nach neuen Partnern. Diese sucht er in der konkurrierenden Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR), die auch offen für weit rechts stehende Parteien ist. Vor wenigen Tagen traf sich Weber mit dem tschechischen Regierungschef Petr Fiala, dessen Partei ODS in der EKR organisiert ist. Die beiden Politiker betonten, dass sie weiter gemeinsam die Ukraine unterstützen wollten, damit Russland nicht den Krieg gewinnt. Auch die faschistische Partei Fratelli d’Italia der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni hat Weber auf dem Zettel. Der CSU-Mann hat sich kürzlich mit Meloni abgesprochen und danach offen für eine Zusammenarbeit gezeigt. »Meloni ist bei Europa konstruktiv, steht an der Seite der Ukraine, und beim Rechtsstaat gibt es in Italien keine Probleme«, meinte Weber am Donnerstag im Gespräch mit den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Am Wochenende hat er in diesen Medien nachgelegt und deutliche Einschränkungen gemacht, was den Rechtsstaat angeht. Weber forderte Zäune zur Flüchtlingsabwehr an der EU-Ostgrenze, in der Mittelmeer-Region sowie an der Grenze Bulgariens und Griechenlands zur Türkei. EU-Büros sollten etwa in Tunesien oder Ägypten eingerichtet werden, damit Menschen aus Afrika dort Asyl in Europa beantragen könnten. Außerdem will Weber die Seenotrettung nicht privaten Initiativen überlassen, sondern eine neue EU-Mission prüfen. Dies entspricht den Forderungskatalogen von Fiala und Meloni. Die Italienerin hatte zuletzt die Arbeit der zivilen Rettungsschiffe deutlich erschwert. Noch ungeklärt ist, wer bei der EU-Wahl 2024 als Spitzenkandidat für die EVP antreten wird. 2019 hatte Weber diese Rolle übernommen, wurde dann aber ausgebootet, als es um die Wahl des Präsidenten der Europäischen Kommission ging. Der Posten ging an die CDU-Politikerin Ursula von der Leyen. Nun hat Weber einen weiteren Namen ins Gespräch gebracht. Sowohl von der Leyen als auch Roberta Metsola wären hervorragende Spitzenkandidatinnen, erklärte er in einem Interview. Auch das ist ein Fingerzeig in Richtung der rechten EKR. Die Malteserin Metsola konnte nur EU-Parlamentspräsidentin werden, weil Liberale und Konservative mit der EKR-Fraktion zusammengearbeitet hatten. Noch offen ist, ob Weber sich darum bemühen will, einzelne Parteien aus der EKR in seine Fraktion zu holen, oder ob ein anderweitiges Bündnis geschlossen werden soll. Letzteres wäre umstritten, weil in der EKR auch die polnische PiS-Partei vertreten ist, die aus Sicht vieler Politiker der EVP als antieuropäisch gilt.
Aert van Riel
Vor der EU-Wahl 2024 sucht die konservative Europäische Volkspartei nach Partnern, um ihre starke Stellung im Parlament zu behalten und die Kommissionschefin zu stellen. Fraktionschef Manfred Weber fischt am rechten Rand.
Europäische Union, Italien, Tschechien, Ursula von der Leyen
Politik & Ökonomie
Politik Rechte in Europa
2023-01-29T16:50:32+0100
2023-01-29T16:50:32+0100
2023-01-30T15:04:42+0100
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1170536.rechte-in-europa-weber-will-rechtes-buendnis-fuer-eu-wahl.html?sstr=meloni
Wagenknecht: Merkel darf Erdogans Kurs nicht unterstützen
Update: Menschenrechtsbeauftragte fordert von Merkel »Klartext« Die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Bärbel Kofler (SPD), hat von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bei deren Türkei-Besuch ein entschiedenes Auftreten gefordert. Es müsse »Klartext gesprochen werden über die Verletzung von Menschenrechten«, sagte Kofler am Donnerstag im Bayerischen Rundfunk. Das Thema müsse »eine große Rolle spielen«. Große Sorge bereitet der Menschenrechtsbeauftragten das anstehende Verfassungsreferendum, mit dem Präsident Recep Tayyip Erdogan seine Macht weiter ausbauen will. Kofler hat »große Zweifel«, dass eine faire Debatte im Vorfeld des Referendums überhaupt geführt werden könne. Viele Menschen könnten ihre Meinung nicht mehr frei äußern, viele kritische Journalisten seien verhaftet worden oder »ihrer öffentlichen Stimme beraubt«. Berlin. Kanzlerin Angela Merkel sollte bei ihrem Türkei-Besuch dringend Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit anprangern – mahnen LINKE, Grüne und SPD dringend an. Merkel hofiere mit ihrer Reise den »islamistischen Autokraten Erdogan«, von dem »allgemein bekannt sei«, dass er Islamisten und Terrormilizen weltweit unterstütze und finanziere, warnte etwa die LINKE-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht. Merkel müsse deutlich machen, dass sie Erdogans Kurs hin zu einer Diktatur nicht unterstütze, sagte sie der »Rheinischen Post«. Ähnlich scharfe Worte fand LINKE-Vorsitzender Bernd Riexinger am Mittwoch. »Merkel lässt sich von #Erdogan als Wahlkampfhilfe einspannen«, warf er der Kanzlerin auf Twitter vor. Auch der designierte SPD-Vorsitzende Martin Schulz forderte eine klare Haltung gegenüber dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan an. »Deutschland muss dem NATO-Partner klar sagen: Wir beharren auf Rechtsstaatlichkeit in der Türkei, auf faire Verfahren, Pressefreiheit und die Wahrung der Grundrechte«, sagte er den Zeitungen der Funke Mediengruppe (Donnerstag). Merkel reist an diesem Donnerstag zum ersten Mal nach dem Putschversuch im Sommer zu politischen Gesprächen nach Ankara. Bei ihren Treffen mit Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und Ministerpräsident Binali Yildirim will sie unter anderem Fortschritte für das Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei erzielen. Auch die Freiheitsrechte und deren Einschränkungen sollen ein Thema sein. Schulz sagte, die Türkei sei zwar das Land, das die meisten Flüchtlinge aufnehme. »Aber das kann keine Rechtfertigung für die bedenklichen rechtsstaatlichen Entwicklungen sein.« Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (Grüne) warnte, das türkische Parlament sei dabei, sich selbst und die Demokratie abzuschaffen. »Es hat grünes Licht gegeben für ein Referendum in diesem Frühjahr, mit dem Erdogan die Türkei zu einer Diktatur umbauen will. Das wäre das Ende der parlamentarischen Demokratie und des Rechtsstaates in der Türkei«, sagte sie der »Passauer Neuen Presse« (Donnerstag). Merkel müsse bei diesem Besuch auch Oppositionelle treffen. Bei ihren letzten Reisen habe sie nur Erdogan und Regierungsvertreter getroffen. Grünen-Chef Cem Özdemir sagte dem Blatt: »Die Kanzlerin sollte die Differenzen beim Verständnis von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und im Umgang mit Minderheiten wahrnehmbar ansprechen.« Sie dürfe die dramatische Entwicklung nicht ignorieren und verschweigen. Selbst Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) äußerte sich besorgt. »Die Entwicklung der demokratischen Verhältnisse, der Umgang mit der Justiz gibt Anlass zur Sorge«, sagte der CDU-Politiker der »Passauer Neuen Presse«. Seit Juli 2016 sind in der Türkei Zehntausende Menschen entlassen oder verhaftet und die Medien stark eingeschränkt worden. Amnesty International in Istanbul berichtete jüngst, inzwischen seien beinahe 400 Nichtregierungsorganisationen dauerhaft geschlossen worden, fast ein Drittel der weltweit inhaftierten Journalisten befänden sich nun in der Türkei in Haft. Das Verhältnis zwischen Deutschland und der Türkei ist seit langem angespannt. Erdogan wirft deutschen Politikern unter anderem vor, nach dem Putschversuch, für den er den in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen verantwortlich macht, zu wenig Solidarität gezeigt zu haben. Erdogan bemängelt außerdem, dass die Bundesregierung nicht gegen die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK und die Gülen-Bewegung in Deutschland vorgehe. Im Streit um die Visafreiheit für Türken bei EU-Reisen hat er mit der Aufkündigung des Flüchtlingspaktes mit der EU gedroht, zu dessen Architekten Merkel zählt. dpa/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Merkel reist an diesem Donnerstag zum ersten Mal nach dem Putschversuch im Sommer zu politischen Gesprächen nach Ankara. Sahra Wagenknecht forderte sie dazu auf, deutlich zu machen, dass sie Erdogans Kurs nicht unterstütze.
Diktatur, Erdogan, Flüchtlingspakt, LINKE, Türkei
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Wo die Wunschbäume wachsen
Geben ist schöner als Nehmen: Schon zum fünften Mal stellt die Erfurter »Stiftung FamilienSinn« Wunschbäume in der Vorweihnachtszeit auf - mittlerweile in 14 Thüringer Städten. Ziel der Aktion »Wunschbaum« ist es, Kindern, die besondere Aufmerksamkeit und Zuwendung brauchen, eine kleine Freude in der Advents- und Weihnachtszeit zu bereiten. Noch bis zum kommenden Sonntag können Menschen jenen Kindern, die zuvor ihren Zettel an einen der Bäume gehängt haben, ihren Wunsch erfüllen. Und zwar indem sie einen Wunsch vom Baum pflücken, das entsprechende Geschenk besorgen und an die Initiatoren übergeben. Auch in anderen Bundesländern wird Kindern auf diese Weise die Vorweihnachtszeit versüßt. 2012 startete die Aktion »Wunschbaum« erstmals in Erfurt in drei sozialen Einrichtungen. Seitdem hat sie sich thüringenweit verbreitet. 2015 beteiligten sich bereits zwölf Thüringer Städte und Kommunen an der Aktion, 1300 Kinder freuten über ein Ge... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Danuta Schmidt, Erfurt
Die »Wunschbaum«-Aktion ist eine besondere Mitmach-Aktion, um Kindern, die besondere Zuwendung brauchen, eine kleine Freude zur Advents- und Weihnachtszeit zu bereiten. Ein Bericht aus Thüringen.
Erfurt, Thüringen
Politik & Ökonomie
Politik
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Schwarzfahrer aus Überzeugung
»Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht!« Diese Parole geht vielen Demorednern leicht über die Lippen. Doch wenige handeln konsequent nach dieser Maxime und nehmen Unannehmlichkeiten in Kauf. Zu dieser Gruppe gehört Manfred Bartl, der seit Jahren für ein Grundrecht auf Mobilität unabhängig vom Geldbeutel kämpft. Am Donnerstag verhängte das Amtsgericht Mainz über den bekennenden Schwarzfahrer wegen Erschleichung einer Dienstleistung in drei Fällen eine Geldstrafe von 40 Tagessätzen à 15 Euro. Doch das Geld brav zu überweisen, kommt für den arbeitslosen Chemiker aus Mainz nicht in Frage. Der 47-Jährige legte Rechtsmittel ein. Seit fast neun Jahren ist das Mitglied im ver.di-Bezirksvorstand und in der LINKEN bekennender Schwarzfahrer. Bartl sieht sich als Vorkämpfer für alle, die sich die hohen Tarife der lokalen und regionalen Busse und Bahnen nicht leisten können. Seit 2007 ist er Hartz-IV-Bezieher. Er kaufte ein Sozialticket der Mainzer Verkehrsbetriebe, stellte aber rasch fest, dass der Regelsatz längst nicht ausreicht: Das örtliche Sozialticket kostet knapp 60 Euro, während Hartz IV für ÖPNV-Mobilität 26,44 Euro bereithält. Weil die Verkehrsbetriebe auf seine Anfrage nach einem Sozialticket zu diesem Preis nicht antworteten, reist er seit Januar 2009 in Bus und Bahn mit einem selbst gebastelten »Schwarzfahrerausweis«. Motto: »Schwarzfahren für Gerechtigkeit«. Dass er damit auch eine Haftstrafe riskiert, weiß der nicht gerade wie ein Rebell wirkende Aktivist. »Wenn Kontrolleure mir unterstellen, ich sei ein Schmarotzer, vergessen sie eines: Verlieren sie morgen ihren Job, landen sie zwölf Monate später selbst in Hartz IV.« Alle Mahnverfahren verliefen im Sande, weil Bartl als Hartz-IV-Empfänger nicht zahlungsfähig ist. Gegen eine drohende Haftstrafe in Wiesbaden ging er 2013 in Berufung. Am Ende leistete er hochmotiviert gemeinnützige Arbeit bei der »Linken Hilfe Mainz«. Dass jetzt ein Bündnis aus Sozialverbänden und Gewerkschaften ein einheitliches Sozialticket für den ÖPNV in Rheinland-Pfalz fordert, ist für ihn eine Genugtuung.
Hans-Gerd Öfinger
Seit fast neun Jahren ist Manfred Bartl bekennender Schwarzfahrer. Bartl sieht sich als Vorkämpfer für alle, die sich die hohen Tarife der lokalen und regionalen Busse und Bahnen nicht leisten können.
Hartz IV, Mainz, Rheinland-Pfalz, Verkehrspolitik
Politik & Ökonomie
Politik Bezahlbare Mobilität
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Eigenverantwortliche Pandemiebekämpfung
Eigenverantwortung und Einheitlichkeit, das sind die zwei Hauptargumente, mit denen die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) am Dienstag in der Senatspressekonferenz die Entscheidung gegen eine erweiterte Maskenpflicht begründet. Der Vorschlag von Gesundheitssenatorin Ulrike Gote (Grüne), die Pflicht zum Tragen medizinischer Masken auf Innenräume wie Museen oder Geschäfte auszuweiten, wird damit abgesägt und lediglich die aktuelle Regelung bis zum 24. November verlängert. Die Maskenpflicht betrifft damit weiterhin nur den öffentlichen Verkehr. Um das Infektionsgeschehen dennoch abzufedern und Warnungen aus den Krankenhäusern Rechnung zu tragen, will der Senat die Berliner*innen verstärkt dazu auffordern, sich aus freien Stücken zu maskieren. „Wir kommen nicht weiter, wenn wir den Menschen nicht auch zutrauen, eigenverantwortlich zu urteilen», erklärt Giffey den Ansatz, auf das in Pandemie-Zeiten beliebte Konzept „Eigenverantwortung» zu setzen. „Die, die schon die ganze Zeit dagegen sind, werden sie auch nicht überzeugen.» Zudem hält Giffey nichts von einem Berliner Sonderweg. Bei der Ministerpräsidentenkonferenz am vergangenen Donnerstag hätten sich alle übrigen 15 Landeschef*innen gegen neue Masken-Regeln ausgesprochen, so Giffey. Insbesondere mit Brandenburg sei jedoch ein gemeinsames Vorgehen angebracht. Brandenburg hat am Dienstag ebenfalls die Empfehlung von Gotes Amtskollegin Ursula Nonnemacher (Grüne) für eine strengere Maskenpflicht verworfen. Mit seiner Entscheidung wendet sich der Senat nicht nur gegen Gotes Drängen, sondern übergeht die Warnungen von Ärzt*innen. „Wir laufen an der Charité möglicherweise in eine Situation hinein, in der wir die reguläre Versorgung wieder einschränken müssen», sagte Charité-Vostandsmitglied Martin Kreis am Montag der Deutschen Presse-Agentur. „Wenn der Infektionsschutz mit der Maskenpflicht in Innenräumen intensiviert würde, hätten wir eine gute Möglichkeit, der schwierigen Lage in den Krankenhäusern gegenzusteuern», so Kreis weiter. In der vergangenen Woche sei die Anzahl der belegten Intensivbetten noch einmal nach oben gegangen. „Ein Viertel der Patientinnen und Patienten, die mit einem positiven Coronatest bei uns aufgenommen werden, müssen dort versorgt werden.» Vor allem aber laste auf den Normalstationen und Notaufnahmen ein erheblicher Druck. Denn wenn Menschen mit einer noch unerkannten Covid-Infektion ins Krankenhaus kämen, müssten sich die Notaufnahmen um Isolationsmaßnahmen bemühen. Auch am Dienstag berichteten Expert*innen dem Senat in einer Anhörung von der Überlastung der Krankenhäuser – offensichtlich ohne Erfolg. „Die personelle Situation in den Krankenhäusern hat unterschiedliche Ursachen. Die stehen nicht eins zu eins im Zusammenhang mit der Frage, ob wir jetzt in Einzelfeldern eine Maskenpflicht einführen», stellt Giffey im Anschluss die Effektivität von Masken in Frage. Trotzdem hält sie die Hospitalisierungsrate für die entscheidende Schwelle, um – natürlich nur in Abstimmung mit allen Ländern – eventuell später die Maßnahmen zu verschärfen. Als aktuelle Inzidenz stationär behandelter Fälle je 100 000 Einwohner*innen innerhalb von sieben Tagen nennt sie die Zahl 8,18, die im Vergleich zum Saarland mit 29,62 noch sehr gering sei. Doch Giffey bezieht sich damit auf den Lagebericht des RKI, der auf den Daten der Gesundheitsämter basiert, die zeitverzögert ausgewertet werden. Der landeseigene Corona-Lagebericht, der auf der Selbstauskunft der Berliner Notfallkrankenhäuser und Notfallzentren beruht, verzeichnet mit 16,3 eine doppelt so hohe Hospitalisierungsrate. Als ein Journalist sie darauf aufmerksam macht, meint Giffey nur: „Das mag ja sein. Aber uns ging es darum, wie wir grundsätzlich umgehen mit einer Situation, die sich in einem bundesweiten Vergleich bewegt.» mit dpa
Nora Noll
Die Krankenhäuser warnen, die Gesundheitsverwaltungen drängen. Doch weder Berlin noch Brandenburg wollen mit strengeren Regeln die Wähler verprellen.
Berlin, Corona, Pandemie
Hauptstadtregion
Berlin Maskenpflicht und Corona-Maßnahmen
2022-10-25T16:41:35+0200
2022-10-25T16:41:35+0200
2023-01-20T17:09:01+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1167987.eigenverantwortliche-pandemiebekaempfung.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
Möglich wäre vieles
Das BKA will - angewiesen vom Innenminister - mehr gegen rechte Gewalt und den parallelen Hass im Netz unternehmen. Anlass zum Handeln ist der Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten und CDU-Mitglied Walter Lübcke. Natürlich verlangt der Fall Konsequenzen. So wie Hunderte andere rechtsextremistisch motivierte Verbrechen, die dieser Tat vorangegangen sind. Doch waren die offenbar - weil nur selten gegen Repräsentanten von Staat und Wirtschaft gerichtet - nicht wichtig genug für ernsthaftes Handeln. Allzu schnell war das »Nie wieder!« vergessen, das 2011 nach dem Auffliegen des NSU versprochen wurde. Dass der islamische Terrorismus viel Kraft der Sicherheitsbehörden bindet, kann Nachlässigkeit im rechtsextremen Spektrum nicht begründen. Schon gar nicht erträglich machen. Man kann jetzt vieles auf den rechtsstaatlichen Weg bringen - personell, fachlich, juristisch, technisch. Doch wenn sich das gesellschaftliche Klima in Deutschland nicht wieder in Richtung Grundgesetz bewegt, ist der Erfolg all dieser Maßnahmen zweifelhaft. Man muss sich nur einmal anschauen, wie die CDU-Spitzen im »Fall Maaßen« herumeiern. Der Mann, der Union und AfD zusammenbindet, ist als einstiger Verfassungsschutzchef wesentlich verantwortlich für die beklagte Rechtsblindheit. Und dennoch - oder deshalb? - Vorbild für allzu viele im deutschen Sicherheitsbereich.
René Heilig
René Heilig über die Initiativen des BKA gegen Rechtsextremismus und Hass
CDU, Rechtsradikalismus
Meinung
Kommentare BKA
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Die Toten reiten schnell
Den einen galt er als Parteispalter, den anderen als inkonsequenter Sozialpazifist: Hugo Haase. Als Mitvorsitzender der SPD und ihrer Fraktion im Reichstag hatte er am 4. August 1914 die historische Erklärung abgeben: »Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich …«. Die SPD stimmte den Kriegskrediten zu. Es war der Tag, an dem de facto die Geschichte der Sozialdemokratie endete, jedenfalls im Sinne Ferdinand Lassalles als eine organisierte Kraft der Arbeiterbewegung, die von bürgerlichen Einflüssen unabhängig war. Die Historikerin Hedwig Wangenheim bescheinigt Haase ein gütiges Herz und ein ethisches Pflichtgefühl. Als Rechtsanwalt habe er Sozialdemokraten vor Gericht verteidigt, ohne Geld von ihnen zu verlangen. Nur habe er eben keinerlei staatsmännische Begabung gehabt. Sebastian Haffner beschreibt ihn gar als Melancholiker, dessen Schicksal es war, dauernd überstimmt zu werden und sich der Mehrheit zu füg... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Karsten Krampitz
Vor 100 Jahren wurde in emotional aufgepeitschter Situation ein Attentat auf den Sozialdemokraten Hugo Haase verübt
SPD
Feuilleton
Kultur
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1126768.die-toten-reiten-schnell.html
Wes Brot ich ess’, des Lied ich sing’
Auf einem Fachtag zum Thema Armut in Frankfurt am Main vor zwei Jahren werde ich von einem schick angezogenen Mann angesprochen. Er stellt sich mir vor, dann sagt er, dass ich mich auf der Kandidat*innenliste für einen Beiratsposten seiner Stiftung befände. Während des Fachtags stelle ich mir vor, ab und an in die Finanzmetropole zu fahren, ein bisschen zu plauschen, vielleicht über irgendetwas abzustimmen – was man eben so macht (oder auch nicht), wenn man in einem Stiftungsbeirat ist. Doch dann fällt mir plötzlich ein, dass ich mich besser erst mal über die Stiftung schlaumachen sollte. Die Enttäuschung folgt auf dem Fuße: Es stellt sich heraus, dass es sich dabei um die 50 Millionen Euro schwere Stiftung eines der größten Supermarktketten der Welt handelt. Bitterkeit mischt sich in meine Gedanken. Ich weiß, das Ding ist durch. Man verändert die Welt nicht zu einer besseren, wenn man sich an der Legitimation des Reichtums einer der vermögendsten Familien Deutschlands beteiligt. Das Thema dieser Kolumne ist also Vereinnahmung. Und die hat viele Gesichter. Nicht immer kommt Vereinnahmung so offenkundig daher. Mal ist es die Institutionalisierung von Erwerbslosenprotesten, die Klassenkampf durch Beratungspraxis ersetzt. Wieder ein anderes Mal ist es die Initiative progressiver Reicher, die eine stärkere Besteuerung fordert und von Medien und linken Aktivist*innen hofiert wird. Olivier David ist Autor und Journalist. 2022 erschien von ihm »Keine Aufstiegsgeschichte«, in dem er autobiografisch den Zusammenhang von Armut und psychischen Erkrankungen beschreibt. Bevor er mit 30 den Quereinstieg in den Journalismus schaffte, arbeitete er im Supermarkt und Lager, als Kellner und Schauspieler. 2024 erscheint sein Essayband »Von der namenlosen Menge« im Haymon Verlag. Für »nd« schreibt er in der monatlichen Kolumne »Klassentreffen« über die untere Klasse und ihre Gegner*innen. Alle Texte auf dasnd.de/klassentreffen. Zudem hostet er einen gleichnamigen Podcast über Klasse, Krise und Kultur. Alle Folgen auf dasnd.de/klasse. Was soll daran falsch sein, ließe sich einwenden. Nun, da wäre einmal ein strategisches Problem. Wie ernsthaft woke Firmen und Einzelpersonen sind, die durch Ausbeutung reich geworden sind, lässt sich exemplarisch an den Finanzierungsproblemen des CSD in Berlin sehen. Spätestens der Blick in die USA zeigt die Grenzen der Progressivität auf: Wenn Firmen nach der Wahl von Donald Trump ihre Programme für Gleichberechtigung und Diversität einstellen, klingt alles etwas zu sehr nach der alten Formel »Wes Brot ich ess’, des Lied ich sing’«. Wer sich auf derartige Förderung verlässt, kann nicht gleichzeitig eine ernsthafte Strategie zum Umbau der Gesellschaft verfolgen. Dafür steht die Finanzierung zu sehr unter Vorbehalt. Wie viel Abstriche muss eine*r machen, um von der Stiftung eines kapitalistischen Großkonzerns gefördert zu werden? Oder andersherum: wie viel andere Gesellschaft vertragen Stiftungen bei Stipendiaten und der Vergabe von Preisen und Förderungen? Ist dem Bürgergeld-Bezieher mehr geholfen, durch Beratung, oder durch Umbau der Gesellschaft? In Zeiten, in denen CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann plant, hunderttausenden Empfängern das Bürgergeld zu streichen, wirkt ein vom Kapital gefördertes Projekt, das auf eine gerechte Gesellschaft ausgerichtet ist, als würde man mit Tofu-Wienern bewaffnet vor den Toren von Wiesenhof deren Vergesellschaftung fordern. Aktivist*innen, Schreibende und Wissenschaftler*innen tun gut daran, das eigene Handeln mit dem Level an Gewalt und Rohheit abzugleichen, das von den Herrschenden vorgegeben wird, um daraus eine Konsequenz zu ziehen, die ernsthafte Veränderung zumindest am Horizont sichtbar werden lässt.
Olivier David
Eine millionenschwere Stiftung interessiert sich für Ungleichheit, reiche Erb*innen fordern höhere Besteuerung: Dahinter steckt ein Trend zur Verzwergung linker Anliegen, kommentiert Olivier David.
Klassentreffen
Meinung
Kommentare Vereinnahmung linker Politik
2025-06-10T13:47:00+0200
2025-06-10T13:47:00+0200
2025-06-11T12:16:48+0200
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1191786.vereinnahmung-linker-politik-wes-brot-ich-essr-des-lied-ich-singr.html?sstr=USA
Glockengeläut und Kanonendonner
Am Freitag um die Mittagszeit, zum Verlag unterwegs am Ufer der Spree, läuteten die Glocken vom Berliner Dom. Blau-gelbe Fahnen auf den Zinnen der Museen knatterten im Wind. Einige Fassaden tragen noch die Narben des letzten Krieges. Zum letzten Mal war ich im Dom am 22. Juni 2016, als sich die deutsche Öffentlichkeit des Überfalls auf die Sowjetunion vor 75 Jahren erinnerte. Sachsens konservativer Regierungschef Stanislaw Tillich hielt eine würdige Rede von Scham und Schuld, in der ersten Reihe applaudierten Peer Steinbrück von der SPD und Ronald Pofalla von der CDU. Tempi passati. Lesen Sie mehr zum Thema: Krieg ist nirgendwo normal - Birthe Berghöfer über Rassismus in den Berichten zur Ukraine Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch. So muss es wohl auch am 1. August 1914 gewesen sein, dachte ich jetzt, am Freitag. Glockengeläut, viel Volk auf den Straßen, der Kaiser kannte keine Parteien mehr und im Parlament existierte eine einzige Koalition, die alsbald die Kriegskredite bewilligte. Ach, wird man sagen, das war damals – heute liegen die Dinge ganz anders. Und auch wenn es bei Marx heißt, dass sich Geschichte zwei Mal zutrage, muss es nicht unbedingt stimmen. Ich bin mir nicht so sicher, ob Marx damit falschlag, denn ich erkenne oft Wiederholungen, wenn sich der Propagandanebel lichtet und das triumphalistische Geheul der vermeintlichen Sieger abschwillt. Im Juni 1961 trafen sich Kennedy und Chruschtschow in Wien, es ging um Krieg und Frieden und um Berlin. Der Amerikaner und der Russe verabredeten, dass man sich künftig nicht mehr in die inneren Angelegenheiten der jeweils anderen Großmacht einmischen wolle. Jede könne nach Gusto in ihrem Hinter- oder Vorhof schalten und walten, solange davon nicht die Interessen der anderen Seite berührt würden. Am 13. August, wenige Wochen später, wurde die Mauer in Berlin errichtet. Chruschtschow hatte so entschieden, nicht Ulbricht, und Kennedy legte sich wieder schlafen, nachdem seine Frage, ob von den sowjetischen Grenzmaßnahmen US-Interessen betroffen seien, abschlägig beantwortet worden war. Am 19. Februar 2022 referierte Kamala Harris auf der Münchner Sicherheitskonferenz. In der Rede – auf Youtube zu sehen – zitierte die US-Vizepräsidentin ihren Chef mit den Worten, dass »unsere Kräfte« nicht in die Ukraine geschickt werden würden, um dort zu kämpfen. »Aber sie werden jedes Stück Nato-Territorium verteidigen.« Dieser Satz erinnert mich irgendwie an Wien 1961 und die dort getroffene Verabredung. Denn: Fünf Tage später drangen russische Truppen auf Nicht-Nato-Territorium vor. Putin sei in eine Falle getappt, die ihm listig gestellt worden sei, sagen manche. Das klingt wie eine Entschuldigung. Andere behaupten, das sei imperiales Kalkül, und dabei schwingen die tradierten antirussischen Ressentiments und Hoffnungen mit: Jeder Schuss’ ein Russ’ ... So oder so, es macht die Sache nicht besser, offenbart allerdings ein erschreckendes Maß an Naivität und Selbstüberschätzung. Was sich auch in dem Köhlerglauben zeigt, man müsse nur von »Spezialoperation« sprechen, und schon ist der Krieg kein Krieg mehr. Alle Welt zeigt nun mit dem Finger auf Russland. Dazu besteht durchaus Grund. Wir sollten bei dieser Geste allerdings bemerken, dass dabei stets auch drei Finger auf einen selbst zurückweisen. Der Hauptfeind steht im eigenen Land, wusste schon Liebknecht. Was haben die Friedensbewegung, was die Zivilgesellschaft, was linke Parteien unternommen, damit ein System kollektiver Sicherheit auf dem Kontinent – wie es mit der KSZE vor einem halben Jahrhundert angedacht war – entstehen konnte? Wie dringlich eine stabile Sicherheitsarchitektur war und ist, unterstreichen die Forderungen der Russen nach Sicherheitsgarantien, mehr aber noch die Kriege auf dem Balkan, am Golf, in Afghanistan, in Syrien und jetzt in der Ukraine. Wo ist der Widerstand gegen den nationalistischen Taumel, der den Kontinent erfasst hat und dafür sorgt, dass die erklärten Russenfeinde, die Stahlhelmer und Apologeten von Freedom and Democracy daran gehindert werden, in Parlamenten, Redaktionen und auf den Straßen den Durchmarsch zu machen? Ja, der Krieg in der Ukraine ist barbarisch und grausam, er muss gestoppt werden – aber nicht mit Auf- und Wettrüsten und einer vollständigen Militarisierung der Außen-, Wirtschafts- und Finanzpolitik. Am Ende des Zweiten Weltkriegs stand die Gründung der Uno. Wir dürfen beim Frieden nicht auf das Ende eines Dritten Weltkrieges setzen. Dann wird es uns vermutlich nicht mehr geben. Frank Schumann ist Journalist und leitet den Verlag Edition Ost.
Frank Schumann
Am Ende des Zweiten Weltkriegs stand die Gründung der Uno. Wir dürfen beim Frieden nicht auf das Ende eines Dritten Weltkriegs setzen. Dann wird es uns wohl nicht mehr geben, meint Frank Schumann.
Russland, Ukraine, Ukraine-Krieg
Meinung
Kommentare Krieg in der Ukraine
2022-03-06T14:12:35+0100
2022-03-06T14:12:35+0100
2023-01-20T19:05:52+0100
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1161908.krieg-in-der-ukraine-glockengelaeut-und-kanonendonner.html?sstr=russland
Mein Vorsatz 2025: Entschlossener hassen
Seit einigen Jahren gehört »Gegen den Hass« zu den Lieblings-Statements der selbst erklärten »Zivilgesellschaft«. Hunderte Kultur-, Medien- und Bildungsprojekte haben das Motto für Aktionstage und Kampagnen verwendet, die Publizistin Carolin Emcke mit einem gleichnamigen Buch 2016 den Friedenspreis des Buchhandels erhalten. Gemeint ist die Botschaft natürlich immer irgendwie faschismuskritisch. Der politische Extremismus so heißt es, sei schuld gewesen am Siegeszug der Barbarei. Hätten Nazis und Kommunisten nicht so abgrundtief gehasst, wäre die Weimarer Demokratie bewahrt und Auschwitz verhindert worden. Man muss kein*e Historiker*in sein, um zu erkennen, was für ein hanebücherner Unsinn mit dem Gegen-den-Hass-Talk verbreitet wird. Denn was hat der Nazi-Barbarei wohl eher den Weg bereitet: der Hass der Kommunist*innen, die Nazis noch 1933 aus ihren Vierteln prügelten, oder die bürgerliche Gemütlichkeit, mit der Konservative und Liberale Hitler erst zum Reichskanzler machten und dann mit allen Vollmachten ausstatteten? Geradezu entlarvend ist die Erklärung, mit der die »Parteien der Mitte« 1947 in einem Untersuchungsausschuss in Baden-Württemberg ihre Stimmen für das Ermächtigungsgesetz 1933 rechtfertigten: Man habe damals zugestimmt, um »möglichst viel von der Weimarer Demokratie in eine bessere Zukunft hinüber(zu)retten«. Meine Antwort auf die oben gestellte Frage ist klar: Hätte die deutsche Gesellschaft den Faschismus doch nur ordentlich gehasst! Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen. Wenn man sich die zwischen 1933 und 1945 produzierten Kinofilme zu Gemüte führt, die auch heute noch zu Feiertagen über die Bildschirme flimmern (z.B. Heinz Rühmanns Endkriegsschmonzette »Die Feuerzangenbowle« von 1944), dann merkt man schnell, dass es ein zentrales Anliegen des Faschismus war, das Harmoniebedürfnis der Deutschen zu stillen. In vielerlei Hinsicht hätte sich die Kultur- und Medienarbeit des Nationalsozialismus mit dem Motto »Gegen den Hass« durchaus anfreunden können. Das Erzeugen eines gemütlichen Grundgefühls war zentraler Pfeiler des faschistischen Befriedungsprogramms nach innen. Deshalb muss man – wie es der italienische Theoretiker Alberto Toscano vor einigen Monaten in einem »nd«-Interview getan hat – auch die These Hannah Arendts hinterfragen, faschistische Bewegungen zeichneten sich durch Massenmobilisierung aus. Genauer betrachtet, so Toscano, sei der Nationalsozialismus doch vor allem eine Bewegung zur Demobilisierung der Massen gewesen. Die NS-Massenaufmärsche hätten die Funktion gehabt, zu entpolitisieren und antagonistische Konflikte in der Gesellschaft unsichtbar zu machen. Tatsächlich bestand die historische Mission des Faschismus sowohl in Deutschland als auch in Italien darin, die Menschen »zusammenzuführen«. Nach den revolutionären Kämpfen der 1910er und 1920er Jahre galt es, das »Volk« miteinander zu versöhnen – vom Industriellen bis zum Tagelöhner. Der Kampf zwischen den Klassen und jede Ideologie, die den Hass zwischen diesen befeuerte, wurde deshalb unter Strafe gestellt. Übrigens befand sich der Faschismus damit in bester bürgerlicher Tradition. Schon 1871 war im Deutschen Reich ein Gesetz für mehr Friedfertigkeit erlassen worden. »Wer in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise verschiedene Klassen der Bevölkerung zu Gewaltthätigkeiten gegen einander öffentlich anreizt, wird mit Geldstrafe bis zu zweihundert Thalern oder mit Gefängniß bis zu zwei Jahren bestraft«, hieß es im Paragrafen 130, der allerdings nicht, wie der wohlmeinende Leser jetzt vermuten könnte, dazu gedacht war, Jüd*innen oder Roma vor Pogromen zu schützen. Vielmehr richtete sich das Gesetz gegen die »Klassenverhetzung«. Die rasant erstarkende Arbeiterbewegung sollte in Schach gehalten werden, indem man ihr verbot, über die Existenz einer herrschenden Klasse und deren Abschaffung zu sprechen. Selbstverständlich stimmt es, dass der Faschismus stets auch ein »Außen« produziert, gegen das sich der Hass der Harmoniegemeinschaft richten soll: Hass auf Jüd*innen, die Sowjetunion, vermeintlich »Minderwertige«, Sinti und Roma und durchaus auch auf jene (allerdings gar nicht so zahlreichen) Liberalen, denen demokratische und Minderheitenrechte wichtiger waren als die Mehrung des Privateigentums. Hass an sich ist gewiss nichts Positives. Aber umgekehrt sollten wir eben doch auch daran erinnern, dass »innerer Frieden« und »Gemütlichkeit« tragende Säulen des Faschismus sind. Wenn Goebbels’ Propagandamaschine neben sentimentalen Rühr- und Heimatstücken auch rassistische Hetze produzierte, darf das niemanden überraschen. Es sind zwei Seiten derselben Medaille. Deshalb ist es sicher keine blendende antifaschistische Idee, wenn jetzt gefordert wird, »den Hass im Netz« per polizeilicher Strafverfolgung zu unterbinden. Es gibt Formen des Hasses, die viel zu wenig Raum bekommen: Hass auf soziale Ungleichheit, Unterdrückung, Ausgrenzung, menschliche Gleichgültigkeit und die Willkür der Staatsgewalt zum Beispiel. »Ein intensives Gefühl der Abneigung und Feindseligkeit« – wie der Hass enzyklopädisch definiert wird – ist nämlich notwendige Voraussetzung dafür, dass man Verhältnisse nicht einfach hinnimmt. Hier wären »mehr Hass« und »weniger Toleranz« durchaus angebracht. Wenn sich Rassismus, Misogynie und Vernichtungsfantasien heute überall breitmachen, hängt das auch damit zusammen, dass ein emanzipatorischer Hass schwer vorstellbar geworden ist. Wenn sich niemand mehr dazu bekennt, dass die von oben geschaffene Normalität ekelhaft ist, richtet sich die allgemeine Frustration gegen Schwächere und »Andere«. Mein Vorsatz für 2025 lautet deshalb: mich weniger einlullen lassen und entschlossener hassen. An einer wesentlichen Unterscheidung würde ich dabei allerdings festhalten. Mein Hass soll sich nicht gegen Personen, sondern Strukturen richten. Emanzipatorische Kämpfe haben die Verhältnisse im Blick, die Personen wie Elon Musk und Björn Höcke hervorbringen – nicht die einzelnen, letztlich immer austauschbaren Individuen.
Raul Zelik
Die politische Mitte setzt im Kampf gegen den Faschismus auf das Motto »Gegen den Hass«. Dabei setzt gerade die autoritäre Rechte auf politische Harmonie.
Faschismus, Nationalsozialismus, Thüringen
Meinung
Kommentare Politischer Hass
2024-12-29T14:55:52+0100
2024-12-29T14:55:52+0100
2024-12-30T16:03:38+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1187833.politischer-hass-mein-vorsatz-entschlossener-hassen.html
Trinkst du ein Glas mit?
Aufschreiben, wie es ist, ohne Firlefanz: Wie man in der Kneipe trinkt und was man dabei erlebt, hat der niederländische Journalist Simon Carmiggelt (1913-1987) in unzähligen Kolumnen beschrieben, »Kronkels« genannt. Von 1946 bis 1987 erschienen davon in der Tageszeitung »Het Parool« knapp 10 000 Stück. • Buch im nd-Shop bestellen Simon Carmiggelt: Auf ein Gläschen. A. d. Niederl. v. Gerd Busse u. Ulrich Faure. Unionsverlag, 192 S., geb., 18 €. Diese Texte machten Carmiggelt so populär, dass er in den 70er und 80er Jahren eine eigene Fernsehsendung bekam. In den »Kronkels« beschäftigte er sich im lakonisch-lustigen Stil eines Alfred Polgar mit den alltäglichen Abenteuern, Glücksgefühlen und mittleren Katastrophen. Viele davon hat er in den Kneipen von Amsterdam aufgeschnappt und beobachtet. Eine kleine, feine Auswahl hat der Unionsverlag unter dem Titel »Auf ein Gläschen« veröffentlicht, nachdem man 2016 von ihm schon eine (sehr empfehlenswerte) Kolumnenauswahl über Haustiere herausgebracht hatte. Die Grundfrage in den Kneipen lautet: »Trinkst du ein Glas mit?«, und dann geht es los mit dem betrüblichen Größenwahn, den peinlichen Beichten und merkwürdigen Theorien. Und der ganzen angetrunkenen Herzensbildung. Carmiggelt notiert dezent und mit Witz. Manchmal wirkt eine Wirtin auf ihn so, »als wäre sie überall lieber als hier - im Knast, in der Hölle, sonst wo«; manchmal stirbt ein Wirt »im aktiven Dienst«, und manchmal gibt es »eine schöne Tasse Kaffee« für jemanden, der keinen Alkohol bestellt - und es ist Spülwasser. Carmiggelt weiß: »Die angepasste Welt sieht in all dem nur sinnlose Monotonie«, aber für einen Trinker dauert ein Leben immer nur 24 Stunden, denn »dann wird er aufs Neue geboren. Und wenn zum Nachmittag hin sein Sommer angebrochen ist, lacht er uns an der Theke aus, wenn wir in unserem lebenslangen Herbst vorbeigeschlurft kommen. Er hat dann eigentlich doch recht. Aber er legt keinen Wert darauf.«
Stefan Malta
In der Kneipe liegt die Wahrheit: Simon Carmiggelt hat sie notiert
Bücher, Niederlande, Schenkung, Weihnachten
Feuilleton
Kultur Bücher zum Verschenken
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1129654.trinkst-du-ein-glas-mit.html